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Viertes Kapitel.
Unordnung und frühes Leid

1923-1924

Es ist immer dieselbe Unordnung: seit Menschengedenken, das gleiche Leid, die gleiche Lustbarkeit …

Die Tiefen des organischen Lebens sind unordentlich – ein Labyrinth, ein Sumpf der tödlichen Begierde und schöpferischen Kraft. Die Wurzeln unseres Seins reichen hinab ins Trübe, Schlammige, in den Morast von Samen, Blut und Tränen, wo die Orgie der Wollust und Verwesung sich ewig wiederholt, unendliche Qual, unendliche Entzückung.

Siehe, aus wallendem Dunkel hebt sich der Flußgott, der Satyr und Stier, bedeckt mit Schlamm und Schaum, strotzend von Manneskraft, lechzend vor Verlangen, auflachend, schluchzend, bebend in ekstatischer Brunst, unwiderstehlich, unberechenbar, zerstörerisches Element, foppender Dämon, zugleich Cherub und Bestie, höchst grauenvoll.

Er ist nicht Amor, der neckisch mit den Spielzeugpfeilen, dem koketten Bogen tändelt. Dieser ist furchtbar, listig und wild, ein reißendes Tier, ein gnadenloser Jäger. Freilich, er ist auch ein Schalksnarr und Komödiant, stets geneigt zu Maskeraden und Gaukeleien. Ja, ich habe ihn in mancherlei Gestalt gesehen: lockend geputzt und in wüster Entstellung. Er hat die stolze Pracht des Pfauenrades – seht, wie es sich schüttelt! wie es geil vibriert!, die schillernde Majestät des Regenbogens, den jungfräulichen Schmelz der Frühlingsblume; er hat den Schlangenblick, das Grinsen der Paranoia, die obszöne Raserei des Epileptikers. Manchmal ziert er sich, erscheint sanft und züchtig, bis aus seinem Flüstern plötzlich der Brunstschrei wird und das holde Lächeln zur Grimasse entartet.

Er ist groß, der Flußgott, der Herr des frühesten Leids, der kreativen Unordnung. Hinter Meisterwerken und Morden, Possen und Tragödien ist er die treibende Kraft. Er befruchtet und er verwüstet, er bringt Glück und Entsetzen, Jauchzen und Zähneklappern. Sein Hauch begeistert das Herz: rhapsodische Worte strömen von den Lippen, die er berührt. Er verwirrt den Sinn: sein Pfad ist bedeckt mit den Spuren von Selbstmord und Verbrechen. Die Satzungen der Logik, Ethik und Ästhetik gelten nicht vor seiner trunkenen Macht. Wer wagt es, sich auf fromme Tradition, sittliche Norm zu berufen, wo die phallische Gottheit autonom regiert? Die Antwort ist ein Gelächter. Der Flußgott spottet unserer Kritik, schert sich um keine Mahnung.

Er ist weder gut noch böse. Er ist die unendliche Energie, die mit selbstherrlich-irrationaler Blindheit unterschiedslos das Böse und das Gute begehrt, umarmt, vernichtet und erzeugt.

Es ist immer die gleiche Unordnung, immer das gleiche lustvoll trübe Leid. Seit Anbeginn der Welt.

War meine Generation – die europäische Generation, die während des ersten Weltkrieges heranwuchs – unordentlicher und frivoler, als Jugend es im allgemeinen ist? Trieben wir es besonders liederlich und zügellos?

Die moralisch-soziale Krise, in deren Mitte wir stehen und deren Ende noch nicht abzusehen scheint, sie war doch damals schon in vollem Gange. Unser bewußtes Leben begann in einer Zeit beklemmender Ungewißheit. Da um uns herum alles barst und schwankte, woran hätten wir uns halten, nach welchem Gesetz uns orientieren sollen? Die Zivilisation, deren Bekanntschaft wir in den zwanziger Jahren machten, schien ohne Balance, ohne Ziel, ohne Lebenswillen, reif zum Ruin, bereit zum Untergang.

Ja, wir waren früh vertraut mit apokalyptischen Stimmungen, erfahren in mancherlei Exzessen und Abenteuern. Indessen bin ich mir nicht bewußt, jemals »das Laster« kennengelernt zu haben. Ich weiß gar nicht, was das ist »das Laster«. Einsamkeit und Lust, Hunger, Langeweile, Eifersucht, das sind Realitäten. Aber was ist »das Laster«? Wer definiert mir den Begriff der »Sünde«? Was mich betrifft, so bin ich nie imstande gewesen, diesen hochtrabend-hohlen Abstraktionen irgendeinen Sinn abzugewinnen.

Wir konnten nicht von einer sittlichen Norm abweichen: es gab keine solche Norm. Die moralischen Clichés der bourgeoisen Ära, diese atavistischen Tabus einer zugleich selbstgefällig satten und neurotisch inhibierten Gesellschaft, hatten in den Kriegs- und Revolutionsjahren ihre Autorität und Überzeugungskraft verloren, endgültig, wie wir damals glauben wollten. So gründlich erledigt, so durchaus »passé« erschien uns diese puritanisch-bürgerliche Sittlichkeit, daß es uns nicht einmal der Mühe wert erschien, uns polemisch mit ihr abzugeben.

Was gab es noch zu »demaskieren« an einer Ethik, deren Falschheit und Schädlichkeit längst durchschaut und angeprangert war? Der wütende Kampf gegen die überalterte Pseudomoral, den die ikonoklastischen Genies des späten neunzehnten Jahrhunderts begonnen hatten, war von der Generation unserer Väter fortgesetzt und vollendet worden: die asketischen Ideale – arg zerzaust von Nietzsche, Whitman, Zola, Strindberg, Ibsen, Wilde – hauchten unter den formidablen Hieben der D. H. Lawrence und Frank Wedekind ihr bedenklich reduziertes Leben aus. Von unseren Dichtern übernahmen wir die Geringschätzung des Intellekts, die Akzentuierung der biologisch-irrationalen Werte auf Kosten der moralisch-rationalen, die Überbetonung des Somatischen, den Kult des Eros. Inmitten allgemeiner Öde und Zersetzung schien nichts von wirklichem Belang, es sei denn das lustvolle Mysterium der eigenen physischen Existenz, das libidinöse Mirakel unseres irdischen Daseins. Angesichts einer Götzendämmerung, die das Erbe von zwei Jahrtausenden in Frage stellte, suchten wir nach einem neuen zentralen Begriff für unser Denken, einem neuen Leitmotiv für unsere Gesänge und fanden den »Leib, den elektrischen«.

Diese Präokkupation mit dem Physiologischen war bei uns nicht einfach Sache des Instinktes oder der Stimmung, sondern hatte programmatisch-prinzipiellen Charakter, was kaum wundernehmen kann, in Anbetracht der alten deutschen Neigung zum Systematischen: hier wird selbst aus Chaos und Wahnsinn ein System gemacht.

Damals freilich, in den Tagen politischer Unschuld und erotischer Exaltation, fehlte uns jede Vorstellung von den gefährlichen Aspekten und Potentialitäten unserer puerilen Sexualmystik. Immerhin konnte ich nicht umhin zu vermerken, daß unsere »Körpersinn«-Philosophie zuweilen von recht unerfreulichen Elementen vorgespannt und ausgebeutet wurde. Die Glorifizierung physischer Tugenden verlor für mich jeden Reiz und jede Überzeugungskraft, wenn sie sich mit einem militant-heroischen Pathos verband, was leider häufig der Fall war. Übrigens hatte ich auch durchaus kein Verständnis für den Sportfanatismus, den wir als ein weiteres Symptom – vielleicht das wichtigste! – der damaligen anti-spirituellen Stimmung betrachten müssen. Was fanden die Leute nur so aufregend und wundervoll an Boxkämpfen und Fußball-Matches? Ich begriff es nicht … Glücklicherweise spielten diese Dinge nur eine geringe Rolle im pädagogischen System der Odenwaldschule.

Indessen hatten einige der jüngeren Knaben doch athletische Ambitionen und vergnügten sich mit Ballspielen, Diskuswerfen und anderen Leibesübungen. Ich sah ihnen gerne zu, wenn sie miteinander rangen oder um die Wette liefen. Vor allem einer war es, dem meine Aufmerksamkeit galt. Sein Name war Uto. Er war kräftig und gewandt, aber bei weitem nicht der Stärkste und Geschickteste unter den Kameraden. Auch besonders hübsch war er wohl eigentlich nicht, keine Lichtgestalt, kein Adonis. Aber ich liebte sein Gesicht. Er hatte das Gesicht, das ich liebe. Man mag für mancherlei Gesichter Zärtlichkeit empfinden, wenn man lange genug lebt und ein empfindendes Herz hat. Aber es gibt nur ein Gesicht, das man liebt. Es ist immer dasselbe, man erkennt es unter Tausenden. Uto hatte dies Gesicht.

Er hätte slawischer Abkunft sein können, mit seinen hochsitzenden, stark hervortretenden Backenknochen und schmalen Augen. Oder vielleicht sah er eher wie ein kleiner Schwede aus, der irgendwie einen Tropfen mongolischen Blutes mitbekommen hat. Sein helles Haar wirkte zuweilen fast strohig, wie gebleicht und ausgedörrt von zuviel Sonne; aber manchmal erschien es von sehr reicher, weicher Substanz und goldener Tönung. Auch seine Lippen waren oft trocken und aufgesprungen, um dann (es hatte nichts mit der Witterung zu tun, sondern hing wohl eher von Utos Stimmung ab) überraschend aufzublühen und dunkel zu leuchten. Seine Augen hatten die Farbe von Eis – Eis, das im Fluß treibt, schimmernd im Glanz eines Wintermorgens. Sie waren nicht blau, seine Augen, sondern von einem strahlenden Grau, in das sich silbergrüne Lichter mischten. Die Unschuld dieses hellen Blickes war mir süß und erschreckend. Es gibt eine stählerne Helligkeit, eine matinale Transparenz, die tiefer, unergründlicher ist als der purpurne Abgrund der Mitternacht.

Utos Knie waren meist mit Narben bedeckt, was ihm ein kriegerisch verwegenes Aussehen gab. Seine Hände waren rauh, mit schön geformten, schmutzigen Fingernägeln. Er trug den Kopf sehr aufrecht.

Ich schrieb Gedichte auf ihn, die er nie zu lesen bekam. Ich redete ihn mit Namen an, die er komisch fand: Ganymed, Narziß, Phaidros, Antinous … Indessen schmeichelte ihm meine Ergebenheit. Er hielt mich für gelehrt, was ihm Eindruck machte, und für ein bißchen närrisch, was ihn nicht weiter störte. Er war ein guter Junge, bescheiden und sanft, ohne Bosheit; eitel genug, um sich meiner Huldigung zu freuen, doch zu naiv, um den wahren Charakter meiner Leidenschaft zu erkennen.

