Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zehntes Kapitel.
Der Vulkan

1936–1939

Wir sprachen gegen Krieg und Fascismus. Aber Europa, in seiner Angst vor der eingebildeten Gefahr des Kommunismus, schloß die Augen vor der wirklichen Drohung. Aus blinder, dummer, abergläubischer Angst vor dem sozialen Fortschritt akzeptierte Europa den krassen sozialen Rückschritt, nämlich den Fascismus und damit den Krieg.

Hatte Amerika es besser? Das Land des »New Deal« schien noch frei von der tödlichen Seuche, die unseren Kontinent, den alten, heimsuchte und beschmutzte. Keine verfallenen Schlösser und keine Basalte! Keine Hitlers und keine Mussolinis, auch keine Hindenburgs und Pétains! Eine noch gesunde, noch wachsame öffentliche Meinung sorgte in den Vereinigten Staaten dafür, daß die politischen Abenteurer nicht in den Himmel wuchsen. Der Mann aber, der regierte, hieß F. D. Roosevelt.

Erika und ich beschlossen, im Lande Roosevelts unser Glück zu versuchen.

Nicht, als ob damals, im Herbst des Jahres 1936, der Aufenthalt in Europa für Menschen unserer Art schon völlig unmöglich gewesen wäre! »Die Pfeffermühle« spielte noch vor vollen Häusern in Holland, Belgien, Luxemburg, der Tschechoslowakei; meine Bücher konnten noch erscheinen, für meine journalistische Arbeit gab es noch Abnehmer in Paris, Prag, Amsterdam, Zürich, Basel und einigen anderen Städten. Aber man bewegte sich auf vulkanisch unsicherem Boden. Je mehr Macht und Prestige das Dritte Reich gewann, desto prekärer wurde die Position der deutschen Antifascisten, im Lande selbst und draußen, im Exil. Überall ließ man uns spüren, daß wir nur eben geduldet waren. Wie lange noch? Das hing von Umständen ab, die sich kaum voraussehen und gewiß nicht beeinflussen ließen. Sollte man wieder warten bis zum letzten Augenblick? Morgen wurden wir vielleicht nach Deutschland ausgeliefert, oder die Nazis fielen in unser Gastland ein. Dann wäre es zu spät. Lieber unternahm man rechtzeitig eine Erkundungsfahrt nach dem Erdteil, wo die Demokratie noch stark war und Vertrauen zu sich selber hatte.

Meine Absicht war, mich »drüben« mit Vorträgen und Artikeln einzuführen; einige meiner Bücher waren ja schon in den US erschienen; zuletzt mein kleiner Liebes- und Emigrantenroman Journey into Freedom (»Flucht in den Norden«). Ich kam also nicht als völlig Unbekannter. Erika hatte vor, ihr zeitkritisch-lyrisches Kabarett-Programm in New York zu präsentieren. Sowie die nötigen Vorbereitungen getroffen waren, sollte »die Truppe« nachkommen: Therese Giehse, Magnus Henning, Sibylle Schloß, die Charaktertänzerin Lotte Goslar, deren witzig-bizarre Bewegungs- und Ausdrucksstudien in letzter Zeit zu einer Hauptattraktion der »Pfeffermühle« geworden waren. Zunächst aber reisten Erika und ich allein. Wir schifften uns Mitte September ein, auf einem holländischen Dampfer, nicht auf einem deutschen, wie damals vor neun Jahren.

Neun Jahre … Ja, so lange oder etwas länger war es her, seit wir zuletzt den Ozean überquert hatten, zwei neugierige, verwegene Kinder auf ihrer großen Ferien- und Entdeckungsreise »rundherum«. Wir waren älter geworden in diesen neun Jahren; noch nicht alt, aber doch wohl etwas reifer und erfahrener, auch skeptischer, nicht mehr ganz so enthusiastisch und zuversichtlich. Aber einen Teil unseres Elans und unseres Optimismus hatten wir uns bewahrt. Es waren neun anstrengende Jahre gewesen, neun Jahre voll von bitterernsten, manchmal traurig-schlimmem Geschehen. Aber wir fühlten uns weder müde noch bitter. Wir hatten Hoffnung. Auch lachen konnten wir noch.

Lachend im vertrauten Gespräch saßen wir uns am kleinen Tisch im prunkvoll weiten, zuweilen lästig schwankenden Speisesaal gegenüber, wie damals vor neun Jahren. Wie damals lagen wir nebeneinander auf den Deckstühlen und schauten aufs Meer – zusammen; und schwiegen und sprachen zusammen und stellten uns zusammen die Zukunft vor – unsere gemeinsame Zukunft im Land Amerika … Was erwartete uns dort drüben? War es die neue Heimat, der wir entgegenfuhren, oder nur eine neue Station und flüchtige Episode? Aber was immer uns auch beschieden sein mochte auf der anderen Seite des großen Wassers, das große Wasser war schön, schön in seiner besonnten Bläue, im Perlmutterglanz der Dämmerung, in majestätisch wogender Dunkelheit; schön in der Stille, schön im Aufruhr, im Lächeln und im Zorn. Das große Meer war schön, wie damals vor neun Jahren oder vor neunzigtausend. Das große Meer war schön, wie immer, und wir waren zusammen. Bruder und Schwester – zusammen: wie damals, wie immer, schauten auf das ewig große, ewig schöne Meer.

Es hatte sich nichts geändert.

 

Auch New York hatte sich nicht geändert oder doch nur bis zu dem Grade, in dem Steigerung der eigenen Art, des eigenen Stils und Rhythmus eben Veränderung, Verwandlung mit sich bringt. Wenn das New York von 1927 mich bezaubert hatte, wie hinreißend mußte ich erst das New York von 1936 finden! Die enorme Siedlung, die Hyper-Metropolis und Stadt-der-Städte war jetzt unvergleichlich intensiver und bewußter sie selbst geworden; »die Idee New York« (um mich platonisch auszudrücken) hatte sich nun weitgehend erfüllt und in dynamische Realität umgesetzt.

Ein neues Gebäude, Rockefeller Center, war das massive Symbol dieser neuen, selbstbewußten Identität. Während man in Europa auf Zerstörung sann, war hier, im Herzen von Manhattan, eine Kolossalstruktur von kühner Großartigkeit entstanden, zugleich anmutig und monumental, nüchtern und phantastisch: die größte architektonische Tat des zwanzigsten Jahrhunderts. Die titanische Komposition aus Stein, Beton, Glas und Stahl repräsentiert New York, drückt sein Wesen aus, verkündigt seinen Stolz, so wie die Kathedrale das Wesen der mittelalterlichen Stadtgemeinschaft in festlicher Magnifizenz darstellt und späteren Geschlechtern überliefert.

Das New York der zwanziger Jahre war ein erregendes Versprechen, eine noch ungeformte oder nur halb-geformte Masse, trächtig mit widerspruchsvollen Möglichkeiten. Das New York, das ich nun zum zweiten Male kennenlernte und in das ich mich zum zweiten Male verliebte, war ein fertiger, kompletter Organismus, nicht mehr chaotisch, nicht mehr unartikuliert. Es wußte um seine eigene Größe, seinen Reiz, seine Macht. Es hatte ein Gesicht. Es hatte eine Stimme.

Zur Zeit der »prohibition« waren die literarischen Repräsentanten der Nation nach Europa ausgewandert. Die besten amerikanischen Schriftsteller jener Epoche gehörten zu den »expatriates«, oder sie versteckten sich in den »speakeasies« von Greenwich Village. Die »speakeasies« das waren Orte, wo mit gedämpfter Stimme geredet wurde, Flüster-Clubs, geheime Konventikel. Übrigens wäre der Literaten-Jargon den amerikanischen Massen unverständlich geblieben, selbst wenn er sich aus den leisen Lokalen auf die lärmende Straße gewagt hätte. Die geistige Elite der Nachkriegszeit – »the lost generation«, wie diese Autoren sich selber zu nennen pflegten – war mit Problemen beschäftigt, die dem »Mann von der Straße«, dem robusten Durchschnittsamerikaner müßig und irreal scheinen mußten. Während im Lande eine »prosperity« ohnegleichen herrschte und das Volk sich seines Wohlstandes mit naivem Enthusiasmus freute, war in den Büchern der »verlorenen Generation« vornehmlich von »disillusionment« die Rede. Und wie dunkel sie sich ausdrückten, diese esoterischen Barden der Glaubenslosigkeit und Verbitterung!

Eine Stimme? Das Amerika der Nachkriegs-Ära hatte sie noch nicht. Während die Poeten in Zungen sprachen, die das Volk nicht verstand, taten die Lieblinge des Volkes sich durch konsequente Schweigsamkeit hervor. Boxer und Fußballspieler bedürfen des Wortes nicht; ihre Eloquenz liegt in der trainierten Faust, in den stählernen Muskeln. Die Girls der Revue und Music Hall, diese disziplinierten Grazien, von denen jede einzelne ihre Individualität aufgegeben zu haben scheint, um mit den anderen als kollektiver Tanzautomat zu funktionieren, werfen die Beine in wortloser Präzision. Und die Schauspieler jener Zeit schwiegen wie die Athleten, wie die Tänzerinnen. Die huschende Pantomime des stummen Films war der gültige Ausdruck der noch nicht artikulierten amerikanischen Seele. Der expressive Schatten des tragikomischen Chaplin, der taciturne Adel des herrlichen Valentino, die verwegenen, aber lautlosen Possen eines Buster Keaton und Harold Lloyd, der beredte Blick, das unsagbare Lächeln einer Lillian Gish, einer Mary Pickford, dies waren die Bilder, in denen die junge Nation das eigene Abenteuer, den eigenen Traum, das eigene, noch unausgesprochene, noch unaussprechliche Wesen mit kindlich amüsierter Dankbarkeit wiedererkannte.

Dann kam das Ende der »prohibition«,das Ende der »prosperity«, das Ende des stummen Films. Die Stars begannen zu reden, wie verzauberte Geschöpfe, denen ein gnädiger – oder grausamer? – Gegenzauber plötzlich die Stimme zurückgibt. Die literarischen »expatriates« kehrten heim, um ihr Pariser Vokabular zu vergessen und sich ein amerikanisches anzueignen. Die »speakeasies« schlossen ihre Pforten. Amerika wurde gesprächig. Die große Diskussion, die nun einsetzte, hatte ihr natürliches Zentrum in der größten, geistig angeregtesten Stadt des Landes, in New York.

In den fetten Jahren der »prosperity« hatte man sich den Luxus des Schweigens und der verspielt-exklusiven Geheimsprachen leisten können; die dürren Jahre der »depression« trieben den amerikanischen Intellektuellen aus dem Elfenbeinturm, wo er sich mit elektrischem Eisschrank, reichlichen Whisky-Vorräten, kostbar ausgestatteten Avantgarde-Zeitschriften und einigem »disillusionment« bis dahin recht behaglich gefühlt hatte. Angesichts der ökonomischen Krise entdeckte »the lost generation« ihr soziales Gewissen. Aus intellektuellen Nihilisten und Anarchisten wurden über Nacht aktive Vorkämpfer des Fortschritts; »social consciousness« war die große Mode. In den Ateliers und Bars von Greenwich Village, in den geistig ambitiösen Salons der Park Avenue sprach man nicht mehr von Proust, Joyce und Picasso, sondern von Gewerkschaftsführern, Streiks, dem »closed shop« und »collective bargaining«; von geplanter Wirtschaft, Regierungsaufträgen, Arbeitslosenunterstützung. Kurz, man sprach vom »New Deal«. Die Konversation, die zur Zeit unserer ersten amerikanischen Reise von ästhetischen Fachausdrücken beherrscht gewesen war, wimmelte jetzt von noch geheimnisvolleren Formeln, kryptischen Abkürzungen und Initialen, deren Sinn der Nichteingeweihte erst allmählich erlernen mußte wie ein neues Idiom. Man sprach von WPA, CIO, CCC, SEC und AAA. Man sprach von F. D. R., eine Formel, die wir uns besonders leicht und gerne merkten.

Franklin Delano Roosevelt ging uns alle an. Er war nicht nur der Führer der amerikanischen Demokratie; die Demokraten der Welt, die Antifascisten aller Länder sahen in ihm ihre Hoffnung, den historischen Gegenspieler der Talmi-Cäsaren von Berlin und Rom, den moralischen Exponenten, das politische Genie der guten Sache.

Welch einzigartige Figur! Welch faszinierend reicher und komplexer Charakter! Er war vielschichtig, differenziert, schillernd, widerspruchsvoll, dabei nicht ohne monumental-patriarchalische Züge; aristokratisch, dabei ein wirklicher Demokrat; idealistisch, dabei verschlagen. In seinem Wesen mischten sich Wagemut und Berechnung, Phantasie und List, Güte und Ehrgeiz, Klugheit und Instinkt – ein kostbares Amalgam! Er war ein großer Menschenfreund und ein großer Staatsmann. Er liebte das Volk, aber er liebte auch das politische Spiel, in dem er Meister war. Er liebte die Macht; freilich nicht um ihrer selbst willen, sondern als Mittel zum Zweck. Der Zweck war sittlich: Er wollte das Los der Masse verbessern, den Frieden sichern, die Gesellschaft dem (letztlich unerreichbaren) Ideal vollkommener Freiheit und Gerechtigkeit ein wenig näherbringen. Wer solches anstrebt, verdient die Autorität, die er sich mit zäher Schlauheit verschafft hat und auf die er, nach vier Jahren im Weißen Hause, nun zum zweiten Male Anspruch erhebt.

Würde F. D. R. wiedergewählt werden? Die Frage war aktuell im Herbst des Jahres 1936. Eine Schicksalsfrage – nicht nur für die Vereinigten Staaten von Amerika!

Die ersten Wochen und Monate unseres Aufenthaltes standen im Zeichen der großen Wahlkampagne. Seltsames Spektakel! Die Mehrzahl der Individuen, aus denen die Öffentlichkeit sich zusammensetzt, schienen dem Präsidenten wohlgesinnt; aber die professionellen Wortführer und Interpreten der öffentlichen Meinung zeigten sich fast alle Roosevelt-feindlich. Für den eben erst Eingetroffenen, mit den amerikanischen Zuständen noch nicht Vertrauten hatte dieser Widerspruch etwas Verwirrendes. Warum haßten gerade die Zeitungsschreiber einen Mann, der sich sonst allgemeiner Beliebtheit erfreute? Oder waren die Journalisten gar nicht aus freien Stücken so gehässig, sondern schimpften nur auf Wunsch ihrer Auftraggeber? Diese sogenannte »freie Presse«, wie stand es denn um ihre Unabhängigkeit? Waren die großen Gazetten vielleicht nur Werkzeuge und Sprachrohre der großen Geldleute? Diese hatten etwas gegen den Präsidenten. Der »New Deal« galt ihnen als erster Schritt zum Bolschewismus. Sie waren zu dumm oder zu sehr »parti-pris«, um das Rooseveltsche Experiment als das zu erkennen, was es wirklich war: ein konstruktiver, geistvoll-kühner Versuch, das veraltete kapitalistische System durch gewisse Reformen zeitgemäß, zeitmöglich zu machen und solcherart vor dem Zusammenbruch zu bewahren.

Hätte das kapitalistische System die »depression« überlebt, ohne Roosevelts Eingreifen im Jahre 1932? Damals waren sogar die Millionäre für den »New Deal«, der zunächst einmal das Problem der Arbeitslosigkeit zu lösen oder ihm doch den gefährlichen Stachel zu nehmen schien. Keine Hungermärsche mehr! Das Revolutions-Gespenst war gebannt … Aber dafür gab es nun hohe Steuern und die Einmischung der Ämter in private Geschäfte, Novitäten, die auf ihre Art ebenso lästig waren wie die Demonstrationen unbeschäftigter Kriegsveteranen. Die Reichen, gestern noch ganz klein und häßlich, angesichts der drohenden Revolte, wurden nun schon wieder aggressiv. Der Schock der Wirtschaftskrise hatte nicht lang genug gedauert, um die »economic royalists« (wie F. D. R. sie gerne nannte) von ihrer Arroganz, ihrer zügellosen Habgier zu kurieren. Mit völlig intakt gebliebener Unverschämtheit fielen sie prompt über eben den Staatsmann her, von dem sie sich gerade hatten retten lassen. Wie, dieser Roosevelt wagte, ihnen Vorschriften zu machen? Ihre heiligen Privilegien sollten angetastet werden? Unerhört! Die Reichen mobilisierten ihr schwerstes Geschütz gegen »that man in the White House«, dessen frevlerisches Regime das Fundament amerikanisch-christlicher Gesittung – »Free Enterprise« selbst – in Frage stellte. Nur ein Präsident, der das Laissez-faire-Prinzip als obersten ökonomischen Grundsatz anerkannte und unbedingt befolgte, war akzeptabel für die Industriellen und Bankiers. Harding und Coolidge, das waren noch Führer gewesen, die um den Wert amerikanischer Ideale und Traditionen wußten. Präsident Hoover hatte Pech gehabt: unter seiner Ägide setzte die Krise ein. Gewiß nicht seine Schuld! Die Bankiers und Industriellen waren ihm trotzdem gut. Der Kandidat aber, den sie jetzt – 1936 – gegen Roosevelt ausspielten und zur Macht zu bringen hofften, war ein Gentleman namens Landon. »Free Enterprise« hatte nichts von ihm zu befürchten. Die unabhängige Presse setzte sich denn auch mit Nachdruck für den Gentleman namens Landon ein.

Neuankömmlinge und »Greenhorns«, wie wir, beobachteten den Fortgang der Kampagne mit atemloser Spannung. Würde das Volk sich dumm machen lassen von den Reichen, die Presse und Radio beherrschten? Ließen die Millionen sich gängeln von den Millionären? Verriet die Nation ihren besten Mann auf Wunsch einer privilegierten Clique, der eine gefügige Mittelmäßigkeit im Weißen Haus bequemer gewesen wäre?

Das amerikanische Volk beantwortete diese Fragen mit einer imposant eindeutigen, ergreifend spontanen Geste. F.D.R.s Sieg war ein überwältigender, fast beispiellos in der Geschichte der Republik. Der »New Deal« triumphierte. Die gute Sache triumphierte. Man hatte sie so oft unterliegen sehen, die Sache des Fortschritts, der Freiheit, der Vernunft. Welche Genugtuung, einem ihrer seltenen Siege beizuwohnen!

Freilich mischten sich Bedenken und Besorgnisse auch in diese Freude. Viele der amerikanischen Liberalen, die für Roosevelt stimmten, schienen nichts zu wissen, nichts wissen zu wollen von der ungeheuren Gefahr, die der europäische Fascismus für die Demokratie ihres eigenen Landes bedeutete. Ein paar Jahre später sollte ein klarsichtiger und tapferer Amerikaner, Wendell Willkie, den Begriff der One World populär machen; um 1936 aber hatte die Erkenntnis, daß wir in »Einer »Welt« leben, sich noch keineswegs durchgesetzt. Nicht nur in reaktionären Kreisen neigte man damals zum »Isolationism«; auch die progressiven Elemente (von löblichen Ausnahmen abgesehen!) zeigten eine ominöse Tendenz, sich an Europa oder am Ausland überhaupt zu desinteressieren, um ihre ganze Aufmerksamkeit inneramerikanischen Problemen, der sozialen Reorganisation des Kontinents, dem großen Abenteuer des »New Deal« zuzuwenden.

Der Fascismus, vor allem in seiner deutschen Form, war unbeliebt. Aber wenn es nur wenige gab, denen die Hitlersche »Neue Ordnung« sympathisch oder nachahmenswert schien, so waren es doch auch nur sehr Vereinzelte, die sich durch die Aggressivität der Achsen-Mächte direkt bedroht oder beunruhigt fühlten. Gestapo-Terror und offene Kriegsvorbereitungen in Deutschland, Hitlers Anspruch auf Österreich und Teile der Tschechoslowakei, der italienische Überfall auf Abessinien, die Generalsrevolte in Spanien, all dies schien, von Amerika aus gesehen, irgendwie unwirklich oder doch irrelevant. Ging die alte Welt moralisch vor die Hunde? Der amerikanische Liberale mochte es bedauerlich finden, »too bad«; aber was sollte er dabei tun? Jeder kehre vor seiner eigenen Tür und kümmere sich um die eigenen Angelegenheiten! »Let's mind our own business …« Hatten die Gründer der Republik nicht immer wieder vor Einmischung in fremde Händel gewarnt? Angesichts des europäischen Verfalls war dies weise Prinzip erst recht zu beherzigen. Offenbar, es lag im Interesse der Nation, sich von dem hoffnungslosen Durcheinander, der »hopeless mess« jenseits des Meeres möglichst fern zu halten.

