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Drittes Kapitel.
Erziehung

1920-1923

Wir sind unser sechs. Die beiden Jüngsten waren inmitten von Aufruhr und Krise geboren: Elisabeth im Frühling 1918; Michael ein Jahr später. Dank der Ankunft des neuen Pärchens avancierten Golo und Monika zum Stande der »Mittleren«, während Erika und ich fast zum Erwachsenen-Rang befördert wurden. Angesichts der winzigen Kreaturen kamen wir uns recht würdig und überlegen vor, fast wie Onkel und Tante. Wir mußten zugeben, daß sie höchst drollig und niedlich waren – ein bißchen lästig, wenn sie schrien, aber reizend anzuschauen, wenn sie lachten oder schlummerten. Elisabeth, genannt Medi, hatte ein süßes Porzellangesichtchen; Michael (Bibi) hingegen wirkte eher sanguinisch. Elisabeth war der erklärte Liebling des Vaters; Mielein, um das Gleichgewicht herzustellen, verzärtelte ihren Jüngsten. Die beiden Kleinen nahmen in erheblichem Maß die elterliche Zärtlichkeit in Anspruch, woraus sich natürlich für uns ein gewisser Verlust ergab. Wir erkannten die Unvermeidlichkeiten dieses Vorganges und akzeptierten ihn so gelassen wie möglich.

Für Golo und Monika war die Lage besonders heikel; denn da sie sich ja ihrerseits schon in mittleren Jahren befanden, konnten sie mit der erlesenen Niedlichkeit von Medi und Bibi nicht mehr konkurrieren, ohne es aber mit uns, den Großen, an Vitalität und Abenteuerlust aufzunehmen. Monika – zugleich schüchtern und selbstgewiß – schien trotzdem nicht unzufrieden mit ihrem kleinen Dasein; Golo hingegen, ehrgeiziger und komplizierter, mußte mehr Energie und Einbildungskraft aufbringen, um sich einen eigenen Stil und sein eigenes Idiom zu schaffen. Tief verstrickt in die wunderlichen Bilder und Träume seiner unverkennbaren Golo-Sphäre, nahm er gleichzeitig aus respektvoller und eifersüchtiger Entfernung an unseren Spielen und Abenteuern teil. Er war es, dem ich all meine Phantasien, Sorgen und Pläne anvertraute; denn er konnte gut zuhören, eine seltene Gabe, selbst bei reifen Männern und Frauen. Ich erfand, schnitt auf, scherzte und lamentierte; er blieb ruhig und lauschte. Nie erfuhr ich, wie sein undurchdringliches Gemüt meine Einfälle verarbeitete und was für Verwandlungen die Launen meiner mitteilsamen Phantasie in seinem Geiste erfuhren. Er war mein Vertrauter, doch ich nicht der seine, was wohl teils meinem naiven Egoismus, teils seinem Stolz und seiner Scheu zuzuschreiben war.

Es muß ihn gekränkt haben, da sich unsere Intimität nur auf jene Stunden beschränkte, in denen ich mein Herz ausschütten und meine Geschichten an den Mann bringen wollte. Denn im Bereich des wirklichen Lebens gehörten Erika und ich zusammen; unsere Solidarität war absolut und ohne Vorbehalt. Wir traten wie Zwillinge auf: die Erwachsenen wie die Kinder hatten uns als Einheit zu akzeptieren. Der einzige Lebenssektor, den wir nicht teilten, die einzige Sphäre, die uns trennte, war die Schule, eine lästige Notwendigkeit, um die man sich möglichst wenig kümmerte. Erika hatte keinen Zutritt in das düstere Wilhelms-Gymnasium, wo ich so viel Langeweile ertragen mußte; und ich konnte nicht an den lustigen Streichen teilnehmen, zu denen sie ihre ergebenen Mitschülerinnen in der Höheren Töchterschule anstiftete. Es hat vielleicht mit dieser Trennung zu tun, daß alle Einzelheiten jener öden Morgenstunden in meinem Bewußtsein vollkommen verblaßt sind. Die Schule war derartig stumpfsinnig und bedeutungslos, daß sie nicht einmal aufsässige Gefühle erweckte. Die Schülertragödien, die der väterlichen Generation so viel zu schaffen machten, blieben der meinen erspart; man nahm die »Lehranstalt« nicht mehr wichtig. Es ist weder mit Haß noch mit Rührung, daß ich mich des alten Wilhelms-Gymnasiums zu München erinnere, sondern nur mit gelangweilter Gleichgültigkeit.

Anregungen irgendwelcher Art habe ich dem staatlichen Unterricht nicht zu verdanken. Selbst wenn der Lehrstoff reichhaltiger und fesselnder gewesen wäre, als er es tatsächlich war, die trübsinnige Pedanterie der bayerischen Professoren hätte mir noch den interessantesten Gegenstand verleidet. Glücklicherweise war die Auswahl der Lesestücke so, daß es meist keinen großen Unterschied machte, was der Schulmeister damit anfing. Ich erinnere mich, daß wir während eines ganzen Semesters die Deutschstunden mit der Lektüre einer epischen Dichtung namens »Dreizehn Linden« verbrachten. Niemand weiß, warum. Wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, handelte es sich dabei um sentimentalen Epigonenkitsch letzter Ordnung, kaum danach angetan, die jugendliche Phantasie anzuregen oder zu bereichern. Die große deutsche Literatur wurde zum Unterricht prinzipiell nicht zugelassen; man traktierte uns mit Paul Heyse und Theodor Körner; Goethe und Hölderlin aber wurden streng vermieden. Was immer ich an literarischer Bildung besitze, habe ich mir außerhalb des Schulbetriebs erworben.

Die Stimmen der Dichter vermischten sich in meiner Erinnerung mit den Stimmen derer, die sie mir zuerst darbrachten. Es gibt gewisse Meisterstücke der deutschen romantischen Schule, die ich nicht lesen kann, ohne den Tonfall von Mieleins bewegter und klangvoller Stimme wiederzuhören. Sie pflegte uns vorzulesen, solange wir Kinder waren und es uns noch Mühe machte, selbst zu lesen. Es ging dabei durchaus gemütlich und ungezwungen zu; Mielein lag auf dem Sofa, und manchmal kam die Köchin herein, um das Menü des nächsten Tages zu besprechen. Aber solch häusliche Unterbrechungen konnten den Zauber nicht beeinträchtigen, der von Grimms Märchen oder den wunderbaren Phantasiestücken der Tieck, Brentano und Hoffmann ausging.

Mielein konnte gewisse gespenstische Stimmungen recht wirkungsvoll heraufbeschwören; Offi freilich war noch meisterhafter und dynamischer. Unser literarischer Kontakt mit ihr begann relativ spät: ich muß etwa zwölf gewesen sein, als die unternehmungslustige Großmama an einem regnerischen Sonntagnachmittag den Vorschlag machte, sie wolle uns eine Geschichte von Dickens vorlesen, um die langen Stunden zwischen Mittagessen und Tee zu verkürzen. Sie wählte den »Weihnachtsabend«; es war ein voller Erfolg. Von da an wurde die Dickens-Stunde eine regelmäßige Institution. In den folgenden Jahren waren die Begriffe »Dickens« und »Sonntagnachmittag« für uns unzertrennlich miteinander verbunden.

Offi, der ehemalige Star vom Großherzoglichen Theater in Meiningen, verstand sich trefflich darauf, die mannigfachen Typen der Dickens-Welt zu charakterisieren. Ihre Stimme klang blechern und streitsüchtig, wenn sie eine giftige alte Jungfer personifizierte; sie wurde salbungsvoll oder scharf, krächzend oder melodiös, je nach dem Charakter und der Situation. Gewisse drollige Originale wurden mit Sprachfehler und Gesichts-Tick vor uns lebendig, während die Bösewichter sich sofort durch hämisches Mienenspiel zu erkennen gaben. Kurzum, es war eine erstklassige Vorstellung, und wir genossen es sehr. Wir schrien vor Lachen über gewisse Episoden in »The Pickwick Papers«, waren hingerissen von »David Copperfield« und fanden aus irgendeinem Grunde den historischen Roman »Aus zwei Städten« (in Wahrheit wohl eines von Dicken's schwächeren Werken) noch packender als »Oliver Twist«.

Niemand konnte mit Offis theatralischem Temperament konkurrieren. Und doch hörten wir der ruhigen Stimme des Zauberers mit noch größerer Andacht zu. Manchmal – nicht sehr häufig – fragte er uns mit einer gewissen feierlichen Nonchalance, ob er uns nach dem Abendessen etwas vorlesen solle: »wenn ihr nichts anderes vorhabt«, wie er halb im Scherz, halb aus zerstreuter Höflichkeit hinzufügte.

»Wir hatten nichts anderes vor. Es war uns immer etwas festlich zumute, wenn wir sein Arbeitszimmer betreten durften, wo das charakteristische Aroma der Bibliothek sich mit dem Duft seiner Zigarre vermischte. Die Bücherschränke waren überfüllt; neuere Publikationen mußten auf den Tischen, Stühlen und Bänken aufgestapelt werden. Der Zauberer schüttelte belustigt den Kopf angesichts solchen Überflusses. »Die Produktivität meiner lieben Kollegen nimmt den Charakter einer Kalamität an«, bemerkte er zugleich amüsiert und besorgt. »Ich sollte wirklich einen neuen Bücherschrank haben. Oben in eurem kleinen Frühstücksvorplatz wäre vielleicht ein geeigneter Platz.«

Wir mußten lachen. Es sah ihm so ähnlich, von der Diele im ersten Stock, wo wir unseren Tee tranken, als von »eurem kleinen Frühstücksvorplatz« zu sprechen. Und wie echt Zauberer – dieses plötzliche Interesse an der Placierung des neuen Bücherschrankes! Im allgemeinen verhielt er sich völlig gleichgültig gegenüber dem, was im Hause vorging. Weder der neue Eisschrank noch unsere reparierten Fahrräder konnten seine Neugierde erwecken. Aber sobald es sich um seine private, eigene Lebenssphäre handelte – seine Garderobe oder die Bibliothek – schien ihm jedes Detail von größter Wichtigkeit. Es irritierte, ja kränkte ihn, irgendeinen kleinen Gegenstand auf seinem Schreibtisch nicht an seinem gewohnten Platz zu finden; derselbe Zauberer, der es fertigbrachte, ein paar neue Lehnstühle irgendwo im Hause zu übersehen, beklagte sich, wenn die blinden Augen seiner Homer-Büste nicht ordentlich abgestaubt waren.