Er sagte zu mir: »Ich hab noch nie einen richtigen Freund gehabt. Du bist mein erster. Es ist fein, einen Freund zu haben.«

Seine Stirne war glatt und kühl. Er war einsam und ahnungslos, wie die Tiere es sind und die Engel.

Ich schrieb auf einen Fetzen Papier: »Ich liebe dich.«

Er las es, wurde ein bißchen rot (er hatte eine besondere Art, flüchtig, aber intensiv zu erröten und sich dabei das Haar mit einer verlegenen Gebärde aus der Stirn zu schütteln); dann lachte er und steckte das Stück Papier in die Hosentasche. »Donnerwetter«, sagte er, ohne mich anzuschauen. »Das ist gut.« Und plötzlich ganz ernst, mit verständig gedämpfter Stimme: »Natürlich liebst du mich. Freunde sollen einander liebhaben.«

Ich erzählte ihm, daß ich vielleicht bald die Schule verlassen müsse. Meine Eltern hätten mir geschrieben. »Sie wollen, daß ich nach Hause komme. Sie bestehen darauf.«

Er glaubte mir nicht. »Das tust du mir doch nicht an,« sagte er. (Unergründlich diese lichte Nacht seines Blickes!) »Du kannst mich doch nicht einfach hier alleine lassen. Du bist doch mein Freund. Deine Eltern werden das schon verstehen, wenn du's ihnen richtig erklärst.«

Ich hatte ihn belogen. Meine Eltern wollten mich gar nicht zurückhaben; im Gegenteil, ihr Wunsch und Vorschlag ging dahin, daß ich noch ein bis zwei Jahre in der Odenwaldschule bleiben solle, lange genug, um mich dort aufs Abitur vorzubereiten. Aber ich wollte mich nicht aufs Abitur vorbereiten. Ich wollte nicht bleiben. Gewiß, ich hing an Eva, Oda und Ilse, an Paulus, an der schönen Landschaft, an der vertrauten und bestrickenden Atmosphäre der Freien Schulgemeinde. Aber ich wollte nicht bleiben. Ich hatte Angst.

Ich hatte Angst vor dem Gefühl, das mir die Brust mit weher Seligkeit zu sprengen drohte. Ich hatte Angst vor Uto. Er war so stark, so sehr viel stärker, sehr viel leichter als ich. An ihm war alles Kraft und Heiterkeit; es gab keine Probleme für ihn. Mir aber wurde alles zum Problem – undurchdringlich, beklemmend. Ich wagte es nicht, die Winke und Zeichen meines Schicksals zu begreifen.

»Meine Eltern sind sehr eigensinnig«, behauptete ich. »Wenn die sich einmal was in den Kopf gesetzt haben …«

Was für ein Leid trieb mich fort? Welch neue Unordnung war es, die meiner wartete?

 

Mielein und der Zauberer waren etwas betroffen über meine plötzliche Rückkehr. Aber schließlich, wenn ich es vorzog, meine Gymnasialstudien in München abzuschließen, warum nicht? Es würde mir vielleicht recht gut tun, ein paar Monate lang Privatstunden zu nehmen, zur Auffrischung meiner ziemlich lückenhaften Kenntnisse.

Ein gelehrtes Fräulein und ein jovialer Professor im Ruhestand wurden als meine Lehrer engagiert. Das Fräulein – eine Verblühte mit Zwicker, hagerer Nase und grauem Teint – tat mir von Herzen leid; der Professor hingegen – sein Name war Geist – ging mir auf die Nerven. Geist war von onkelhafter Aufgeräumtheit, mit rosiger Miene, herzhaft dröhnendem Lachen; aber die Augen – sehr kleine Augen hinter dicken Brillengläsern – hatten ein tückisches Funkeln. Geist war mir unsympathisch. Übrigens mochte er mich so wenig wie ich ihn. Zwar tat er freundlich mit mir, klopfte mir auf die Schulter, grinste und schäkerte: »Na, alter Knabe, wieder mal nichts gelernt? Wohl wieder die Nacht durchgebummelt, was? Macht nichts. Sind ja alle mal jung gewesen …« Aber hinter meinem Rücken ließ er sich anders vornehmen. »Ich mache mir Sorgen um Ihren Klaus«, sprach Geist zu meinen Eltern. Wie einst das ährenblonde Fräulein Thea, so glaubte nun der Professor, Zauberer und Mielein warnen zu müssen. »Dem Jungen fehlt es an den moralischen Grundbegriffen«, behauptete Geist, die Augen tückischer denn je hinter den Brillengläsern. »Kein Pflichtgefühl, keine Disziplin! Das sind die Früchte der modernen Erziehungsmethoden, denen er in der Odenwaldschule ausgesetzt war …«

Die moralischen Grundbegriffe, die Professor Geist an mir vermißte – wo hätte ich sie finden sollen inmitten allgemeiner Wirrnis und Korruption? War es meine Schuld, daß ich in ein Zeitalter sittlicher und sozialer Anarchie hineingeboren wurde? Das Europa, und besonders das Deutschland der frühen zwanziger Jahre war zugleich erschöpft und hektisch aufgekratzt. Es war nicht Besinnung, wonach diese ausgepumpte, decontenancierte Gesellschaft verlangte; vielmehr wollte man vergessen – das gegenwärtige Elend, die Angst vor der Zukunft, die kollektive Schuld …

Die Kolossalorgie des Hasses und der Zerstörung ist vorüber! Genießen wir die zweifelhaften Amüsements des sogenannten Friedens! Nach der blutigen Ausschweifung des Krieges kam der makabre Jux der Inflation! Welch atembeklemmende Lustbarkeit, die Welt aus den Fugen gehen zu sehen! Haben einsame Denker einst von einer »Umwertung aller Werte« geträumt? Statt dessen erlebten wir nun die totale Entwertung des einzigen Wertes, an den eine entgötterte Epoche wahrhaft geglaubt hatte, des Geldes. Das Geld verflüchtigte sich, löste sich auf in astronomische Ziffern. Siebeneinhalb Milliarden deutsche Reichsmark für einen amerikanischen Dollar! Neun Milliarden! Eine Billion! Was für ein Witz! Zum Totlachen …

Amerikanische Touristen kaufen Barockmöbel für ein Butterbrot, ein echter Dürer ist für zwei Flaschen Whisky zu haben. Die Herren Krupp und Stinnes werden ihre Schulden los: der kleine Mann zahlt die Rechnung. Wer beklagt sich da? Wer protestiert? Das Ganze ist zum Piepen, zum Schießen ist's, der größte Ulk der sogenannten Weltgeschichte! Hat jemand geglaubt, nach dem Kriege werde die Menschheit etwas vernünftiger und brüderlicher werden? War irgendein Deutscher naiv genug, sich eine reinigende Wirkung von der Revolution zu erwarten? Als ob wir überhaupt jemals eine Revolution gehabt hätten! Alles Schwindel! Alles Illusion!

Die Schieber tanzen Foxtrott in den Palace-Hotels! Machen wir doch mit! Schließlich will man auch kein Spielverderber sein … Die Herren und Damen duften nach »Khasana« ( made in Germany: fast so fein wie Coty!); die Band spielt »Ausgerechnet Bananen« – es sind echte Neger, garantiert dunkelhäutig, keine Falle! Wir finden Jazz »phantastisch«, »kolossal«; es ist eine Novität, der letzte Schrei. Hör doch, wie sie schreien: »Eine Miezekatze – hatse – aus Angora mitgebracht – und die hatse, hatse, hatse – mir gezeigt die ganze Nacht …« Und sonst hatte sie nichts zu tun? Da sind wir doch gewitzter … Fabelhaft, der synkopierte Rhythmus … Dieses Tempo … Der Herr dort drüben bestellt schon die dritte Flasche Champagner: muß Valuta haben … »Komm mit mir nach Brasilien, komm mit mir in die Pampas …« Ist das ein Shimmy? Na, ist ja ganz egal … »Dort gründen wir Familien – Weil ich mit dir zusamm' paß …«

Jeder paßt zu jedem, es kommt nicht drauf an. Dieses Mädchen paßt zu diesem Jungen ebensogut wie zum nächsten, und wenn das Fräulein spröde tut (sie hat vielleicht ein Verhältnis mit ihrem Reitpferd oder mit der Köchin), dann kommen die beiden Buben, husch husch, ganz flott und munter ohne Mädchen aus … Der Dollar steigt: lassen wir uns fallen! Warum sollten wir stabiler sein als unsere Währung? Die deutsche Reichsmark tanzt: wir tanzen mit!

Millionen von unterernährten, korrumpierten, verzweifelt geilen, wütend vergnügungssüchtigen Männern und Frauen torkeln und taumeln dahin im Jazz-Delirium. Der Tanz wird zur Manie, zur idée fixe, zum Kult. Die Börse hüpft, die Minister wackeln, der Reichstag vollführt Kapriolen. Kriegskrüppel und Kriegsgewinnler, Filmstars und Prostituierte, pensionierte Monarchen (mit Fürstenabfindung) und pensionierte Studienräte (völlig unabgefunden) – alles wirft die Glieder in grausiger Euphorie. Die Dichter winden sich in seherischen Konvulsionen; die »Girls« der neuen Revuetheater schütteln animiert das Hinterteil. Man tanzt Foxtrott, Shimmy, Tango, den altertümlichen Walzer und den schicken Veitstanz. Man tanzt Hunger und Hysterie, Angst und Gier, Panik und Entsetzen. Mary Wigman – jeder Zoll eckige Erhabenheit, jede Geste eine dynamische Explosion – tanzt Weihevolles, mit Musik von Bach. Anita Berber – das Gesicht zur grellen Maske erstarrt unter dem schaurigen Gelock der purpurnen Coiffure – tanzt den Keitus. Man tanzt in antiken Gewändern, gotischen Rüstungen und mit entblößtem Bauch; man tanzt à la Isidora Duncan, à la Nijinsky, à la Charlie Chaplin; man imitiert Indianer, Kongoneger, Südseeinsulaner und die gemarterte Pantomime eingekerkerter Tiere im Zoologischen Garten. Ein geschlagenes, verarmtes, demoralisiertes Volk sucht Vergessen im Tanz. Aus der Mode wird die Obsession; das Fieber greift um sich, unbezähmbar, wie gewisse Epidemien und mystische Zwangsvorstellungen des Mittelalters. Die Symptome der Jazz-Infektion, die Zeichen der hüpfenden Sucht lassen sich im ganzen Land bemerken; am gefährlichsten betroffen aber ist das schlagende Herz des Reiches, die Hauptstadt.