Die meisten Amerikaner dankten Gott für den Ozean, der die neue Welt von der alten trennte. Ein breiter Wall, Gott sei Dank! Hinter einer Barriere von solchen Dimensionen fühlte man sich in Sicherheit, auch wenn anderswo die Erde bebte und der Vulkan Feuer spie. Herrschte in Europa eine ansteckende Krankheit, eine moderne Form der schwarzen Pest? Unangenehm für die Europäer! Aber ein cordon sanitaire von fünftausend Meilen machte doch wohl immun, auch gegen einen so virulenten Bazillus wie den fascistischen.

Eine fascistische Gefahr in den Vereinigten Staaten, im Lande Washingtons und Lincolns? Impossible! »Das ist bei uns nicht möglich …«

It can't happen here … Einige aufgeklärte Geister wußten um die Gefährlichkeit dieser Illusion, Sinclair Lewis zum Beispiel, der seine Mitbürger aufs eindruckvollste warnte und ermahnte. In seinem utopischen Roman »It can't happen here« stellte er mit drastischer Ausführlichkeit dar, wie ein amerikanischer Fascismus eben doch möglich werden könnte und auf welche Art er sich manifestieren würde.

Die dramatische Fassung des sensationellen Romans war eines der großen Theaterereignisse der Saison 1936/37. Wir wohnten der Premiere bei, oder vielmehr einer der Premieren; denn das Stück kam gleichzeitig in vier verschiedenen New Yorker Theatern in vier verschiedenen Sprachen heraus: auf englisch, deutsch, jiddisch und italienisch. Der »producer«, der sich ein so kostspieliges Experiment leisten konnte, war kein Geringerer als das US Government. Im Rahmen des großen Arbeitsbeschaffungsprogramms finanzierte der Staat nicht nur den Bau von Landstraßen, Hospitälern, Schulen, Parkanlagen und Wasserwerken, sondern auch Unternehmungen geistiger und künstlerischer Art. Die Regierung erteilte Aufträge an Schriftsteller, Maler und Komponisten; Gruppen von jungen Schauspielern und Regisseuren, für die es am Broadway keine Verwendung gab, wurden von der öffentlichen Hand subventioniert. Der stimulierende Effekt einer so generös konzipierten und tatkräftig durchgeführten Hilfsaktion machte sich auf kulturellem Gebiet ebenso bemerkbar wie in der rein ökonomischen Sphäre. Wagnisse wie die vierfache Inszenierung des erzieherisch wichtigen Dramas von Sinclair Lewis waren nur mit offizieller Unterstützung durchführbar. Dank der Rooseveltschen Initiative gab es in Amerika nun etwas, was bisher dort nie vorgekommen war: ein Theater, dessen Repertoire nicht ausschließlich von kommerzieller Spekulation bestimmt wurde; eine Schaubühne, die – sei es auch nur zeitweilig, unter dem Druck wirtschaftlicher Verhältnisse – ihre Mission als moralische Anstalt erfüllen durfte.

Die Eröffnungsvorstellung von »It can't happen here« (englische Version) bleibt mir unvergeßlich. Nicht so sehr wegen ihrer künstlerischen Meriten (es wurde gut, aber nicht aufregend gut gespielt), als um der Atmosphäre willen, die im Saal und auf der Bühne herrschte, die Publikum und Darsteller miteinander verband. Gerade im Kontrast zur blutrünstigen Düsterkeit der fascistischen Welt, die der Dramatiker aus pädagogischen Gründen und zum Zweck der Warnung beschworen hatte, wirkte das Milieu des WPA-Theaters besonders hell, intelligent, menschenfreundlich, gesittet. Man gab sich Mühe, man war guten Willens, auf der Szene wie im Parkett. Man spielte die Tragödie der äußeren Verwilderung oder sah sie sich an, nicht um mit pharisäerhaftem Dünkel dabei zu denken: »Ich danke Dir, Gott, daß ich nicht so bin, wie diese!«, sondern um sich wieder einmal zu geloben: »So weit, bis zu solcher Schande dürfen wir es hier keinesfalls kommen lassen! Möglich wäre es wohl auch bei uns – wenn wir es nicht verhindern. Seien wir also wachsam! Sorgen wir dafür, daß die fürchterliche Möglichkeit unerfüllt, unverwirklicht bleibe!« Solcher Art waren die Gefühle und Gedanken der Zuschauer: man konnte es an den Gesichtern sehen. Die Akteure dürften Ähnliches empfunden haben, während sie es sich angelegen sein ließen, das Unglaubliche (denn die äußerste Verwilderung ist unglaublich) künstlerisch plausibel zu machen.

Nach dem Theater gab es Geselligkeit im Hause des Autors; ich erinnere mich sehr genau daran, vielleicht weil es eine der ersten großen »parties« war, die ich im »neuen«, wiederentdeckten, erwachsen-gewordenen New York mitmachte. Sinclair Lewis – »Roter« (»Red«) genannt, eine Anspielung auf seine Haarfarbe, nicht auf seine politische Gesinnung! – war ja ein alter Bekannter aus den Berliner Tagen. Sein Weltruhm hatte seither noch zugenommen und war durch die Verleihung des Nobelpreises gleichsam offiziell sanktioniert worden; er selbst aber war sehnig hager, schlaksig, anspruchslos geblieben; ein lustig verlegener »boy« von über fünfzig Jahren, mit etwas verwitterter, von reichlichem Whisky-Genuß ramponierter Miene. Welcher Europäer von ähnlichem Prestige wäre so unfeierlich, so jungenhaft? Der Typus des »Olympiers«, des »cher maître« existiert nicht in Amerika. Ein Schriftsteller, der sich die Allüren eines Stefan George, eines Mallarmé, eines D'Annunzio oder Gerhart Hauptmann anmaßen wollte, in New York würde er ausgelacht.

Das Sakrale liegt den Amerikanern nicht. Ein Bursche wie »Red« Lewis, der waschechte, hundertprozentige »Yank«, wie er im Buche (zum Beispiel in den Büchern von Sinclair Lewis) steht, ist kein geeignetes Objekt für kultische Verehrung; auch nach weihevoller Abgeschlossenheit verlangt ihn nicht. Die Tatsache, daß man beim Schreiben meist alleine ist, scheint im Gegenteil eher geeignet, ihm die Existenzform des Schriftstellers zeitweilig zu verleiden und zur Last zu machen; an jenem Premierenabend sprach er sich ausdrücklich in diesem Sinne aus. »The theater is fun«, erklärte Red, Whiskyglas in der Hand, mit aggressiver geröteter Miene. »Das Theater ist lustig – team-work, if you know what I mean: Man arbeitet zusammen, als Gruppe, mit Kameraden, wie es sich gehört. Immer allein am Schreibtisch, mit dem Manuskript als einzige Gesellschaft – it's getting on my nerves! After all, man is a sociable animal, ein Herdentier, wie man im Deutschen sagt … Don't you agree? Well, anyhow, have another drink!«

Während der Romancier (der sich übrigens bald danach ohne großen Erfolg als Schauspieler versuchen sollte) über »that damned loneliness«, »diese verfluchte Einsamkeit« klagte, zu der sein Metier ihn zwinge, wimmelte es um ihn herum von schwatzenden, lachenden, Sandwich-kauenden, Whisky-schlürfenden Kumpanen. Es ging hoch her in diesem komfortablen Dichterheim. Dafür sorgte nicht nur die joviale Gastlichkeit des Hausherrn, sondern auch das dynamische Temperament der Mrs. Sinclair Lewis, weiteren und weitesten Kreisen als Dorothy Thompson bekannt.

Zur Zeit unserer ersten Begegnung – in München, im Hause unserer alten Freundin Christa Hatvany-Winsloe – war Dorothy eine unbekannte junge Zeitungskorrespondentin: sehr ehrgeizig, sehr begabt, sehr attraktiv. Sinclair Lewis, damals schon weltberühmt, war aufs überschwenglichste verliebt in sie. Der große Mann heiratete die kleine Journalistin, die nun ihrerseits so geschwind Karriere machte, daß ihre Popularität der seinen bald gleichkam oder sie beinahe schon übertraf. Die Dorothy Thompson, die wir in New York wiedersahen, stand im Begriffe, eine nationale Figur – »a national figure« zu werden. Ihre regelmäßigen Kommentare zu politischen, kulturellen und allgemein menschlichen Fragen wurden in Hunderten von amerikanischen Blättern abgedruckt; ihr Wort hatte Gewicht, man hörte auf ihren Rat.

Wir waren für sie; denn sie war gegen Hitler. Gegen Roosevelt war sie freilich auch: ihrem puritanischen Konservativismus mußte der »New Deal« ein Ärgernis sein. Indessen war sie sich der Gefährlichkeit des Nationalsozialismus zu stark und klar bewußt, um dem größten Antagonisten des teutonischen Führers, eben F. D. R., auf die Dauer Opposition zu machen. Bei den nächsten Präsidentenwahlen, 1940, sollte sie die Konsequenz aus ihrer antifascistischen Gesinnung ziehen und sich mit wirkungsvollem Nachdruck für den »third term« einsetzen. Nun aber schimpft Miß Thompson noch auf Roosevelt – freilich nicht ganz mit der Überzeugung und Intensität, die sie im Kampf gegen die Nazis zeigt. Sie ist eine formidable Kämpferin, unsere vollblütig robuste Dorothy. Wir hören ihr gerne zu, wie sie mit eloquentem Abscheu den Verhaßten schmäht.

In Deutschland hatte sie einmal ein Interview mit ihm, kurz vor seiner »Machtergreifung«. Der Mann mißfiel ihr, besonders natürlich die Nase, aber auch sonst. Sie fand ihn derartig mies, daß sie in ihrem Artikel prophezeien zu dürfen glaubte: Er schafft es nicht! Nie wird so einer Diktator werden! – Irren ist menschlich – wie ich aus eigener Erfahrung weiß. Auch ich habe mich in der Carlton-Teestube durch die ordinäre Visage meines Tischnachbarn täuschen lassen. Für Dorothy übrigens machte der Irrtum sich hochbezahlt: mit dem Hitler-Interview begann ihre glanzvolle Karriere. Der dumme Adolf, schließlich also doch zur Macht gekommen, ließ die amerikanische Reporterin prompt aus dem Lande weisen, womit er ihren Ruhm begründete. Erst jetzt legte die begabte Schimpferin so richtig los und zeigte, was sie konnte. Das weiblich emotionelle Pathos und die intelligente Fundiertheit ihres Hasses trugen wesentlich dazu bei, der amerikanischen Öffentlichkeit den Ernst der Nazi-Gefahr bewußt zu machen.

Sie sieht immer noch prachtvoll aus, wenn auch so jung und knusprig nicht mehr wie damals, als der rothaarige Romancier ihren Spuren nach Wien, Berlin und München folgte. Aus dem schlanken und scheuen »girl« ist eine Matrone von selbstbewußter Stattlichkeit geworden, eine Frau, die es gewohnt ist, bei großen Banketten und Meetings als »Madame Chairman« (Präsidentin) zu figurieren, auf Cocktailparties den Kreis andächtig lauschender Verehrer mit nachlässiger Autorität um sich zu scharen, an den intimen Zusammenkünften der Mächtigen als Gleichberechtigte teilzunehmen. Sie selbst ist mächtig, in jedem Sinn des Wortes: Busen, Bankguthaben, Verstand, Prestige – alles hat Format. Mit hochgetragenem Haupt und üppig stolzer Miene gleicht sie gewissen römischen Kaiserinnen, deren gebieterische Reize wir an Büsten der dekadenten Epoche nicht ohne respektvolle Beklommenheit bewundern.

Sinclair Lewis und Dorothy Thompson sind nicht die einzigen bekannten Gesichter, denen wir an diesem Abend oder bei anderen Gelegenheiten ähnlicher Art begegnen. Manche der amerikanischen Freunde aus der »Rundherum«-Zeit sind freilich inzwischen abberufen worden, Horace Liveright zum Beispiel, mein erster New Yorker Verleger, der sich damals mit seinem berühmten, auch etwas berüchtigten Charme unserer annahm; mit anderen will der alte Kontakt sich nicht mehr herstellen. H. L. Mencken gehört zu denen, die man jetzt lieber meidet. Anno 27 war er reizend zu uns, weil wir aus Deutschland kamen, einem Land, für das er immer eine Schwäche hatte. Denn was wäre kritiklose, eigensinnige Sympathie, wenn nicht Schwäche? Der schrullige alte Mencken bleibt sogar dem Dritten Reich gewogen, während er für Roosevelt nur Gift und Galle übrig hat. Soviel Originalität grenzt ans Alberne. Wahrscheinlich wäre er kein bißchen reizend mehr, wenn wir uns nun als Emigranten bei ihm meldeten, was wir denn auch lieber bleiben lassen.

In vielen Fällen aber ergibt sich ein erfreuliches Wiedersehen. Thornton Wilder, der vor neun Jahren erst ein »Versprechen« war, hat inzwischen einige seiner schönsten Dinge geschrieben und ist eine »celebrity« geworden, im übrigen aber unverändert: ebenso herzlich, ebenso bescheiden, ebenso humorvoll und gescheit, wie wir ihn einst gekannt. Solche Gelassenheit bei plötzlichem Ruhm ist selten und daher besonders rühmenswert. Die Verkanntheit, selbst das Elend mit Würde zu tragen, das bringt mancher fertig. Aber ein Charakter, der sich vom Erfolg nicht verwirren oder korrumpieren läßt, hat die schwerste Prüfung bestanden.

Frederic Prokosch steht vor derselben Probe: auch er hat jetzt einen Namen. Nicht, als ob er sich schon so glänzend durchgesetzt hätte wie der etwas ältere Wilder! Aber man ist doch auf ihn aufmerksam geworden, es wird von ihm gesprochen: sein Roman »The Asiatics« gilt allgemein als eines der interessantesten und reizvollsten Erzeugnisse der jungen Schriftstellergeneration. Erinnert man sich an das neidische Entzücken, mit dem er uns im Hause seines Vaters über unsere Reisepläne sprechen hörte? Damals war er noch ein halbes Kind, aber doch schon gezeichnet, schon ungewöhnlich, schon umwittert von der Aura kreativer Begabung. Die reizbare Stirn, die sich so leicht nervös verfinsterte; der dunkle Blick, voll von der Verheißung künftiger Visionen; alles wies darauf hin, daß aus dem Jungen etwas werden würde. Nicht ohne Genugtuung stellt man fest, daß ein Talent, von dessen persönlicher Ausstrahlung man früh berührt wurde, nun auch öffentliche Anerkennung findet. Während man Frederic zu seinen ersten Triumphen gratuliert, hätte man wohl Lust, einige mahnende Worte hinzuzufügen: Jetzt aber gearbeitet, junger Mann! Dein Asien-Roman ist gut, darf indessen nicht dein bester bleiben. Du wirst mehr und Besseres zu geben haben, wenn du nur jetzt nicht faul und eitel wirst. Laß dich doch bitte vom Erfolg nicht faul und eitel machen! Es würde die enttäuschen, die eine gewisse Empfänglichkeit für deine Ausstrahlung schon früh bewiesen haben … Natürlich sagt man durchaus nichts dieser Art, wie käme man auch dazu? Als ob man selber über Faulheit und Eitelkeit erhaben wäre! Aus Gründen der Konvention und der Bescheidenheit verbeißt man sich also die kleine Predigt, die, bei all ihrer Taktlosigkeit, dem jungen Dichter übrigens vielleicht recht wohlgetan haben würde …

Es gibt Wiedersehen und es gibt neue Begegnungen. Unter den neuen Freunden sind einige, mit deren Namen und Werk man schon seit längerem vertraut gewesen ist, während andere – wie Frederic seinerzeit – nur durch ihre Persönlichkeit wirken und auf ihre künftige Produktion neugierig machen.

Theodore Dreiser ist ein Klassiker, einer der drei großen Pioniere des modernen amerikanischen Romans. Die beiden anderen, Sinclair Lewis und Upton Sinclair, kannte ich schon persönlich; nun kam es zu einem Zusammentreffen mit dem dritten, der vielleicht auch der Größte ist. Dreisers realistische Epen »An American Tragedy«, »Sister Carrie«, »The Titan« haben einen erzählerischen Atem, eine allgemein menschliche Gültigkeit und plastische Objektivität, kurz, einen »homerischen« Zug, an dem es den journalistisch-tendenziös eingestellten Lewis und Sinclair durchaus gebricht. Im persönlichen Umgang freilich wirkte der Meister-Romancier nicht gerade »objektiv« und abgeklärt; eher tat er sich durch gallige Heftigkeit und eine gewisse bäurisch-grobschlächtige Aggressivität hervor. Es ist ein schlechtgelaunter, zorniger Dreiser, der mir in Erinnerung bleibt. Wenn ich an den Abend zurückdenke, den ich in seiner Gesellschaft verbrachte (man traf sich im Hause des jungen Dichters Selden Rodman, der in längst vergangenen Tagen oft nach München gekommen war), so höre ich eine ewig aufgebrachte, nörgelnde, quengelnde Stimme. Ein schwerer Mann mit weitflächig faltiger Miene sitzt im Lehnstuhl und schimpft. Er schimpft auf alles, mit besonderer Ausführlichkeit aber auf die katholische Kirche. Mag sein, daß mein Gedächtnis mich täuscht; aber mir will scheinen, der große Schriftsteller habe diesen ganzen Abend damit verbracht, den Vatikan zu schmähen. Nicht, als ob seine Argumente durchaus absurd gewesen wären! Im Gegenteil, der alte Freigeist und anarchistisch-marxistische Rebell – übrigens seinerseits in streng katholischer Umgebung aufgewachsen – hatte viel Intelligentes und Überzeugendes gegen das Pfaffenwesen vorzubringen. Aber auch das beste Argument verliert seine Schlagkraft und reizt zum Widerspruch, wenn man es mit gar zu großer Insistenz wiederholt. Mit solcher Hartnäckigkeit betonte Dreiser die obskurantistischen, kultur- und fortschrittsfeindlichen Aspekte der katholischen Tradition, daß ich mich einfach aus Gründen der Gerechtigkeit und des dialektischen Ausgleichs schließlich genötigt fand, auf die kulturellen Großtaten den sittigenden, bewahrenden, völkerverbindenden Einfluß der römischen Hierarchie hinzuweisen. Hätte ich dies doch lieber nicht getan! Denn nun begann der militante Atheist mich für einen Frömmler, wenn nicht gar für einen feilen Agenten des Heiligen Stuhles zu halten, was ihn erst recht angriffslustig machte.

Manchmal – ach wie oft! – ist es besser, die schöpferischen Geister, deren Werk man bewundert, nicht in ihrer menschlich-allzumenschlichen Erscheinungsform kennenzulernen.

War auch die Begegnung mit Thomas Wolfe eine Enttäuschung? Sein erster Roman, »Look Homewards, Angel!«, den ich zunächst in der bemerkenswert schönen deutschen Nachdichtung von Schiebelhut gelesen hatte, war mir lieb und bedeutsam vor allen anderen Hervorbringungen neuer amerikanischer Literatur. Ein boshafter Kritiker hat von Wolfe gesagt: »Er war ein Talent, das sich einbildete, ein Genie zu sein.« Nach meinem Dafürhalten war er eher ein Genie, dem es an Talent, will sagen, an künstlerischer Disziplin, organisatorischer Gabe, an Geschmack, Zucht, Maß, Leichtigkeit, Selbstkritik, Ironie gebrach. Er hatte die Besessenheit, das tragische Pathos, die monomane Konzentration, das unheimliche Gedächtnis, die sinnlich-übersinnliche Sensitivität des genialen Menschen. Im Gegensatz zu den Repräsentanten der älteren Generation, den nüchternen Chronisten und Gesellschaftskritikern Dreiser, Sinclair Lewis und Upton Sinclair, erscheint Wolfe durchaus lyrisch-bekennerisch gestimmt; sein Stil ist weder journalistisch-tendenziös noch episch-objektiv, sondern primär poetisch; er ist der Visionär, der inspirierte Sänger unter den großen Erzählern des erwachenden, zu-sich-selber-kommenden Kontinents. Seit Whitman hat die amerikanische Seele keinen so eloquenten, so begeisterten Zeugen gehabt.