Diese sanfte Pedanterie in seinem persönlichen Bereich steigerte sich noch, wenn es sich um eine Lübecker Familienreliquie handelte. Barocke Monstrositäten – ausgestopfte Bären oder goldverschnörkelte Krüge – wurden jahrelang wie kostbare Schätze bewahrt, zum Gedenken an vergangene Geburtstagsfeiern oder Geschäftsjubiläen. Im Grunde freilich war er sich seiner Schwäche voll bewußt und erlag ihr nicht ohne Selbstironie. Bezeichnenderweise hätte er es sich niemals einfallen lassen, sein eigenes Schlafzimmer oder seinen Arbeitsraum mit scheußlichen Bären oder Urnen zu verunzieren; die bizarren Erbstücke blieben dem Eßzimmer oder der »oberen« Diele vorbehalten. Die einzigen Andenken hanseatischer Herkunft, die sein Studio schmückten, waren ein paar hohe siebenarmige Leuchter aus schön gearbeitetem goldbronziertem Holz, die nicht weit vom Schreibtisch vor der Glastüre standen. Abends, wenn die Türe mit grünen Samtvorhängen bedeckt war, machten sich die großen Kandelaber sehr effektvoll.

»Nun, ihr werdet schon irgendwo ein Plätzchen finden«, sagte der Vater, zerstreut und zuversichtlich. Woraufhin er seinerseits in dem großen Lehnstuhl bei der Stehlampe Platz nahm. Wir hatten gerade noch Zeit, einige Novitäten des S. Fischer Verlages von den Schemeln zu stoßen. Und dann begann die große Unterhaltung.

Seine Lieblingsautoren waren die Russen. Er las uns Tolstois »Kosaken« vor und die seltsam kindlichen, primitiv-didaktischen Parabeln seiner letzten Periode. Wir hörten Geschichten von Gogol und sogar etwas von Dostojewski – jene unheimliche Farce nämlich, die den Titel »Eine lächerliche Geschichte« trägt. Wirklich mußte der Zauberer seine Vorlesung mehrfach unterbrechen, geschüttelt von einem Gelächter, in dem sich die herzlichste Heiterkeit mit einem leichten Grauen vor so viel makabrer Komik zu mischen schien.

Ein anderes Mal wählte er etwas Unschuldigeres oder Romantischeres aus. Ihm haben wir unsere erste Bekanntschaft mit dem kräftigen Humor des großen Mark Twain zu verdanken. Oder er gab eine der Perlen der großen deutschen Tradition zum besten – Mörikes liebenswerte Mozart-Novelle, Grillparzers rührende Geschichte vom armen Spielmann oder das lieblich-dunkle, magischsuggestive Märchen von Goethe.

Zweifellos waren diese schönen Abendstunden im väterlichen Zimmer nicht nur eine Anregung für unsere Phantasie, sondern auch für unsere Neugierde. Wenn man einmal den Zauber und den Trost großer Literatur gekostet hat, möchte man immer mehr davon haben – andere lächerliche Geschichten und weise Parabeln, vieldeutige Märchen und seltsame Abenteuer. Und so fängt man an, für sich selbst zu lesen.

Wir hatten nie Gelegenheit gehabt zu reisen, außer zwischen München und Bad Tölz. Im Alter von dreizehn hatte ich das Meer noch nie gesehen und kannte keine große Stadt außer der, in der wir lebten. Nun wurden Bücher das Zaubergefährt, das mich weit forttrug, in ungeahnte Fernen. Die Städte Bagdad und Isphahan enthüllten ihre süßen und gefährlichen Geheimnisse, erfüllt mit dem Duft von Moschus, Blut und Rosen; der schwüle Zauber orientalischer Paläste und Basare war noch unwiderstehlicher als die winddurchwehte Weite der amerikanischen Prärie, die wir in Coopers Lederstrumpf-Geschichten kennenlernten.

Wie vielfältig und unbegrenzt ist die Landschaft der Phantasie! Wir reisten mit Gulliver zu den Riesen und Zwergen; mit Jules Verne zum Mittelpunkt der Erde und hinauf zum Mond. Mowglie, das anmutig-verwegene Menschenkind unter Wölfen, Schlangen und Affen, weihte mich in die Verstecke und Jagdgebiete des indischen Urwaldes ein; ich machte es mir mit Robinson Crusoe auf der verlassenen Insel so gemütlich, wie es eben gehen wollte. Salzig-frisch wehten die Lüfte im nordischen Märchenland der Selma Lagerlöf: wie gerne ließ ich mich vom mächtigen Flügelschlag ihrer Wildgänse zu den Fjorden und Felsen entführen!

Oft will mir scheinen, daß ich nur damals, als Dreizehn- und Vierzehnjähriger wirklich zu lesen verstand. Wie geschmäcklerisch und unduldsam bin ich seither geworden! Heute habe ich starke Hemmungen zu überwinden, bevor ich mich auf die Lektüre eines dickleibigen Schmökers einlasse; in jenen fernen Tagen waren mir die längsten Dramen und Epen noch nicht umfangreich genug. War mein Interesse an einem bestimmten Autor erst einmal geweckt, so verschlang ich gierig seine sämtlichen Werke: zwölf Bände Schiller, vierzehn Bände Hebbel! Je mehr die Herren geschrieben hatten, desto höher wurden sie von mir geschätzt …

Meine eigenen unreifen Versuche waren natürlich nur ein mattes und konfuses Echo der vielerlei Stimmungen und Gedanken, die ich mit solchem Heißhunger in mich aufnahm. Mein produktiver Eifer blieb hinter meinem rezeptiven Enthusiasmus kaum zurück. Ich weiß nicht, wie viele Schulhefte es waren, die ich mit meinen dramatischen Entwürfen, lyrischen Ergüssen und erzählerischen Phantasien füllte; aber ich fürchte, daß die Anzahl der »Bände«, die ich als Vierzehn- oder Fünfzehnjähriger hergestellt hatte, sich auf Hunderte belaufen haben muß. Ich schrieb Liebesgeschichten und Mordgeschichten und historische Trauerspiele. Ich schrieb über Dinge, die meinem Erleben völlig fremd waren, von denen ich nichts verstand, nichts verstehen konnte. Ich schrieb ohne Zweck und Plan, nur um des Schreibens willen. Niemand las das Zeug, außer Golo, der fast alles auswendig konnte. Manchmal zwang ich ihn, durch Anwendung stärkster psychologischer und physischer Pressionsmittel, einen Stoß meiner vollgekritzelten Notizbücher zum Redaktionsbüro einer literarischen Revue oder zum Lektor eines Verlagshauses zu tragen. Er gab sich alle Mühe, den mißtrauischen Portier davon zu überzeugen, daß diese kindisch aussehenden Manuskripte das Werk seiner inspirierten Stiefmutter, der berühmten Dichterin Natascha Huber, seien. Aber die Hüter an den Pforten des Ruhmes entließen ihn mit einem väterlichen Grinsen oder einem saftigen Schimpfwort. Golo und ich waren zutiefst betroffen von der Niedrigkeit und Ignoranz unserer Zeitgenossen.

Allmählich wagte ich mich an autobiographische Themen. Je mehr mein eigener Horizont sich erweiterte und meine inneren Abenteuer an Intensität zunahmen, desto überdrüssiger wurde ich des Kopierens irrelevanter Vorbilder. Nachdem ich mich an so vielen müßigen Imitationen versucht hatte, fing ich an, nach Selbsterkenntnis, nach Selbstdarstellung zu verlangen. Ich bemühte mich ehrlich, wenngleich immer noch mit gespreiztem und unangemessenem Vokabular, die Sorgen und Zweifel auszusprechen, die mir wirklich auf den Nägeln brannten. Warum sind wir in dieser verwirrten und verrückten Welt? Was ist die Bedeutung all der Farcen und Tragödien, in die wir uns verwoben finden? Was verbirgt sich hinter den hohlen Schlagworten und dubiosen Wertungen der Erwachsenen? Was ist Genie? Bin ich ein Genie? Warum nicht? Wo ist Gott? Ist Gott eine Realität oder ist Er nur eine unserer vielen Illusionen?

Ich war etwa vierzehn, als ich eine längere Abhandlung entwarf, durch die ich die Nicht-Existenz Gottes ein- für allemal beweisen wollte. Die bloße Tatsache, behauptete ich, daß die Menschen zu so vielen verschiedenen Göttern beten – zu Allah, zu Jehova, zum katholischen Gott, zum Gott des Martin Luther – legt die Vermutung nahe, daß es eigentlich gar keinen gibt. Und ich verwies grimmig auf die so verwickelte Situation Gottes im Kriege. Wie war es zu erklären, daß beide feindlichen Parteien dieselbe göttliche Autorität anflehten? Der Herr empfing die einander widersprechenden Bittgesuche, ohne sich zugunsten einer Gruppe einzumengen. Wessen Gott war Er also? Der Gott des Kaisers und des General Ludendorff oder der Gott des Monsieur Poincaré und des Präsidenten Wilson? Oder sympathisierte er mit keiner der beiden Seiten, sondern hielt es einfach mit dem jeweils Stärkeren? Eine nette Neutralität! Und vor einer so unzuverlässigen, opportunistischen Gottheit sollte man auf den Knien liegen? Sollte Ihm wohl auch noch danken für all die Wohltaten, die Er uns bescherte – Kriege, Eisenbahnunglücke, Blinddarmentzündungen, lateinische Schulaufgaben? Ein Gott, der sich so benahm, hatte keinen Anspruch auf unsere Verehrung; er mochte froh sein, wenn wir Ihm verziehen. »Die einzige Entschuldigung für Gott ist, daß er nicht existiert …« Ich glaube nicht, daß ich Stendhals verwirrend vieldeutiges Bonmot damals schon kannte. Nietzsche nannte es den einzigen Atheistenwitz, den er gern selber gemacht hätte, was ich aber als Vierzehnjähriger auch noch nicht wußte; sonst hätte ich gewiß in meiner Abhandlung sowohl Nietzsche als auch Stendhal zitiert und mich mit beiden solidarisch gefühlt.

Aber auch ohne so erlauchte Assistenz kam ich zu dem bündigen Schluß, daß die ganze Sache mit dem Lieben Gott ein aufgelegter Schwindel sei, ein durchsichtiger Trick zur Einschüchterung und Ausbeutung der Massen. Ich endete meine Betrachtung mit der üblichen Provokation: »Wenn Du existierst, Gott, warum bestrafst Du mich nicht für meine Lästerung? Ich glaube nicht an Dich, Gott! – hörst du mich wohl? Warum zerschmetterst Du mich nicht mit Deinem berühmten Blitz? Ich weiß schon, woran es liegt: Du zerschmetterst mich nicht, weil Du mich nicht hörst; Du hörst mich nicht, weil Du nicht existierst

Was mir damals entging, war die paradoxe Tatsache, daß solch kindische Großsprecherei doch irgendwie die Existenz Gottes voraussetzt und anerkennt, wie übrigens auch die Stendhalsche Blasphemie es tut. Ihn verfluchen, heißt schon, sich zu Ihm zu bekennen. Ja, ich glaube zuweilen, daß der gotteslästerliche Protest dem echt religiösen Gefühl näher ist als die Frömmelei manch eines braven Kirchgängers …

Und doch, wie oberflächlich und trivial sind selbst die leidenschaftlichsten, aufrichtigsten Zweifel, verglichen mit der ungeheuren Tatsache von Gottes offenbarer, unerklärlicher Realität! Wie kläglich ist das Aufbegehren eines winzigen Sünders, angesichts Seiner schweigenden Größe! Er ist geduldig. Er wartet und lauscht, unbeweglich, unerschütterlich. Schweigend duldet er die heuchlerischen Gebete und die infantilen Lästerungen, die von unserem Planeten zu Ihm aufsteigen. All dies hat keinen größeren Effekt, wird nicht länger währen, als das Geklapper einer tönernen Schelle. In eisiger Stille wartet Er auf die echte Beschwörung, die gültige Klage. Er fordert die Wahrheit, die Essenz, das Herz und Mark unseres Seins. Mit nichts Geringerem wird Er sich zufrieden geben. Er wird die Wahrheit unseres Lebens durch furchtbare Strafen von uns erzwingen. Blitze sind Spielzeug, mythischer Hokuspokus. Der große Schweigende läßt sich nicht herbei zu so billigen Demonstrationen. Er hat Zeit. Er ist geduldig. Er ist groß. Er ist groß über alle Worte.