Berlin, zugleich sensitiv und abgebrüht, blasiert und doch stets erpicht auf neue Sensationen, hat das geistig-moralische Klima Deutschlands niemals zu bestimmen und beherrschen vermocht, wie etwa Paris dies in Frankreich tut. Im Gegensatz zur französischen Kapitale ist die deutsche nicht schöpferisch begabt, sondern nur organisatorisch. Es ist ihr Genie und ihre historische Funktion, die Stimmungen und Tendenzen, die in der deutschen Luft liegen, aufzufangen und zu absorbieren, sie dramatisch auf die Spitze zu treiben. Berlin ist das Hirn, in dem die Emotionen und Intuitionen, die Sehnsüchte und Ressentiments des deutschen Volkes mit wissenschaftlicher Exaktheit und journalistischem Schmiß formuliert werden. Die Metropole kreiert nicht: sie repräsentiert. Wenn das Berlin der Kaiserzeit die aggressive Dynamik des jungen deutschen Nationalismus säbelrasselnd zur Schau gestellt hatte, so spiegelte das Berlin der ersten Nachkriegsjahre mit demselben Eklat die apokalyptische Gemütsverfassung der besiegten Nation.

»Schaut mich nur an!« schmetterte die deutsche Kapitale, prahlerisch noch in der Verzweiflung. »Ich bin Babel, die Sünderin, das Ungeheuer unter den Städten. Sodom und Gomorra zusammen waren nicht halb so verderbt, nicht halb so elend wie ich! Nur hereinspaziert, meine Herrschaften, bei mir geht es hoch her, oder vielmehr, es geht alles drunter und drüber. Das Berliner Nachtleben, Junge-Junge, so was hat die Welt noch nicht gesehen! Früher mal hatten wir eine prima Armee; jetzt haben wir prima Perversitäten! Laster noch und noch! Kolossale Auswahl! Es tut sich was, meine Herrschaften! Das muß man gesehen haben!« –

Ich war noch nicht ganz siebzehn Jahre alt, als ich, 1923, zum erstenmal nach Berlin kam, zunächst nur auf eine kurze Visite. Die Inflation näherte sich ihrem schwindelerregenden Höhepunkt. Die Stadt erschien zugleich erbarmungswürdig und verführerisch: grau, schäbig, verkommen, aber doch vibrierend von nervöser Vitalität, gleißend, glitzernd, phosphoreszierend, hektisch animiert, voll Spannung und Versprechen.

Ich war im siebenten Himmel. In Berlin zu sein bedeutete an sich schon erregendes Abenteuer! Die prosaischen Avenuen und öden Plätze, alles schien mir zauberhaft belebt, voll von lockendem Geheimnis. Wie köstlich, diese Straßen entlang zu bummeln, mit deren Namen sich mir die Vorstellung von sündigem Hochbetrieb und großer Welt verband: Friedrichstraße, Unter den Linden, Tauentzienstraße, Kurfürstendamm … Wie faszinierend, in einem der kleinen russischen Restaurants, die es damals an jeder Berliner Straßenecke gab, die dicke Borschtsuppe zu löffeln und sich von einem exilierten Großfürsten bedienen zu lassen!

Die russischen Emigranten, von denen Berlin um diese Zeit wimmelte, übten eine besondere Anziehungskraft auf mich aus. Warum hatten sie fliehen müssen? Waren sie die unschuldigen Opfer bolschewistischer Willkür? Oder hatten sie es ihrerseits arg getrieben, solange sie noch daheim auf ihren Schlössern saßen? Dort mochte es recht grausig-lustig zugegangen sein; man tat sich gütlich an Wodka und Kaviar, während die Leibeigenen geknutet wurden und die Damen sich von dämonischen Popen hypnotisieren ließen. Ja, wer sich mit so barbarisch-provokanter Wildheit amüsiert hatte, dem geschah wohl nur recht, wenn er dann das bittere Brot der Verbannung essen mußte … Übrigens konnte ich nicht umhin, mich zu fragen, ob das Leben im Exil eigentlich wirklich so sehr bitter sei. Hatte es nicht auch seine Reize, bei aller Gefahr und Unbequemlichkeit? Das Abenteuer begann mit der Flucht aus Moskau. Man verkleidete sich als Bettelmönch, um von der blutgierigen roten Geheimpolizei nicht erkannt zu werden. Nach mühevoller, aber doch auch wieder spannender Wanderung – meist bei Nacht, auf schneebedeckten Pfaden – erreichte man schließlich Warschau oder Konstantinopel. Nichts gerettet, außer dem nackten Leben – und ein paar Diamanten von unermeßlichem Wert! Durch den Verkauf der Juwelen (ein Hochzeitsgeschenk der Zarin: man trennt sich ungern davon!) verschafft man sich genügend Kapital, um nun unverweilt die beliebte Teestube in Berlin aufzumachen. – Oder versucht man es mit einem Modesalon in Nizza, einem Bordell in Schanghai? Freilich, es mochte oft recht irritierend sein, dies Nomadenleben von Land zu Land, von einem Erdteil zum anderen, immer gehetzt vom Heimweh nach Mütterchen Rußland und von den Agenten der furchtbaren GPU; aber es hatte doch auch seinen Charme, seinen romantischen Zauber, das unsichere und riskante, abwechslungsreiche, gefahrenreiche, mondän-kosmopolitische Dasein der Emigranten. In das Mitleid, das ich für die flüchtigen Prinzen und Professoren aus Moskau, Kiew und St. Petersburg empfand, mischte sich eine andere Emotion: etwas wie Eifersucht, ein irrationaler und absurder Neid.

Von ganz ähnlicher Art waren meine Gefühle angesichts der Prostituierten, die allabendlich mit preußischer Disziplin die Tauentzienstraße entlangmarschieren. Ich konnte keine der bunten Damen betrachten, ohne innerlich aufzuseufzen: »Armes Ding! Was für ein Leben sie führt!« Aber solche Reaktion war künstlich und konventionell; der Seufzer kam nicht von Herzen. Ehrlicher war der kleine Junge, der – von den Erwachsenen gefragt, ob er es schön finde, daß die Affa einen so großen Busen habe – mit Ernst und Präzision erwiderte: »Schön find ich's grad nicht, aber ich seh's gern!« Mit den Berliner Huren ging es mir ebenso. Schön fand ich sie nicht gerade; aber es machte mir unendliches Vergnügen, ihrer grellen Prozession zuzuschauen.

Manche von ihnen waren kindlich jung, während andere die tiefen Furchen um Mund und Augen mit keiner Schminke mehr cachieren konnten. Es gab frierende kleine Mädchen im abgeschabten Mäntelchen, stolze Kokotten im Pelz, üppige Blondinen mit gemütlich rheinischem Akzent, fesche Jüdinnen mit einladend feuchtem Blick. Es gab Weiblichkeit in jeder Preislage, für jeden Geschmack, selbst für den ausgefallensten. Einige der Damen – grimmige Matronen in streng-geschnittenen Kostümen – fielen durch hohe Stiefel aus rotem oder grünem Leder auf. Es war eine dieser Gestiefelten, die mir zu meinem Entzücken heiser zuflüsterte: »Magste Sklave sein?« wozu sie auch noch eine Reitgerte an meiner Wange vorbei durch die Luft zischen ließ. Ich fand das wundervoll.

Die Romantik der Unterwelt war unwiderstehlich. Berlin – oder vielmehr, der Aspekt von Berlin, den ich sah und den meine Naivität für den einzig wesentlichen, einzig charakteristischen hielt – enthusiasmierte mich durch seine schamlose Verruchtheit. Berlin war meine Stadt! Ich wollte bleiben. Aber wie? Das dumme Geldproblem!

Arbeiten? Warum nicht … Aber Geschirrwaschen oder den Liftboy spielen, dergleichen kam nicht in Frage. Die Stellung, nach der ich suchte, sollte nicht nur einträglich sein, sondern auch amüsant. Wie wäre es mit einem Engagement in einem der »literarischen« Tingeltangel, die damals wie Pilze aus dem Asphalt der Metropole schossen?

Ich wurde bei einem meiner neuen Freunde vorstellig: Paul Schneider-Duncker hieß er, ein Favorit der deutschen Kleinkunstbühne. »Paulchen«, sprach ich zu ihm, beinah drohend, »du bist doch mein Freund? Na also, jetzt kannst du mir's mal beweisen. Ich will im ›Tü-Tü‹ auftreten, du weißt doch, das neue Cabaret in der Kantstraße. Kennst du die Leute dort?«

»Aber gewiß doch«, grinste Paulchen, überraschend bereitwillig. »Wird mir ein besonderes Vergnügen sein!« Trippelte zum Telephon, ließ sich mit der Direktion des »Tü-Tü« verbinden und plauderte animiert drauflos: »Bist du das, Else? … Danke schön, mir geht's mittelprächtig … Aber was ich dir sagen wollte: Ich hab hier eine ganz große Sache für dich … ja, für dein Eröffnungsprogramm heute abend … Ein junger Dichter … ja … ein richtiges Genie! Rezitiert seine eigenen Verse – stell dir vor: alles selbst gedichtet! Einfach knorke! … Natürlich kannst du ihn brauchen … Na, ist doch selbstverständlich … selbstredend … selbstmurmelnd … Also schön, er kommt heut abend …«

Ich war außer mir vor Entzücken.

Der Rest des Tages ging mit der Jagd nach einem Smoking hin; auch Lackschuhe und ein gestärktes Hemd mußten aufgetrieben werden. Mir blieb keine Zeit, über mein Repertoire nachzudenken. Abends erschien ich im »Tü-Tü«, eine halbe Stunde vor Beginn der Premiere, zitternd vor Nervosität im geborgten Staat.

Ich fand die Frau Direktor in ihrer Garderobe, eifrig mit Rouge und Wimperntusche beschäftigt.

»Hier bin ich!« Mein fröhlicher Ausruf mag etwas forciert geklungen haben.

»Sehr erfreut«, sagte sie mit unbewegter Miene. Und, nach einer Pause, ohne sich nach mir umzusehen: »Mit wem habe ich das Vergnügen?«

Ich erinnerte sie an ihr Telephongespräch mit meinem Freund Schneider-Duncker, woraufhin sie langsam den Kopf nach mir drehte und einen eisigen Blick über mich hingehen ließ. »Also so sieht ein Genie aus«, sagte sie schließlich mit einem Achselzucken. »Na schön.« Dann wandte sie sich wieder ihrem Schminktisch zu.