Nein, ein Dichter von solcher Vitalität und Fülle kann wohl auch im persönlichen Umgang nicht enttäuschend sein. Die Stunde, die ich mit dem Autor von »Schau heimwärts, Engel!« in seiner New Yorker Wohnung verbringen durfte, bleibt mir unvergeßlich, wie jener zugleich trivialen und geheimnisvollen, sonderbar suggestiven Episoden, aus denen die autobiographischen Romane von Thomas Wolfe sich zusammensetzen.

Er logierte damals in einem ziemlich abgelegenen, wenig eleganten Distrikt der großen Stadt. Treppenhaus und Korridor rochen muffig, aber von seinem Arbeitszimmer hatte man den schönsten Blick über den East-River, dessen Brücken und Schiffe im grauen Dunste eines nebligen Winternachmittags verschwammen. Bei unserem Eintritt stand der Dichter im Rahmen der offenen Balkontür, ein Riese mit seltsam kindlicher und weicher Miene, versunken in den Anblick der geisterhaft vorübergleitenden Frachtkähne und bleichen Boote. Er wandte sich nach uns um, deutete mit großer, sanfter Geste auf das verwunschene, undeutliche Panorama.

»It's glorious isn't it? Den ganzen Tag lang könnte ich hier stehen und schauen.« In seine Worte hinein klang eine Schiffssirene, ein schwermütig gezogener, klagender, lockender Ruf von den verschleierten Wassern.

Er sprach, wie er schrieb – zugleich beschwingt und bedrängt vom Reichtum der Gefühle und Gesichte, die er alle auf einmal, alle in einem Satz oder doch in einem Atem mitzuteilen suchte. Neigte er zum Stottern? Vielleicht nicht eigentlich; aber seiner Eloquenz, so strömend und gelockert sie auch scheinen mochte, eignete doch ein bedenklicher, beunruhigender, fast beängstigender Zug ins Krampfhafte und Forcierte, als plage diesen gar zu mitteilsamen Titanen die geheime Furcht, daß Zunge und Lippen ihm, noch ehe die Botschaft vollendet, in plötzlicher Lähmung den Dienst versagen könnten.

Immer unterwegs von einem Ende des Raums zum anderen, erzählte er uns mühsam beredten Mundes von der Torheit amerikanischer Buchrezensenten, vom Zauber nächtlicher Eisenbahnfahrten, von der Tragödie der Neger in den Südstaaten, von musikalischen Eindrücken und seltsamen Reiseerlebnissen. Er hatte sich unlängst mehrere Monate lang in Deutschland aufgehalten, um das eingefrorene Mark-Guthaben, das sein Verleger Rowohlt für ihn in Bereitschaft hielt, dort an Ort und Stelle auszugeben. Viele seiner Anekdoten und scheinbar irrelevanten, zusammenhanglosen Reminiszenzen handelten von diesen Berliner Wochen. Wolfe war wohl der Ansicht, daß alles, was mit Deutschland zusammenhing, uns besonders interessieren müsse; ja, er vermutete vielleicht, daß unser Verlangen nach Neuigkeiten aus der alten Heimat das eigentliche Motiv für unsere Visite sei. Und so berichtete er in großartig farbigem Durcheinander von deutschen Juden, deren Verhaftung er im Wartesaal eines Berliner Bahnhofs beigewohnt; von Theaterabenden, gesellschaftlichen Ereignissen und Skandalen, wirtschaftlichen Verhältnissen, offizieller Propaganda und heimlicher Opposition im Dritten Reich; von den Buhlschaften des Ministers Goebbels und den Perversitäten des Führers, von deutschen Dichtern und deutschen Generalen, von deutschen Kriegsvorbereitungen, von den Kapricen des Verlegers Rowohlt und vom gemütlichen Familienleben des amerikanischen Botschafters Dodd, mit dem er – der Erzähler – sich während seines Aufenthaltes herzlich angefreundet.

Als Abschluß und Höhepunkt unseres Besuches gab es noch eine Überraschung, mit der Wolfe uns besonders zu erfreuen dachte. Die Überraschung hatte einen Kropf, Quellaugen, schmutzige Fingernägel und sprach eine gräßliche Mischung aus bayerischem Dialekt und schlechtem Amerikanisch. »Meine Zugehfrau!« rief der gesprächige Riese mit naivem Stolz. »Sie stammt aus Miesbach! Das ist doch nicht weit von eurer Geburtsstadt München? Ihr könnt in eurer eigenen Sprache mit ihr reden. Nur los! Nehmt keine Rücksicht auf mich!« Diskret abgewendet, als wolle er die Intimität dieser Begegnung nicht stören, ließ er sich doch keine der verlegenen Phrasen entgehen, die wir mit unserer kropfigen Kompatriotin tauschten. War nicht Heimweh das Leitmotiv, das immer wieder abgewandelte, innig variierte Thema seiner epischen Dichtung? Da ihn jede Botschaft aus der provinziellen Welt seiner Herkunft aufs tiefste rührte und bezauberte, glaubte er wohl gar, daß der Klang einer bayerischen Stimme Empfindungen von ähnlich bittersüßer, schwermütig seliger Art in uns auslösen müsse. »The great forgotten language«,die große verlorene Sprache, das verschollene Kindheitsidiom, dessen Rhythmus er sein Leben lang mit geduldig eifervoller Zärtlichkeit wiedereinzufangen suchte, – im Geschwätze der Magd sollten wir den fremdvertrauten Laut erkennen.

»The best of luck to you!« wünscht er uns zum Abschied. »Ich hoffe, daß es euch hier gefallen wird. Zunächst wird euch manches in diesem Land ungewohnt, vielleicht sogar häßlich oder feindlich scheinen. Aber ihr werdet euch schon einleben mit der Zeit. Ja, ich glaube, ich bin beinah sicher, daß es euch bei uns gefallen wird.«

 

Die Prophezeiung des Dichters sollte sich als durchaus richtig erweisen. In der Tat blieb uns die neue Umgebung eine Weile ungewohnt oder wollte uns sogar in mancher Hinsicht feindlich-häßlich scheinen, bis wir uns allmählich einlebten und am amerikanischen Lebensstil Gefallen fanden.

Neuankömmlinge machen Fehler; auch uns blieben bittere Erfahrungen nicht ganz erspart. »Die Pfeffermühle«, ohne geradezu ein Mißerfolg zu sein, fand in New York doch relativ wenig Anklang. Erika eröffnete ihre Kleinkunstbühne, vielleicht etwas übereilt, am 29. Dezember 1936 in einem schmucken, aber nicht sehr stimmungsvollen kleinen Theater, das im obersten Stockwerk eines Wolkenkratzers, dem »Chanin Building«, nahe dem »Grand Central«-Bahnhof, gelegen war. Ein Teil der Presse und des Publikums zeigte sich durchaus nicht unempfänglich für den besonderen Reiz der Szenen, Lieder und Rezitationen, von denen einige in englischer Übersetzung, andere im deutschen Original zum Vortrag kamen. Aber irgendwie fehlte es doch an Kontakt zwischen Parkett und Bühne; das Programm zündete nicht, schlug nicht ein. Der Enthusiasmus, mit dem die gleichen Nummern in Amsterdam, Zürich, Prag und anderen europäischen Metropolen bejubelt worden waren, hier blieb er aus; vergeblich warteten wir auf die großen »Lacher«, das ergriffene Schweigen, den vor Begeisterung fast heiseren Bravoschrei, das vehemente Klatschen.

Warum diese Kühle? Das literarische Kabarett, Spezialität der Pariser Boulevards und der Münchener Bohème, hat in Amerika keine Tradition, keinen Boden. Um diese Kunstform in fremder Sphäre einzuführen und durchzusetzen, hätte es wohl eines größeren finanziellen Aufwandes und gründlicherer Vorbereitung bedurft. Eine »amerikanisierte«, dem landesüblichen Geschmack konsequent angepaßte »Pfeffermühle« wäre vielleicht zur Sensation geworden. Oder hätte man das deutsche Tingel-Tangel in seiner ursprünglichen Form als exotische Attraktion präsentieren sollen? Auch diese Taktik, wenngleich nicht ungefährlich, hätte mehr Aussicht auf Erfolg gehabt als der Kompromiß, zu dem wir uns entschlossen. Die New Yorker »Pfeffermühle« mit ihrem zweisprachigen Repertoire und gemischten Ensemble war weder Fleisch noch Fisch: zu »outlandish« für die Masse, nicht »continental«, nicht »exotic« genug für die verwöhnten Snobs. Halbheiten, Kompromisse machen sich nie bezahlt, ein Axiom, dessen Gültigkeit sich in jeder Lebenssphäre, in jedem Erdteil bewährt.

Indessen sollte das Experiment sich doch als lohnend erweisen, nicht nur für Erika und einige Mitglieder ihrer Truppe, sondern auch vom amerikanischen Standpunkt aus gesehen. Das Emigranten-Kabarett, selbst noch in etwas reduzierter oder entstellter Form, wirkte doch als anregende Novität; so viel Grazie und Witz bei so echtem, starkem moralisch-politischem Pathos war auf New Yorker Bühnen selten vorgekommen, wie von einigen Kritikern ausdrücklich festgestellt wurde. Erikas anmutig-polemische Conférencen und Gesänge, das klug beherrschte Natur- und Urtalent der Giehse, Lotte Goslars sehr persönliche, sehr phantasievolle und phantastische Komik, es gab viel zu bewundern und wohl auch manches zu lernen für junge Amerikaner, die sich auf ähnlichem Gebiet versuchen wollten.

Die bedeutende Giehse, der das Züricher Schauspielhaus schon seit einiger Zeit Avancen machte, und Magnus Henning, unser Musikant, kehrten nach Europa zurück, während andere Mitglieder des Ensembles – die drollige Goslar zum Beispiel – in den USA ihr Glück versuchen wollten. Auch Erika entschloß sich zu bleiben. Das Abenteuer im »Chanin Building«, an das sich übrigens noch ein kurzes, erfolgreiches Gastspiel unter den Auspizien der »New School for Social Research« schloß (leider so spät, daß es die schon aufgegebene, schon in Auflösung begriffene »Pfeffermühle« nicht mehr zu retten vermochte), war für sie doch auch in mancher Hinsicht ermutigend verlaufen. Ihr Unternehmen mochte fehlgeschlagen oder doch nur ein halber, problematischer Erfolg gewesen sein; sie selbst aber hatte gefallen. Offenbar, das amerikanische Publikum hörte ihr gerne zu, sie wirkte angenehm, man reagierte freundlich auf ihren Blick, ihr Lächeln, ihre Stimme, kurz, auf ihre Persönlichkeit. Dies wußte sie nun und hatte allen Grund, sich dadurch encouragiert zu fühlen. Auf die Persönlichkeitswirkung kommt es an, überall, besonders aber in den Vereinigten Staaten, wo sinnlich-irrationale Sympathien und Antipathien bei der Beurteilung eines Menschen, im öffentlichen wie im privaten Leben, eine viel größere Rolle spielen als irgendwelche Gesichtspunkte abstrakter und prinzipieller Art. Die gewinnende Persönlichkeit ist ein Kapital, mit dem sich wohl Karriere machen läßt, zum Beispiel eine Karriere als »lecturer«.

Die Profession des »lecturer's« – in anderen Erdteilen so gut wie unbekannt – gehört zu den Besonderheiten des amerikanischen Lebens. Romanciers, Polarforscher, Politiker, exilierte Prinzen, Tennismeister, Religionsstifter, Köche, Medien, Blumenzüchter, Zeitungskorrespondenten, Psychoanalytiker sind im Nebenberuf »lecturers«, während andere sonst überhaupt nichts tun: sie reisen umher und plaudern. Meist sind es Damen der mittleren und hohen Bourgeoisie, Mitglieder der berühmten »womenclubs«, die sich von solchen Wanderrednern zur Lunchzeit oder nach dem Dinner belustigen und belehren lassen; aber auch männliche Vereine zeigen sich »lecture«-freudig, und es kommt selbst vor, daß man von gemischten Gruppen, Studentenorganisationen, schöngeistigen Zirkeln, religiösen Sekten, zu einem Vortrag eingeladen wird.

Vom Vortragenden (der sich übrigens ohne Zuhilfenahme eines Manuskriptes in freier Rede zwanglos äußern soll) erwartet, verlangt das Publikum vor allem eines – personality. Auf die Dauer freilich ist es mit der magnetischen Gegenwart nicht getan; der Erfolg hält sich nur dort, wo zur »personality« auch noch andere Qualitäten kommen, Eigenschaften moralischer und intellektueller Art, deren Vorhandensein das Publikum in Erikas »Pfeffermühlen«-Conférencen und später in ihren »lectures« doch wohl gespürt haben dürfte. Auch als Schriftstellerin und Journalistin sollte sie sich in Amerika bald einen Namen machen; ihre Spezialität aber blieb der direkte Appell und gesprochene Kommentar, der anekdotisch gewürzte Vortrag, die scheinbar improvisierte, in Wahrheit sorgsam vorbereitete Causerie, die teils durch den Charme der Rednerin, teils durch die Solidität der eigenen Substanz fesselt und überzeugt. Erika konnte eine der begehrtesten »lecturers« des Kontinents werden, weil sie Hörenswertes zu sagen hat (»She has a message!«) und weil sie das Hörenswerte mit liebenswürdiger Intensität zu Gehör bringt. (»She has personality!«)

Auch ich versuchte mich auf der Rednertribüne, gleich in diesem ersten New Yorker Winter, und muß wohl eine leidlich gute Figur dabei gemacht haben; denn einer der führenden »lecture agents« (ohne Agenten geht es nicht in Amerika!) offerierte mir einen recht erfreulichen Vertrag für die nächste Saison, 1937/38. Ich durfte also relativ zuversichtlich und mit den Resultaten meiner Erkundungsfahrt halbwegs zufrieden sein, als ich mich, Mitte Februar, wieder nach Europa einschiffte. Nicht, als ob die fünf Monate meines New Yorker Aufenthaltes mich zum reichen Mann oder zum gefeierten Star gemacht hätten! Im Gegenteil, meine finanzielle Lage war am Tag der Abreise ebenso prekär, wie sie bei der Ankunft gewesen war und wie sie es (ich tue gut daran, mich dreinzufinden!) wohl zeit meines Lebens bleiben wird. Was aber den »Ruhm« betrifft, so war ich zu vertraut mit der Fragwürdigkeit oder Nichtigkeit dieses Phänomens, um mir auf seine flüchtigen Manifestationen (ein paar schnell vergessene Zeitungsartikel und schnell verwelkte Sträuße) viel einzubilden oder dergleichen überhaupt so recht ernst zu nehmen. Indessen gab es doch manches, woran ich auf dem Promenadedeck des französischen Dampfers »Champlain« angesichts der sich mählich entfernenden Freiheitsstatue mit Genugtuung denken konnte. Gewisse Kontakte persönlicher und geschäftlich-professioneller Art, die ich diesem ereignis- und arbeitsreichen Aufenthalt verdankte, schienen mir von dauerhaftem Wert; die Berichte über amerikanische Zustände, die ich in der europäischen Presse hatte erscheinen lassen, gehörten vielleicht zu meinen nicht ganz mißglückten journalistischen Versuchen; was ich den Amerikanern über europäische Probleme zu erzählen hatte, war gleichfalls mit einem gewissen Interesse aufgenommen worden, in gesprochener Form sowohl als auch in geschriebener. Freilich, als Redner litt ich unter dem Handicap des fremden Idioms; so kümmerlich stand es damals noch um mein Englisch, daß ich selbst den kürzesten »speech« zunächst in der lieben Muttersprache aufsetzen mußte, um dann die Übersetzung auswendig zu lernen und mit mühsam gespielter Nonchalance vorzutragen. Würde ich jemals dazu imstande sein, mich auf englisch richtig und gefällig auszudrücken? Zur Beherrschung des »small talk«, der Umgangssprache brachte man es wohl mit Fleiß und gutem Willen. Aber wie weit wäre man selbst dann noch entfernt von jener Vertrautheit mit der idiomatischen Nuance, jener vollkommenen Kenntnis des Vokabulars, jenem Fingerspitzengefühl für rhythmische und klangliche Valeurs, kurz, von jener unbedingten und intuitiven sprachlichen Sicherheit, deren man als Schriftsteller bedurfte! Englische Prosa schreiben? Ein amerikanischer Autor werden? Die Idee erschien mir abenteuerlich, gewagt bis zum Absurden …

Aber wie sehr der Gedanke an die sprachliche Umstellung mich auch ängstigen und irritieren mochte, ich verließ Amerika doch mit dem Gefühl, ein neues Wirkungsfeld und einen neuen Hafen, vielleicht gar eine neue Heimat gefunden zu haben. Ich wußte, daß ich wiederkommen würde; nicht nur, weil ich vertraglich dazu verpflichtet war, sondern auch aus einem tieferen Antrieb und Bedürfnis. Zum ersten Male seit Beginn des Exils empfand ich den Wunsch, mich einer bestimmten nationalen Gemeinschaft anzuschließen, wieder einmal, endlich wieder Bürger eines bestimmten Landes zu sein. Kein europäisches Volk akzeptiert den Fremden; man »wird« nicht Franzose, Schweizer, Tscheche oder Brite, wenn man nicht als solcher geboren ist. Amerikaner aber kann man »werden«, was wohl mit der besonderen Struktur und Geschichte dieser über-nationalen Nation zusammenhängt. Ja, ich würde wiederkommen, nicht als Tourist, sondern als Einwanderer, als werdender Amerikaner. Noch war es kein Entschluß, keine Gewißheit; eher eine Hoffnung.

»Hoffnung auf Amerika« hieß denn auch der Vortrag, den ich alsbald in Europa hören ließ. Natürlich waren es nicht meine persönlichen kleinen Hoffnungen, von denen ich den Leuten in Holland, Luxemburg, der Schweiz, Österreich, der Tschechoslowakei berichtete; vielmehr ging es mir um die hoffnungsvollen Aspekte und Potenzialitäten der amerikanischen Zivilisation, des amerikanischen Charakters. Die europäischen Demokratien waren nicht verloren – wie ich meinen Hörern klarzumachen suchte –, solange der demokratische Geist sich jenseits des Ozeans mit solcher Vitalität und Macht behauptete. »Das Amerika Roosevelts ist unser Bundesgenosse im Kampf gegen den Weltfascismus«: ich stellte es mit Überzeugung fest. »Bei all seinen Fehlern und Schwächen ist es doch im Kern gesund, das Amerika Roosevelts. Mit seiner Hilfe siegt die Demokratie.«

Dies klang tröstlich, und des Trostes bedurfte man in Europa von 1937, besonders in den Ländern, die an Deutschland grenzen. Überall die gleiche moralische Gelähmtheit, derselbe Defaitismus angesichts der wachsenden Gefahr! Am schlimmsten war es in Wien, wo man das Wort »Hoffnung« kaum noch auszusprechen wagte: es klang gar zu höhnisch und paradox. Hoffnung, in einem Lande, dessen »Freiheit« von frömmlerischen Bürokraten wie Schuschnigg und brutalen Tröpfen wie Prinz Starhemberg verteidigt wurde? Das schlecht regierte, vom Westen im Stich gelassene Österreich war nicht zu retten. – Ich wußte es, während ich einer kleinen Schar von deprimierten Wiener Intellektuellen mit meinem Amerika-Vortrag Mut zu machen suchte.

Und die Tschechoslowakei? Auch sie war bedroht; indessen durfte man dort noch von Hoffnung reden. Das tschechische Volk, seinerseits bereit, jedem deutschen Angriff aufs entschiedenste Widerstand zu leisten, verließ sich auf sein Bündnis mit der französischen Republik und auf die Freundschaft mit der Sowjetunion. Vor allem durften die Tschechen, im Gegensatz zu ihren österreichischen Nachbarn, Vertrauen in die eigene Führung haben.

Thomas G. Masaryk, der »Befreier-Präsident«, lebte noch zur Zeit meines Besuches, war aber nicht mehr im Amt, sondern residierte in ländlicher Zurückgezogenheit. Sein Freund und Nachfolger, Dr. Eduard Benesch, hatte die Freundlichkeit, mich im Hradschin zu empfangen. Ich verbrachte eine Stunde animierten Gespräches mit dem Manne, dessen Name – zusammen mit dem Namen Masaryks – zum Symbol tschechischer Unabhängigkeit und Demokratie geworden war. Ein Staatsmann – und doch ein Mensch! Ein kluger Politiker – und doch frei von jedem Zynismus! Hätte Europa einem Führer von so seltenen Gaben nur etwas mehr Macht eingeräumt! Hätte der Kontinent nur drei oder vier solcher Figuren gehabt, neben dieser einen und einzigartigen: die Geschichte der letzten Jahrzehnte, unsere Geschichte, unsere Gegenwart sähe anders aus!