Nur zu, kleiner Schreihals, necke deinen Herrn! Es wird keine Strafe geben, keine Reaktion – nicht jetzt, alberner Knirps! Noch nicht … Das Urteil wird vollstreckt, aber nicht sofort. Weißt du, was dich erwartet? Du wirst im Staube liegen vor der Majestät, deren du jetzt kindisch spottest; winden wirst du dich und um Gnade betteln. Dann wird Er zu dir sprechen. Ja, es wird Antwort kommen, sie bleibt dir nicht erspart. Die Wunden, die Tränen, die vergeblichen Aufschwünge, die Hoffnungen unerfüllt, du wirst es erleben, wirst es erleiden, wirst dich beuteln und knicken lassen von seiner gewaltigen Hand …

Aber was weißt du von all dem? Du bist erst vierzehn.

Erst vierzehn … Dein Bubengesicht, glatt und rein, bemüht sich, einen tragischen Ausdruck anzunehmen. Über deinem Tagebuch grübelnd, kurz vor dem Abendessen, versuchst du auszusprechen, was dein Herz bedrängt. Schließlich schreibst du diese Worte hin:

»Und wieder wird es Nacht. Wie öde … Ich muß, muß, muß berühmt werden …«

 

Jugend ist erschreckend egoistisch. Der Vierzehnjährige hat, wie das Tier und das Genie, eine bemerkenswerte Fähigkeit, alle Probleme und Phänomene von sich fernzuhalten, die nicht unmittelbar auf seine Triebe wirken. Nie zuvor oder nachher in meinem Leben war ich derart abgespalten und ich-besessen wie während dieser Periode von meinem dreizehnten bis zu meinem siebzehnten Jahr. Das ästhetisch-literarische Interesse nahm mich so durchaus in Anspruch, daß mir für soziale Fragen jeder Sinn, jedes Verständnis fehlte.

Nach dem Zusammenbruch der bayerischen Räterepublik und der sich anschließenden Etablierung einer reaktionären Militärdiktatur schwand mein politisches Interesse. Ich las fast keine Zeitung mehr oder beschränkte mich doch auf das Feuilleton. Selbst ein so dramatisches Ereignis wie die Ermordung des Außenministers Walter Rathenau, im Jahre 1922, ließ mich ziemlich kalt. Wieviel stärker hatte, drei Jahre zuvor, die Nachricht vom Tode Eisners auf mich gewirkt! Und doch war Rathenau unvergleichlich bedeutender als der ermordete bayerische Ministerpräsident, nicht nur als Staatsmann, sondern auch als literarische Figur. Das elende Verbrechen, das von fanatisierter Jugend an ihm begangen wurde, kennzeichnet eines der beunruhigendsten Entwicklungsmomente der Weimarer Republik. Ich spüre den Irrsinn, die Abscheulichkeit der Tat, und war angewidert; aber nicht angewidert genug. Ich war zu stolz auf meine Distanziertheit, meine aristokratische Skepsis. Der Pöbel war grausam und dumm; er beklatschte die Mörder, die ihrerseits Pöbel waren. Durfte man sich darüber wundern? Lohnte es sich, dagegen zu protestieren? Dem Edeljüngling, der alles zu wissen, alles zu durchschauen glaubte, war eher danach zumut, sich naserümpfend in die Einsamkeit zurückzuziehen.

Ich hielt München für die dümmste, langweiligste und provinziellste Stadt der Welt, wahrscheinlich, weil es die einzige war, die ich kannte. Außerdem hatte die bayerische Kapitale zu jener Zeit in liberalen Kreisen eine schlechte Presse. München galt als die Hochburg der Reaktion, das Zentrum anti-demokratischer Strömungen und Intrigen. Der Herausgeber einer Berliner linken Wochenschrift präsentierte alle Nachrichten aus der Isarstadt unter der Schlagzeile: »Aus dem feindlichen Ausland«. Die Münchener ihrerseits waren davon überzeugt, daß Berlin von einer Bande jüdischer Schieber und bolschewistischer Agitatoren regiert werde.

Politik war nutzlos und deprimierend; ich lehnte es ab, mich mit ihr zu beschäftigen. Was wußte ich von so entscheidenden Ereignissen wie der Besetzung des Rhein- und Ruhrgebietes durch die Alliierten? Nur, was ich den grellen Plakaten entnahm, die in der ganzen Stadt aushingen. Ich studierte sie sorgfältig; nicht ohne wohliges Gruseln las ich die Schauergeschichten über das Betragen der farbigen Besatzungstruppen. Ein Bericht vor allem ist mir in Erinnerung geblieben. Es handelte sich da um einen Marokkaner, der angeblich nicht nur Dutzende von Jungfrauen und Knaben vergewaltigt hatte, sondern auch noch – Höhepunkt der Verderbtheit! – eine schmucke Stute, einziger Besitz eines ehrlichen Bauerngeschlechtes. Diese absurde Erfindung verfolgte mich Jahre hindurch, fast ebenso anhaltend und intensiv wie gewisse Schreckensszenen aus »Onkel Toms Hütte«. Die exorbitante Potenz des schamlosen Afrikaners wirkte auf meine Phantasie, während die sogenannte »nationale Schande« kaum irgendwelchen Eindruck auf mich machte. Ein schönes Gedicht oder Gemälde schien mir interessanter als die »schwarze Schmach« von Düsseldorf (wenn es sich nicht gerade um vergewaltigte Stuten handelte) oder als die Entwertung der deutschen Mark. Es machte wenig Unterschied, ob unser Taschengeld zwanzig Pfennige oder zwanzig Mark betrug: für Papier zum Schreiben langte es immer.

Bei uns zu Hause ging es jetzt etwas weniger spartanisch zu als in den düsteren Tagen von 1917. Zwar ließ das Essen immer noch zu wünschen übrig, aber die Zeit der faulen Kartoffeln und Kohlrüben war doch vorüber. Unsere Lebensweise fing an, einen gewissen Grad bürgerlicher Eleganz anzunehmen, vor allem dank Mieleins unermüdlicher Fürsorge. Wir Kinder fragten uns nie, wie sie es fertigbrachte, den großen Haushalt in Gang zu halten, ohne Üppigkeit, aber doch reibungslos und komfortabel. Wir alle hielten es für selbstverständlich, daß sie fähig war, Wunder zu tun, unterstützt vom Zauberer, dem es natürlich auf seine Art auch nicht an magischen Talenten fehlte.

Als besonders ersprießlich erwies sich die Zusammenarbeit des begabten Paares im Falle jener einträglichen Episteln, die sie gemeinsam für die Vereinigten Staaten von Nord-Amerika abfaßten; oder vielmehr, es war wohl eigentlich der Vater, der die Briefe schrieb – zwanglose Plaudereien über deutsche Zustände und Probleme –, woraufhin Mielein ungesäumt alles abtippte und zum Postamt eilte, um die kostbaren Seiten eingeschrieben nach New York abgehen zu lassen. Der Adressat war eine Persönlichkeit oder Institution, die sich »The Dial Preß« nannte und augenscheinlich nicht nur reich, sondern auch gütig war.

Denn kaum hatte »The Dial« die rekommandierte Sendung aus dem Bayernland empfangen, als er seinerseits die erfreulichsten Grüße an uns abgehen ließ. Es war immer ein bißchen wie Weihnachten, wenn die hübschen Schecks aus New York eintrafen. Mielein, froh erregt, holte ihr Fahrrad aus dem Keller und radelte im Eiltempo zu der kleinen Bank des Herrn Feuchtwanger. Dort empfing sie einen eindrucksvollen Haufen guter, solider deutscher Inflationsmark statt der dekorativen, aber doch etwas windigen Zettel, die man in Amerika als Geld benutzte.

Wir hatten das Tölzhaus verkauft und den ganzen Ertrag in Kriegsanleihe angelegt. Zweifellos eine gut patriotische Tat, aber, geschäftlich gesehen, ein Reinfall. Die Einkünfte aus den deutschen Büchern waren noch immer recht mager; doch der Zauberer meinte mit unverwüstlichem Optimismus: »Kein Grund zur Sorge, solange wir unseren ›Dial‹ haben.«

Er hatte damals seine gleichmäßig heitere Haltung beinah völlig zurückgewonnen; der reizbare Hexenmeister, der in den Tiefen der germanischen Seele wühlte, wurde allmählich zur Kriegserinnerung wie die Fahnen, die Lieder und die Schwerverletzten. All dies war nun vorbei, und der Vater durfte sich wieder den friedlichen Arbeiten zuwenden, die er im August aus vaterländischem Pflichtgefühl unterbrochen hatte.

Es waren zwei erzählende Werke, mit denen er zur Zeit des Kriegsausbruches beschäftigt gewesen war; nun schwankte er zwischen diesen Projekten, die beide verlockend schienen. Was sollte er zuerst in Angriff nehmen – die Aufzeichnungen des Hochstaplers Felix Krull, eine geistvoll-übermütige Variation auf sein altes Thema: die moralische Fragwürdigkeit des künstlerischen Menschen – oder eine kleine Novelle, die in der dünnen Luft eines Schweizer Lungenkurortes spielte und sich mit den delikaten Zusammenhängen zwischen Tod und Liebe, Tuberkulose und Sensualität befaßte. Krull war sehr amüsant, aber die Sanatoriumsgeschichte hatte auch ihre Reize. Eine Art von leichterem Gegenstück, ein Satyrspiel zum »Tod in Venedig«, so etwas mochte vielleicht daraus werden. Man könnte es »Der Zauberberg« nennen – kein schlechter Titel für ein makaber-humoristisches Krankheitsmärchen … An Material war kein Mangel; da gab es Mieleins Briefe von ihren verschiedenen Aufenthalten in Davos und Arosa und die eigenen Tagebuchnotizen, die man während der kurzen Besuche dort oben in weiser Voraussicht zu Papier gebracht. Es war eine schwere Wahl zwischen dem attraktiven Kriminellen und den nicht minder verführerischen Tuberkeln. Schließlich entschied man sich für einen dritten Gegenstand, nämlich für unseren guten Hund Bauschan.