Ich beobachtete sie, wie sie ihr hageres, strenges Gesicht mit farbigen Stiften traktierte. Offenbar hatte sie meine Gegenwart durchaus vergessen. Ich räusperte mich diskret; sie blieb in den Anblick ihres Spiegelbildes vertieft, das sich allmählich verschönte. Ich ließ noch ein paar Minuten vergehen, ehe ich sie mit gedämpfter Stimme an mein Dasein erinnerte: »Entschuldigen Sie, gnädige Frau …«

»Immer noch das Genie? Ich dachte, Sie sind längst auf der Bühne.« Sie sprach fast ohne die frisch-geschminkten Lippen zu bewegen, starren Gesichts in den Spiegel hinein. »Sputen Sie sich, junger Mann! Sonst versäumen Sie Ihre Nummer.«

»Schon …?« fragte ich, plötzlich atemlos. Ich spürte kalten Schweiß auf der Stirne und ein Beklemmungsgefühl in der Magengegend.

»Sie kommen als erster dran«, erklärte die Frau Direktor mit scharfer Stimme. »Wenn Sie nichts dagegen haben. Wollen Sie jetzt bitte so gut sein, mich allein zu lassen. Der Inspizient zeigt Ihnen den Weg zur Bühne.«

Auf was hatte ich mich da angelassen? Aber nun gab es kein Entrinnen mehr; alles spielte sich mit furchtbarer Geschwindigkeit ab, wie in einem Albtraum. Da ist die Bühne (›Was tu ich hier? Wie bin ich hergekommen?‹) und da ist der Vorhang – ein schwerer Vorhang aus grünem Samt mit reicher Stickerei … Solange der Vorhang da ist, kann mir nichts geschehen: ich bin in Sicherheit … Aber nun hebt er sich – und da ist die Leere, das schwarze Loch, der Abgrund …

Ich soll ein Gedicht aufsagen, in den Abgrund hinein … Mit welchem fang ich nur an? Zunächst sage ich einmal: »Guten Abend, meine Damen und Herren!« Dazu mache ich einen Diener. Die Verbeugung muß ungeschickt ausgefallen sein: es wird gelacht; ein böses Meckern kommt aus der schwarzen Tiefe.

Mit heiserer Stimme murmele ich eine meiner kecken Balladen. Es ist die von der kleinen Herzogin Suzanne, die eine Schwäche für Matrosen hat. Keine Hand rührt sich, da ich meine Rezitation beendet habe.

Nach kurzem, angstvollem Zögern entschließe ich mich zu einer zweiten Nummer. »Das Schminkelied«, rufe ich gepeinigt aus. »Ich möchte jetzt, mit Ihrer gütigen Erlaubnis, mein kleines Lied von der Schminke zum Vortrag bringen.« Woraufhin ich hastig beginne: »Mögen Sie auch – mögen Sie auch – mögen Sie auch – Schminke so gern? – Aber ich liebe sie, aber ich liebe sie, aber ich liebe sie, meine Herrn! – Schminke Schminke Schminke wirkt so festlich – Schminke Schminke Schminke riecht so köstlich …«

»Aufhören!« ruft eine Stimme von unten. »Schluß!«

Ich habe gerade noch Zeit hervorzubringen: »Ohne Schminke geht's nun einmal nicht!« Da senkt sich schon mit sanfter Unerbittlichkeit der schwere grüne Vorhang. Es ist vorbei. Ein Mißerfolg … Nun weiß ich also, was das ist: das Fiasko, die Blamage …

Am nächsten Tag fuhr ich zurück nach München.

Jahre danach gestand mir Schneider-Duncker, was für einen Streich er mir damals gespielt hatte. Nicht aus Bosheit, wie er immer wieder betonte, sondern aus erzieherischen Gründen. »Du warst so ein unreifes Bürschchen!« rief der alte Witzbold. »So ein eingebildeter kleiner Narr! Wie konntest du denn nur glauben, daß ich dich der braven Else Wardt wirklich als große Attraktion empfehlen würde? Kaum warst du aus dem Zimmer, hab ich sie natürlich nochmal angerufen und ihr gesagt, daß du von Tuten und Blasen keine Ahnung hast. Deshalb hat sie dich auftreten lassen, als noch keine Katze im Theater war, nur ein paar Bühnenarbeiter. Es sollte eine Lehre für dich sein, alter Junge! Na, hoffentlich hat's was genützt …«

 

Hatte es was genützt? Wohl kaum. Die Lehre, wenngleich von grausamer Drastik, hatte doch nicht genügt, um mich von meinem Penchant für Nachtlokale, Tingeltangel und gewagte Maskeraden endgültig zu kurieren. Zwar gab es in München kein »Tü-Tü«, auch keine Tauentzienstraße und kein »Eldorado«; trotzdem fehlte es nicht an Betrieb, dank unserer entschlossenen Unternehmungslust.

Da die Schwabinger Kneipen und Ateliers uns nicht attraktiv erschienen, bildeten wir unsere eigene kleine Bohème, einen flotten, wenngleich etwas kindlichen Zirkel. Ein junger Mann namens Theo finanzierte unsere Eskapaden; er war es, der uns in die teuren Restaurants und Dancings einführte, die wir bis dahin nur von außen sehnsüchtig betrachtet hatten: das Odeon-Kasino, die Regina-Bar, den Pavillon-Gruß, wo es im Fasching so munter zuging, die berühmte Gaststätte des Herrn Walterspiel, wo man so vorzüglich speiste. Theo bestellte Champagner und Gänseleberpastete, wofür er, ohne mit der Wimper zu zucken, sieben Milliarden, fünf Millionen und vierhunderttausend deutsche Reichsmark auf den Tisch legte.

Er hatte träumerisch blaue Augen und die Unschuldsmiene eines Parsifal unter der schön gewellten blonden Frisur. Sein Aussehen ließ auf ein empfindsames Gemüt und ein romantisches Gefühlsleben schließen, was ihn aber nicht daran hinderte, mit Wagemut und Geschick an der Börse zu spekulieren. Er war naiv und gerieben, zynisch und sentimental, korrupt und generös – ein typischer Repräsentant der deutschen Nachkriegsgeneration.

Theo arrangierte Maskenbälle, nächtliche Schlittenfahrten – luxuriöse Weekends in Garmisch oder am Tegernsee. Wenn einem von uns nach einem festlichen Abendessen im Hotel Vier Jahreszeiten zumute war oder wenn man eine neue Inszenierung in den Kammerspielen sehen wollte, gleich wurde Theo angerufen. Manchmal gebrauchte er Ausflüchte: »Heute nicht. Warten wir bis nächste Woche. Ich muß erst disponieren …« Es klang vage und geheimnisvoll. Meistens aber ging er freudig auf den Vorschlag ein: »Gewiß doch! Man trifft sich um sieben in der Lucullus-Bar.«

Es waren reizende Stunden, die wir mit Theo verbrachten. Er selbst hatte die kindlichste Freude an seinen kostspieligen Gastereien. Zuweilen geschah es wohl, daß er zwischen Vorspeise und Braten triumphierend um sich blickte und mit feierlichem Nachdruck konstatierte: »Es ist wieder einmal ganz herrlich. Wir amüsieren uns. Die Musik, der Wein, die Stimmung – alles wunderbar! Ja, dieses Beisammensein wird einmal eine schöne Erinnerung werden.«

Man tauschte genierte Blicke. Glaubte Theo, den Genuß des Augenblickes intensivieren zu können, indem er die zukünftige Erinnerung an gegenwärtiges Vergnügen vorwegnahm und sich schon jetzt daran labte? Während die Konversation verstummte, pries er mit hektischer Begeisterung unseren »kleinen Nachkriegskreis«. »Vielleicht sind wir frivol«, rief er aus, wobei sein Blick aggressiv zum Nachbartisch hinüberblitzte. »Ja, vielleicht sind wir exzentrisch, lasterhaft! Aber wir haben – Schmiß und Tempo, darauf kommt es an! Das Tempo unserer Zeit! Prost, Eri, kleiner Satan du! Prost, Goldstück! Willi, dein Glas ist leer …«

Der junge Studiosus und angehende Literat W. E. Süskind, den Theo mit so forscher Vertraulichkeit »Willi« nannte, gehörte zu den Säulen unseres schmissigen Nachkriegskreises. Das Mädchen »Goldstück« hieß eigentlich Ella; sie kam aus Oslo und beschäftigte sich mit Kunstgewerbe. Ella jubelte und schalt mit hinreißendem Zwitscherstimmchen. Wir liebten ihren norwegischen Akzent und fanden es gar zu charmant, wenn sie kleine Fehler im Deutschen machte. Sie war reizend verschlampt, von überschwenglicher Gefallsucht und Vitalität. Manchmal bekam sie plötzlich versonnene Augen und hörte zu lachen auf; dann hatte sie Heimweh. »Ach, ihr habt nicht Vorstellung davon, wie wunderbar es ist bei uns!« klagte das Mädchen aus dem hohen Norden. »Da tanze ich nun in diesem Ort mit dem vielen Rauch, und daheim ist der Schnee, all der Schnee daheim! Und ich dummes Person muß hier Foxtrott tanzen!«

Süskind schrieb eine Novelle über Ella. – Sie gehört zum Hübschesten, was er je gemacht hat. Übrigens neigte er dazu, die jungen Damen seiner Bekanntschaft literarisch auszunutzen. Auch Erika wurde von ihm porträtiert. Eine interessante Charakterstudie, nur daß sie leider düstere Färbung hat: die Heldin wird am Schluß von ihrem verärgerten Liebhaber umgebracht. Auf so vertrackte und leicht makabre Manier huldigte dieser junge Schriftsteller den Damen seiner Wahl. Um Erika zu beweisen, daß der novellistische Mordanschlag nicht bös gemeint war, widmete er ihr seine erste gedruckte Arbeit, eine Studie über »Die tänzerische Generation«, die zu unser aller Stolz in Münchens anspruchsvoller und gediegenster Zeitschrift, dem »Neuen Merkur«, herauskam. Es war in diesem höchst artig abgefaßten Essay, daß W. E. Süskind das Pathos und die Philosophie aller foxtrott-freudigen kleinen Nachkriegskreise, einschließlich des unseren, zu formulieren suchte.

Die Walter-Mädchen waren unserem animierten Zirkel leider abhanden gekommen. Eine bösartige Kampagne –, nicht ohne antisemitischen Beigeschmack –, die von der Presse, vor allem von den reaktionären »Münchener Neuesten Nachrichten« gegen ihn geführt wurde, hatte dem großen Dirigenten die Stellung an unserer Oper so verleidet, daß er sich dazu entschloß, einen Ruf nach Wien anzunehmen. Lotte und Gretel, zwei fesche Wienerinnen, statteten uns nur noch kurze, seltene Besuche ab; Theo, der sie in die Regina-Bar führen durfte, war von ihnen entzückt. »Ein Abend, der zu unseren schönsten Erinnerungen zählen wird!« entschied er nach dem zweiten Glas Champagner, strahlend vor Zufriedenheit. Warum sollte er nicht guter Dinge sein? Das Leben war von unerschöpflicher Buntheit, Lotte und Gretel bedeuteten einen höchst begrüßenswerten, wenn auch nur temporären Zuwachs zu unserem Nachkriegskreis, und übrigens versprach die Spekulation mit ungarischen Pengös ein Bombenerfolg zu werden.