Ich habe Benesch immer als einen geistigen Vetter Roosevelts empfunden; die eigentümliche Mischung aus Verschlagenheit und Idealismus, spontaner Generosität und berechnender Skepsis, Intuition und Geduld ist ebenso charakteristisch für den großen Tschechen wie für den größeren Amerikaner.

Sind es nur die ungeheuren Dimensionen seines Landes und die ebenso enormen Konsequenzen seiner Tätigkeit, die uns Roosevelt als den Bedeutenderen erscheinen lassen? Das Format einer historischen Gestalt läßt sich wohl kaum absolut bestimmen; es wächst oder schrumpft mit der historischen Funktion, die dem Individuum vom Schicksal aufgetragen. Denn eben dieser Schicksalsauftrag, weit davon entfernt, zufällig oder sekundär zu sein, gehört ja untrennbar, essentiell zum Phänomen der individuellen Größe. Das vitale Genie des Präsidenten Roosevelt wirkt schon deshalb imposanter und erstaunlicher als die sensitive Klugheit des Präsidenten Benesch, weil ja der Regent der Vereinigten Staaten – mächtigster Mann der Welt – es keineswegs nötig gehabt hätte, genial zu sein: ein Mann in solcher Stellung kann sich alles leisten, auch die Mittelmäßigkeit, wie das Beispiel manch eines mediocren Herrschers, in Amerika und anderwärts, nur zu deutlich beweist. Die außerordentliche Begabung F. D. R.s nimmt sich wie ein fürstlicher Luxus aus, während Benesch, immer gefährdet, von einer prekären Situation zur nächsten manövrierend, durchaus auf seine Talente angewiesen war.

»Wenn ich schläfrig oder schlampig wäre, was würde aus meiner armen kleinen Tschechoslowakei?« Mit dieser rhetorischen Frage beantwortete er meinen Hinweis auf seine Umsicht, seine Wachsamkeit. Er verbreitete sich weiter über diesen Gegenstand, der ihn auf eine etwas wehmütige, vielleicht sogar ein klein wenig bittere Art zu amüsieren schien. »Die großen Herren dürfen Stümper sein«, erklärte er mit einem kurzen Lachen. »Aber um ein zahlenmäßig schwaches, von überlegenen Nachbarn ständig bedrohtes Volk zu regieren, dazu bedarf es einer gewissen Finesse.« Seine Miene war schlau, und er blinzelte mir beinah schalkhaft zu, während er abschließend feststellte: »Unsereiner ist auf sein Köpfchen angewiesen.« Es klang stolz, bei aller Bescheidenheit. Offenbar, er hoffte, daß Intelligenz und Takt genügen würden, die ihm anvertraute Nation vor neuer Heimsuchung, neuer Vergewaltigung zu bewahren.

Ein Optimist – Benesch war es wohl, auch in diesem Punkte Roosevelt ähnlich. Der Herr des Weißen Hauses und der Herr des Hradschin, beide blieben von gelassener, unerschütterlicher Zuversicht, auch bei scheinbar hoffnungsloser Lage. Weder der eine noch der andere zweifelte wohl jemals am Sieg der Sache, die ihm nun einmal, wiederum jenseits jeden Zweifels, als die richtige, gerechte galt. Täuschten sie sich, waren sie in einer Illusion befangen, die zwei weltklugen Moralisten und sittlich inspirierten Taktiker? Ihr Heldentum, ihre List, ihre Kalkulationen und Intuitionen, die Opfer, die sie brachten und verlangten, war alles umsonst? Sollte der ganze Aufwand sich als vergeblich erweisen? Der Sieg, an den Roosevelt und Benesch glaubten, was wurde denn aus ihm, als er endlich kam? Was sie am Schluß erlebten, war es überhaupt Sieg? Ihr Sieg? Oder war es nur trügerischer Triumph, in dem künftige Katastrophen sich schon ankündigten und vorbereiteten? Wußten sie dies in ihrer letzten Stunde – die beiden Sieger? Die beiden Optimisten, starben sie in Verzweiflung, als Gescheiterte?

Solche Fragen drängten sich uns wohl auf, angesichts einer Weltsituation, deren Düsterkeit jeden Hoffnungsstrahl und Glaubensschimmer gnadenlos verschlingt. Aber vielleicht – wer wagt es zu entscheiden? – sind wir noch blinder in unserer Verzweiflung, als jene es in ihrem Optimismus waren. Die menschliche Geschichte, rätselhaft, undeutbar, wie das tragisch mysteriöse Geschöpf, der Mensch, von dem sie geschaffen und durchlitten wird, kennt vielleicht weder Sieg noch Niederlage, weder Erfüllung noch Scheitern, sondern im Kampf und Opfer, ewig wiederholtes Spiel der Kräfte, ständige Bewegung – scheinbar ziellos oder doch ohne ein Ziel, das uns erkennbar wäre. Wer an diesem wunderlichen Prozesse teilnimmt mit vollem Einsatz aller seiner Kräfte, der hat doch wohl nicht ganz umsonst gelebt, auch wenn sein irdisch Werk hinfällig ist und scheint umsonst gewesen.

Umsonst? Darauf läuft es wohl stets hinaus in dieser chimärisch uneigentlichen, der Apokalypse verfallenen Welt. Umsonst? Dies Urteil gilt für alle unsere Taten. Was wir auch wollen oder leisten mögen, noch unser Glaube, noch das schönste Werk – es ist Sünde und Irrtum: In der dunklen Stunde, die auch die Stunde der Erleuchtung ist, wird diese Ahnung zur bittersten Gewißheit. Aber wenn nicht mehr gesündigt und geirrt, nicht mehr gehandelt würde, wäre das nicht noch schlimmer? Es wäre noch schlimmer, ungewiß, warum. Aus irgendeinem Grunde – unserer Einsicht durchaus entzogen, aber dennoch zwingend – bleiben wir zur vergeblichen Tat, zum »Umsonst« verpflichtet. Verhält es sich etwa so, daß wir handeln müssen, um die Fragwürdigkeit jeder Aktion immer wieder unter Beweis zu stellen?

... Ich hänge diesen Gedanken nach und bringe sie zu Papier, weil mir besinnlich und bewegt zumute wird bei der Erinnerung an eine Stunde in der Prager Burg. Der Mann mit den freundlich angeregten, gescheiten, freilich auch etwas überanstrengten, gespannten Zügen, der mir hinter dem breiten, schlichten Schreibtisch gegenübersaß, fühlte sich zum Handeln angehalten, bedurfte also wohl des Glaubens an die ethische Legitimität und praktische Erfolgsmöglichkeit seines Tuns. In fließend lebendiger, vielleicht gar zu logisch aufgebauter und daher leicht pedantisch wirkender Rede resümierte und analysierte er die Faktoren, von denen, seiner Ansicht nach, die internationale Situation um diese Zeit – im Frühling des Jahres 1937 – entscheidend beeinflußt wurde. Der Schluß, zu dem er kam, lautete kurz und bündig: »Wir schaffen es!« Die demokratische Seite, die Friedenspartei, zu der er natürlich nicht nur die Westmächte, sondern auch Rußland zählte, sei unvergleichlich stärker als die imperialistisch-fascistische Koalition. Hitler und seine Vasallen würden den Angriff nicht wagen. Der wohl-informierte, wachsame und kluge Mann am Schreibtisch schien fest davon überzeugt. »Es kommt nicht zum Kriege!« versprach er mir, die intelligente Miene freundlich erhellt, dabei ein wenig müde. Und, mit lehrerhaft erhobenem Zeigefinger: »Hören Sie meine Grinde!« In seiner böhmisch gefärbten Aussprache wurde das deutsche »ü« zum »i«, eine Eigenheit, derer ich mich gerührt erinnere.

Er legte mir die »Grinde« dar, von denen keiner mir so recht stichhaltig scheinen wollte. Alles, was er zu sagen hatte, war vernünftig; alles war falsch, weil die Vernunft eben nicht Recht behält. Er war ein Optimist, und Optimisten irren. Aber die Pessimisten, irren die etwa nicht? Ich bin kaum geneigt, mir in so heikler Frage ein Urteil anzumaßen.

Mein Urteil ist von der menschlichen Sympathie und vom moralischen Instinkt her bestimmt, nicht von den zugleich grob pragmatischen und schillernd relativen oder wandelbaren Kategorien des »Falsch« und »Richtig«. Der zu Irrtümern geneigte Dr. Eduard Benesch war, meinem gefühlten Urteil nach, ein guter Mann – der Besten einer, die ich kennen durfte. Ich bin stolz darauf, daß er mich seines Vertrauens würdigte und alle seine »Grinde« hören ließ, so wenig stichhaltig diese vielleicht auch waren.

Übrigens wußte er wohl im Grunde selbst, daß seine rationalistisch-optimistische Argumentation nicht auf gar zu festen Füßen stand. Zum Abschied – ich stand schon im Rahmen der offenen Tür: zwischen ihm und mir lag eine ziemlich weite Fläche spiegelnden Parketts – rief er, ein wenig überraschend: »Auf Wiedersehen! Und was auch geschehen mag, ich wünsche beste Nerven!« Wobei er mir vom Schreibtisch her flüchtig zuwinkte, als entfernte ich mich auf einem leichten Kahn und ließe ihn, den nicht mehr ganz Jungen (ja, er schien plötzlich beinah alt!) auf gefährlichem Posten zurück. »Beste Nerven« – ja, die brauchte man, um im Zeichen des Vulkans zu leben und gar auch noch produktiv zu bleiben. Wohin wir unsere Schritte wenden mochten – überall gemahnt uns das dumpfe Grollen an die Unabwendbarkeit, die Unentrinnbarkeit der Explosion. Das ominöse Geräusch blieb mir sehr wohl vernehmlich, während ich den »Grinden« des Dr. Benesch lauschte; beim heiteren Gespräch mit Freunden, in Jazz-durchkreischter Bar, auf der geschäftig lauten oder nächtlich beruhigten Gasse, im Konzertsaal, am Arbeitstisch – immer die quälend monotone Begleitmusik, das warnende Gebrumm aus unheilschwangerer Tiefe. Wann kam der Ausbruch? Die Zeit bis dahin war nur Gnadenfrist.

»Auf Wiedersehen!« hatte Benesch, der Optimist, gesagt, ehe er mir »beste Nerven« wünschte. Auf Wiedersehen – Wo? Wann? Unter Verhältnissen welcher Art? Ich war, wie sich versteht, nicht taktlos genug, die Frage auszusprechen; aber er las sie wohl in meinem bangen Blick, als er – einsame Figur im prunkhaft weiten Raum – so melancholisch winkte. (Das Wiedersehen fand in Chicago statt. Von der Prager Burg wehte das Hakenkreuz.)

»Au revoir!« Auch Karel Čapek, repräsentativer Autor der tschechoslowakischen Republik, Freund und Biograph des Präsidenten Th. G. Masaryk, gebrauchte diese zuversichtliche Formel, als es nach herzlichem Beisammensein zum Abschied kam. – »Au revoir, cher ami. A bientôt!« Ich bemühte mich, meinerseits recht unbesorgt und flott zu klingen, was aber wohl nicht gar zu gut gelang. Das ferne Murren irritierte mich. Wie lange noch …? (Ich sollte den Urbanen, geistvollen und liebenswerten Mann nicht wiedersehen. Er starb, buchstäblich an gebrochenem Herzen, im Herbst des Jahres 1938, kurz nach dem Unheilstag von »München«.)

Man nutzte die Gnadenfrist, so gut es gehen wollte. An den Aufenthalt im tragisch umschatteten und doch so tapfer hochgemuten Prag schloß sich ein etwas kürzerer in Budapest, wo ich eigentlich nichts zu suchen hatte. Es war Fascismus, nichts anderes, was ich in Ungarn an der Herrschaft fand; Horthy und Gömbösch unterschieden sich kaum wesentlich von ihren berühmteren Kollegen, Hitler und Mussolini. Aber irgendwie neigte man dazu, eben die Greuel, um deretwillen man Deutschland verlassen hatte und Italien mied, in Budapest nicht ganz ernst zu nehmen. Läßt solche Toleranz auf die essentielle Frivolität meines Charakters schließen oder erklärt sie sich vielleicht aus dem frivolen Charme, dem Operetten-Klima der ungarischen Kapitale? Wie dem auch sei, ich muß beschämt gestehen, mich im sozial rückständigen, korrupt und terroristisch regierten Budapest recht wohl unterhalten zu haben.

Es war eine lustige, belustigende Stadt, greller Balkan mit Resten alt-österreichischer Kultur; smarter Treffpunkt der internationalen Lebewelt, dabei nicht ohne provinziell-idyllische und ehrwürdig-pittoreske Züge; reich an Farben, reich an Gegensätzen, mit krasser Armut neben anrüchiger Eleganz, orientalisch wirkenden Bettlergestalten neben blendend zurechtgemachten Kokotten und Komtessen; ein erotischer Markt von bemerkenswerter Vielfalt und Qualität, ein sexuelles Angebot und Aufgebot, das den Vergleich mit dem Berlin der Inflationsepoche nicht zu scheuen brauchte. Es tat sich was auf den schönen Promenaden am Donaustrand, in den übertrieben schicken Nachtlokalen, in den türkisch dekorierten Bädern, deren Dämmerung – geil gesättigt vom Dampf der heilsam-heißen Quellen – zur schamlos kollektiven Orgie lud.

Wer wollte da den Spielverderber machen? Nicht ich, dem diese Exzesse einer vulgär-kommerziellen und doch auch wieder großartig elementaren, im antik-asiatischen Stil hypertrophierten Sinnlichkeit durchaus sympathisch waren. Erfüllte, derb ausgelebte Unzucht, auch wo sie sich mit finanziellem Interesse kuppelt, erheitert mich als die einzig unschuldige oder doch relativ harmlose Manifestation unserer tierischen Komponente, die sich nun einmal nicht völlig sublimieren läßt: schon der jetzt erreichte, erzwungene Sublimierungsgrad verursacht in der Kultur ein Unbehagen, das nicht allein dem großen Freud zu denken gibt …

Freilich, ich weiß – und war auch im frivolen Budapest nicht frivol genug, es je zu vergessen –: vom Animalischen, das ich gerne habe, ist's wohl nicht gar so weit zum Bestialischen, vor dem mir graut. Wenn es sich so verhält, daß die Triebbefriedigung von destruktiven Impulsen ablenkt oder diese ins Positiv-Libidinöse wandelt, so ist doch auch nicht zu leugnen, daß entfesselte Sexualität die fatale Neigung hat, ihrerseits ins Sadistisch-Zerstörerische auszuarten. Die Massenorgie, an der ich mein halb ironisch-bitterliches, halb süß-ordinäres Vergnügen finde, enthält in sich den Keim zum Massenmord; jeder Rausch ist potentieller Blutrausch, eine Konstatierung, mit der ich meine Eulogie der Wollust zwar nicht revozieren, aber doch schicklich modifizieren möchte.

Der Vulkan – ich hörte ihn, ich blieb in seinem Bannkreis, auch während ich im parfümierten Sumpf eines stark osteuropäisch oder schon außereuropäisch gefärbten Lustbetriebs Vergessen suchte. Vergessen, gibt es das? Die Problematik, von welcher unsere Zivilisation zerrissen wird, bleibt immer gegenwärtig, reicht überall hin, umfaßt unser ganzes komplexes, unteilbares Sein. Über Ursprung und Charakter der permanent-akuten Krise, durch die wir gehen, weiß der einseitig-geniale Freud ebensoviel und ebenso Ungenügendes auszusagen wie der einseitig-geniale Marx, was bedeuten will, daß die Wurzeln unserer Bedrängnis gleichzeitig in individueller und sozialer, erotischer und ökonomischer Sphäre zu suchen sind. Die rebellische Libido ist nicht weniger explosiv als der revolutionäre Klassenkampf; die traumesdunkle Mahnung, der kryptische Protest aus den Tiefen des persönlichen Unterbewußtseins vermischt sich mit dem Grollen aus anderer Unterwelt – der gesellschaftlichen.

Vergessen? Dem geistig wachen Menschen ist es wohl nicht vergönnt, im türkisch dekorierten Hurenbad so wenig wie an würdigerem Orte. Übrigens will ich mein Interesse an der Hurerei nicht übertreiben, wie gewisse »Bekenner« es zuweilen mit prahlerischer Zerknirschung tun. Was mich betrifft, so kann von sündigen Exzessen ebensowenig die Rede sein wie von den dazugehörigen Reue-Paroxysmen; schon deshalb nicht, weil ich, bei allem Wissen um die unterschwelligen Zusammenhänge zwischen Geschlechts- und Zerstörungstrieb, auch das ausgiebigste Vergnügen weder als »exzessiv« noch als »sündig« empfinde: weshalb ich denn aus meinen oft etwas wahllosen Umarmungen keineswegs mit einem christlichen Katzenjammer zu erwachen pflege, sondern vielmehr (wenn es eine nette Umarmung war) in heidnisch guter Laune. Aber ein von solchen Späßen völlig ausgefülltes und beherrschtes Leben wäre mir kaum gemäß, und ich habe es denn auch niemals ausprobiert, nicht einmal vorübergehend, auf Ferienbesuch in einem Operetten-Babel.

Übrigens war das Budapest dieser Epoche beileibe nicht nur ein verbuhlter Pfuhl, sondern hatte auch Reize und Anregungen sehr anderer Art zu bieten. Die Horthy-Diktatur – im Prinzip und ihrem Wesen nach ebenso geistfeindlich wie jedes andere fascistische Regime – bewies bei der »Gleichschaltung«, will sagen: Vergewaltigung des intellektuellen Lebens doch nicht die mörderische Konsequenz und Umsicht, mit der etwa der Hitler-Staat zu Werke ging. Im Ungarn von 1937 konnte ein liberal gesinnter Humanist und Kosmopolit wie Baron Ludwig Hatvany immerhin halbwegs ungestört leben und sich sogar, bei einiger Behutsamkeit, literarisch betätigen. Seine Lage, sehr ähnlich jener, die Benedetto Croce so lange im Italien Mussolinis auszuhalten hatte, blieb freilich beängstigend prekär und konnte jederzeit bedrohlich werden.

Hatvany kannte die fascistischen Justizmethoden. Glühender Patriot bei aller Voltaire-Skepsis und internationalen Umgetriebenheit, hatte er das Exil – ein vergleichsweise komfortables Exil, mit reichlich Geld, im vor-hitlerschen Europa – unerträglich gefunden und war freiwillig in die Heimat zurückgekehrt: nicht ohne sich vorher die völlige Unbedenklichkeit eines solchen Schrittes von offizieller ungarischer Seite feierlich garantieren zu lassen. Garantie oder nicht, Hatvany wurde verhaftet, kaum daß er den geliebten magyarischen Boden betreten hatte. Wahrscheinlich wäre er bis zu seinem Lebensende im Loch geblieben, hätte nicht eine damals noch empfindliche und einflußreiche öffentliche Meinung in Deutschland, Frankreich, Österreich und anderen Ländern sich energisch für ihn eingesetzt. Die Proteste ausländischer Prominenz machten Eindruck: Horthy und seine Bande begnügten sich in schöner Mäßigung mit einer teilweisen Konfiskation des Hatvanyschen Vermögens; der ausgeplünderte, aber noch immer nicht arme Baron ward aus der Haft entlassen.

Ich war sein Gast während meines Budapester Aufenthaltes. In dem nobel-schlichten Palais, das er im alten Buda bewohnte, ging es angeregt und gesellig zu; eine intellektuelle und gesellschaftliche Betriebsamkeit, die durch einen gewissen Stich ins Heimlich-Konspiratorische erst recht pikant, aber auch leicht gespenstisch wurde. Die sehr junge Gattin des politisch anrüchigen Grandseigneurs stammte ihrerseits aus schwer kompromittiertem Hause: ihr Vater, ein sozialistischer Abgeordneter, war von den »weißen« Terroristen ermordet worden. Eine der früheren Gemahlinnen des wiederholt verehelichten, reizvoller Weiblichkeit überhaupt sehr zugetanen Barons – meine alte Freundin Christa Hatvany-Winsloe – hatte sich mit ihrem antimilitaristischen, antipreußischen Erfolgsstück »Mädchen in Uniform« mißliebig gemacht: was aber die Hatvanys nicht hinderte, sie weiterhin herzlichst bei sich zu empfangen. Es war lauter suspektes Volk, aufsässiges Gesindel, potentielle oder aktive »résistance«, was sich in diesem äußerlich so respektabel-opulenten Rahmen zusammenfand. Beim Abendessen sprach man vom Wetter; zwar galt der Butler als vertrauenswürdig, aber Vorsicht blieb doch geraten. Nach Tisch, im Rauchsalon, ließ man die Maske fallen und raunte Ketzerisches; Verschwörer unter sich, Rebellen im korrekten Abendanzug, ein isoliertes Fähnlein aufrechter, wenngleich etwas verschreckter Freiheitskämpfer.