Denn es ist immer falsch, die Dinge zu überstürzen. Das Leben ist lang, es gibt uns genügend Zeit, mancherlei Projekte auszuführen. Wenn man zwischen zwei lockenden Themen schwankt, so mag das bedeuten, daß der Augenblick für keines von beiden günstig ist. Aber es gibt ja so vieles, worüber man schreiben kann; da ist zum Beispiel der Hund – ein drolliges und liebenswertes Geschöpf von unbestimmbarer Rasse. Die ausgedehnten Spaziergänge in Bauschans Gesellschaft waren Trost und Erholung in schwerer Zeit. Warum sollte man dem lieben Köter nicht ein artiges Denkmal setzen?

Man kommt ohne Handlung aus. Nichts ist nötig als Genauigkeit, heitere Akkuratesse bei der Beschreibung von Bauschans Eigentümlichkeiten. Die Landschaft am Isarfluß gibt einen hübschen Hintergrund ab, anspruchslos, dabei pittoresk. Es wird unterhaltend sein, in der Erinnerung und auf dem Papier die vielen Pfade noch einmal zu gehen, die man so oft in Bauschans lustiger Gesellschaft gewandelt. Wenn man sich nur selbst beim Schreiben unterhält, dann wird das Geschriebene auch nicht langweilig ausfallen. Und wirklich, die Geschichte »Herr und Hund« liest sich angenehm, auch ohne spannende Handlung.

Dies ist ein idyllischer Augenblick im Leben des Autors, weshalb es angebracht scheint, sich mit einem rein idyllischen Stoff zu begnügen. Laßt die anderen, die Jüngeren, Kühneren, in ekstatischen Visionen und grellen Experimenten schwelgen! Bauschan ist interessanter, ist wirklicher als ihr Expressionismus, diese nebelhafte Mischung aus optimistisch-revolutionären und mystisch-apokalyptischen Stimmungen und Akzenten. Eine lange literarische Laufbahn ist reich an Wandlungen und Übergängen; nach Phasen der raschen Bewegung kommen stillere Zeiten. Gerade jetzt befinden wir uns in einer der ruhigen Perioden. Es ist weder möglich noch erstrebenswert, immer im Rampenlicht, immer an der Spitze, bei der Avantgarde zu sein. Wenn die modische Richtung mit unserer innersten Neigung, unserem Temperament nicht in Einklang zu bringen ist, tut man gut daran, sich eine Weile vom literarischen Betrieb zurückzuziehen. Was kümmert es uns, wenn ein paar Wortführer der jungen Generation uns steril und altmodisch nennen? Das hektische Tempo dieser Nachkriegsgeneration wird vielleicht weniger weit führen als unser bedächtiges Vorwärtsschreiten. Wir warten ab. Wir halten uns zurück.

Der Autor der »Betrachtungen« hätte sich leicht zum Führer und Favoriten einer reaktionären Clique machen können. Aber schmeichelhafte Angebote, die ihm aus diesen Kreisen zuteil wurden, refüsierte er mit ruhiger Höflichkeit. Die Affinität zwischen ihm und den deutschen Nationalisten war, wenn sie jemals bestand, vorübergehender und teils irrtümlicher Natur. Selbst in seinen teutonischsten Stimmungen hatte er nichts gemein mit der Roheit und Sentimentalität des aggressiven Hurra-Patriotismus. Aber sein gewissenhafter Sinn brauchte Zeit, um die entscheidende Wendung zur Demokratie, die Bekehrung zur Republik gründlich vorzubereiten. Während er zwischen zwei politischen Gesinnungen schwankte, wurde er wieder einmal unpolitisch.

Soweit ich mich erinnern kann, gab es damals bei uns kaum je politische Gespräche. Vielleicht habe ich nur nicht hingehört, wenn die Erwachsenen sich über Politik unterhielten; indessen kommt mir vor, daß die Konversation sich meist um kulturelle Gegenstände drehte. Auch die Gäste schienen sich für Literatur und Musik mehr zu interessieren als für Wahlen oder Parteiprogramme.

Wir Kinder klassifizierten und beurteilten die Freunde unserer Eltern, als ob sie zu unserem Vergnügen engagierte Spaßmacher gewesen wären. Einige von ihnen fanden wir brillant – Virtuosen auf dem Gebiet sprudelnder Konversation –, während andere als hoffnungslose Langweiler galten. Keinem der Besucher war es wohl bewußt, daß wir ihm als strenge Richter gegenübersaßen. Eher wirkten wir wie artig-scheue Kinder, die sich kaum je an der Unterhaltung beteiligten, sondern ein respektvolles Schweigen zu wahren wußten. Wir ließen uns aber kein Wort vom Gespräch der Erwachsenen entgehen und wechselten höhnische Blicke, wenn ein Witz nicht einschlug. Gut-gebrachte Pointen quittierten wir mit kennerischem Nicken; wenn der Gast uns nicht befriedigte, zogen wir uns nach Tisch so bald wie möglich zurück.

Manchmal erwies sich der beliebteste Witzbold als eine Enttäuschung, oder ein notorischer Ödian war plötzlich überraschend amüsant. Dann sagten wir wohl nach dem Abendessen zueinander: »Schade! Björn war heute gar nicht auf der Höhe!« oder: »Professor Litzmann war zur Abwechslung beinahe spritzig!« Es klang, als ob wir eine Schwäche in Carusos Stimme oder überraschenden Glanz im Organ einer unbekannten Choristin entdeckt hätten. Aber im allgemeinen behielt die anerkannte Hierarchie ihre Gültigkeit: die Lieblinge machten ihren Namen Ehre; die Langweiler waren so langweilig, wie man es nur wünschen konnte.

Was Björn Björnson betrifft, den Sohn des großen Norwegers, so war er wirklich »rasend amüsant«, wie er selbst von seinen Geschichten zu sagen pflegte, wobei er das »s« in »rasend« auf drollig-fremdländische Art sehr scharf aussprach. Wir hielten die größten Stücke auf ihn, wegen seines norwegischen Akzents, seiner prächtig schneeweißen Mähne und seiner unzähligen Anekdoten über Henrik Ibsen, Eduard Grieg und den gesamten nordischen Olymp. Er war ein Causeur im großen alten Stil, ein Typus, der im Aussterben begriffen ist wie die Wikinger.

Es gab verschiedene Kategorien von Gästen: die großen Durchreisenden, die sich nur ein paar Tage in München aufhielten; die zeitweiligen Intimen, die während gewisser Perioden sehr oft erschienen, um sich dann wieder rar zu machen und schließlich ganz zu verschwinden; und endlich die wirklichen Freunde.

Björn, der sein Leben zwischen Norwegen und Italien verbrachte, war der ideale Repräsentant der ersten Gruppe. Andere machten auf ihrem Weg von Wien nach Berlin bei uns Station – Jakob Wassermann zum Beispiel, zugleich schalkhaft und finster, voll sinnender Würde, plump und gravitätisch; oder Hugo von Hofmannsthal, dessen Verse ich schon als Halbwüchsiger liebte, aber für dessen persönlichen Charme – einen merkwürdig schillernden, unzuverlässig-evasiven Zauber – ich damals noch kein rechtes Verständnis hatte. Außerdem gab es die Reisenden aus dem Norden, en route von Berlin nach den bayerischen Seen, Tirol oder Venedig. Herr Fischer, der Verleger, erheiterte uns mit seiner patriarchalischen Jovialität und seiner überdimensionalen Unterlippe. Gerhart Hauptmann, der sich auch zuweilen sehen ließ, sah bekanntlich wie Goethe aus, was ihn an sich schon zu einer interessanten Figur in unseren Augen machte. Dazu kam noch das eindrucksvolle Spiel der Falten auf seiner mächtigen Stirn, die suggestive Undeutlichkeit seiner Rede und der prophetische Flug des blassen, dabei gebieterischen Blickes. Aber seiner eigentlichen Faszination wurde ich wohl erst später, durch Mijnheer Peeperkorn hindurch, gewahr. Die Figur aus dem »Zauberberg« gibt die Essenz, das Geheimnis der Hauptmannschen Persönlichkeit, die uns Kinder damals impressionierte: das zugleich Elementare und Unzulängliche dieser Dichternatur, den Charme, die Tragik der maskenhaft-pseudo-bedeutenden Physiognomie …

Hauptmann war kein Freund; seine seltenen Besuche, mit stolzer Gattin und gar zu elegantem Sohn Benvenuto, hatten den Charakter solemner Staatsvisiten, schon durch den ungewöhnlich großen Konsum von Rotwein und Champagner. Ein Freund, fast ein Familienmitglied, war »Pate« Bertram (er hatte Elisabeth, das »Kindchen«, aus der Taufe gehoben) – Professor Ernst Bertram aus Köln, der seine langen Ferien meist in München, oft in unserem Hause verbrachte. Er war weder ein Virtuose des Amüsanten noch ein Langweiler, sondern ein sanft gesprächiger Herr, der seine gescheite Rede mit pedantisch-graziösen, professoralen kleinen Gesten zu begleiten liebte. Wir hörten ihm gern zu, wenn er von feinen, hohen Dingen plauderte – von Hölderlin, Platen, Nietzsche, gotischen Kathedralen und den Fugen des Johann Sebastian Bach. Manchmal konnte er sehr bissig werden, besonders wenn er die Unterhaltung – was nicht selten geschah – auf die Zustände im besetzten Rheinland lenkte. Von den farbigen Truppen sprach er mit Haß und Hohn, nannte sie »äffisch« und »obszön«; auch für die Franzosen hatte er nicht viel übrig. Der Nationalismus nahm bei ihm in späteren Jahren den Charakter einer Obsession an.

Ein anderer häufiger Logierbesuch, in München sowohl als auch in Tölz, war Hans Reisiger, der Dichter und Übersetzer – viel lustiger und toleranter als der gelehrte Pate. Mit »Reisi« konnte man schwimmen gehen und auf der Wiese spielen, man konnte mit ihm »albern« (er war ein bemerkenswert begabter »Alberer«!) und man konnte sich von ihm über die Sterne erzählen lassen; er kannte all ihre Namen und wußte, wie weit entfernt sie sind – unvorstellbar, schauerlich weit weg … Wir mochten »Reisi«, haben ihn immer gemocht. Er hat lange zu uns gehört und wäre uns wohl gerne treu geblieben, wenn die Leute es ihm nicht gar so schwer gemacht hätten. Man darf von einem hochherzigen und liebenswürdigen, aber hypochondrisch-ängstlichen und labilen Charakter nicht mehr verlangen, als er zu geben hat …

Hans Pfitzner war nur ein Kriegsfreund, der sich endgültig zurückziehen sollte, als mein Vater für die Republik optierte. Der romantische Komponist, ein respektabler, wenngleich etwas anämischer Imitator der deutschen Meister, war ein verbissener Konservativer, um nicht zu sagen: ein wütender Reaktionär. Der geistige Kontakt zwischen ihm und dem Zauberer dauerte ungefähr so lange wie die Arbeit an den »Betrachtungen eines Unpolitischen«. Es ist vielleicht das schönste Kapitel in diesem problematischen Buch, das von Pfitzners Meisterwerk »Palestrina« handelt. Wir Kinder hatten nicht viel übrig für den nervösen und giftigen kleinen Herrn mit dem dünnen Ziegenbart. Unsere Helden waren von anderer Statur. Die beiden Brunos zum Beispiel: Bruno Walter und Bruno Frank.