Ähnlich den Walter-Mädchen, war auch Ricki damals nur ein seltener Gast in unserer Mitte. Er hatte um jene Zeit nichts für Städte übrig, sondern hielt sich lieber im Gebirge auf, wo er sich mit etwas manischer Leidenschaft auf seine Arbeit konzentrieren konnte. Es war in diesen Jahren, daß einige seiner schönsten Landschaftsbilder entstanden, gewissenhaft realistische, dabei aber irgendwie traumhaft verklärte und verwunschene Ansichten von Gebirgstälern, Wasserfällen, dunklen Tannen und beschneiten Gipfeln, deren gezackte Kontur mit unerbittlicher Exaktheit vor einem glasig transparenten Himmel verläuft wie eine geheimnisvolle Schrift, deren erhabene Bedeutung kein Sterblicher je entziffern darf.

Manchmal wurde ihm angst vor dem eisigen Frieden der alpinen Idylle; dann gönnte er sich wohl ein paar Tage der Zerstreuung und Geselligkeit in unserer Stadt, wobei er dieselbe zähneknirschende Intensität an den Tag legte wie beim Malen und bei jeder anderen Beschäftigung. Der Ausdruck »zähneknirschend« ist hier übrigens wörtlich zu verstehen; denn Ricki neigte dazu, in emotionell gesteigerten Momenten – beim Tanzen etwa, oder in der Umarmung, oder auch wenn er sich ärgerte – seine beiden starken, ebenmäßig geformten und leuchtend weißen Zahnreihen gegeneinander zu wetzen, wodurch sich ein penetrant knirschendes Geräusch ergab. Es war eine seiner wunderlichen Gewohnheiten, etwas irritierend, ja sogar erschreckend; aber da er sonst liebenswert war, sah man's ihm gerne nach.

Es gab andere gelegentliche Teilnehmer an unseren Zusammenkünften; die meisten waren älter als Erika und ich, veritable Erwachsene und arrivierte Künstler, wie Bert Fischel, der Favorit des Bayerischen Staatstheaters, und jene ernste junge Frauensperson, die uns durch die muskulöse Anmut ihrer langen Arme und Beine und die nachlässige Selbstgewißheit ihres Auftretens imponierte. Sie leitete eine Gymnastikschule, ließ sich aber auch mindestens einmal in jeder Saison als Solotänzerin sehen. Hinzu kamen Literaten, die sich manchmal zu uns gesellten, teils wegen Theos Champagner, teils wohl auch, weil sie uns drollig fanden. Einige von ihnen hatten schon Bücher veröffentlicht oder gehörten zum redaktionellen Stab einer experimentellen Zeitschrift. Es schmeichelte mir entschieden, solchen Sachverständigen aus meiner eigenen Produktion vorzutragen. Sie ließen es sich gefallen, aus professioneller Neugier und um sich für das gute Abendessen erkenntlich zu zeigen. Unvergeßlich ist mir eine Soirée in Süskinds Wohnung, gegen deren Ende ich eine bedeutende Anzahl meiner Sturm- und Liebeslieder rezitierte. Der Kritiker, an dessen Urteil mir gelegen war – überraschenderweise kann ich mich noch an seinen Namen erinnern: er hieß Rutra – zog mich schließlich in einen Winkel, um mir mit gedämpfter, dabei aber doch markig-sonorer Stimme zu versichern: »Ihre Verse sind hundsmiserabel. Aber Sie dürfen nicht aufhören zu schreiben!« Ich wußte zunächst nicht, ob ich gekränkt sein sollte; entschloß mich aber dann dazu, das lapidare Orakel als ermutigend aufzufassen.

Ja, es war eine recht buntgemischte Clique, für deren Amüsement Theo mit träumerischer Nonchalance seine Milliarden springen ließ. Aber dem kleinen Nachkriegskreis fehlte doch das dynamische Zentrum, bis Pamela Wedekind, die Tochter des großen Dichters, zu uns kam.

Wir lernten sie bei unserem Onkel Heinrich kennen; Tante Mimi, Heinrich Manns üppig-muntere tschechische Gemahlin, hatte uns mit der Witwe Wedekind, Frau Tilly, und Tochter Pamela zu einem ihrer opulenten Tees gebeten. Tilly, ihr berühmtes Temperament mit fast asketischer Diskretion versteckend, wirkte nur sanft und schön – ein schläfriger Engel mit verhangenem grau-blauem Blick und sensationellen Beinen. Als Achtzehnjährige war sie von dem großen Dramatiker, ihrem späteren Gatten, entdeckt worden. Damals spielte sie den Pagen im zweiten Akt der »Büchse der Pandora«, eine unbedeutende Rolle, aber besonders geeignet, die außerordentliche Figur einer jungen Actrice zur Geltung zu bringen. Später war sie in dem gleichen Stück die Hauptperson, als Partnerin ihres unheimlich inspirierten Gemahls.

Er lehrte sie die Kunst des Gehens, Sprechens, Lächelns, Singens, Weinens. Er intensivierte und stilisierte ihre naturhaft träge Anmut, dem Pygmalion gleich, der sein Marmorgeschöpf durch schöpferisch-liebenden Anhauch zum Leben bringt. Seht, die magisch Erweckte öffnet Augen voll lockender Zärtlichkeit! Im Flitterröckchen tanzt sie auf rollender Kugel, wobei sie mit bemerkenswerter Konzentration Verse von Frank Wedekind rezitiert. Sie wirft Handküsse ins Publikum; sie ziert sich, glitzert, triumphiert, verführt: sie ist Lulu, der Erdgeist, die große Buhlerin, Inkarnation und Opfer des Geschlechts.

Arme Tilly! Ja, sie war noch liebenswürdig, noch begehrenswert mit ihrer zugleich routinierten und kindlich naiven Koketterie. Aber ihre Stimme – seltsam hohl, trotz sonorer Fülle – klang, als spräche sie aus einer hypnotischen Trance. Die Alabasterstirn, von reiner Wölbung unter der Fülle des mattgoldenen Haares, schien beschattet von Träumen. Manchmal erstarrte ihr Lächeln und der schöne Blick ging ins Ungewisse. Die lustige Witwe, die untröstliche Witwe erschauerte, wie unter einem flüchtig-eisigen Kuß aus dunkler Sphäre.

»Ist dir nicht gut, Mama?«

Dies war Pamelas Stimme – leuchtend, hart, von metallischer Schärfe, die gut-trainierte, penetrante Stimme der ehrgeizigen jungen Bühnenkünstlerin. Sie beugte sich leicht nach vorne, um die Hand der Mutter zu berühren. Tilly ertrug die Liebkosung, aber wich dem blanken, forschenden Blick der Tochter aus. Wie vertraut sie ihr waren, diese weitgeöffneten, schillernd-tiefen Augen unter den mephistophelisch hochgezogenen Brauen! Pamelas Züge und ihr geschultes Organ, die zeremonielle Aggressivität ihrer Gesten und Reden, ja sogar die tyrannische Wachsamkeit ihrer Liebe, alles gemahnte an ihn, den verewigten Meister. Frank Wedekind schien wiederauferstanden in der gestrafften Gestalt dieses Mädchens mit der großen gebogenen Nase, dem phosphoreszierenden Blick, dem grell geschminkten Mund, der sich beim Lächeln etwas schlängelte.

»Aber mir fehlt doch nichts, Liebste«, behauptete Tilly mit hohler Stimme, immer wieder geängstet von dieser lächerlichen, fürchterlichen Ähnlichkeit.

»Ich hoffe, Mama«, sprach Pamela, jede Silbe mit unbarmherziger Präzision betonend, durchaus im Stil des seligen Papas.

Sie tat alles in seinem Stil; sein Vorbild bestimmte ihre Gedanken und Gesten, ihre Akzente und Emotionen. Sie war entschlossen, später, als Schauspielerin, die Wedekind-Tradition auf der Bühne fortzusetzen. Während sie sich noch auf ihre theatralische Laufbahn vorbereitete, zur Zeit unserer ersten Begegnung, war es ihr liebstes Spiel, seine Lieder zur Gitarre zu singen, all die schaurig-grotesken Balladen und zärtlichen Bänkelweisen, die er früher bei den »Elf Scharfrichtern« selbst zum Vortrag gebracht hatte.

Welch wunderliches, rührendes Tableau! Pamela, unter der Totenmaske des Vaters sitzend, auf einer Couch in seinem Arbeitszimmer, mit seiner Laute im Arm … Das steinerne Antlitz des Toten beherrscht den Raum mit seiner Adlernase und den weißen, blicklosen Augen, die unter schrägen Brauen majestätisch ins Leere starren. Pamelas Gesicht ist nichts als eine weichere Abwandlung und verjüngte Wiederholung der väterlich strengen Miene.

Sie sitzt regungslos, den kühnen jungen Kopf (ja, es ist das stolze Haupt eines Renaissance-Jünglings!) etwas zur Seite gewandt, mit halbgeöffneten Lippen und aufmerksam zusammengezogenen Brauen, als lausche sie mit äußerster Konzentration auf kaum hörbare, aus weiter Ferne hergeflüsterte Ratschläge und Instruktionen. Wie aufrecht sie sich hält im schwarzen, enganliegenden Kleid mit weißem Spitzenkragen! Sie lauscht, sie wartet, während ihre Finger mechanisch über die Saiten des Instrumentes gehen. Endlich verkündigt sie mit lächelndem Schlängelmund, dabei aber nicht ohne eine gewisse drohende Feierlichkeit, als wendete sie sich nicht an einen intimen Kreis befreundeter Zuhörer, sondern an ein zahlreiches und widerspenstiges Publikum: »Ich erbitte Ihre Aufmerksamkeit für eines der schönsten Lieder meines Vaters: ›Der blinde Knabe‹.« Ihre Stimme ist etwas gläsern, aber von höchst suggestiver Beseeltheit, da sie nun zu singen anhebt:

»O ihr Tage meiner Kindheit,
Nun dahin auf immerdar,
Da die Seele noch in Blindheit,
Noch voll Licht das Auge war …«

Pamela wurde bald unsere beste Freundin; sie war unzertrennlich von Erika und mir. Wenn man sich nicht gerade mit Theo zu kostspieligen Exkursionen aufmachte, so traf man sich meist in der Wedekindschen Wohnung, einem bürgerlich behaglichen und geräumigen, aber doch leicht exzentrisch ausgestatteten Appartement in der vornehmen Prinzregentenstraße, nicht weit von den Ufern des Isarflusses. Natürlich ließ Pamela sich auch hin und wieder bei uns in der Poschingerstraße sehen, aber nicht sehr häufig und niemals ohne eine gewisse Befangenheit. Zwischen ihr und unseren Eltern fehlte es an jener spontanen, unmittelbaren Beziehung, die man so treffend als »Kontakt« bezeichnet. Was besonders den Zauberer betrifft, so war unsere neue Gefährtin ihm entschieden unheimlich. Er hatte Wedekind auf seine ironisch-distanzierte Art bewundert, vielleicht sogar geliebt, ohne ihm übrigens menschlich je so nahe zu kommen wie etwa sein Bruder Heinrich, der zu den nächsten Freunden des Dramatikers zählte. Aber das vertrackte, doppeldeutige Pathos, das ihn an Wedekind fasziniert und erschüttert hatte, irritierte ihn in der weiblich-reduzierten Version, in der es sich ihm nun präsentierte, nicht von der Bühne herunter, sondern in unserem Eßzimmer oder am Kamin, in der Diele. Pamelas grelle Manieriertheiten waren nicht nach seinem Geschmack.