Eine »Innere Emigration« – im Hause meines Freundes Hatvany habe ich erfahren, daß es dergleichen gibt. Man befand sich dort in einer Oase der Geistesfreiheit und des Widerstandes, mitten im Machtbereich des totalitär-autoritären Staates. Wie rührend! Wie imposant! Eine kleine Gruppe von machtlosen Intellektuellen – Schriftstellern und Gelehrten, Bohémiens und Aristokraten –, wagte es, dem allmächtigen Regime Opposition zu machen. Vielleicht kam nichts dabei heraus als ein diskret-riskantes Getuschel im Rauchsalon. Aber das war doch etwas! Ob auch in Deutschland so getuschelt wurde? Fanden sie sich auch dort, die behutsam verwegenen, ängstlich streitbaren Feinde der Tyrannis? Die »Innere Emigration«, mit der ich in Ungarn in Berührung kam und von deren Vorhandensein in Italien man mir berichtete, hatte sie ihre Vertreter auch in der unbetretbaren Zone, dem verlorenen Vaterland?

Übrigens war das Palais Hatvany keineswegs nur Treffpunkt magyarischer Konspiratoren; man begegnete dort auch harmlos-mondänem Volk aus aller Herren Länder. Die mir wichtigste und liebste Bekanntschaft, die ich diesem gastlichen Haus verdanke, ist die mit einem jungen Amerikaner irischer Abkunft: Thomas Quinn Curtiss – damals erst zwanzigjährig – hat sich seither in seinem Lande einen Namen als kritischer Schriftsteller, besonders als Theaterkritiker gemacht. Zur Zeit unserer Begegnung lag sein Interesse vor allem auf dem Gebiet des experimentell-avantgardistischen Films. In Moskau war er mit dieser Sphäre als Schüler und Assistent des großen Sergey Eisenstein in Kontakt gekommen. Noch mehr als diesen bewunderte er den österreichisch-amerikanischen Regisseur und Charakterspieler Erich von Stroheim. Curtiss träumte davon, in Budapest einen grotesken Film à la Stroheim herzustellen, eine Art von Operettenparodie voll Kitsch, Satire, Ironie und psychoanalytischer Bedeutung.

Der neue Freund erinnerte mich an einen anderen, den ich verloren hatte. Die kühne Kurve dieser Augenbrauen und der Blick darunter, kindlich geweitet, aufgerissen wie in ständiger Panik oder in stetem Entzücken; all diesem begegnete ich nicht zum erstenmal. Ich kannte die Formung dieser Wangenknochen, dies wilde Haar, diesen etwas zu weichen, etwas zu dicken Mund, den ein heftiges, ja desparates Mitteilungsbedürfnis zu überraschend hurtiger Bewegung zwang. Genau so, oder doch sehr ähnlich, hatte der Erste, Eigentliche, René Crevel, mich angeschaut und zu mir gesprochen.

Das Leben – es besteht aus lauter Seltsamkeit! Je länger ich es kenne, desto geheimnisvoller wird es mir. Freilich, Überraschungen, Neuigkeiten kommen in meinen Jahren kaum noch vor; die Abenteuer wiederholen sich, auf anderer Ebene, unter neuen Zeichen; alles läuft schließlich auf Variation hinaus. Aber wie trivial ist doch der Schock-Effekt der Novität, verglichen mit dem Zauber des geistreich abgewandelten »Noch-Einmal«, des erinnerungsbeladenen »Immer-Wieder«! Psychologen sprechen wohl vom »déjà-vue«-Gefühl, ein Terminus, mit dem sich, wie mir scheint, beinah alle wesentlichen Eindrücke und Emotionen unserer Reifezeit charakterisieren ließen. Der jugendliche Mensch, dem beim Anblick einer fremden Landschaft oder inmitten einer für ihn tatsächlich noch nie dagewesenen Situation plötzlich zumute wird, als habe er dies alles schon einmal gesehen und mitgemacht, unterliegt wohl einer nervös bedingten Täuschung, oder aber er ahnt Zusammenhänge, die unserem Verstand nicht faßbar sind. Wer aber im Wirklichen (oder doch in der Sphäre, die wir »wirklich« nennen) schon ziemlich viel mitgemacht und gesehen hat, den überkommt vor mancher Szenerie und manchem Antlitz das »déjà-vue«-Gefühl, ohne daß krankhafte Kaprice oder okkulte Intuition dabei im Spiele wäre.

Man wird älter, ist nicht mehr ganz jung und bemerkt eines Tages, daß man nun »alles kennt«; im Lauf von drei Jahrzehnten absolviert ein Individuum die ganze Skala der ihm adäquaten Erlebnismöglichkeiten. Und dann? Wie geht es weiter? Es geht nicht weiter: es fängt wieder an: das ganze Stück da capo, noch einmal, immer wieder … Jede Lebensstufe ist variierte Repetition der vorangegangenen.

So stellen auch die hingegangenen Freunde sich wieder ein. Ungefähr ein Jahr nach Rickis Tod hatte ich Landshoff kennengelernt, keine Kopie des Ersten, Eigentlichen, aber ihm doch auf rührende Art verwandt. Und nun, noch nicht ganz zwei Jahre nach Renés jähem Abschied, kam dieser junge Curtiss. Ich erkannte den Blick, die Stimme. Es war ein Wiedersehen.

Freilich, die Variation bringt eigene Motive. Curtiss war nicht Crevel, weniger begnadet, weniger verflucht, lebensfähiger, gesünder als dieser. René hatte, als ich ihm in Paris begegnete, schon viel gelitten, wußte sich krank und wollte vielleicht schon sterben. Er war älter als ich. Der Bewunderte konnte mich vieles lehren, auch den Mut zur Verzweiflung. Im Verhältnis zu Curtiss fiel mir die Rolle des Gebenden, Lehrenden zu. Er war der Jüngere, nicht nur den Jahren nach, sondern auch als Produkt einer jungen, unreif-dynamischen Zivilisation: der amerikanischen. Meine längere Lebenserfahrung und europäische Bildung gaben mir ihm gegenüber eine gewisse Überlegenheit, die allerdings durch seine größere Vitalität, sein Temperament, seinen Charme mehr als aufgewogen wurde.

Wir reisten zusammen; ich zeigte ihm die mannigfachen Stationen meines europäischen Wanderlebens: das temporäre Elternhaus in Küsnacht am Zürichsee (mir lag daran, den neuen Gefährten der Familie vorzuführen); die alten Graubündner Bauernstuben in Sils-Baseglia, wo unser »Schweizerkind«, die treue, schöne Annemarie S., mit ein paar Freunden – der Giehse, Erika – sommerlich residierte; die vertrauten Grachten von Amsterdam, ein paar Pariser Straßen, die alten Lieblingsorte an der azurenen Küste: Villefranche, Cannes, Toulon, Sanary.

Es war ein guter Sommer, ungeachtet der apokalyptischen Drohung, an die jedes politische Gespräch, jede Zeitungslektüre grausam erinnerte. Seltsamer, paradoxer Weise bringen wir es fertig, glücklich zu sein, auch im Schatten der Drohung. Ich war glücklich.

War ich es? Die Erzählung, die ich in jenem Sommer schrieb (den größten Teil davon in Annemaries Engadiner Heim) klingt nicht eben übermütig. »Vergittertes Fenster« handelt vom Tod eines Menschen oder eigentlich von seinem Willen zum Tod, seiner Flucht ins Dunkel. Der tragische Held, den ich mir diesmal wählte, war König Ludwig II. von Bayern, nicht der gelockte Märchenprinz und pittoreske Lohengrin, der von seinem Volk vergöttert ward und dem die Pariser Symbolisten lyrisch huldigten; sondern der Gezeichnete, Verlorene, das Opfer gemeiner Kabale und eigener Hybris, der Psychopath, der Märtyrer, ein Leidensfürst, dem späten Oscar Wilde ähnlicher als einem Wagner-Heros: schon etwas angefault, schon entstellt, mit schlechten Zähnen und gedunsenen Lippen, bei freilich schön-gebliebenem Blick und immer noch sehr majestätischer Gebärde. Diesen also beschrieb ich, seine Erinnerungen (wobei der Lohengrin-Glanz immerhin retrospektiv beschworen werden durfte), seine letzten Ekstasen, seine Würde im Untergang, seine Hellsicht in paranoischer Verfinsterung.

Wenn es auch keine übermütige Geschichte ist, von einer gewissen kecken Degagiertheit, dem Übermut nicht fern, scheint mir die wunderliche Stoffwahl doch zu zeugen. Denn etwas Wunderliches hat es doch, wenn ein Autor, der seine politisch-moralische Verpflichtung kennt und anerkennt, sich plötzlich eine solche Eskapade leistet, einen munteren Ausflug ins Melancholisch-Ästhetizistische, ins liebe, alte, traulich-morbide Märchenland. Escapism, das gestrenge Wort, mit dem eine puritanisch-progressive angelsächsische Literaturkritik vielleicht etwas zu häufig operiert, erscheint hier einmal wirklich angebracht. »Vergittertes Fenster« bedeutet in der Tat einen moralisch fragwürdigen (wenn auch, wie mir scheint, künstlerisch nicht ganz reizlosen) Versuch, hinter die Schule zu laufen.

Und was war es, das mich zu meinem übermütig-schwermütigen kleinen Wagnis inspirierte? Das Glück, flüchtigste der Illusionen, die aber doch real, das einzig Reale ist, solange sie eben dauert.

Die vom Glück inspirierte Novelle um den Tod des unglücklichen Königs ist meinem Freund Thomas Quinn Curtiss zugeeignet.

Übrigens war es nur ein kurzer Urlaub, den ich mir gönnte. Dem Feriensommer folgte eine Herbst- und Wintersaison voll anstrengender Pflicht. Im September ging es zurück nach Amerika, wo mein tüchtiger Impresario eine überraschend ausgedehnte Vortragstournée für mich arrangiert hatte. Ich sprach über Deutschland: die deutsche Gefahr, die deutsche Tragödie, das deutsche Rätsel, die deutsche Zukunft. Manchmal war meine Rede trockener Tatsachenbericht, manchmal analytischer Kommentar oder rhetorisches Manifest; bei wieder anderen Gelegenheiten mischte ich mein düsteres Material mit Persönlich-Anekdotischem und präsentierte ein Stück Zeitgeschichte als Erlebnisreferat, als »personal history«: »Wie ich es sah … Wie wir es erlebten …«

Dies hatte Erfolg. Je persönlicher, desto besser! In meinem Vortrag »A Family against a Dictatorship« gab es heitere, auch sentimentale Stellen, um derentwillen die leicht-gerührten, leicht-amüsierten »lecture«-Auditorien mir mancherlei verziehen: sogar den Ernst meiner Warnung. In vielen Städten und Städtchen zwischen New York und Los Angeles, zwischen Beverly Hills und Brooklyn wollte man etwas hören über diese gemütliche, dabei streitbare »German family«, die sich da, drollig-verwegener, etwas närrischer Weise, auf den ungleichen Kampf mit einer bösen, großen Diktatur eingelassen hatte. Ich sang meine »Family«-Arie vor den »Rotariern« in Baltimore, den »Schlaraffen« in Chicago, den »Elchen« in Kalamazoo (so etwas gibt es!); die Damen von San Francisco zeigten sich ebenso gefesselt und gerührt wie die Studenten der »University of Ohio«, die feinen jungen Mädchen des »Smith College« und die politisch interessierten Neger des New Yorker Harlem Distrikts. Ich darf mich rühmen, die Honoratioren der Stadt Richmond im Staat Virginia von Hitlers Garstigkeit überzeugt zu haben, während ich den Juden in Philadelphia, Detroit, Kansas City und andren Zentren nur bestätigte, was ihnen vorher schon bekannt gewesen: daß Antisemitismus keinen Segen bringt, sondern lauter »Zores«, »trouble« und Unannehmlichkeit. (Wobei ich allerdings hinzuzufügen pflegte, daß die absolute Infamie der Nazis nicht etwa Folge ihres Antisemitismus sei; vielmehr möge man, wie ich gerade in jüdischem Milieu gern betonte, den Antisemitismus als eine der Konsequenzen und Manifestationen der absoluten Infamie verstehen, die übrigens in ihren sämtlichen Erscheinungsformen gleich degoutant und gleich gefährlich bleibe.)

Die Lebensform des »lecturer's« hat ihre Reize, aber auch ihre Schattenseiten. Gewiß, man kommt herum, sieht Land und Leute, lernt mancherlei, oft ist es unterhaltend. Oft auch nicht! Die monotone Ruhelosigkeit kann lähmend wirken. Ist dies noch Bewegung? Es scheint Stagnation. Nichts verändert sich. Immer, überall die gleichen Reaktionen, Stimmen, Mienen, Phrasen! Der Pullman-Wagen, der dich von Seattle nach Denver bringt, könnte dich auch von Omaha nach Cincinnati tragen, derselbe Geruch, derselbe Lärm, derselbe alte Herr, der mit dir plaudern möchte, derselbe Neger, der dir das Bett macht und den Mantel bürstet. Das Hotel in Boston gleicht dem in Washington. Beim Dinner in Philadelphia setzt man dir wieder das zähe Huhn mit viel zu großen, viel zu grünen Erbsen vor, das du beim Lunch in Newark stehen ließest. (Nachher gibt es Apfelkuchen mit Käse oder Apfelkuchen mit Vanille-Eis, letzterer Apple Pie à la mode genannt.) Der joviale Mr. L. B. Smith, der vor deiner »lecture« in Saltlake City als »chairman« (Versammlungsleiter) figuriert, ist gewiß ein Vetter, jedenfalls ein Doppelgänger des jovialen Mr. R. P. Brown, von dem du in Buffalo (oder war es in Joplin?) dem Publikum vorgestellt wurdest. Soigniertes Grauhaar, Zwicker, rosiger Teint, Phantasiekrawatte, Akzent, Gebärde, Lächeln, alles haben die zwei gemeinsam; übrigens sind beide gewiß mit Mr. Brooks in Little Rock verwandt: der sprach genau so, sah genau so aus. Brooks und Brown sprachen freilich meinen Namen ungeniert amerikanisch aus: »Ladies and gentlemen! It is my privilege to introduce to you Mr. Kloos Mähn, the distinguished son of a distinguished father …« Smith hingegen präsentiert mich, originellerweise, als »Mr. Klaas Monn«, was er für »German pronunciation« hält …

So verging mir der Winter 1937/38.

 

Man wird älter, ist nicht mehr ganz jung und siehe da, die Zeit beschleunigt sich. Ein Jahr, das war doch einmal eine große Sache! Und jetzt? Kaum hat es angefangen, ist's auch schon wieder aus. So hatten also die Erwachsenen recht …

Die Erwachsenen warnten das Kind, dem drei Wochen, zwei Monate unabsehbar schienen. »Warte nur!« sprachen die Erwachsenen mit ernster Miene. »Paß nur auf! Je älter man wird, desto schneller vergeht die Zeit. Immer geschwinder, paß nur auf! warte nur!, immer rapider geht's dem Grabe zu …«

Erwachsenen-Geschwätz, wichtigtuerisches Gerede, man zuckte die Achseln, grinste hinterm Rücken des Kinderfräuleins, der Omama, des Herrn Oberlehrers. Und nun – welche Überraschung! – stellt sich heraus, daß die Erwachsenen ausnahmsweise nicht gelogen haben. Je älter man wird – es ist wahr, ich bezeuge es – desto schneller vergeht die Zeit: dem Grabe zu, immer flüchtiger, immer wesenloser.

Wenn wir besser lebten, mehr in Einklang mit dem mütterlichen All, vielleicht wären uns die Tage, die Jahreszeiten haltbarer, solider, wirklicher. »O Seligkeit der kleinen Kreatur, – die immer bleibt im Schoße, der sie austrug …« Rainer Maria Rilke, dessen späte Gedankenlyrik mich so oft mit Trost und Rat versorgt, wußte mehr als irgendein anderer von diesem Glück pflanzenhaften Eingefügtseins, vom verlorenen Paradies des »reinen Raums«, »in den die Blumen unendlich aufgehn« und dem auch die Mücke, » kleine Kreatur«, noch zugehörig bleibt. Schon der Vogel aber – tragisch-bewußtes, problematisch-unabhängiges Geschöpf, ein Hamlet fast, im Vergleich zur selig eingeordneten Rose – hat keinen ganzen Frieden mehr, nur »halbe Sicherheit«. Und wir?

Und wir, Zuschauer, immer, überall,
dem allen zugewandt und nie hinaus!
Uns überfüllt's. Wir ordnen's. Es zerfällt.
Wir ordnen's wieder und zerfallen selbst.

Wir ordnen's, jeder auf seine Art, nach seinem Auftrag. Ich muß schreiben. Vielleicht würde ich lieber malen oder tanzen oder Tulpen züchten; aber man hat keine Wahl. Übrigens darf man sich sagen, daß die literarische Form des »Ordnens« nicht sinnloser und nicht weniger notwendig ist als irgendeine andre. Das Manuskript, an dem ich emsig tippe, vergilbt, verblaßt, zerfällt; aber was wird aus der Statue, dem Blumenbeet, dem Flugzeug, der Kathedrale?

Zur vergeblichen Tat, zum »Umsonst« verpflichtet, tue ich Dienst an der Schreibmaschine. Seiten füllen sich mit schwarzen Zeichen; die Lade füllt sich mit beschriebenen Seiten. Es wird ein Roman, zum Verfall bestimmt, noch weniger haltbar als der Dom aus bröckligem Gestein, der fragile Propeller, der pflegebedürftige, von Unkraut und Sturm bedrohte Gartenweg. Mein Buch, solange es da ist, heißt »Der Vulkan: Roman unter Emigranten«.

Das Exil hat lange gedauert, länger als erwartet oder für möglich gehalten. Auf irgendeine Art dürfte es demnächst zum Abschluß kommen; entweder das deutsche Volk macht Revolution (eine Hoffnung, von der wir unverständiger, eigensinniger Weise noch immer nicht lassen wollen) oder Hitler macht Krieg. Das apokalyptische Grollen kommt immer näher; die Zeichen mehren sich. In Spanien wird gekämpft, unser Kampf: die relativ Braven, Zukunftswilligen und Aufgeweckten gegen die durchaus Finsteren, völlig Bösen. Es ist der Prolog zur Schicksalstragödie, die bald in Szene gehen soll. Oder spielt man in Spanien schon den ersten Akt?

Jedenfalls drängt die Zeit; sie vergeht so hurtig, wenn man älter wird und übrigens in ständiger Erwartung lebt. Der Heimatlose, Entwurzelte, der immer wartet – auf das Wunder der Heimkehr? auf die Katastrophe? –, neigt wohl dazu, sein Dasein als ein Provisorium aufzufassen; die Wanderjahre, die Wartejahre haben für ihn kein Gewicht, er nimmt sie nicht voll. Und doch, wie schwer sie wiegt, wie sie sich mit Erlebnis füllt, diese zu-leicht-befundene, nicht-voll-genommene Zeit! Die Überfülle der Eindrücke und Probleme will geordnet sein, ehe wir selbst zerfallen.