Dem Bruno Frank hätte eigentlich ein Platz unter den Mythen der Kindheit gebührt; unsere Freundschaft begann, als wir kleine Kinder waren, und er war wundervoll. Er kaptivierte uns mit seinem Elan, seiner Wärme, seinen prachtvollen Geschenken und lustigen Geschichten. Später liebten wir ihn auch um seiner Bücher willen, denen dieselbe männlich-herzliche Urbanität eignet, die seinen persönlichen Charme ausmachte. Der Zauberer und Mielein schienen immer besonders animiert, wenn er bei uns war. Seine Besuche – häufig, aber unregelmäßig, denn er reiste viel – waren zugleich intim und festlich. Er war der generöse und joviale Onkel, der uns schon auf den Knien geschaukelt hatte; aber zu dem Reiz solcher Altvertrautheit kam der Zauber abenteuerlich-mondäner Exzentrizität. Man erzählte sich Erstaunliches über seine Erfolge bei Frauen, seine riskanten Einsätze an den Spieltischen von Monte Carlo, Cannes und Baden-Baden. Manchmal sprach er von seinen Schulden, seinen Gläubigern – nie ohne herzlich dröhnendes Gelächter. »Euer alter Onkel Bruno sitzt wieder einmal tüchtig in der Tinte«, vertraute er uns an. Solche Geständnisse bekam man von Erwachsenen sonst nicht zu hören. Bruno war eine Klasse für sich.

Die Attraktion, die von Bruno Walter ausging, war sehr anderer Art, aber nicht weniger unwiderstehlich. Der große Dirigent war unser Nachbar in dem freundlichen Villenviertel, wo alle einander kannten. Aber niemand hätte es gewagt, sich ihm zu nähern, wenn er auf der Tram zum Zentrum der Stadt fuhr, wo das Opernhaus gelegen war. Ich sehe ihn vor mir, wie er auf der Plattform der Straßenbahn zu stehen pflegte, in Gedanken vertieft, mit etwas fahler, überanstrengter Miene unter dem breitrandigen Schlapphut, den Blick träumerisch in die Ferne gerichtet. Um ihn war ein geheimnisvolles Etwas, das ihn von seiner Umgebung distanzierte – das magische Echo der Musik.

Im Kreise der Seinen oder als unser Gast gab er sich herzlich und anspruchslos. Er vergötterte seine zwei Töchter, Lotte und Gretel, unsere beiden liebsten Freundinnen.

Wir sahen sie jeden Tag, sie waren wie unsere Schwestern. Gretel, die Jüngere, genau meine Altersgenossin, glich dem Vater; die dunklen, sprechenden Augen, die Stimme, die Gebärden – sie hatte alles von ihm, auch die Musikalität, die bis in die Fingerspitzen geht, sich dem Schritt, dem Lachen, dem Blick eines Menschen mitteilt. Gretel war bezaubernd, zugleich wild und scheu, von spröder Zärtlichkeit und naturhaftem Temperament. Ich stand unter ihrem Charme und ernannte sie kurz entschlossen zu meiner ersten Liebe. In den Versen, die ich auf sie schrieb, stilisierte ich sie zur grausamen Schönen, ob dies nun zu ihr paßte oder nicht. Sie hatte ebenso kapriziös, ebenso dämonisch zu sein wie die Damen, um die der junge Heinrich Heine litt; denn auch ich wollte leiden.

Lotte, zu erwachsen, um als Objekt für meine lyrischen Ergüsse in Frage zu kommen, übernahm die Rolle der uneigennützigen Vertrauten. Übrigens war ich keineswegs unempfänglich für ihre sanfteren Reize. Wenn Gretel den Idealtyp der pikanten Brünetten repräsentierte, so gehörte die ältere Schwester, nicht weniger attraktiv, zur Kategorie der träumerischen Blondinen. Beide schienen mir über alle Maßen verführerisch und bewundernswert; denn sie besaßen nicht nur ihren eigenen Zauber, sondern auch die Faszination einer fremden und wunderbaren Welt – die der Oper, der Symphoniekonzerte, des ganzen magischen Bereichs von Musik und Theater.

Musik war etwas Schönes und Erhebendes, besonders wenn Bruno Walter am Dirigentenpult stand; Theater war noch besser. Am weitaus besten aber war die Oper – beglückende Vereinigung von Drama und Symphonie, der vollkommene Kunstgenuß. So erschien es uns damals. In späteren Jahren ist man weniger geneigt, das Musikdrama als höchste ästhetische Offenbarung zu akzeptieren; aber der naive, eindrucksfähige Geist reagierte mit unkritischem Enthusiasmus auf den kombinierten Effekt der Farben und Harmonien, die Synthese von Ballett und Tragödie, Weihespiel und Zirkus, reinem Gefühl und festlich buntem Aufzug.

Die Münchener Oper unter Bruno Walter war durchaus erster Klasse. Der große Kapellmeister hatte ein Ensemble herrlicher Stimmen um sich versammelt: Delia Reinhardts beseelter Sopran, der unvergleichliche Koloratursopran der Maria Ivogün, Benders mächtiger Baß, Karl Erbs geistig-edler Tenor, der sonore Bariton von Gustav Schützendorf und viele andere. Das berühmte Institut – eines der Zentren europäischen Musiklebens zur Zeit Bülows, Mottls und Levys – erlebte eine zweite Jugend, eine späte Blütezeit: wahrscheinlich seine letzte.

Die beiden linken Eckplätze der ersten Reihe waren immer für den »Herrn Generalmusikdirektor« reserviert, und es war von eben diesen privilegierten Sitzen aus, daß wir einer Fülle großartiger Aufführungen beiwohnen durften. Die glänzende Reihe meiner frühen Opernerlebnisse beginnt mit »Hänsel und Gretel« – diesem liebenswertesten aller musikalischen Märchenspiele, das noch liebenswerter wäre ohne die etwas zu massiven Effekte einer Orchestrierung, die Meister Humperdinck leider vom Wagnerischen Stil übernahm. Jahrelang blieb es eine Streitfrage zwischen Erika und mir, welcher Oper der Vorzug zu geben sei – »Hänsel und Gretel« oder Lortzings »Undine«, die Erikas erster Operneindruck gewesen war. Erika war sehr ehrgeizig und eifersüchtig, was den Vorrang von »Undine« betraf: es war ihre Oper, ihr persönlicher Besitz, so wie »Hänsel und Gretel« der meine.

»Der fliegende Holländer« gehörte uns beiden; denn wir genossen ihn miteinander, in Gesellschaft des Zauberers. Es hat vielleicht mit der Erinnerung an diesen Abend zu tun, daß mir noch heute diese frühe, gleichsam »vorwagnerische« Schöpfung die liebste von allen Wagneropern geblieben ist. Die relativ anspruchslose, relativ unschuldige Romantik dieses Dramas und dieser Musik – einer Musik, die ihre Verwandtschaft mit Lortzing, Marschner und Weber noch nicht verleugnet – wirkt auf mich rührender und überzeugender als die aggressive Erhabenheit des »Ringes« oder die forcierte Volkstümlichkeit der »Meistersinger«. Gleich die Eröffnungsszene ist sehr eindrucksvoll, wenn man für Geisterschiffe und ihre singende Mannschaft etwas übrig hat. In der Münchener Inszenierung wurde der unheimliche Charakter des Schiffes durch reichliche Verwendung von bläulich huschenden Blitzen höchst effektvoll betont: es war eine Art von fahlem Wetterleuchten, was sich da auf der Bühne abspielte, äußerst erregend und genußreich zu beobachten. Noch immer bedaure ich die arme Erika, die so weit zur Linken saß, daß sie von der gespenstischen Pracht so gut wie überhaupt nichts zu sehen bekam. Natürlich brach sie in Tränen aus, die einzig angebrachte Reaktion, angesichts eines solchen Schicksalsschlages. Als aber dann der Holländer nach vorne trat und herrlich sein Unglück beklagte, vergaß sie das ihre bald.

Wie viele unvergeßliche Stunden! Welch Mannigfaltigkeit der Gesichte und Melodien! »Rigoletto« und »Lohengrin«, »Madame Butterfly« und »Aida«, »Don Pasquale« und der »Rosenkavalier«, »Freischütz« und »Figaro«, »Hans Heiling« und »Don Giovanni«: welch großartig verschwenderischer Überfluß des dramatischen Wohllauts! Ich verliebte mich in die Figur der Carmen und dachte, es sei die Sängerin, Luise Willer, die mich verzaubert hatte. Sie war eine imposante Brünette, prachtvolle Stimme, echtes Temperament. Ich schickte ihr ein Lebkuchenherz von der Oktoberwiese und bat sie um ein Autogramm. Sie akzeptierte das Herz und beglückte mich mit einer signierten Photographie. Carmencita rittlings auf einem Hocker sitzend, schwarze Locke in der Stirn, Zigarette schräg im Mundwinkel, jeder Zoll ruchlose Unwiderstehlichkeit. Es war das erste und letzte Mal in meinem Leben, daß ich einer Dame ein Lebkuchenherz als Zeichen meiner Verehrung schickte und eine Primadonna um ihren Namenszug bat.

Die Oper war unser Traum, unsere große Liebe. Wenn die Walterschen Plätze anderweitig vergeben waren, ließen wir's uns nicht verdrießen, stundenlang anzustehen, erst vor der Kasse, dann am Theatereingang, um nur ja unter den ersten zu sein, wenn die Pforten sich öffneten. Etwas ermüdet, aber hochgestimmt hörte man dann »Die Götterdämmerung« oder »La Traviata«. Stehend natürlich!

Fast ebenso zauberhaft wie die Aufführung selbst, ja in mancher Hinsicht noch wunderbarer war es, wenn Bruno Walter seinen Töchtern und uns aus einer Opernpartitur vorspielte. Der eifrige Papa bemühte sich, als wären wir Theaterdirektoren, die es von der Vortrefflichkeit und Aufführbarkeit eines Werkes zu überzeugen gelte. »Ihr müßt euch die Dekorationen dazu vorstellen«, rief er in die Musik hinein. »Und die Kostüme! Die Königin der Nacht erscheint also im Hintergrund, auf der Mondsichel schwebend …« Während seine Hände die Effekte eines ganzen Orchesters aus den Tasten holten, kamen aus seinem Munde die Stimmen der Pamina, des Papageno, des Sarastro, der drei munteren Damen. Er unterbrach sich, um auf besondere Schönheiten begeistert hinzuweisen; er gestikulierte, scherzte, krähte, dröhnte, säuselte; er war der lyrische Tenor, die Flöte, der Koloratursopran, die große Trommel; er brachte uns zum Lachen und zum Weinen; wir verstanden das Werk beinah, oder ahnten doch seine Größe, dank dieser unwiderstehlich entzückten und entzückenden Eloquenz.