War unsere Freundin affektiert, künstlich, unnatürlich? Ja und nein. Gewisse Charaktere, zu denen wir Pamela rechnen dürfen, sind von Natur unnatürlich: die leidenschaftliche Gebärde und die Leidenschaft lassen sich bei ihnen nicht voneinander trennen, Spiel und Passion sind eins. Ohne Frage, die Tochter des Komödianten-Dichters war durchaus Komödiantin; sie gefiel sich in ihrer hochstilisierten, theatralischen Art, und manchmal übertrieb sie wohl, halb bewußt, den eigenen Stil bis zum Lächerlichen: das mephistophelische Mienenspiel und die pointierte Diktion wirkten zuweilen komisch. Das soll aber nicht heißen, daß sie eines echten, starken Gefühls nicht fähig gewesen wäre. Im Gegenteil, sie bewies in der Freundschaft dieselbe exzessive Hingabe und Leidenschaft, den gleichen Fanatismus, der für ihren Vater-Kult charakteristisch war.

Die Atmosphäre im Hause Wedekind war immer geladen mit geheimen – oder nicht so sehr geheimen – Spannungen, wie die Dialoge des verstorbenen Hausherrn, dabei aber nicht ohne Wärme und die obligate Münchener »Gemütlichkeit« (die ja übrigens, auf eine etwas versteckte Art, auch irgendwie zum Wedekindschen Stil gehört). Tilly war eine höchst charmante und generöse Hausfrau, gerade wegen ihrer träumerischen Nonchalance und Zerstreutheit. Während sie ihre Kavaliere empfing, bewirtete Pamela ihre Freunde im Nebenzimmer; dazu kamen dann noch die Besucher der jüngeren Tochter, Kadidja – eines süßen und wilden Geschöpfes, damals vierzehnjährig: ich war bezaubert von ihr – und die Gäste einer kapriziösen Dame, die bei den Wedekinds lebte: sie nannte sich Sybil Vane und war früher Schauspielerin gewesen.

An Schauspielern fehlte es nie in diesem gastlichen Hause; meistens waren es solche, die man in den Dramen Wedekinds auf der Bühne gesehen hatte (der große Albert Steinrück, zum Beispiel, tauchte häufig dort auf), wodurch die ständig neu-belebte, immer wieder rituell zelebrierte Anspielung auf die Wedekind-Tradition besonders betont wurde. Manchmal stellten sich auch junge Dichter ein, die den Meister mit zeitgemäßeren Mitteln zu imitieren oder übertreffen suchten. Ich erinnere mich, beispielsweise, an ziemlich lärmige und feuchte Abende mit dem forschen »Zuck« (Carl Zuckmayer), der der Tochter des Hauses Konkurrenz machte, indem er, in eine rote Pferdedecke gewickelt, seinerseits allerlei Selbstgedichtetes mit sonorer Stimme und Klampfenbegleitung zum besten gab.

»Es waren doch schöne Stunden!« Kadidja verkleidete sich als Indianer, zum Entzücken des Zuck, der für Karl May schwärmte. Sybil Vane kredenzte Cocktails mit der preziösen Anmut einer Priesterin, die den feierlichsten Ritus ihres Kults verrichtet. Tilly war von sanfter Zerstreutheit, bis sie sich plötzlich die schweren Flechten ihrer Frisur löste und das offene Haar wie einen kostbar schweren Mantel auf die Schultern fallen ließ. Dies war das Zeichen, daß der zwanglose Teil des Abends nunmehr beginnen dürfe. Pamela biß denn auch prompt in die Hand des Kavaliers, mit dem sie gerade tanzte. Sie hatte eine gewisse Neigung, Leute unvermittelt in die Hand zu beißen; es tat ziemlich weh und hinterließ kompromittierende Spuren.

Manchmal kam es zu ernsteren Zwischenfällen. Es mochte geschehen, daß Kadidja sich mit einem ihrer jungen Verehrer auf einen seriösen Boxkampf einließ, ohne dabei auf das Mobiliar und die Nerven der anwesenden Damen irgend Rücksicht zu nehmen. Sybil Vane vor allem, kapriziös, wie sie nun einmal war, hatte eine Aversion gegen Raufereien. »Ich bitte dich, Kadidja!« Und sie rang zierlich die Hände. »Hast du denn keine Kinderstube? Schließlich und endlich, du bist doch ein junges Mädchen aus gutem Hause …«

Was Frau Tilly betrifft, so war sie nicht so leicht aus der Fassung zu bringen; mitten im Lärm blieb sie stets von träumerisch-heiterer Gefaßtheit. Freilich gab es Tage oder ganze Wochen, während derer man sie überhaupt nicht zu Gesicht bekam. Ihr labiles Gemüt kannte Zustände der Depression und Verdüsterung, die sich mit einer gewissen Regelmäßigkeit wiederholten und ihr zeitweilig jeden Umgang mit Menschen unmöglich machten. Die Leidende versteckte sich in ihrer verdunkelten Stube oder auf dem Land, in einem Sanatorium, um in völliger Abgeschiedenheit das Ende der Heimsuchung abzuwarten.

Auch bei Pamela kam dergleichen vor, nur daß in ihrem Fall das Übel viel aprupter auftrat und viel schneller vorüberging. Soeben hatte sie noch gefunkelt und geträllert, da warf sie plötzlich das Gesicht in die Hände und ward geschüttelt vom jähen Weinkrampf. Man drang in sie mit tröstender Zurede und besorgten Fragen. Was war der Grund ihrer Verstörung? Sie hatte keine Antwort, sondern stöhnte nur wie in physischer Qual. Schließlich gelang es ihr, einige Worte unter konvulsivischem Schluchzen hervorzubringen. »Es ist wegen Papa«, stammelte sie. »Er ist doch tot … Und wir lachen hier, in seinem Arbeitszimmer … Ich halt's nicht aus … es bringt mich um den Verstand … daß er tot ist …« – Und sie bedeckte ihr tränenüberströmtes Gesicht wieder mit beiden Händen; die zehn auseinandergespreizten Finger zuckten vor ihrem Gesicht wie ein roter, unheimlich belebter Fächer.

Es war gelegentlich eines solchen Ausbruchs, daß mir zum erstenmal die sonderbare Bildung ihrer Hände auffiel. Bis dahin hatte ich nie gewagt, irgendein Detail ihrer Erscheinung kritisch zu betrachten – eingeschüchtert und bezaubert von ihrer schauspielerischen Bravour und Selbstgewißheit. Nun aber bemerkte ich die plumpe Form ihrer Hand. Ja, dies war die Hand Frank Wedekinds, die schwere, ungeschickte, tragisch brutale Hand der Spaßmacher und Philosophen, der priesterlichen Clowns und burlesken Prediger, die er in seinem Werk beschworen und auf der Bühne selbst verkörpert hatte. So hatte die Tochter also auch dies geerbt, diese rührenden, schrecklichen Hände, die immer aussahen, als seien sie wund und klebrig von Blut und als täten sie weh.

Ich sah ihre Hände und die Tränen, die zwischen ihren Fingern hervorkamen, und ich sah ihren zuckenden Rücken und den gekrümmten Nacken. Ihr stolzer, kühner Nacken, jetzt sah ich ihn gebeugt.

Ich fragte sie: »Willst du mich heiraten?«

Wir waren genau gleichaltrig, Pamela und ich, gerade achtzehn, zur Zeit unserer Verlobung.

 

»Wenn du doch nur ein bißchen älter wärest!« klagte mein Vater. »Du bist halt gar so jung, das ist das Malheur!« – Und das arme Mielein seufzte: »Was machen wir jetzt mit dir?«

Ich hatte soeben meine Studien bei Professor Geist abgebrochen, einfach indem ich mich zu Bette legte und die Familie wissen ließ, ich befände mich inmitten einer schweren psychischen Krise. Passiver Widerstand führt meistens zum Ziel. Ich war den lästigen Geist los und durfte mich als freier Mann fühlen.

Die Eltern waren begreiflicherweise etwas besorgt. Was sollte aus mir werden? Ich hatte meine Antwort parat: »Ich bin zum Tänzer geboren. Ja, es ist meine Absicht, mich als Bewegungskünstler auszubilden. Was ist daran so komisch? Ich wünsche, bei Harald Kreuzberg Stunden zu nehmen: er ist ein Genie, und unter seiner Aufsicht wird auch das meine sich entfalten können. Was soll mir das Abitur? Es wäre Zeitverschwendung. In ein paar Jahren bin ich weltberühmt, ein zweiter Nijinsky. Auch rein finanziell gesehen ist die tänzerische Karriere vielversprechend.«

Vater und Mutter erklärten mit tapferer Gefaßtheit, daß sie im Prinzip gegen den Tänzer-Beruf nichts einzuwenden hätten, wenn ihnen auch vielleicht für ihren ältesten Sohn eine andere Karriere lieber gewesen wäre, etwa die eines Architekten oder Heldentenors. Da ich mich aber nun einmal zur Tanzkunst berufen fühle, sei es drum! Nur solle man einen so bedeutungsvollen Entschluß nicht ohne eingehende Überlegungen fassen. Es war jetzt April. Der elterliche Rat ging dahin, die weitere Diskussion meiner Berufswahl bis zum Herbst zu vertagen. Dann würde man dem Problem mit frischem Mut ins Auge schauen und gewiß eine Lösung finden. Aber wohin mit mir in der Zwischenzeit?