Ich sitze in einem New Yorker Hotelzimmer und bemühe mich, das wirre, reiche, trübe Exil-Erlebnis in epische Form zu bringen. Erinnertes und Geahntes, Traum und Gedanke, Einsicht und Gefühl, der Todestrieb, die Wollust und der Kampf (Kampf, physische Gewalt, Mord und Opfer als paradox-desperate Konsequenz moralischer Entscheidung), Musik und Dialektik, die Entwurzelungsneurose, das Heimweh als Geißel und Stimulans, befreundete Gesichter und geliebte Stimmen, Landschaften meines Lebens (Paris, Prag, Zürich, Amsterdam, das Engadin, New York, die Insel Mallorca, Wien, die Côte d'Azur), die Fratze der Infamie, die Glorie des Erbarmens (warum keine Engel, da es Teufel gibt?), viele Formen der Flucht, des Escapism (tödlicher Balsam des Opiats! Ekstase und Qual der Sucht!), viele Formen des Heroismus (Spanien! Und wußte man nicht auch von Beispielen des Heldentums im Dritten Reich?), Begegnungen, Abschiede, Ängste, Einsamkeit, Umarmung und Empfängnis, die Geburt eines Kindes, und wieder Kampf, und wieder Abschied, wieder Einsamkeit, das Pathos des »Umsonst«, der Entschluß zum »Trotzdem«: all dies galt es erzählerisch zu arrangieren, hineinzuweben in den wortreichen Teppich. Nicht fehlen durfte dem Ganzen die düsterfahle Farbe der Gefahr, schwefliger Reflex nahender Feuerbrände, phosphoreszierende Aura des Verhängnisses.

Komplexes Gespinst! Ehrgeiziges Unterfangen! Es würde meine umfangreichste Arbeit werden, auch meine beste, wie ich mir von mir selbst versprechen ließ. Ich schrieb mit Eifer, freilich auch mit Zweifeln. »Für wen schreibe ich?« Die Frage blieb mir immer gegenwärtig. »Diese Chronik der vielen Verirrungen und Wanderungen – wer wird sie lesen? Wer wird Anteil nehmen? Wo ist die Gemeinschaft, an die ich mich wenden könnte … Unser Ruf geht ins Ungewisse – oder stürzt er gar ins Leere? Bleibt ein Echo aus? Irgendetwas wie ein Echo erwarten wir doch und sei es auch nur ein undeutliches, weit entferntes. Ganz stumm darf es nicht bleiben, wo so heftig gerufen wurde.«

Es blieb stumm – oder doch beinahe. Meine umfangreichste Arbeit, vielleicht meine beste – »Der Vulkan: Roman unter Emigranten« – erschien im Sommer des Jahres 1939, einige Wochen vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges. Die Eruption des wirklichen Vulkans übertönte meine stillere Botschaft. Wer hat sie gehört? (Unter den wenigen Äußerungen zu diesem Buch, die ich bewahre, ist mir die kostbarste ein sehr schöner Brief meines Vaters.) Wer wird sie noch hören?

»Für wen schreibe ich?« Diesmal bin nicht ich es, der seufzt, oder ich seufze doch mit fremdem Atem. Eine meiner Romanfiguren, der junge Emigrant Martin Korella, brütet über dem Emigrantenroman, den ich ihn schreiben lasse und den er übrigens nie vollenden wird. Es ist still im Zimmer. Der Geliebte, Kikjou heißt er, schläft: Nach den langen Gesprächen und den Liebkosungen ohne Ende sind ihm endlich doch die Augen zugefallen. Schon lichtet sich die Dunkelheit hinter dem großen Atelierfenster. Die Dunkelheit erbleicht, wird fahl, hellgraue Töne mischen sich in die Schatten; der neue Tag kommt wohl bald. Die Stunde der Dämmerung ist Martins beste. Er schreibt:

»Für wen schreibe ich? Immer haben Dichter sorgenvoll darüber nachgedacht. Und wenn sie es gar nicht wußten, dann haben sie wohl – hochmütig und resigniert, stolz und verzweifelt – behauptet: Für die Kommenden! Nicht euch, den Zeitgenossen, gehört unser Wort; es gehört der Zukunft, den noch ungeborenen Geschlechtern.

Ach, was weiß man aber von den Kommenden? Welches werden ihre Spiele, ihre Sorgen sein? Wie fremd sind sie uns! Wir wissen nicht, was sie lieben, was sie hassen werden. Trotzdem sind sie es, an die wir uns wenden müssen.

Die Horizonte unseres Daseins sind verfinstert. Die drohend geballten Wolken künden schon lange das Gewitter an. Es könnte ein Gewitter ohnegleichen werden. Die Katastrophen aber sind kein Dauerzustand. Die Himmel, die wir heute so tief verschattet sehen, erhellen sich wohl wieder. Werden wir, die wir jetzt kämpfen und leiden, von diesem neuen Licht noch beschienen werden?

Es sind andere unterwegs: jüngere Kameraden, jüngere Brüder – wir hören schon ihren leichten Schritt. Denken wir an diese, wenn wir ermüden wollen! Lieben wir die noch Namenlosen! Ihre Stirnen sind noch blank von einer Unschuld, die wir längst verloren. Unsere jungen Brüder sollen nicht schuldig werden, wie unsere Väter und wie wir es gewesen sind. Sie sollen sich freier entwickeln, besser und schöner, kühner und frommer, klüger und sanfter werden dürfen, als es uns gestattet war.

Das Lächeln der flüchtigen, zerstreuten Dankbarkeit, mit der die jüngeren Kameraden unser vielleicht gedenken werden, muß des Lohnes genug für uns sein. Irgendwo werden sie, von denen wir uns so gerne vorstellen, daß sie glücklicher sind als wir, auf Spuren stoßen, die von unseren Leiden und Kämpfen zeugen: diesen Leiden und Kämpfen, die uns heute ganz in Anspruch nehmen, von deren Gewicht und Bitterkeit jenen Knaben aber wahrscheinlich die Vorstellung fehlen wird. Dann werden sie, für eine ganz kurze Weile, innehalten in ihren Spielen und in ihrem Werk. Ein paar gerührte Sekunden lang beschattet Nachdenklichkeit ihre Stirn, einer Wolke gleich, die schnell vorüber ist. Sie blättern, nicht ohne Mitleid und vielleicht nicht ganz ohne Achtung, in dieser Chronik von den vielen Wanderungen und den vielen Fragen. Dann kommt ihnen wohl eine Ahnung, was von uns gesündigt und bereut, durchkämpft, gelitten worden ist – und wir sind nicht vergessen.«

 

Keines meiner anderen Bücher hat mich so lange beschäftigt wie »Der Vulkan«; die Arbeit, Herbst 1937 begonnen, wurde erst anderthalb Jahre später, Frühling 1939, zum Abschluß gebracht. Freilich gab es dazwischen mancherlei Nebenpflichten, nicht nur die obligaten »lectures« und Artikel, sondern auch eine Ablenkung größeren Formats. Houghton Mifflin Company, Boston – eines der angesehensten amerikanischen Verlagshäuser – bestellte sich bei Erika und mir ein möglichst umfassendes, möglichst informatives Buch über die künstlerischen, wissenschaftlichen und politischen Repräsentanten der deutschen Emigration, eine Art von »Who's Who in Exile«: Lebensabrisse, Charaktersketche, dazu Intim-Anekdotisches, wohl auch Kritik oder doch wertende Analyse. Was dabei herauskam, war ein stattlicher Band mit dem etwas euphemistischen Titel »Escape to Life«, 375 Seiten, reich illustriert, opulent ausgestattet; übrigens recht erfolgreich. Die erste Photographie zeigt Professor Einstein im weißen Leinenanzug auf dem »Observation Roof« des Rockefeller Center. Gleich gegenüber, auf der Titelseite, steht als Motto ein Satz von Dorothy Thompson: »Practically everybody who in world opinion had stood for what was currently called German culture prior to 1933 is now a refugee.«

Es waren ihrer viele, die wir zu introduzieren und charakterisieren hatten: Romanciers, Poeten und Dramatiker, Komponisten und Virtuosen, Maler und Mediziner, Philosophen und Physiker, Schauspieler, Sänger, Regisseure, Journalisten, frühere Reichskanzler, frühere Minister. Der »Waschzettel«, mit dem die Houghton Mifflin Company unser Kompendium schmückte, übertrieb wohl kaum, wenn er dem Leser »the story of a migration unparalleled in history« verhieß – »the story of Albert Einstein and Thomas Mann; of Brüning, Max Reinhardt, Arnold Schönberg, and Ernst Toller; of George Grosz, Lotte Lehmann, Luise Rainer, Bruno Frank, and Lion Feuchtwanger; of Albert Bassermann, Siegmund Freud, Stefan and Arnold Zweig, Bruno Walter, Elisabeth Bergner, and Remarque. Not to mention scores of others.«

»Scores of others« … Viele von ihnen saßen noch in der Schweiz, in Frankreich, Holland, England, Skandinavien, in der bedrohten Tschechoslowakei, sogar in fascistischen Ländern wie Italien, Ungarn, Portugal. Aber je zugespitzter die Situation in Europa wurde, desto mehr Exilanten, berühmte und unberühmte, drängten nach Amerika. Um die Jahreswende 1937/38 war New York schon das wichtigste Zentrum der ausgebürgerten deutschen »intelligentsia«.

Im Hotel Bedford, sehr zentral gelegen: in der vergleichsweise stillen vierzigsten Straße, zwischen der geschäftigen Lexington- und der fashionablen Park Avenue, wimmelte es von Schicksalsgenossen, fast wie früher in gewissen Cafés von Zürich und Paris. Erika und ich gehörten zu den »Bedford«-Habitués. Während wir in unserem »apartment« an »Escape to Life« werkelten, trafen sich die im Buch geschilderten Personen, oder doch manche von ihnen, unten in der Bar zur »cocktail party«.

Wer ist dabei? Unser Freund Martin Gumpert, Arzt, Dichter, Biograph, Erzähler; ein sehr ruhiger Mann mit runder Buddha-Miene, kleinem Mund und dunklen, starken Augen. Im Blick verrät sich eine Leidenschaft, von der die stoische Fassade sonst nichts merken ließe. Eben deshalb wirkt die Ruhe so suggestiv: sie ist beherrschtes Temperament, diszipliniertes Feuer, nicht Apathie oder Kälte. Die charakteristische Gelassenheit des Dichter-Arztes, der nicht erschrecken kann, soll demnächst episch verewigt werden, nicht von Gumpert selbst, sondern vom Autor der »Joseph«-Tetralogie, in deren letztem Band eine würdig-wohlwollende Figur namens Mai-Sachme unverkennbar die Züge unseres guten Freundes trägt. Was dessen eigene Produktion betrifft, so mag auch hier das Element wohlwollend-würdiger Vernunft und humaner Mäßigung dominierend erscheinen. Indessen gibt es in diesem Oeuvre Augenblicke des stolzen Fluges, Momente von echter Inspiration und heftiger Bewegtheit. Die versteckte Glut des gar zu ruhigen Mannes darf manchmal Flamme werden, sprachlich gebändigt, künstlerisch gereinigt. In einigen Gedichten und, eindrucksvoller noch, im ersten Roman des Fünfzigjährigen, »Der Geburtstag«, ist ein Leuchten.

Schon fünfzig? Wieder einmal dies unverantwortlich-ungeduldige Vorwegnehmen, welches dem Chronisten so übel ansteht, besonders wenn es sich um eine keineswegs keck beflügelte, sondern vielmehr gelassen schreitende Figur wie Martin Gumpert handelt. Zur »Bedford«-Zeit ist er vierzig und übrigens gerade erst in New York angekommen; er wird sich auf seine ruhige Art zehn Jahre lang umtun in der großen Stadt, ehe er sie, im »Geburtstag«, mit intim-kennerischer Zärtlichkeit beschreiben kann. Der noch fast junge oder doch erst eben mittelalte Mann will sich zunächst einmal im neuen Land als praktischer Arzt etablieren. Von vorne anfangen, in der Mitte des Lebens: es wird nicht leicht sein, wie dieser Vierzigjährige zugibt, ohne zu erschrecken. Er hat keine Illusionen, aber Hoffnung – Hoffnung auf Amerika …

Andere sind nervöser, aber darum nicht weniger unternehmungslustig. Curt Rieß, im vor-hitlerschen Berlin ein Sport-Reporter, schreibt jetzt französisch für den »Paris-Soir«; er wird auch noch englisch oder vielmehr amerikanisch schreiben, über Boxer, Filmstars, Gangster, Generale, Spione, Rauschgifte, hohe Politik und Hitlers Liebesleben. »Ich werde noch ganz groß, verlaßt euch drauf!« Der Widerspruch, den er zu erwarten scheint, bleibt aus. Niemand zweifelt daran, daß er Karriere machen wird. Aber gibt es so viel Erfolg, wie dieser hungrige, fast wilde Blick verlangt? Curt wandert im Zimmer auf und ab, gockelhaft stolzierend, als habe er schon gesiegt, und doch gehetzten Ganges: ein Verfolgter, der nur noch im ziellosen Lauf eine Art von prekärer Sicherheit und beinah etwas wie Beruhigung findet.

»Ob es sehr schwer ist, sich hier durchzusetzen?« Dies fragt ein anderer, auch ein »Neuer«, Billy Wilder vielleicht. Der emigrierte Journalist wird in Hollywood als Filmschriftsteller, Regisseur und »producer« Vortreffliches leisten und viel Geld verdienen, eine Entwicklung, die sich aber im Augenblick kaum voraussehen läßt. Der noch nicht arrivierte Billy wirkt eher sorgenvoll. »Gewiß ist es recht schwer!« Er seufzt und will getröstet sein.

Der Zuspruch, nach dem er – und nicht er allein! – verlangt, kommt von einer warmherzig klugen Frau, die, als einzige hier im Kreise, schon lange in Amerika zu Hause ist und weiß, wovon sie spricht, wenn sie behauptet: »Nicht schwerer hier als sonstwo! Plagen muß man sich überall.« Vicki Baum hat sich geplagt und hat sich durchgesetzt. Sie ist Amerikanerin, schreibt ihre Bücher wohl gar schon in der Sprache des neuen Landes. Wäre man erst so weit! Die etwas verstörten »Menschen im Hotel« (118 East 40th Street) lassen sich gern beraten und ermutigen von einer, die eigentlich nicht mehr in diesen Kreis gehört. Frau Vicki, seltener Gast aus Kalifornien, wo sie mit ihrem Musiker-Gatten und zwei amerikanisch-erzogenen Söhnen stattlich residiert, hat Autorität und Charme, ist kameradschaftlich und welterfahren. Wir lauschen ihr mit Respekt und Dankbarkeit.

Sogar Rolf Nürnberg – ein kritischer Geist von spröder Ungenügsamkeit: an Karl Kraus erzogen – scheint impressioniert. Er schmunzelt, nickt, reibt sich die Hände: eine ihm eigentümliche, drollig-flinke Geste, durch die er Beifall auszudrücken pflegt wie andere durch lautes Händeklatschen. Rolf, in sagenhafter Vorzeit mein Kollege am Berliner »Zwölfuhr-Mittagsblatt«, ist jetzt ohne feste Stellung, aber stets emsig und angeregt. Er weiß viel, möchte alles wissen. Seine exzessive Neugier – vor allem diese! – macht ihn mir sympathisch. Verklatscht und hochgebildet, ist er zugleich wandelnde Enzyklopädie und »chronique scandaleuse« der deutschen Emigration in fünf Kontinenten. Von unserer Vicki aber, der mondän versierten, wohlwollend humanen, kann selbst ein Polyhistor manches lernen; weshalb Rolf denn auch vor Animiertheit kichert und bei geducktem Kopf und hochgezogenen Schultern die Hände zum leisen, hurtigen Applaus regt.

Ein anderes Mitglied der »Bedford«-Brüderschaft, Prinz Hubertus Friedrich zu Löwenstein, bekundet sein Wohlgefallen in würdigerer Form; kicherndes Händereiben wäre nicht seine Sache. Der Prinz legt Wert auf Haltung. Er hat sanfte Herrscheraugen und schönfrisiertes, schütteres Seidenhaar über der rosig gewölbten Stirn. Stefan George ist sein Ideal, was mich traulich anmutet, aber auch irritiert; denn es verdrießt, wenn naiver Enthusiasmus dort unbedenklich weiterliebt, wo das eigene Gefühl (war es nicht einmal Liebe?) längst so quälend ambivalent geworden ist. Dem romantisch-konservativ gefärbten, betont deutschen Bildungspathos des Prinzen fehlt es überhaupt nicht an peinlichen Zügen, die später, während des Krieges, provokant ausarten werden. Um das Jahr 1940 wird es denn auch zum Bruch zwischen uns kommen; zunächst aber arbeitet man noch zusammen: ziemlich fruchtbar sogar. Hubertus ist zielstrebig, zäh, geschickt und verfügt, dank seinem schönen Titel und seiner graziös-imperialen Persönlichkeit, über einflußreiche Relationen. Als Gründer und Generalsekretär der »American Guild for German Cultural Freedom«, einer Organisation zur Förderung des freien deutschen Geistes, unter dem Patronat hervorragender Amerikaner, nimmt er innerhalb der Emigrations-Hierarchie eine nicht unbedeutende Stellung ein. An den mannigfachen Aktivitäten dieser Gruppe beteiligt sich in der Tat fast alles, was in unseren Kreisen Rang und Namen hat. Und es sind ihrer viele! Es werden immer mehr …

Die Liste der »Guild«-Mitglieder ist im Wachsen begriffen; der Personenkreis, den wir in »Escape to Life« beschreiben, erweitert sich ständig: aus Österreich soll Nachschub kommen, neue Opfer, neue Flüchtlinge … Deutsche Truppen marschieren auf Wien. Schuschnigg kapituliert. Das pralle, potente Dritte Reich verschlingt mit heiterer Gier den morschen, müden kleinen Nachbarstaat. Als Triumphator kehrt Hitler in das Land zurück, von dem er einst als räudiger Wicht geschieden. Mußte es nicht so kommen? Die Massenverhaftungen, Selbstmorde, Hinrichtungen, die Orgie des Pogroms, der schrille Lärm der Propaganda-Lüge, der Aufschrei der Gefolterten, auch der Jubel (ja, ein sadistisch aufgekratzter, von Goebbels-Schwatz und Blutgestank berauschter Pöbel frohlockt in frevlerischer Stupidität!), selbst noch die lahme Reaktion der »Welt«, die feige Lethargie der westlichen Demokraten: alles gehört dazu, der ganze Spuk verläuft programmgemäß. Trotzdem bleibt das Ereignis irgendwie unglaublich.

Haben wir nicht gewußt, daß Österreich fallen wird? Und sind nun doch wie vor den Kopf geschlagen! Sehr ähnlich ist unsere Reaktion, wenn ein geliebter Mensch nach ausführlicher Agonie an eben der Krankheit stirbt, deren durchaus unheilbarer Charakter uns schon seit längerem bekannt gewesen. In unsere Trauer mischt sich ein Entsetzen, ein Gefühl der Schuld. Als wir sagten: »Er stirbt!«, da glaubten wir doch nicht, daß er wirklich sterben würde. Im Gegenteil, der heimliche Sinn unserer Prophezeiung war, das »Unvermeidliche« hintanzuhalten. Wir sagten: »Es passiert!«, damit es nicht passiere. Im Grunde verließen wir uns darauf, daß Gott unseren Pessimismus widerlegen, unseren Kassandra-Spruch ad absurdum führen werde. Recht zu behalten, wo man irren wollte, welch ein Schock!

In der Schiffszeitung des französischen Dampfers »Ile de France« (ich hinwieder einmal unterwegs nach der vulkanisch unterminierten alten Welt) lese ich von der schaurigen Pilgerfahrt, die der österreichische Bundeskanzler nach Berchtesgaden unternehmen mußte. Ich bin konsterniert. Wie, das Unglaubliche, welches man zum Zwecke der Hintanhaltung »unvermeidlich« genannt hat, soll Ereignis werden? Das Schicksal macht ernst, nimmt uns beim Wort, bestätigt unsere Ahnung? Absurd! Unmöglich! Nein, es kann nicht sein …

Es kann sein. Dies ist die Nacht vom 10. zum 11. März des Jahres 1938. Auf unserem Tisch im Café de Flore häufen sich die Gazetten. Es sind englische Freunde, mit denen ich die Schreckensnachricht diskutiere, der liebe, temperamentvoll treue Brian Howard, Nancy Cunard (exzentrische, im bürgerlichen Sinn fast berüchtigte Erbin der berühmten »Cunard Line«), der junge Romancier und Kritiker James Stern (dem Isherwood-Auden-Spender-Kreis eng verbunden), die gescheite und herzliche Sybil Bedford, frühere Sibylle von Schönebeck (deutschen Ursprungs, aber seit Jahren durchaus »anglisiert«) und noch einige. Brian funkelt und flattert, fieberhaft erregt. Er kennt Deutschland, hat auch in Österreich gelebt; er haßt Hitler – im Gegensatz zu der Mehrzahl seiner Kompatrioten, die vom Nationalsozialismus entweder überhaupt nichts wissen oder ihn als »bulwark against Communism« akzeptieren. Selbst Radikale vom Schlage der Nancy Cunard scheinen sich einer »deutschen Gefahr« kaum bewußt zu sein. Nancy interessiert sich für das amerikanische Negerproblem; es ist ihr »hobby«, ihre Spezialität. Woran denkt sie jetzt? An die »slums« von Harlem? An die Lynch-Justiz im »Tiefen Süden« der USA? Jedenfalls nicht an Wien. Ihr Gleichmut geht Brian auf die Nerven. »Now, really!« fährt er sie an. »It makes me rather impatient, my dear, to watch you eat this horrible Welsh Rabbit, while our friends in Vienna …« Und plötzlich sehr leise, mit vorgebeugtem Oberkörper und feierlich starrer Miene, erschüttert, überwältigt von jäher Intution: »This means war, my dear!«

Krieg? Noch nicht! Mr. Chamberlain, Monsieur Bonnet, die Bank of England, die Herren von Wallstreet, Frankreichs Millionäre, der Vatikan, Henry Ford, Lady Astor, »The Times of London«, die »Oxford-Bewegung«, kurzsichtige Pazifisten und reaktionäre Intriganten, alles will Frieden mit dem Hitler-Reich. Die Welt will Frieden.