Wie ich es vor mir sehe! Aus Erinnerungstiefen steigt das versunkene Bild, herbeigezwungen von meiner Sehnsucht, meiner Zärtlichkeit. Die Szene ist wieder da, die vergangen schien. Sie regt sich, atmet, spricht; sie ist gegenwärtig, ist unvergänglich mit ihren Melodien, Blicken, Gesten und Gelächtern.

Festlich heitere Nachmittagsstunde – wie gut es ist, sie nochmals mitzumachen! Da ist der vertraute Raum, die Waltersche Wohnstube mit dem großen Gustav-Mahler-Bild auf dem Flügel, und draußen die vertrauten Bäume, das vertraute Pflaster der guten alten Mauerkircherstraße. Lotte, Gretel, Erika und ich sitzen auf einer gepolsterten Bank, die wir nah ans Klavier herangerückt haben. Wir schütten uns aus vor Lachen, weil der »Kuzi« – so nennen die Waltermädchen ihren Zauberer – mit drolliger Verzweiflungsmiene die paradoxe Klage des Papageno hören läßt: »Ich Ärmster kann von Strafe sagen, denn meine Sprache ist dahin …« Es ist sehr, sehr komisch; unser Jubel schallt durchs ganze Haus.

Frau Walter rauscht die Treppe herunter, jammernd und gestikulierend. Sie hebt die Arme im prunkvoll bunten Hausgewand aus starrer Seide; ihre Stimme ist schrill, da sie nun klagt und schilt: Hat Bruno denn nichts anderes zu tun, als uns dummen Rangen Musik vorzuspielen? Es ist höchste Zeit, sich umzuziehen für die Oper! Gretel hat ihre Schulaufgaben noch nicht gemacht. Und Lottchen sollte endlich den überfälligen Brief an Tante Trude schreiben. Was aber die Mannkinder betrifft, na, die kennt man ja! Nichts als Unfug im Kopf … Indessen kann Frau Walter sich doch das Lachen nicht verbeißen, da Bruno ihr mit verzweifeltem Achselzucken die humoristische Schmerzensgrimasse des Papageno zeigt, dem die drei Damen den Mund verschlossen haben.

Wir können Frau Walter gut leiden. Ihr Zanken hat den Charakter eines halb scherzhaften Ritus; ein lustiger kleiner Schock, wie eine kalte Dusche oder ein jäher Windstoß. Es ist entschieden amüsant, von Frau Walter geschimpft zu werden.

Lotte und Gretel haben sich inzwischen aufs Betteln verlegt. »Nur noch die eine Arie! Bitte, bitte, Mutti! Es dauert ja nicht lang …«

»Also gut, noch die eine Arie«, entscheidet Frau Walter und fügt mit einem überraschend weichen, beinah zärtlichen Lächeln hinzu: »Die schöne Melodie des Tamino möchte ich ja selbst gern noch hören …«

Sie hat sich neben uns auf dem Sofa niedergelassen, den Arm um Gretels Schulter gelegt.

Die »Mannkinder«, die nach Frau Walters Ansicht »nichts als Unfug« im Kopf hatten, fingen an, sich einen gewissen Namen zu machen, wenn auch keinen sehr guten. Wir bildeten eine richtige Bande: Erika, die Waltermädchen, ich, der Ricki … Aber mir wird plötzlich klar, daß ich den Ricki noch gar nicht vorgestellt habe. Was für eine Ungehörigkeit. Sie verdrießt mich um so mehr, als ich empfinde, daß diese Art der Unterschlagung symptomatisch ist für eine ernste Gefahr, vor der man sich beim Schreiben einer Autobiographie zu hüten hat. Die meisten Memoirenschriftsteller neigen dazu, fast ausschließlich bei ihren Freundschaften mit berühmten Persönlichkeiten zu verweilen, während weniger illustre Beziehungen übergangen werden. Diese Verfälschung, oder dies irreführende Herausheben gewisser Elemente auf Kosten anderer, kann einfach ein Ausdruck der Eitelkeit und des Snobismus sein; in vielen Fällen aber erklärt es sich aus weniger verächtlichen Motiven.

Eine Autobiographie ist notwenig fragmentarisch; unter den unzähligen Erfahrungen, aus denen ein Menschenleben sich zusammensetzt, hat der Autor diejenigen auszuwählen, die von mehr als nur persönlicher Relevanz und Gültigkeit sind. Aus Bescheidenheit wird er dabei Erinnerungen den Vorzug geben, die sich auf Figuren oder Geschehnisse von allgemeinem, »historischen« Interesse beziehen. Über eine Begegnung mit Bismarck oder Edison liest man immer gerne; aber wer will Einzelheiten über den unbekannten Jugendgespielen des Autors hören?

Wer einen persönlichen Freund in seine Erzählung einzuführen wünscht, muß sich ebenso viele Umstände machen wie ein Romancier, der eine erfundene Figur präsentiert. Von Berühmtheiten kann man in Anspielungen und Abkürzungen sprechen; aber diese Technik versagt, wenn es sich um Personen handelt, von denen der Leser nichts weiß und zunächst auch gar nichts wissen will. Es ist daher unvergleichlich bequemer von Bruno Walter zu erzählen als etwa von Ricki. Jenen kann ich erwähnen, ohne mich auf langwierige Erläuterungen einzulassen: dieser aber ist ein unbeschriebenes Blatt, ein Fremder. Es sind ein paar Intime, die sich seiner Gestalt, seiner Lebensumstände, seines Talents erinnern. Man schreibt aber nicht nur für Freunde, sondern – angeblich – für die »Öffentlichkeit«. Ich tue also gut daran, den fremden Ricki mit einer gewissen Feierlichkeit vorzustellen. Der Epiker, der eine neue Figur beschwören will, räusperte sich, holt tief Atem und fängt also zu raunen an:

Richard Hallgarten, Sohn einer hochkultivierten jüdischen Familie, war ein attraktiver und besonderer Knabe. Wir kannten ihn seit frühester Kindheit, da seine Eltern auf gut-nachbarlichem Fuße mit den unseren standen. Er wirkte zugleich delikat und verwegen, wild und sensitiv. Die Fülle des dunklen, widerspenstigen Haares hing ihm in eine niedrige Stirn, die sich oft nervös verfinsterte. Die Augen, nah beieinanderliegend unter schön geschwungenen, starken Brauen, spiegelten mit rührender Aufrichtigkeit die stürmisch wechselnden Stimmungen seiner Seele. Er hatte den komplizierten, beunruhigenden Reiz eines morbiden Hirtenknaben, eines hysterischen Zigeuners. Er war witzig und naiv, unschuldig und verschlagen. Sein Gesicht war von kindlich-sinnlicher Weichheit; aber seine Hände waren hager, hart, gequält – die Hände eines sehr alten Mannes. Ricki war ein fortwährendes Problem und ein nie endendes Vergnügen. Er verabscheute die Schule und simulierte die ausgefallensten Krankheiten, um aufs Land geschickt zu werden. Er wollte nicht Lateinisch lernen; er wollte malen. Dagegen hätten seine Eltern an sich nichts einzuwenden gehabt, wenn nur seine Bilder nicht alle so traurig und makaber gewesen wären! Immer gab es Krüppel auf Rickis Bildern, blinde Greise in unheimlich verödeter Landschaft, Bucklige mit hageren Katzen, großäugige, bleiche kleine Mädchen in starrer Gruppe beieinanderstehend. Er liebte Kinder und Katzen und die Berge, und wir liebten ihn. Wir gingen zusammen zur Schule (wenn er sich zum Schulbesuch herbeiließ!), und wir gingen schwimmen und Schlittschuh laufen. Wir rauften und philosophierten und lachten und hörten Musik zusammen. Wir entdeckten die Geheimnisse des Geschlechts (»So werden also die Babys gemacht! Da hört sich doch alles auf!«), wir lösten die Welträtsel, kicherten über die Erwachsenen und nahmen uns selbst sehr wichtig, zusammen, immer zusammen …

Wir gründeten einen Theaterbund – Erika, Gretel Walter, Ricki und ich. Erst war es nur ein recht bescheidenes Unternehmen: wir führten Körners »Gouvernante« in unserer Diele auf (Ricki und ich spielten die zwei jungen Mädchen), einen Einakter von Kotzebue im Hallgartschen Salon. Allmählich wurden wir ehrgeiziger und wagten uns an Shakespeare, Lessing, Molière. Lotte war eine reizende Minna von Barnhelm; Erika bezauberte als Viola durch pagenhaften Wuchs und scheue Anmut. Auch ihre Stimme klang schön; der beseelte Blick kaptivierte das Publikum. Es war damals, daß sie ihre Liebe zum Theater entdeckte und beschloß, Schauspielerin zu werden. Die festliche Premiere von »Was Ihr wollt« fand in Rickis Elternhaus statt. Es war größer und prächtiger als das unsere. Nach der Vorstellung gab es einen Maskenball. Lotte und Gretel durften nicht mitspielen. Frau Walter war gegen den »Laienbund deutscher Mimiker« (wie sich unsere theatralische Gesellschaft nannte). »Ein neuer Unfug!« klagte sie in schrillen Tönen. »Diese Mannkinder! Nichts als Dummheiten!«

Sie hatte so unrecht nicht. Unsere Streiche wurden immer gewagter. Es ergötzte uns, die dummen Erwachsenen an der Nase herumzuführen. Besonders gern bedienten wir uns des Telephons für dubiose Zwecke. Wie drollig war es doch, Frau Sanitätsrat Meyer anzurufen und ihr weiszumachen, man sei das Stubenmädchen von Frau Doktor Ruderer: »Meine Frau Doktor würden sich sehr freuen, wenn die Frau Sanitätsrat mit dem Herrn Sanitätsrat am nächsten Donnerstag zum Nachtmahl zu uns kommen könnten.« Frau Sanitätsrat versprach, pünktlich zur Stelle zu sein. Wir lachten uns in Fäustchen. Man stelle sich die Meyersche vor, wie sie am Donnerstagabend im besten Kleid bei den ahnungslosen Ruderers anrückt!