Ich schlug Heidelberg vor. Von der Odenwaldschule aus hatte ich ein paar Ausflüge dorthin unternommen und behielt den Ort in angenehmster Erinnerung. Besonders hatte es mir eine malerische alte Baulichkeit angetan, etwas außerhalb der Stadt, am Neckar gelegen – Stift Neuburg, ein früheres Dominikanerkloster, jetzt im Besitz des Dichters Alexander von Bernus. War der Baron nicht mit meinen Eltern vor Jahren recht gut bekannt gewesen? Man könnte bei ihm anfragen, ob er gesonnen sei, mich als Pensionär bei sich aufzunehmen. Ich dachte es mir anregend und gemütlich, ein paar Monate in so kurioser Umgebung zu verbringen. Übrigens traf es sich so, daß mein Freund Uto, der bald nach mir die Odenwaldschule verlassen hatte, in einer kleinen Stadt, nicht weit von Heidelberg, zu Hause war …

Baron von Bernus, dessen Gewohnheit es durchaus nicht war, fremde junge Leute als »paying guests« bei sich aufzunehmen, mag sich über das Anliegen meines Vaters etwas gewundert haben. Er willigte aber ein – aus Gefälligkeit, und vielleicht auch, weil es ihn interessierte, die Bekanntschaft des grillenhaften Knaben zu machen, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, am klösterlichen Leben des Schlosses teilzunehmen.

Es war ein wunderlicher Kreis, in dessen Mitte ich nun mit heiterer Zwanglosigkeit aufgenommen wurde. Der Baron selbst entsprach in Aussehen und Haltung durchaus dem Bilde, das die volkstümlich-romantische Phantasie sich vom Poeten macht. Seine Miene, von der Fülle des seidig-lockeren Haares wirkungsvoll gerahmt, war von blasser Milde, beinah priesterlich, dabei aber nicht ohne eine gewisse sinnliche Energie. Er hatte seine Laufbahn als literarischer Bohémien begonnen, um sich aber bald tieferen Studien und Abenteuern zuzuwenden. Aus dem verspielten Ästheten wurde ein Mystiker, aus dem Mystiker ein professioneller Adept und Künder der okkulten Sphäre. Nach kurzer Lehrzeit bei verschiedenen esoterischen Gruppen schloß er sich der Anthroposophischen Gesellschaft an, deren Gründer und Leiter, Dr. Rudolf Steiner, dem Hause Bernus auch persönlich nahestand. Der »große Eingeweihte« mag als Lehrer und Redner faszinierend gewesen sein; nur daß ihm leider die Gabe fehlte, seine Einsichten und Orakel in halbwegs gefälliger Form zu Papier zu bringen. Der Baron, obwohl sonst von wählerischem Geschmack und übrigens seinerseits nicht ohne echt poetische Gaben, schien jedoch an der Dürftigkeit der Steinerschen Prosa keinen Anstoß zu nehmen. Ein nicht unerheblicher Teil seiner Zeit und seiner Energie war der Auslegung und Propagierung des anthroposophischen Evangeliums gewidmet; in den verbleibenden Stunden beschäftigte sich der Schloßherr von Stift Neuburg mit Alchemie, Astrologie und der Herstellung von allerlei heilsamen Pulvern und Tinkturen nach Rezepten des Paracelsus. Während das Suchen nach dem Stein der Weisen zunächst nur Kosten verursachte, erwiesen sich die magischen Pillen schon jetzt als Goldquelle, weshalb der Baron sich denn auch auf diese Branche der Geheimwissenschaft besonders konzentrierte. In der Hexenküche ging die Arbeit immer flink von der Hand, zumal dort die Baronin dem Gemahl mit kundigem Rat assistierte.

Sie war eine höchst pikante, fesselnde Persönlichkeit – die Baronin Imogen von Bernus, Herrin von Stift Neuburg. Das geistvoll-zierliche Haupt glich dem einer intellektuellen grande dame des französischen Rokoko, eine Ähnlichkeit, die sie bewußt unterstrich, sowohl durch ihr Kostüm als auch durch die barocke Höhe ihrer silberweißen Kunstfrisur. Übrigens ließ sie gern Bemerkungen fallen, die auf ihre intime Bekanntschaft mit gewissen distinguierten Persönlichkeiten des Dixhuitième neckisch anspielten. Ja, einmal teilte sie mir geradezu mit – lachend, aber keineswegs mit scherzhafter Absicht –, daß sie in ihrer vorigen Inkarnation eine erfolgreiche Kurtisane am Hofe des Louis XVI. gewesen sei. »Ich hatte es lang geahnt«, sagte Frau Imogen; sie war zugleich schalkhaft und majestätisch: eine ungewöhnlich pikante Person! »Aber jetzt habe ich die Beweise.«

Eine kleine Plauderei über Seelenwanderung gehörte durchaus zum Alltäglichen auf Stift Neuburg. Man unterhielt sich über Erzengel, Poltergeister und die verschiedenen Stufen der Erleuchtung mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der man in anderen Kreisen den Stand der Börse oder das Wetter diskutiert. Ein Herr mit rothaarigem Charakterkopf, der als Dauergast bei der Familie Bernus weilte, steuerte eine besondere Nuance bei, indem er tagespolitische Fragen vom okkulten Gesichtspunkt aus erörterte und entschied. Kein Wunder, daß die Deutschnationalen bei den letzten Wahlen in Ostpreußen so gut abgeschnitten hatten, da ja der Erzengel Gabriel schon seit letztem Neumond die Aufsicht in dieser Gegend übernommen hatte, und gerade dieser Cherub hält es bekanntlich immer mit den Konservativen … Was den Charakterkopf betrifft, so war er Anarchist, hatte auch als solcher anno 1918 irgendwo eine gewisse Rolle gespielt, um sich dann freilich bald aus der politischen Arena zurückzuziehen. »Ich warte meine Stunde ab«, versicherte er uns beim Abendessen. »Gewöhnlich wohlinformierte Quellen« hatten ihn wissen lassen, daß die anarchistische Weltrevolution bis zum 10. August 1929 kosmisch unerwünscht und daher undurchführbar sei. »Ich werde mir doch nicht die Finger verbrennen«, sagte der Charakterkopf mit düsterem Lachen.

Die »wohlinformierte Quelle«, von der mein Hausgenosse seine politischen Tips bezog, war ein sehr erlauchter und gefälliger Geist, der sich durch den Mund eines Bauernjungen gelegentlich auf Stift Neuburg vernehmen ließ. Der Bauernjunge hieß Maxl und machte sich nicht nur als Medium, sondern auch als Gehilfe des Barons im Laboratorium nützlich. Er war etwa achtzehnjährig, bärenstark, groß und schön, von einer durchaus männlichen und gesunden Schönheit; niemand würde dem prachtvollen jungen Riesen die unheimlichen Gaben zugetraut haben, über die er in der Tat verfügte. Seine Empfänglichkeit oder Durchlässigkeit für die Berührung der »drüberen« Welt war derart überentwickelt, daß die Stimmen und Gesichte ihn zuweilen ganz unerwartet, unter den peinlichsten Umständen heimsuchten, zum Beispiel, wenn er gerade wohlig im Bade lag. Dann erschrak der schöne Maxl wohl selbst vor seinen Visionen und ergriff panisch die Flucht. So sah ich ihn einmal, wie er unter furchtbarem Gebrüll aus dem Badezimmer hervorbrach und durch die Korridore von Stift Neuburg raste, nackt und triefend, mit zerwühltem Haar und starr geweiteten Augen. Er war gräßlich und doch auch wieder herrlich anzuschauen in seiner bebenden Blöße, jenen mythischen Figuren gleich, die schnaubend und fäusteschüttelnd die elementare Wucht und Unentrinnbarkeit des Heiligen Wahns schaurig-pittoresk symbolisieren.

Das einzig »normale« Wesen in diesem leicht exzentrischen Milieu war die junge Tochter der Baronin, Ursula Pia, ein adrettes kleines Ding von eher barschen Umgangsformen. Nüchtern und gewissenhaft machte die Halbwüchsige sich im Obstgarten oder im Stall zu schaffen, nahm sich wohl auch des etwas vernachlässigten Haushalts an, während die Erwachsenen ihren wunderlichen Spielen und Berechnungen oblagen: Welcher Erzengel übernimmt das kosmische Regime im Jahre 1951? Was für Rückwirkungen hat dieser Regierungswechsel auf die Entwicklung der Alchemie? Werden wir, unter dem neuen Szepter, endlich das höchst Köstliche entdecken dürfen, wonach selbst der große Paracelsus vergebens suchte – den Stein der absoluten, quasigöttlichen Weisheit? Wann finden wir sie, die gebenedeite Formel? Die lang ersehnte, lang verheißene Metamorphose des gemeinen Metalls in himmlische Gold-Substanz, wann darf sie Ereignis werden?

... »Die spinnen ja alle«, murrte Ursula Pia, wenn sie mir die Post oder eine Tasse Tee in mein Zimmer brachte. »Warum bleiben Sie eigentlich hier?« erkundigte sie sich mißtrauisch. »Sind Sie auch übergeschnappt?«

Übergeschnappt …? Eine taktlose Frage, auf die man lieber nicht eingeht. Und meinen Aufenthalt hier im Stift betreffend – ja, warum blieb ich wirklich? Es schien nicht ganz leicht zu erklären. Schließlich konnte ich dem kleinen Mädchen doch nicht gut sagen, daß ich mir das Schloß als zeitweiligen Wohnsitz gewählt hatte, einfach, weil mir für den Augenblick kein besserer zur Verfügung stand. Also bemerkte ich nur, etwas ausweichend: »Es ist so ruhig hier … Und diese Landschaft! Sieh doch, wie schön! Der Fluß …«

Das Panorama, auf das ich mit zärtlicher Gebärde wies, war in der Tat von einzigartiger Lieblichkeit. Zwischen den alten Linden und Apfelbäumen des Stiftsgartens öffnete sich der Blick zum Neckar, der im goldenen Licht des späten Nachmittags wie in heiterer Verklärung dahinfloß. Auf dem gegenüberliegenden Ufer standen die sanften Hügelketten freundlich beglänzt vor einem sehr klaren Himmel. In der Ferne trat die Silhouette des Heidelberger Schlosses zart und ehrwürdig aus silbrigem Dunst hervor.

»Sieh doch, der Himmel! Wie aus Glas …«

»Der Himmel ist ganz gewöhnlich«, stellte sie trocken fest. »Der Himmel ist nicht aus Glas.«

Ein seltsames Kind war sie, die kleine Baroneß Ursula Pia von Bernus. Ihre Augen waren sonderbar blaß, dabei aber doch von bemerkenswert expressiver Kraft in einem bleichen Gesichtchen mit winziger Stupsnase und entzündeten Nasenflügeln. Sie trug ihr dürftiges Haar zu zwei kleinen Zöpfen frisiert, die ihr wie zwei steife Schwänzchen, beinah wie zwei verkümmerte Flügel, seitlich vom Haupte standen. Im Gegensatz zur anmutig gelockerten Haltung ihrer Mama, waren Ursulas Schritt und Gesten meist von feierlicher Steifheit und Gemessenheit; wenn sie sich aber unbeobachtet glaubte, konnte sie plötzlich ganz munter springen: die gravitätische Miniatur-Matrone schien in ein behendes Kätzchen verwandelt.