Friede? Nicht mehr! In Spanien wird gekämpft. Prolog oder Erster Akt – es ist der Anfang. Incipit tragoedia.

Erika und ich fahren nach Spanien, nicht als Partisanen, sondern als Beobachter und Berichterstatter. Erster Kontakt mit der Realität des modernen Krieges! Die ausgestorbenen Dörfer, Landstraßen, verstopft von Flüchtlingen und Panzerwagen, die camouflierte Limousine des Generalstabsoffiziers, das tote Pferd am Wegrand – aufgeplatzter Bauch, die starren Augen schauerlich belebt von wimmelndem Ungeziefer –, das improvisierte Hauptquartier – ein Stall mit Telephon, Landkarte, Fernstechern, Kaffeemaschine, Zigarettenstummeln – hungrige Kinder, zornige alte Bauern, Scheinwerfer, Lichtsignale, verdunkelter Bahnhof, schwarzer Boulevard, nächtlicher Fliegerangriff (technisch noch unvollkommen, aber vielversprechend), Geknatter der Mitrailleusen, das Radioprogramm mit sieghaften Bulletins und flotter Marschmusik, grelle Plakate an verkohlter Mauer: all dies wird uns im Lauf der nächsten Jahre vertrauter Alltag werden, nun aber erleben wir es zum erstenmal.

Wir sehen Barcelona, die Ebro-Front, Valencia. Wir sehen Madrid – schon fast legendäres Symbol des Widerstandes. Madrid hungert. Madrid blutet. Madrid – seit fast zwei Jahren eine belagerte Festung – erscheint zugleich verfinstert und verklärt in der starren Glorie seines Heldentums. Madrid gibt nicht nach. No Pasaran! Der Wahlspruch der Loyalisten wird zum kategorischen Imperativ einer ganzen Stadtbevölkerung. No Pasaran! Bis hierher und nicht weiter! Der Feind ist nah, buchstäblich vor den Toren; die »Ciudad Universitaria«, am Rand der Kapitale, bleibt ein bequemes Ziel für die Artillerie des aufständischen Generals. Seit zwei Jahren befiehlt Franco, der Söldling Hitlers und Mussolinis, seinen arabisch-italienisch-deutschen Söldnern: »Madrid muß fallen!« Madrid fällt nicht. Madrid ist zäh. Madrid ist hart und stolz. Ein Felsen ist Madrid.

Die Loyalisten glauben, daß sie siegen werden. »Die Sache, für die wir kämpfen, ist die gute«, sagen die Loyalisten. »Daher unsere Stärke. Die arbeitenden Massen der ganzen Welt sind mit uns in diesem Kampf.«

Wir sprechen mit Juan Negrin und seinem Außenminister, Alvarez del Vayo. »Freilich«, sagt der Minister, ein kluger, guter Mann, mit dem wir uns befreunden, »freilich, es gibt Mächte überall, nicht nur in Rom und Berlin, die uns übelwollen, die unsere Niederlage wünschen und betreiben. Aber die reaktionären Cliquen unterschätzen unsere Entschlossenheit. Franco hat keine Chance. No Pasaran!«

Wir sprechen mit Soldaten, Arbeitern, Hausfrauen, Literaten. Sie glauben an den Sieg. Wir sprechen mit den Männern von der Internationalen Brigade, unter denen es nicht an alten Bekannten fehlt. »Il Commandante« Ludwig Renn, sehr groß, sehr mager, sehr aristokratisch, hat einen berühmten Roman gegen den Krieg geschrieben, jetzt aber kämpft er wieder: es bleibt keine Wahl. »Werdet ihr siegen?« Renn, der gerne lacht, wird sofort ernst, da wir ihn dieses fragen. »Siegen? Wir müssen! Um der Sache willen!«

Auch General Julius Deutsch zweifelt nicht. Der österreichische Sozialist hat in seiner Heimat den Fascismus triumphieren sehen. Dies darf nicht nochmals zugelassen werden. Spanien kämpft. »Soll all dies umsonst sein?« fragt der General. Seine zivilistisch weiche Miene scheint plötzlich hart, gestrafft. Er weist auf das zerstörte Dorf, die Flüchtlinge, das tote Pferd, auf eine Kolonne junger Soldaten, die vorbeimarschiert. »Es ist nicht umsonst!«

»Umsonst? Vergeblich? Daran denkt man nicht!« Auch dieser ist ein Intellektueller, der sich – die Sache will's! – als Soldat maskiert. Man nennt ihn »Oberst Hans«, sein bürgerlicher Name ist Hans Kahle. Seinem Befehl untersteht eine Division an der Ebro-Front. Er gilt als fähiger Stratege; bald wird auch er zum General avancieren. Das Zelt, das wir ein paar Tage lang mit ihm teilen, liegt nicht weit von der zerstörten Stadt Tortosa. Kein schlechtes Quartier! Ein feiner Perserteppich schmückt die Wand, ein Grammophon ist da, Beute aus den Tortosa-Trümmern. Abends sitzen wir um den Apparat, im Dunkel; der Olivenhain, in dem wir uns verbergen, darf durch kein Lichtchen feindliches Interesse auf sich lenken. In schwarzer, milder Nacht – das Zelt ist offen, draußen bewegt sich Laub im sanften Wind – lauschen wir auf die scharfe, geschulte, metallisch helle Stimme eines deutschen Sängers (er heißt Ernst Busch), der die Lieder der Internationalen Brigade sehr wirkungsvoll, sehr gekonnt zum Vortrag bringt. »Die Heimat ist weit – doch wir sind bereit!« ruft das metallische Organ, zugleich innig und schneidend. »Wir kämpfen und siegen für dich, Frei-heit!« Das letzte Wort wird zum Triumphgeschrei, beinahe klirrend vor Begeisterung.

Wir sprechen mit Verwundeten, mit Ausgebombten (manche haben die Schrecken von Guernica mitgemacht), mit Halbwüchsigen, mit Witwen mit Atheisten und mit Gläubigen, mit Analphabeten und mit Schriftgelehrten. Alle behaupten: »Wir werden siegen, weil wir siegen müssen!«

Wir sprechen auch mit Kriegsgefangenen, deutsche darunter. Zwei sächsische Piloten, nicht weit von Barcelona abgeschossen, erweisen sich als devot und mitteilsam. Glauben auch sie an Sieg? Die Frage scheint sie kaum zu beschäftigen; sie zittern um ihr Leben. »Bringt man uns um?« Sie drängen sich an uns, schluchzend, schwitzend, schwatzend. Wir versichern ihnen: »Es geschieht euch nichts, ihr werdet nicht erschossen. Sowie der Krieg vorbei ist, läßt man euch laufen, ihr dürft heim. – Warum übrigens seid ihr hergekommen?« Daraufhin neuer Klageausbruch. Ist es ihre Schuld, daß sie hier sind? Pflicht! Befehl! Disziplin! Mannesehre! Des Führers Wille, wer fragt nach den Gründen? »Ich bin doch nur ein kleiner Mann, ein Niemand!« so der größere der beiden, und der andere, der wirklich eher kleinen Wuchses ist, schließt sich eifrig an: »Ein kleiner Mann – ich auch! Ein ganz kleiner nur!

Wie oft ich noch dergleichen hören werde, sechs, sieben Jahre später … Immer die gleiche Formel, der gleiche larmoyante Ton! »Ich kann nichts dafür … Befehl von oben, von noch höher, von der höchsten Spitze! Befehl vom Führer …« Womit das Schuld-Problem erledigt ist.

 

Die Autorität, auf die zwei abgestürzte Fliegertröpfe sich berufen – der deutsche Führer, und hinter ihm die Achse, der Weltfascismus – wird immer mächtiger, immer aggressiver. »Appeasement« ist die Parole, was bedeuten will: Hitler droht, Hitler erpreßt, Hitler diktiert – und die anderen kuschen.

Die spanische Republik lehnt das »appeasement« ab und wird aufgeopfert. Madrid, Felsen des Widerstands, muß fallen: Befehl vom Führer, dessen Intentionen sich übrigens, gerade in diesem Falle, mit denen der internationalen haute finance und des Vatikans erfreulich decken. Wird der Diktator nun zufrieden sein? Er hätte Grund; denn alles geht nach Wunsch. Lauter Siege! Heute Spanien, gestern die Tschechoslowakei …

Den Anfang der »München«-Krise erlebte ich noch in Europa, das Ende in New York. Schlimme Tage, die schlimmsten der Epoche; Schandtage, Schmerzenstage: man möchte ihresgleichen nicht noch einmal erleben müssen.

In Paris, wo ich die Woche vom 10. zum 17. September verbrachte, wurde der Krieg erwartet, ohne Begeisterung, aber auch ohne Panik. Hätte Hitler ihn damals riskieren können? War er in der Tat zum Äußersten entschlossen oder bluffte er? Müßige Frage. Sicher ist, daß das Äußerste sich nicht durch Kapitulation vermeiden ließ; es sei denn, man wollte endgültig und bedingungslos kapitulieren. Waren die Demokratien zur definitiven Abdankung bereit? Es mochte so aussehen, für den Augenblick …

Mr. Chamberlain, wohl kaum der Initiator, aber der historische Exponent der »appeasement«-Politik, schien durchaus willens, den Kontinent der Nazi-Hegemonie auszuliefern: erstens, weil England nicht gerüstet war; zweitens, vielleicht vor allem, weil man in Mr. Chamberlains Kreisen den russischen Kommunismus viel mehr haßte und fürchtete als irgendeinen Fascismus. Diese Hitlersche »Neue Ordnung«, nicht so ganz salonfähig, wie sie in mancher Hinsicht scheinen mochte, konnte sie nicht trotz allem nützlich sein als solides »bulwark against Bolshevism«? Mit den Nazis gegen die Roten! Das gleiche Motiv, das einst die Herren Hugenberg, von Papen und Konsorten zu ihrer fatalen Allianz mit der Gangster-Partei bewogen hatte, gab nun den Ausschlag in London und Paris. Der leutselige »Prime Minister« mit Regenschirm, Aktentasche und Hasenzähnen handelte nur als konsequenter und loyaler Repräsentant seiner Klasse – wenn auch nicht seiner Nation –, als er sich, friedfertig grinsend, im Flugzeug nach Berchtesgaden begab. Es kam zunächst zu keinem Einverständnis; der intransigente Führer verlangte mehr, als sogar dieser höchst kulante Handelsreisende gewähren konnte. Mr. Chamberlain verließ den pittoresken »Berghof« ebenso abrupt, wie er gekommen war, mit Hasenzähnen, Aktentasche, Regenschirm und einem freilich etwas fahlen Grinsen. Also doch Krieg?

Ich war schon auf hoher See, irgendwo zwischen Southampton und New York, als der unermüdliche, unerschütterliche Gentleman seinen zweiten Canossa-Flug tat, diesmal nach Godesberg. Wurde der ekle Handel diesmal abgeschlossen? Es klappte wieder nicht. Der Erste Minister Seiner Britischen Majestät mußte noch einmal unverrichteter Dinge abziehen, kaum noch grinsend, aber mit unversehrtem Parapluie.

Am Tage meiner Ankunft in New York – man schrieb den 25. September 1938 – schien der Kriegsausbruch wieder einmal unmittelbar bevorzustehen. Man las in der Presse von Zusammenstößen zwischen tschechischen und deutschen Grenzpatrouillen. Benesch, dem »beste Nerven« sehr zu wünschen waren, zeigte sich geneigt, den militärischen Support der Sowjetunion anzunehmen. Hitler drohte, raste, schäumte, fuchtelte. In Paris und London herrschte würdige Nervosität. Ohne Frage, Frankreich erinnerte sich endlich seiner Bündnispflicht. Der Angriff auf die Tschechoslowakei würde dem Führer teurer zu stehen kommen als der Marsch nach Wien …

»Es lebe Benesch! Hoch die Tschechoslowakei! Nieder mit Hitler! Hitler must fall!« Es waren Amerikaner, von denen diese Rufe kamen, eine Versammlung von Zehntausenden. Das »mass meeting« – eine Demonstration von imposanten Ausmaßen – fand im Madison Square Garden statt; ich kam geradewegs vom Hafen, eben noch zur Zeit, um Dorothy Thompson und meinen Vater zu hören. Dorothy schrie durchs Mikrophon, daß Hitler fallen müsse, Benesch und sein Land aber sollten leben. Zehntausende respondierten, ein Brüllchor von elementarer Macht. Als mein Vater denselben Wunsch mit ruhiger Gebärde und in gewählterer Diktion wiederholte, nahm der Orkan an Vehemenz noch zu. Wie ein Mann erhob die Masse sich von den Sitzen – pfeifend, johlend, stampfend, Mützen und Tücher schwenkend. »Long live Czechoslovakia! Death to Hitler! Down with the Nazi gang!«

Es sollte nicht sein – noch nicht; Chamberlain war dagegen. Wir saßen im Hotel Bedford und dachten: Es ist so weit … Da kam das Ferngespräch aus Washington. Eine jener Bekannten, die immer alles etwas früher wissen, berichtete animiert: »Der Prime Minister fliegt nach München, mit Monsieur Daladier und Monsieur Bonnet. Mussolini kommt auch. Eine große Konferenz im Braunen Haus! Die Russen, natürlich, sind nicht eingeladen. Ist das nicht herrlich? Es gibt keinen Krieg!«

Kein Krieg! Chamberlain durfte wieder grinsen. Hatte er sich blamiert in Berchtesgaden und in Godesberg? Aus München brachte er etwas Schönes mit. »Peace with Honour!« Und ohne Rußland, natürlich … »Peace in our time!«

So fasse man sich also in Geduld und warte auf das Ende dieser Zeit! Die Stunde der Bonnets und Chamberlains kann nicht ewig währen. Schließlich kommen die Völker hinter den Betrug. Was die »appeasement«-Politiker »Peace with Honour« nennen, ist nur die ehrlose Verzögerung des Konflikts, der erst jetzt – jetzt erst recht! – unvermeidlich wird. Frieden – mit Hitler? Aber Hitler ist der Krieg! Die Dynamik des Nationalsozialismus hat nur diesen einen Antrieb, nur dies eine Ziel: nur im totalen Krieg rechtfertigt und erfüllt sich dieser totale Staat. Der fleischgewordene Zerstörungstrieb, die personifizierte Aggression als Herr Europas – und das sollte gutgehen? Welch barocker Einfall!

Nach »München« geht es schief und steil hinab. Nach »München« kommt der Abgrund eines Krieges, der eben durch diesen Aufschub, diesen verräterischen Ausverkauf seines moralischen Sinns beinah beraubt erscheint, noch ehe er beginnt. Nach »München« kommt der Abgrund. Wünsche beste Nerven! Der Abgrund kommt. Der Abgrund! Wartet nur …

Und so wartet man. Das bange Wartejahr hat angefangen.

Ein Wartejahr? Nun ja, ganz wörtlich ist das nicht zu nehmen. Man sitzt nicht unentwegt herum und lauscht: Kommt das Grollen näher? Dies tut es wohl: es ist schon furchtbar nah. Indessen geht das Leben trotzdem weiter. Das Leben hat die Tendenz zum Weitergehen, solang es eben geht. Zunächst geht es noch.

Im Herbst des Jahres 1938 bezogen wir ein neues Heim in Princeton, einer kleinen, aber distinguierten Universitätsstadt im Staat New Jersey, etwa zwei Schnellzugstunden von New York City. Das neue Heim war ziemlich alt, eine bejahrte Villa von stattlichen Dimensionen: viel geräumiger als die gerade aufgegebene Häuslichkeit am Zürichsee. Der »living room« zu ebener Erde, mit Glastüren zum Garten, glich beinah einem Saal: man hätte Feste darin geben können. Dies unterblieb. Gäste traten kaum je in Massen auf, sondern erschienen einzeln oder in kleinen Gruppen; Freunde aus New York, wie Martin Gumpert, W. H. Auden, Tom Curtiss; oder Princeton-Nachbarn, darunter Albert Einstein mit schöner Silbermähne, Kuppelstirn und schalkhaft tiefem Blick. Was für Augen! Er brauchte nichts zu sagen – und was er sagte, war oft unbedeutend –; auch seines Ruhmes hätte er nicht bedurft. Die Augen, sternenhaft, zeugten für seine Größe.

Auch Erich von Kahler war wieder da, des Zauberers getreuer Freund und kluger Kritiker. Mit ihm kam Hermann Broch, der Österreicher, dessen »Schlafwandler-Roman« bei der anglo-amerikanischen Avantgarde für hochbedeutend gilt. Neue Hörer gesellten sich zu den alten; in Princeton, wie in Küsnacht und vorher in München, fehlte es nicht an verständnisvollem Publikum. Der Zauberer las vor.

So blieb denn also die Kontinuität gewahrt, auch in diesem Jahr des bangen Wartens. Das Leben ging weiter und mit ihm das Vater-Werk. Diesmal führte es uns nicht in mythisch-ferne Landschaft (der vorletzte Band der »Joseph«-Tetralogie war abgeschlossen, der letzte noch nicht begonnen); die neuerdings entstehende, sich geduldig weiterspinnende Geschichte spielte in relativ vertrauter Sphäre. Weimar, das kannte man; in einer Zeit, die nun freilich auch schon mythisch-ferne schien, hatte man sich wohl gelegentlich dort aufgehalten. Und wenn das hochberühmte Musenstädtchen auch zur Zeit ins Unbetretbare und Unvorstellbare entrückt sein mochte, so fühlte man sich doch immer noch recht zu Hause in seiner traulich-erhabenen Vergangenheit. Ja, es fiel gar nicht schwer, das Haus am Frauenplan, die opulenten Gesellschaftsräume sowohl als auch die kargen Schlaf- und Arbeitsstuben mit größter Genauigkeit zu maginieren: auf die sonore Erzähler-Stimme war Verlaß, sie ließ nichts aus, jedes Detail wurde gewissenhaft hervorgehoben.