Erika verstand sich auf das Nachahmen aller möglichen Stimmen. Sie war wie einer jener Kobolde, die sich nach Belieben verwandeln und mit fremden Zungen reden können. In einem Stück von Cocteau, »La Table Ronde«, spielt ein solcher Dämon eine höchst verwirrende Rolle. Es war erstaunlich, wie blechern-ordinär Erikas Stimme klingen konnte, wenn sie ein Münchener Ladenfräulein personifizierte, und was für sonore Flötentöne die gleiche Stimme hergab, wenn sie das kostbare Organ der Sängerin Delia Reinhardt nachäffte! Sie konnte gurren und keifen, schnarren, stottern und jammern; der russische Akzent war ihr ebenso geläufig wie die sächsische Mundart. Als sie dem jugendlichen Liebhaber unseres Stadttheaters, Albert Fischel, ihre Liebe gestand, war sie der albern verschwärmte Backfisch, der vor kicherndem Getue kaum ein Wort hervorzubringen vermag. »Sie gefallen mir halt gar so gut, Herr Fischel!« behauptete das untergeordnete Geschöpf, das sich telephonisch als Friedl Rucktascherer vorgestellt hatte. »Ihr G'schau, und die schlanken Füß' – alles so aristokratisch!«

Der junge Beau, halb geschmeichelt, halb irritiert, – gewährte ihr das Rendezvous, um das sie flehte. Welch eine Sensation, als statt der verschwärmten Friedl unsere ganze Bande zum Stelldichein erschien! Der Schauspieler zog sich mit Humor aus der Affäre. Wir wurden Freunde. Mit einem veritablen Bühnenkünstler intim zu sein, das war die Erfüllung unserer kühnsten Träume! Er war unser Kamerad: wir duzten ihn und durften ihn »Bert« nennen. Abends aber wohnten wir in seiner Garderobe dem wundervollen Schauspiel seiner Verwandlung bei. Vor unseren respektvoll geweiteten Augen wurde aus unserem Bert der Liebhaber der Maria Stuart, Mortimer, oder Don Carlos, Infant von Spanien. Es war gar zu schön, ihm zuzuschauen, wie er sich die Krause umlegte, vom Garderobier die Schärpe binden ließ. »Jetzt noch das seidene Mäntelchen, und wir sind unwiderstehlich!« rief Bert, und tat ein paar sieghafte Schritte in seinen schwarzen Trikots.

Ich vergötterte ihn. Er war zugleich feurig und von interessanter Müdigkeit, ein richtiger Held, aber nicht ohne die melancholisch-dekadente Nuance. Die gestraffte Anmut der Gesten, das zerstreute Lächeln, der umflorte Blick – ich konnte mich nicht satt daran sehen. Es war beschlossene Sache: ich würde Schauspieler werden, ein zweiter Bert, ebenso intensiv und tänzerisch, ebenso beschwingt und pagenhaft!

Es gab eigentlich keinen Grund dafür, unsere Freundschaft mit Bert vor den Eltern geheimzuhalten; er war, vom Standpunkt der Erwachsenen aus beurteilt, ein durchaus akzeptabler Umgang, gebildet, diskret, zuverlässig. Aber die elterliche Sanktion hätte der Beziehung ihren Reiz genommen. Alles Heimliche, Illegitime war faszinierend. Nachtlokale, Detektivfilme, unanständige Bücher, man liebte sie nicht um ihrer selbst willen, sondern weil sie das Verbotene waren. Es war köstlich, sich nach Mitternacht aus dem Haus zu schleichen; wir trafen uns mit den Walter-Mädchen am Kufsteiner Platz, Lotte trug Kuzis Sportanzug mit Knickerbockers, Gretel war als Zigeunerin kostümiert, mit wehendem rotem Schal eilte sie uns voraus, über die Isarbrücke. Was hatten die Straßen uns zu bieten, um diese Stunde? Es gab nur ein paar schläfrige Passanten, die uns mit verwundertem Blicke streiften. Wir aber genossen unsere absurde Expedition. Das Bewußtsein, Unerlaubtes zu tun, genügte, um unsere Herzen höher schlagen zu lassen. Es war ein Uhr morgens, wir hätten schon seit Stunden schlafen sollen, trieben uns aber statt dessen in der Stadt herum! Wir empfanden die krasse Frivolität unseres Tuns: daher unsere fieberhafte Aufgekratztheit. »Hui!« rief Gretel, eine Windsbraut mit flatternd schwarzer Mähne. Wir umringten einen beleibten Spießer, der vom Hofbräuhaus nach Hause strebte. »Hui …« Gretels rotes Tuch flog dem Dicken ins Gesicht. Er schimpfte hinter uns drein, da wir kreischend entwichen.

Je sündiger, desto besser! Pralinés schmecken gut; wie köstlich müssen erst gestohlene Süßigkeiten schmecken!

Bert stachelte unseren Ehrgeiz, indem er uns von seinen Leistungen auf dem Gebiet des Stehlens erzählte. Er war als Kind ein wahrer Meisterdieb gewesen, wenn man seinen Berichten glauben durfte. Da hieß es, ihm beweisen, daß wir auch nicht auf den Kopf gefallen waren! Wir luden ihn zu einem Gastmahl ein. Die Eltern waren verreist, der heimliche Freund durfte sich zu uns wagen. Es gab Sherry, Würstchen, kleine Kuchen, Käse, Datteln, Schinken, Marzipan – alles geklaut, die ganze Herrlichkeit. Dem armen Bert, der es seinerseits so arg nie getrieben hatte, blieb der Bissen im Munde stecken, da wir uns vor ihm brüsteten: »Stell dir vor, Bert, der Baumkuchen! Es war keine Kleinigkeit, ihn unterm Lodencape davonzutragen!«

Wie kamen wir nur auf die Idee, das Fräulein Thea ins Vertrauen zu ziehen? Sie war das Kinderfräulein. Nicht mehr das unsere natürlich, sondern das von Elisabeth und Michael: eine derbe Person mit ährenblonden Zöpfen, durch und durch ethisch, ganz verständnislos. Wir hätten den Typ kennen sollen! Natürlich ging sie hin und petzte. Kaum waren die Eltern von der Reise zurück, da ward alles enthüllt: die Freundschaft mit Bert, die Diebstähle, unsere nächtlichen Eskapaden: »Die Kinder sind auf Abwegen, gnädige Frau – aus ihrem eigenen Munde weiß ich es, daß sie in verschiedenen Nachtlokalen waren, im ›Grünen Schiff‹ zum Beispiel, und in einem anderen namens ›Boccaccio‹, wo getanzt und gesungen wird. Beim ›Papa Benz‹, das ist auch so eine Kneipe, mußten sie aus dem Fenster klettern, um nicht von ihrer Tante, der Frau Heinrich Mann, gesehen zu werden …«

Fräulein Theas Eröffnungen kamen den Eltern wohl nicht ganz so überraschend, wie die biedere Denunziantin glauben mochte. Zauberer und Mielein waren zwar nachsichtig und geduldig, aber doch nicht blind. Sie konnten sich kaum über uns Illusionen machen: wir waren offenbar in unser schwierigstes Alter eingetreten. Indessen versprachen diese Eltern sich nichts von Strafen und Tiraden; eher verließen sie sich auf unseren gesunden moralischen Instinkt und auf den heilsamen Einfluß einer heiter-zivilisierten häuslichen Atmosphäre. Waren sie zu optimistisch gewesen? Es sah fast so aus. Die Sache mit dem gestohlenen Gastmahl ging ein bißchen weit. Eine drastische Lektion schien geboten.

Die Lektion erwies sich als ziemlich milde. Wir wurden in ein Landerziehungsheim geschickt, nicht gerade eine Besserungsanstalt mit eiserner Disziplin. Der Ort, wo Mielein eines frostigen Morgens im März 1922 Erika und mich ablieferte, machte den erfreulichsten Eindruck.

Die »Bergschule Hochwaldhausen«, eine jener »Freien Schulgemeinden«, die damals in Deutschland Mode waren, bestand aus einem Komplex bescheidener Holzhäuser und Bungalows in herb-[?]idyllischer Landschaft. Wir befanden uns hier in Mitteldeutschland, in der Rhön, nicht weit von der Stadt Fulda. Bis jetzt hatten wir nichts von Deutschland, von der Welt gekannt als München und Oberbayern. Dies war etwas Neues. Wie würde es sein, in fremder Luft zu leben und mit fremden Menschen? Uns wurde doch ein wenig bang zumute, als Mielein, ihrerseits bewegt, von uns Abschied nahm.

Doch hatten wir einander, was alles erträglich machte. Auch wirkte Professor Steche, der Chef des Institutes, nicht eben beängstigend: ein wohlwollender, intelligenter Mann mit hilflos besorgter Miene. Unter den Lehrern fielen verschiedene Charakterköpfe auf, Männer und Frauen von hohen geistigen Ambitionen, manchen von ihnen war Enttäuschung anzusehen: unverstandene Genies, verhinderte Schöpfer, wie der bittere Zug um den Mund verriet. Was die Schüler betraf, Mädchen und Knaben im Alter von sieben bis siebzehn, so waren sie vorwiegend bürgerlich-intellektueller Herkunft. Immerhin gab es innerhalb der Schulgemeinschaft Typen und Gruppen sehr verschiedenartiger sozialer Prägung. Was aber auch diese Halbwüchsigen voneinander trennen und unterscheiden mochte, sie hatten ein Grunderlebnis, einen bestimmenden Gefühlskomplex gemeinsam – die Jugendbewegung.

Ich habe manchmal versucht, das Wesen, die Bedeutung dieses höchst kuriosen, typisch deutschen Phänomens außerhalb des deutschen Sprach- und Kulturgebietes plausibel zu machen. Es ist hoffnungslos. Die Jugendbewegung, wie die Tanzkunst der Mary Wigman und die Poesie Stefan Georges, läßt sich nur im Lande ihres Ursprungs begreifen. Die prahlerische Selbstverherrlichung der Jugend als idealistisch-revolutionäres Programm, die Etablierung einer bestimmten biologischen Phase als autonome Lebensform: nur in Deutschland war dergleichen möglich. Wie unverwechselbar, wie gefährlich deutsch ist die Mischung aus Systematik und Verschwommenheit, aus revolutionärem Elan und bösartigem Obskurantismus, die wir für die Jugendbewegung charakteristisch finden! Ohne Frage, die romantische Rebellion gegen unsere mechanisierte Epoche enthielt zukunftsträchtige, wahrhaft progressive Elemente; gleichzeitig aber barg sie auch den Keim des Unheils. Wer könnte etwas einzuwenden haben gegen das innig-verschwärmte Penchant für altdeutsche Lieder und Tänze, gegen das Pathos des Retour à la nature mit Klampfe, Rucksack und alkoholfreien Getränken? Leider blieben diese harmlosen Spiele nicht frei von Prätentionen recht fataler Art. Die Wandervögel begnügten sich nicht damit, eine verkalkte und verspießte ältere Generation mittels ausgefallener Trachten und Frisuren zu schokieren; vielmehr machte man sich mit einer »Weltanschauung« wichtig, in der die mannigfachsten Stimmungen und Tendenzen wirr durcheinandergingen. Fortschrittsfeindliche, nationalistisch-rassistische Neigungen, die schon bei den ideologischen Begründern der Jugendbewegung – bei Blüher etwa – spürbar gewesen waren, nahmen bald überhand. Schließlich zerfiel die »Revolution der Jugend« in eine Vielfalt politisch bestimmter Gruppen, von denen die einflußreichsten sich als Wegbereiter des Nationalsozialismus erweisen sollten.