»Ich möchte bloß wissen, was Sie hier eigentlich treiben den ganzen Tag«, sagte sie obenhin und doch mit einem gewissen mütterlichen Interesse.

»Ach, so allerlei …«, sagte ich vage, während mein Blick sich wieder in der silbrigen Transparenz des abendlichen Himmels verlor.

Es gab ein ganz kurzes Funkeln in Ursula Pias Augen, eine huschende Flamme des Mißtrauens, der Neugier, des Hasses. »Magisches Zeug?« forschte sie mit einem gepreßten Stimmchen, zugleich angewidert und fasziniert, als sei sie einem schmutzigen Geheimnis auf der Spur. »Zauberei? Hokuspokus? Dieselbe Art von Quatsch wahrscheinlich, die Vati und Mutti treiben, sobald man sie alleine läßt in ihrem sogenannten Laboratorium …«

Ich versuchte, ihr den Unterschied zu erklären. »Dein Vater«, sagte ich, »will ein Ding in ein anderes verwandeln, Pilze in Schlaftabletten oder altes Eisen in Gold. Nun, die Art von Verwandlungskunst, mit der ich mich beschäftige, ist ein bißchen anders. Worauf ich es abgesehen habe, das ist … wie drück ich's nur aus? Ja also, die Verwandlung von etwas Unsichtbarem in etwas Sichtbares; von etwas Häßlichem und Wirrem in etwas Schönes und Reines. Wenn man sehr fleißig und geduldig ist, dann kann man vielleicht aus der ärgsten Unordnung und dem schlimmsten Leid ein ordentliches und erfreuliches Gedicht machen, oder ein Lied, oder einen Tanz. Verstehst du das, kleine Ursula Pia?«

Sie zuckte die Achseln; der Blick, mit dem sie mich von der Seite maß, war nicht sehr freundlich. »Ich versteh's schon«, bemerkte sie spitz. »Aber ich bin dagegen. Dichter, Tänzer, Hexenmeister – es läuft alles aufs gleiche hinaus. Alles dieselbe Zeitverschwendung, alles derselbe Schwindel.«

Sie schüttelte den Kopf mit ernster Mißbilligung, wobei ihre verkümmerten kleinen Schläfenflügel sich drollig hüpfend bewegten. Nach kurzer Pause fügte sie noch hinzu: »Natürlich könnte ich auch ein bißchen zaubern, wenn ich Lust dazu hätte. Aber ich mag nicht. Hat doch keinen Sinn! Einen Kuchen backen, das hat Sinn; oder Himbeeren pflücken. Und der Regen hat Sinn, und was der Herr Lehrer in der Schule erzählt über die Elektrizität und den Dreißigjährigen Krieg und die Nebenflüsse der Donau. Das ist alles interessant, und man soll aufpassen dabei, weil es wahr ist. Aber die Zauberei ist nicht wahr. Ich interessier' mich nicht für diese erfundenen, ausgedachten Sachen.«

Nun maß ich sie meinerseits mit einem Seitenblick, nicht des Argwohns, sondern des amüsierten Erstaunens. Da stand sie, das adrette, schlaue kleine Ding, fest auf ihren zwei Füßen. Ihr ernstes Gesicht mit der aufgeworfenen Nase und der eigensinnigen Stirn schimmerte perlmutterbleich im Halbdunkel, das jetzt den Raum erfüllte. Sicherlich, es wäre ihr leicht gefallen, ihr Pensum an schwarzer Magie zu erledigen, ebenso erfolgreich und gewissenhaft wie ihre Schulaufgaben. Aber sie war gegen die dunkle Sphäre; sie mochte dergleichen nicht, lehnte es ab mit hochmütigem Achselzucken. Das Kind des Hexenmeisters wollte nichts zu tun haben mit der Hexerei.

Und wie stand es um den Sohn des Zauberers? Was wartete seiner? Die Unordnung als Dauerzustand und permanenter Lebensstil? Oder die Ballettschule? Oder war es ein Teil, dem väterlichen Vorbild nachzueifern? Mußte er sich auf eben jenem Spezialgebiet der Magie versuchen, auf dem der Alte sich nun schon so manches Jahr ruhmreich bewährt und bewiesen hatte? …

»Es wird spät«, bemerkte Ursula mit ihrer trockenen kleinen Stimme. »Essenszeit.« Aber sie rührte sich nicht.

Ja, es wurde spät, der Sommertag war zu Ende. Dies ist die Stunde, da Fluß und Himmel erblassen, während ein Hauch aus silbrigen Höhen die Büsche und das Laub erschauern läßt. Wenn die Klage der Abendglocke verstummt ist, dann senkt sie sich übers Land, die stillste Stunde, l'heure exquise, l'heure bleue, die Stunde der Ahnungen und Zärtlichkeiten. Alles steht regungslos, der Flieder im Park, der Wacholderbaum; sogar der Brunnen schweigt. Der Augenblick des Intervalls zwischen Tag und Abend bannt die Natur in einen Frieden, den selbst die tiefste Mitternacht nicht kennt.

Auch wir bleiben wie versteinert in der milchig bleichen Dämmerung, das kleine Mädchen und ich. Rühr dich nicht, Ursula Pia! Schau dich nicht um! Diese Stille ist nicht geheuer; es spukt in deinem wunderlichen Vaterhaus …

Wenn wir lange genug den Atem anhalten, so werden wir die Dinge reden hören. Die schweren Rosen in der blauen Vase, das Kruzifix, die Kerze, die Bilder an der Wand, jetzt flüstern sie ihre Botschaft! Mit sorgend zärtlichem Blick und heiterem Lächeln, zaubrisch belebt zwischen den Ebenholzrahmen, grüßen mich die vier Menschen, die mir, zu dieser Stunde, am nächsten und teuersten sind: die Mutter, die Schwester, die Braut – und ein junger Knabe mit hohen Backenknochen und Augen von unergründlicher Klarheit … Welchen von ihnen liebe ich am meisten? Freilich, jeden auf eine andere Art … Aber welche Art ist die süßeste?

Hör jetzt nicht hin, ich warne dich, keusche kleine Ursula Pia! Schließe deine Ohren, wie du die Augen schon geschlossen hast! Denn nun spricht der Flußgott.

Siehe, aus dem wallenden Dunkel draußen tritt er hervor in purpurner Fleischesfülle, Weinlaub auf der Stirn und in der Hand die Flöte, das phallische Wahrzeichen und Instrument des Pan. Hüte dich vor seinem Lied, seiner Lockung, kleine Ursula! Fliehe das Schauspiel seiner Streiche und Maskeraden! Er ist der Erzzauberer: sein Blick, sein Atem verhext Mensch, Tier und Pflanze. Schau ihm nicht zu, kleines Fräulein, wie er jetzt im abendlichen Garten seine Satyrsprünge vollführt, schwankend, hüpfend, torkelnd, lallend, lockend: zugleich obszön und fürstlich, grotesk und heilig in seiner schamlos wilden Trunkenheit.

Doch, schau ihn an, Ursula Pia. Er läßt sich nicht vermeiden, so wenig wie er sich besiegen läßt; er ist unentrinnbar, unwiderstehlich. Er erleuchtet, blendet, quält, beseligt uns – ach, die Spuren auf seinem Pfad! Das Blut, die Asche, die zertretenen Blüten … Er ist doppelgesichtig wie jeder echte Dämon: Mörder und Schöpfer, Krankheit und Offenbarung. Er ist der Strudel, der uns in die Tiefe reißt, aber auch die Woge, die uns nach oben trägt, hinauf zu schwindelnder Höhe.

Werden wir uns seinem Griff je entziehen können? Befreien wir uns von seinem verhaßten, geliebten Joch? Wohl kaum … Solange wir im Fleische wandeln, werden wir uns wohl von ihm gängeln und inspirieren, foppen und führen lassen. Wie lange noch? Und wo soll's hinaus? … Schon gut, kleine Schwester! Nimm es hin! Ertrag es, wenn du kannst! Freu dich dran! Genieße – wenn du stark genug dazu bist …

»Wir wissen den Weg nicht«, sagte ich laut, zu meiner eigenen Überraschung. »Nimm es hin, kleine Schwester. Und nimm's nicht zu schwer.«

»Ich will mir Mühe geben.« Die Stimme des Mädchens klang voller und weicher als sonst, als sei sie plötzlich gereift, zur Frau geworden. Mit ernstem Nachdruck fügte sie hinzu: »Und du solltest dasselbe tun! Wenn du nicht streng mit dir selber bist, dann kann's leicht schief mit dir gehen. Du gehörst zu denen, die leicht verführbare, leicht verwundbare Herzen haben. Die müssen sich besonders Mühe geben und besonders streng mit sich sein.«

Was war das? Wer sprach da zu mir mit sanft-sonorer Stimme? Was wußte sie von mir, diese stupsnäsige kleine Sybille mit den lächerlich steifen Zöpfen und der blassen, bockigen Stirn? Wie kam das Kind dazu, so einsichtig und wohlgesetzt daherzuplappern?

Aber dies war weder der Ort noch die Stunde, solche Fragen zu stellen. Hatte Ursula Pia mir nicht selber mitgeteilt, daß sie sehr wohl ein bißchen zaubern könnte, wenn sie nur Lust dazu hätte? Und war es nicht ganz zugegebener- und berühmtermaßen ein verhextes Haus, in dem ich mich hier befand? Ja, auch der Fluß dort draußen, auch der Neckar war berühmt und berüchtigt als Zauberquelle romantischer Begeisterung, als Wiege holdesten Wahns …

Frage nicht! Dies ist die Stunde der Ahnungen und des Schweigens. Die Botschaft vom Brunnen – ja, nun rauscht er wieder –, der leise Ruf vom Wacholderbaum, besänftigen und stärken das leicht verführbare, leicht verwundbare Herz. Ein Hauch von Flieder und Abend mildert das Leid, verwandelt die Unordnung in Harmonie. Für die Dauer eines begnadeten Augenblicks scheint alles ausgesöhnt und fließt ineinander: das Kruzifix, die Blumen, die geliebten Stirnen und die anders geliebten Lippen, der Schatten des Flußgottes, die ziellose Lust, die wortlose Qual, die Tänze, die es noch zu tanzen gilt, die Tränen, die noch zu vergießen sind, die ungesagten, unsagbaren Gebete.


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