Ich erinnere mich des Weihnachtsabends (Weihnachten 1938! das Christfest des Wartejahrs!), an dem der Vater uns Teile aus dem siebenten Kapitel der »Lotte in Weimar« las. Welch sonderbarer Klang erfüllte da unseren etwas gar zu großen, gar zu pompösen »living-room« in Princeton, New Jersey! Welch geisterhafte Wort-Musik! Welch magisches Geraune! Goethe sprach. Goethe träumte, sinnierte, meditierte. Er saß vor uns, ward uns gegenwärtig, im heilig-nüchternen Licht der Morgenstunde. Sein Arbeitstag begann, einer seiner sehr vielen, fast unzähligen, gesegneten und schweren Arbeitstage. Es kamen der Barbier, der Sohn, der Kammerdiener; er redete zu ihnen; wir hörten, was er sagte, geisterhafter Laut! Er blieb allein; wir durften ihn belauschen; magische Indiskretion enthüllte sein Geheimnis. Goethe vertraute uns seine Sorgen an, auch seine Ahnungen, Fragmente seiner Weisheit, etwas von seinem Glück. Seltsame Konfession unterm Lichterbaum! Wir naschten amerikanisches Gebäck, eine heimatlose Familie in fremdem Land, das Heimat werden sollte. Und der Genius der verlorenen Heimat, der deutsche Mythos sprach …

Das Leben ging weiter, ein neues Vater-Werk näherte sich der Vollendung. Von neun Uhr morgens bis zur Mittagsstunde wurde im Arbeitszimmer gezaubert, so war man es gewohnt, und dabei blieb es, auch im Wartejahr. Was Mutter Mielein trieb und leistete, nicht nur von neun bis zwölf, sondern den ganzen Tag und jeden Tag aufs neue, hatte wohl gleichfalls mit Zauberei zu tun. Eine Energie, die aus Liebe kommt, bewährt zauberische Kraft und Zähigkeit. Sie läßt nicht nach, sie scheint unerschöpflich, diese vom Herzen inspirierte, von innigem Gefühl gespeiste Energie. Lebensgefährtin eines schwierig-schöpferischen Mannes, Mutter von sechs Kindern, die ihrerseits nicht gar so einfach sind, wieviel praktisch-tätige Anteilnahme, wieviel Rat und Trost, wieviel Nachsicht wird von ihr erwartet! Ihre Pflichten sind ohne Zahl; zahllos die Opfer, die sie bringen muß. Pflichten und Opfer scheinen ihr selbstverständlich: »Dafür bin ich da!« Sie scherzt auch noch, während sie Wunder tut. Sie, die ihr Amt so ernst nimmt, vermeidet die feierlichen Mienen und Gebärden; denn Heiterkeit gehört zu ihrem Amt. Nur für andere da, denkt sie kaum an sich selber: »Wozu auch? Ich bin nicht so wichtig …« Kein zweites Mitglied der Familie ist so anspruchslos. Und doch gäbe es diese Familie nicht ohne diese Frau und diese Mutter. Was wäre aus uns geworden, was würde aus dem schwierig-schöpferischen Mann und den sechs nicht ganz einfachen Kindern, wenn unermüdliche Liebesenergie den kleinen Kreis nicht hütete und wärmte?

Übrigens sind es keineswegs nur die Allernächsten oder nur die gerade Anwesenden, um die das erstaunliche Mielein sich kümmert. Auf ihrem Schreibtisch häufen sich die Hilferufe von Verwandten und Freunden in fünf Kontinenten. Selbst Offi und Ofey werden zu guter Letzt noch Sorgenkinder. Die beiden Hochbejahrten, Ofey fast neunzig, Offi wenig jünger, sind immer noch in München; den Paß hat man ihnen nach der Ausbürgerung des Schwiegersohns strafweise entzogen. Wird Mielein das liebe Greisenpaar je wiedersehen? Aus dem letzten Rendezvous, kurz vor der Abfahrt nach Amerika, war nichts geworden. Jenseits der deutschen Grenze saßen die Uralten, mit einem Papier bewaffnet, welches sie zum Besuch der Schweiz berechtigte. Die Nazi-Wächter ließen es nicht gelten. »Unsere Tochter!« rief der beinah Neunzigjährige. »Sie wartet auf uns in Kreuzlingen, dort drüben, hinterm Schlagbaum. Laßt uns zu ihr, nur eine halbe Stunde!« Aber die Wächter zuckten nur die Achseln: »Soll sie doch kommen, wenn ihr an euch liegt! Sie komme doch nach Deutschland, eure Tochter!« Es wäre Mieleins Ende gewesen. Zu ihrem Glück und unserem, ging sie nicht in die Falle. Aber das traute Geknärz der väterlichen Stimme, den Silberklang des mütterlichen Lachens, das hörte sie wohl nicht mehr: es sei denn, die zwei Alten schaffen es, vor Kriegsausbruch in die Schweiz zu kommen … Mielein hofft und wartet.

Was die jüngere Generation betrifft, so gibt sie für den Augenblick nicht eben Anlaß zu akutem Gram. Golo fühlt sich recht wohl in seinem geliebten Zürich, wo er als »Redaktor« der Zeitschrift »Maß und Wert« tätig ist. Monika lebt in London mit ihrem Mann, dem ungarischen Kunstgelehrten Jenö Lanyi – es war nicht leicht für sie, den Richtigen zu finden: nun hat sie ihn und darf glücklich sein. Auch Medi-Elisabeth – wer hätte es gedacht! – ist schon so weit, daß sie sich binden möchte. Der Gefährte, für den sie sich entscheidet, heißt Giuseppe Antonio Borgese, italienischer Emigrant, jetzt Amerikaner, Dichter und Forscher von internationalem Ruhm, ein Mann von bedeutenden Gaben und dynamischer Vitalität. Die Hochzeit findet in Princeton statt. Wystan Auden, Erikas Gatte, überrascht die Gesellschaft mit einem zu diesem Anlaß verfaßten »Epithamalion«, einem anmutig-anspielungsreichen Gelegenheitsgedicht, in dem die Genien abendländischer Kultur als Schutzheilige des italienisch-deutsch-amerikanischen Paares beschworen werden. Fast alle kommen vor, von Dante, dem Exilierten – »a total failure in an inferior city« – über Mozart und Goethe (»ignorant of sin, placing every human wrong«) bis zu »Hellas-loving Hölderlin« und jenem späten, schon recht fragwürdigen Heiligen, Richard Wagner, »who … organised his wish for death into a tremendous cry«. Nun mischt seine verdächtige Stimme sich in den Hochzeitschor: »All wish us joy!«

Allgemeine Ergriffenheit, teils wegen des sinnig-klugen englischen Kunstgedichts; teils, weil unsere Medi sich nun vermählt und gebunden hat, obwohl sie doch gestern noch das »Kindchen« war, dem in deutschen Hexametern gehuldigt wurde. So geht das Leben also weiter, ziemlich schnell sogar, mit unheimlich zunehmender Geschwindigkeit …

Und nun auch noch mein kleiner Bruder, Bibi-Michael! Auch er hat sich schon eine ausgesucht, aus der Schweiz ist sie ihm nachgekommen, eine sehr hübsche und angenehme Schweizerin namens Gret: sie wird Bibis Frau, meine Schwägerin. Gerade Michael, der immer als so besonders jung galt, trotz seiner schönen Behendigkeit auf der Violine! Womöglich wird er gar noch Kinder in die Welt setzen! Sein relativ bejahrter, nicht mehr ganz junger Bruder wundert sich und ist übrigens ein bißchen neidisch …

Von mir kommen keine Kinder, nur Bücher, ein melancholisch-insuffizienter Ersatz. Aber wenn man schon nichts zur Vermehrung der Menschheit tut, so will man die armen Buben kommender Epochen doch wenigstens mit einiger interessanter Lektüre versorgen. »Der Vulkan« wird also abgeschlossen; auch »Escape to Life« – freilich ein Erzeugnis von nicht sehr dauerhafter Substanz – kann endlich in Satz gehen: Houghton Mifflin Company fing schon an, die Geduld zu verlieren. Aber schließlich konnten Erika und ich nichts dafür, daß unsere Emigranten-Galerie sich ständig vergrößerte, während wir sie in präsentable Form zu bringen suchten. Zu den Deutschen und Österreichern kamen nun auch noch die Tschechen. Im März 1939 wurde Prag von den Nazis besetzt.

Dies Ereignis – logische Konsequenz der »appeasement«-Politik und des Verrats von München – brachte immerhin eine gewisse Klärung der stickigen Atmosphäre. Hitler hatte es zu weit getrieben; sein neuester Coup weckte, alarmierte, schockierte die öffentliche Meinung, vor allem in England, wo die Chamberlain-Gruppe endlich an Einfluß zu verlieren schien. Würde nun die große antifascistische Koalition zustandekommen? So wäre der Krieg vielleicht noch zu vermeiden …

Aber die Vereinigten Staaten blieben starr bei ihrem Neutralitätsprinzip (»Keine Einmischung in europäische Händel!«), während die Verhandlungen zwischen London, Paris und Moskau sich ergebnislos weiterschleppten. Warum konnten Ost und West sich nicht verständigen? Was für Mißverständnisse und Rivalitäten hemmten und verwirrten ein diplomatisches Gespräch von so schicksalshafter Wichtigkeit? Warum zögerte der anglo-französische Block, dem sowjetrussischen Partner jene strategische Position im Baltikum einzuräumen, auf die Moskau – gewiß nicht ohne Grund – bestehen zu müssen glaubte? War es möglich, war es vorstellbar, daß der Kreml in seiner Verbitterung, in seiner Angst ein Bündnis oder doch einen Nichtangriffspakt mit Nazi-Deutschland erwog? Gerüchte dieser Art, die schon seit einiger Zeit kursierten, gewannen an Glaubwürdigkeit durch den plötzlichen Rücktritt des russischen Außenministers Litwinow. Er galt als Vorkämpfer der kommunistisch-demokratischen Einheitsfront; wie kein anderer hatte er sich für den »Unteilbaren Frieden«, für »Collective Security« eingesetzt – und gerade jetzt trat er ab? Es konnte nichts Gutes zu bedeuten haben.

Was stand bevor? Auf was für Kalamitäten hatten wir uns gefaßt zu machen? Und wo gab es die Autorität, den großen Eingeweihten, auf dessen Rat Verlaß gewesen wäre?

Kommt der Krieg? Und wann? Ich war versucht, die taktlose Frage an den Präsidenten der Vereinigten Staaten, Franklin D. Roosevelt, zu richten, als ich die Ehre hatte, ihm präsentiert zu werden; es geschah am 11. Mai 1939. Der Empfang im Weißen Haus bildete den Höhepunkt eines internationalen Schriftsteller-Kongresses, zu dem die amerikanische Gruppe des PEN-Clubs anläßlich der New Yorker »World's Fair« eingeladen hatte.

Mrs. Roosevelt, von der die literarischen Gäste begrüßt und bewirtet wurden, bringt es fertig, selbst noch der offiziellen Massenabfütterung eine anmutig-intime Note zu geben. Die gescheite Herzlichkeit ihres Lächelns belebt jede Tafelrunde; ihr guter Blick verbreitet Zuversicht. Mit wem sie auch gerade plaudern mag, sie scheint aufs angelegentlichste interessiert an den Meinungen und Problemen ihres jeweiligen Gegenübers, ein Interesse, welches durchaus nicht serenissimushaft-huldvoll-konventionellen Charakter hat, sondern das durch seine Wärme und Spontaneität Vertrauen einflößt und zur Mitteilung ermutigt. Nur eine Frau von so aristokratischer Rasse und so demokratischem Herzen findet wohl den Mut zu der vollkommenen Einfachheit, mit der diese unfeierlich-heitere »First Lady« auftritt, spricht und handelt.

Sie ließ wissen, daß der Präsident zu beschäftigt sei, um an unserer Mahlzeit teilzunehmen. Indessen wollte er doch die Schriftsteller willkommen heißen. Wir wurden also in sein Arbeitszimmer geführt; er saß am Schreibtisch, von dem er seinen Armstuhl weggedreht hatte, so daß er den vorbeidefilierenden Schriftstellern das Gesicht zuwendete. Jeder wurde ihm vorgestellt, er reichte jedem die Hand. Sein Lächeln war freundlich, wenngleich etwas zerstreut und müde. Der Blick aber, der das Lächeln begleitete oder der über dem Lächeln stand, hatte eine zugleich prüfende und kordiale Eindringlichkeit, vor der man fast erschrak. Diese Augen, man war irgendwie nicht auf sie vorbereitet. In der übrigens so wohlbekannten Physiognomie war dies die große Neuigkeit, die schöne Überraschung – das starke Blau des Blickes. Der helle Ton wirkte um so frappanter, als er sich abhob von der beinah schwarzen Dunkelheit der ihn umlagernden Schatten. Die tiefen Ringe um die Augen gehörten zu den vertrauten Zügen dieses tausendmal-photographierten Gesichts; aber kein Porträt gibt die lichte Intensität des Schauens wieder.

Die Augen! Wie blau sie sind! Und so hell … Erstaunlich hell! Wer hätte das gedacht … – Dies war mein Gefühl, als ich ihm gegenüberstand und die Hand ergriff, die er mir, mit etwas müd-zerstreutem Lächeln, aber starkem Blick, freundlich entgegenstreckte. Ich fragte ihn nicht nach der Weltlage; es wäre unschicklich gewesen. Hinter mir wartete schon der nächste Schriftsteller.

Der Schriftsteller, der nach mir an die Reihe kam, war Ernst Toller; auf der Fahrt von New York nach Washington hatte ich ihn im Pullman-Wagen neben mir gehabt, wir verbrachten den Tag zusammen. Ein reicher, bunter Fest- und Reisetag! Toller, empfänglichen Herzens, dankbaren Gemüts, schien den Besuch im Weißen Haus zu genießen. Ein paarmal klagte er freilich über Müdigkeit. »Wenn ich nur heute nacht etwas schlafen könnte!« Es war ein leiser Seufzer, nur für mich bestimmt, denn wir waren Freunde. Die Kollegen um uns herum lachten und schwatzten in vielen Zungen, englisch, spanisch, französisch, chinesisch, portugiesisch. Toller sagte zu mir, sehr leise und auf deutsch: »Es ist schlimm, wenn man nicht schlafen kann. Es ist das Schlimmste.« Er sah plötzlich verfallen aus; aber bald beteiligte er sich wieder mit etwas zu lauter Munterkeit am allgemeinen Gespräch.

Es war unser letztes Beisammensein. Ein paar Tage später berichteten die Blätter, Ernst Toller habe sich in seinem New Yorker Hotelzimmer erhängt.

Warum? Kein letzter Brief war da, um uns sein Motiv zu erklären. Wer ihn gekannt hatte, verstand ihn wohl, auch ohne schriftliche Unterweisung. Ein alternder Freiheitskämpfer sehnt sich nach dem Schlaf, den keine Nacht hienieden ihm gewährt. Die Nächte bringen nicht Vergessen, sondern Erinnerung … – Das München von 1919, 1920, die Räterepublik, die Tage der Aktion, der Jugend, des gläubigen Überschwangs; die lange Festungshaft, Arbeit (wie leicht man schreibt!), die Schwalben vor der Zelle (wie zärtlich man sie liebt! wie jung man ist!) dann die Berliner Zeit, Theatererfolge, Ruhm, Frauen, Geld, mehr Aktion, aber kein Schlaf; Kongresse, Versammlungen, Premieren, mehr Frauen, mehr Erfolge, auch Niederlagen (läßt das Talent nach? ist die Kraft dahin?) – und kein Schlaf; immer neue Kämpfe, neue Enttäuschung, man bleibt zur Tat verpflichtet, die doch vergeblich ist; immer neuer Aufschwung, und kein Schlaf; schließlich das Exil – und immer noch der Ruhm, der Kampf, die revolutionäre Geste (und kein Schlaf). Das Leben fällt immer schwerer, auch das Schreiben; zum Reden langt es noch. Die kühne Gebärde, immer wieder, die schöne Versammlungsstimme, der geübte Schrei: »Genossen! Kameraden! Der Fortschritt … das Proletariat … unbesiegbar … nicht aufzuhalten … Seid einig! Glaubt! Seid stark!« – Ach, man ist's nicht mehr. Kein Schlaf, kein Schlaf … Die Tat, vergeblich: das große Umsonst, immer wieder – und niemals Schlaf … Endlich erzwingt man ihn. Die Sekretärin, der man gerade noch etwas diktiert hat, wird zur Lunchzeit listig weggeschickt. Mit dem Strick bewaffnet schleicht der erschöpfte Freiheitskämpfer sich ins Badezimmer. Zwitschern die Schwalben drüben im Central-Park? Selbst sie will man nicht mehr hören.

Ich mußte an seinem Sarge sprechen. Er lag hinter mir, das Würgemal am Hals gnädig verdeckt. Ich wagte nicht, ihm ins Gesicht zu schauen. Ich hatte Angst. Ich schämte mich meiner Tränen. Wem galten sie? Doch nicht ihm, der endlich schlafen durfte?

 

Im Juni dieses Jahres schifften meine Eltern und Erika sich nach Europa ein. Ich fuhr in entgegengesetzter Richtung, nach Kalifornien, nicht im Zug diesmal, sondern in einem wunderlich antiken Fahrzeug, welches man höchstens im Scherz als Automobil bezeichnen konnte. Ich bin ein schlechter Chauffeur; der Freund, mit dem ich reiste, verstand auch nicht viel von Motoren. Er hieß Jury und war russischer Abstammung, ein großer, träger Mensch mit schläfrigen Kirgisenaugen und schwerem, honigfarbenem Haar. Es ging etwas Beruhigendes von ihm aus, oder war es die ungeheure Weite des Landes, die meinen Nerven wohltat und mir ein Gefühl von Geborgenheit gab? Amerika ist sehr groß und sehr leer. Ich hatte es schon mehrfach festgestellt, aber immer nur aus der Perspektive des Pullman-Wagens. In meinem wackeligen alten Ford erlebte ich diese Größe und diese Leere mit einer neuen Unmittelbarkeit. Europa schien weit entfernt. Eine Kriegsgefahr, gab es das? Existierte irgendwo ein miserabler kleiner Gernegroß, der sich lächerlicherweise vorgenommen hatte, dieses große Land, diese große Welt zu erobern? Zu dumm! Als ob Gebiete von solchem Ausmaß sich erobern ließen! Wozu auch? Es gab Raum genug für alle, enorme Strecken, endlos hingebreitete Flächen unausgenutzten, unbewohnten Landes …

Die Probleme, die in den Einöden von Missouri, Utah und Nevada keine Relevanz und Realität zu haben schienen, wurden an der Westküste bald wieder aktuell. Machte es die relative Nähe des aggressiven Japan? Auch Europa, gerade noch so gnädig distanziert, schien plötzlich wieder schaurig nah herangerückt.

Das kleine Haus in Santa Monica, wo ich mit meinem schrägäugigen Gefährten diesen Schicksalssommer verbrachte, war mit einem Radio ausgestattet. Von morgens bis Mitternacht unterrichteten uns dramatisch bewegte oder eisig sachliche Stimmen über den Fortgang der internationalen Krise. Die Neuigkeit vom deutsch-russischen Nichtangriffspakt war am schwersten zu fassen. Unvermeidliche Folge der westlichen Politik, die in ihrer Wirkung und wohl auch in ihrer Absicht immer Moskau-feindlich, immer profascistisch gewesen war? Die logische Konsequenz von »appeasement« und »München«? Gewiß. Aber es erregte trotzdem Brechreiz und Schwindelgefühl, Herrn von Ribbentrop im herzlichen Gespräch mit Stalin und Molotow photographiert zu sehen. Und Hitler hatte schon wieder eine »letzte territoriale Forderung«, an Polen diesmal. Würde er in Warschau einmarschieren wie in Wien und Prag? War Chamberlain schon unterwegs zum »Berghof«? Würdige Nervosität in London und Washington! Erpresserisches Säbelrasseln, drohende Hysterie in Berlin und München! Und in Paris das müde Achselzucken: »Mourir pour Danzig? Ça alors … après tout …«

Es fiel nicht ganz leicht, am Schreibtisch auszuharren bei solcher Gewitterspannung. Aber Erika und ich hatten wieder einmal einen Vertrag gezeichnet; das neue Buch, »The Other Germany«, war im Herbst abzuliefern: so mußten wir uns sputen. Während meine Mitarbeiterin, mehrere tausend Meilen von mir entfernt, irgendwo in Schweden an ihrem Pensum kritzelte, plagte ich mich am Stillen Ozean. Das »andere Deutschland«, über das ich schrieb, es war jenes »bessere«, jenes »eigentliche«, von dem wir immer noch erwarteten, daß es irgendwann einmal erwachen, sich erheben werde. Das Äußerste, den extremen Frevel, den Krieg, unser »anderes Deutschland« ließ es nicht zu! Und käme es doch soweit – der Schrecken wäre kurz: die »besseren« Deutschen würden nicht für Hitler kämpfen, sondern gegen ihn! Für die Befreiung, gegen den Tyrannen!

So träumten wir, der eine Autor am Nordmeer, der andere am Pazifischen. Da war es soweit. Was die dramatisch-bewegten oder eisig-sachlichen Radio-Stimmen am 3. September mitzuteilen hatten, es bedeutete den Ausbruch des Vulkans, die apokalyptische Verfinsterung.

Der Himmel über Santa Monica blieb hell und milde. Ich fragte Jury, ob er kein blutiges Schwert gesehen habe. Sein schräggestellter, schläfrig verhangener Blick prüfte den Horizont.

Ein blutiges Schwert? Hier noch nicht. – »Aber schließlich werden wir eines haben«, sagte mein Freund Jury, ein Amerikaner russischer Herkunft. Er fügte hinzu – und sah ernst, beinah drohend aus:

»Unless your Other Germany does something about it, pretty soon …«

Wenn dein anderes Deutschland nicht bald etwas tut!


 << zurück weiter >>