Dieser Zersetzungsprozeß hatte bereits eingesetzt, als ich mit der Sphäre des Wandervogels in Berührung kam. Indessen war der Geist der Jugendbewegung doch noch lebendig genug, um sich einer Gemeinschaft wie der unseren mitzuteilen. Der Lebensstil der Freien Schulgemeinde, unsere Gespräche, Gebärden und Emotionen waren durchaus bestimmt von jenem Aufstand der Jünglinge, der kurz vor dem ersten Weltkrieg seinen Anfang genommen und allmählich das ganze Land mit seinem Pathos, seinen Schlagworten infiziert hatte. Nie zuvor in der Geschichte vielleicht sind junge Leute so bewußt, so eklatant, so herausfordernd jung gewesen wie die deutsche Generation dieser Jahre. Man sagte: »Ich bin jung!« und hatte eine Philosophie formuliert, einen Schlachtruf ausgestoßen. Jugend war eine Verschwörung, eine Provokation, ein Triumph. Wenn wir uns in unseren kahlen Stuben trafen oder draußen im Wald oder beim Krämer im Dorf, tauschten wir geheime Blicke und Winke:

»Ich bin jung!«

»Ich auch!«

»Dein Glück! Die Alten sind Schweine und Narren.«

»Recht hast du. Wer über dreißig ist, gehört aufgehängt. Was mich betrifft, so fühle ich mich heute derartig jung, daß mir das Herz im Leibe nur so hüpft …«

Es war beunruhigend und schwer und köstlich, jung zu sein, ein ständiges Problem, eine unendliche Wonne. Für alle, die sich diesen süß-erregenden Zustand verscherzt hatten und ungeschickterweise alt geworden waren, empfanden wir ein Mitleid, in das sich Verachtung mischte. Hatte man früher einmal seine Lehrer gehaßt oder gar gefürchtet? Das mußte lange her sein. Alte Menschen verdienten unser Erbarmen. Was denn sonst? Professor Steche zum Beispiel, seht doch, wie kläglich er ist! Schon beinah fünfzig, mit Säcken unter den Augen, und spielt sich immer noch als »Kamerad« der Jugend auf! Man weiß nicht, ob man über so viel Naivität lachen soll oder weinen …

Tatsächlich konnte der gute Steche einem wohl leid tun, nicht wegen seiner Betagtheit, sondern weil wir ihm das Leben gar so schwer machten. Er bemühte sich redlich, die hochfliegenden Ideale und Aspirationen der Jugendbewegung mit einem gewissen Minimum organisatorischer Disziplin und wissenschaftlicher Methodik zu vereinen. Seine Anstrengungen scheiterten an unserer Widerspenstigkeit. Wir waren Anarchisten; der Professor, ein weicher, empfindsamer Mann ohne Dynamik, ohne Phantasie, wurde nicht mit uns fertig. Wir unterminierten seine Autorität, zerstörten ihm seine Schule.

Steche gab sich geschlagen. Die oberen Klassen seines Landerziehungsheims wurden geschlossen. Es war der Professor selbst, der den Eltern riet, ihre problematischen Kinder wieder zu sich zu nehmen.

Wir hatten in der Bergschule neue Freunde gefunden, von denen wir uns nicht gern trennten. Manche dieser Beziehungen sollten von Dauer sein, vor allem meine herzliche Kameradschaft mit der dicken Gert, aus der später die dünne, schöne, kranke Gert wurde. Sie war ein Waisenkind unbestimmt aristokratischer Herkunft, von einem wohlhabenden Frankfurter Ehepaar adoptiert. Wir nannten sie das »Elefantenbaby«, wegen ihrer gewaltigen Körperfülle. Der große, schön geschwungene Mund, die braunen Augen lachten in ihrem breiten, liebenswerten Kindergesicht. Mit welchem Ungestüm, welchem Enthusiasmus sie sich in das Abenteuer unserer Freundschaft warf! Sie sparte nicht mit sich, gab sich ganz, was immer sie auch tat. Als sie es später darauf abgesehen hatte, sich zugrundezurichten, bewies sie dabei den gleichen überschwenglichen Eifer, den sie damals beim Spielen und in der Zärtlichkeit hatte. In den Bergschul-Tagen stopfte sie sich mit Schokolade voll; zehn Jahre danach waren es Morphium-Injektionen, auf die sie sich versessen zeigte, so versessen, daß sie bald die Fleischesfülle einbüßte, aber nie, nicht bis zum bitteren Ende, den kindlich lachenden Blick … Die dicke Gert – die gar zu schlanke, dem Gifte verfallene Gert ist in vielen Städten und an vielen Küsten mit mir gewesen. Aber so schön und lustig haben wir es doch nie mehr zusammen gehabt, wie damals in der Bergschule Hochwaldhausen.

Es war etwas Besonderes um diese Landerziehungsheime, dies zugleich unschuldig-fröhliche und problematisch-spannungsreiche Zusammenleben junger Menschen in völliger Freiheit, weit weg von den Konventionen der Stadt, des Elternhauses. Wer den Zauber dieser Daseinsform einmal gekostet hat, dem bleibt die Sehnsucht danach im Blute. Ich wollte mehr davon. Mehr von diesen Freundschaften, diesen Diskussionen, diesen Wanderungen und nächtlichen Reigen um romantische Feuer. Während Erika in München blieb, um sich dort aufs Abitur vorzubereiten, bestand ich zur Überraschung meiner Eltern darauf, in eine andere Landschule geschickt zu werden.

Die Odenwaldschule bei Heppenheim an der Bergstraße, nicht weit von den Städten Darmstadt und Heidelberg, war ein pädagogisches Institut von hohem Rang und internationalem Ansehen. Ihr Leiter, Paul Geheeb oder »Paulus«, Veteran der Jugendbewegung, Vorkämpfer der Freien Schulgemeinde, war, im Gegensatz zu Steche, eine Persönlichkeit; in ihm verband sich die profunde Erfahrenheit des alten Erziehers mit einem merkwürdigen hellseherischen psychologischen Instinkt und einem eigensinnig zähen, kindhaft gläubigen Idealismus. Mit seinen weiten, sinnenden Augen und dem prächtig wallenden, grau-weiß melierten Bart wirkte er wie ein Eremit, der von Kräutern und Weisheit lebt. Tatsächlich nährte Paulus seinen stämmigen Körper ausschließlich mit Gemüse, Obst und Hafergrütze, seinen Geist mit indischer, chinesischer, griechischer Philosophie und mit dem Vermächtnis des großen deutschen Jahrhunderts, von Herder und Lessing bis zu Schiller, Kant und Fichte. Die villenartigen Baulichkeiten, in denen wir unsere Wohn- und Arbeitsräume hatten, trugen die Namen von Geheebs Schutzheiligen. Das stattlichste Gebäude, wo man sich zu den Mahlzeiten und anderen geselligen Gelegenheiten zusammenfand, war nach Goethe benannt; mein eigenes Revier war im Platohaus, während Paulus und »Tante Edith« (Frau Geheeb, geborene Cassirer) das Humboldthaus als Residenz erwählt hatten. Sein Lieblingsplatz aber war der umzäunte Teil des Gartens, der den Tieren gehörte, den lieben Rehen und den schönen Vögeln, die der Alte mit so viel zärtlicher Gewissenhaftigkeit pflegte und fütterte. »In der Gesellschaft meiner Kinder«, pflegte er zu sagen, »erhole ich mich von den Erwachsenen; bei meinen Tieren erhole ich mich von den Kindern.«

Doch war er auch den Kindern und selbst den Erwachsenen auf seine milde und zerstreute Art recht zugetan. Seine Pädagogik ging von der Voraussetzung aus, daß der Mensch fundamental gut oder doch dem Guten zugängig sei. Der Beruf des Erziehers, wie Paulus ihn auffaßte und auszuüben suchte, besteht darin, in jeder Individualität das ihr immanente Gute, das ihr eigentümliche Gesetz zu stärken und zu entwickeln (»Werde, der du bist!«), gleichzeitig aber dem einzelnen seine Abhängigkeit vom Kollektiv, seine Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft einzuprägen.

Dieser Menschenbildner – ja, Paul Geheeb war einer, wenn ich je einen kannte! – glaubte nicht an das »Führerprinzip«; vielmehr hielt er dafür, daß die demokratische Methode am besten geeignet sei, die notwendige Balance zwischen Freiheit und Disziplin herzustellen und festzuhalten. Die Odenwaldschule war eine Republik, in der die Macht vom Volke, das heißt von den jungen Menschen ausging, während der Leiter sich mit der Rolle des väterlichen Beraters, Vermittlers und Repräsentanten beschied. Die Schüler, »Kameraden« genannt, bildeten ein Parlament, das über alle wichtigen Fragen des Gemeinschaftslebens zu entscheiden hatte. Diese Schülerversammlung oder »Schulgemeinde«, die in regelmäßigen Zeitabständen tagte, bestimmte die Gesetze und die Hierarchie der Anstalt; sie konnte asoziale Elemente strafen oder sogar ausstoßen; die hatte das Recht, Maßregeln, die vom Oberhaupt selbst verfügt waren, zu modifizieren oder aufzuheben.

Daß es eine solche Schule in Deutschland einmal geben konnte! Nationalismus und Rassenwahn hatten nie aufgehört, das öffentliche Leben des Reiches zu vergiften; hier aber, in dieser Oase der Gesittung, herrschte die Toleranz. Es war eine kosmopolitisch bunte Gesellschaft, die Paul Geheeb, der Freund Rabindranath Tagores und Romain Rollands, um sich versammelte. Mit gleicher Gastlichkeit empfing er die Söhne und Töchter von Industriellen und mittellosen Bohemiens. Unter meinen Kameraden gab es die Kinder des französischen Kommunistenführers Marcel Cachin und russische Emigranten, die sich ihrer Verwandtschaft mit dem Hause Romanow rühmten, den Sohn eines berühmten Berliner Schauspielers, eine kleine Griechin von ungewöhnlicher Anmut, mehrere Inder, eine strahlend schöne Italienerin – ich sehe sie noch vor mir; ihr Name war Lätizia –, die Sprößlinge holländischer Kaffeemagnaten, österreichischer Dichter, chinesischer Gelehrter und amerikanischer Bankiers.

Ich freundete mich mit drei Berliner Mädchen an, eine immer gescheiter als die andere: Ilse spielte Bach und interessierte sich für Philosophie; Oda zeichnete groteske Albträume und gefiel sich in barocken Verkleidungen (wir führten Tänze miteinander auf: ich erinnere mich an einen, in dem sie den Teufel darstellte, während ich die Rolle der Nonne übernahm, die vom Bösen gelockt und geängstigt wird); Eva war das Universalgenie. Sie wollte Ärztin werden, beschäftigte sich aber gleichzeitig mit Musik, Dichtung, Malerei, Soziologie, Religionsgeschichte. Eva war intellektuell bis zum Exzeß – in ständiger zerebraler Hochspannung, immer vibrierend von geistiger Intensität.

Wir waren alle ungeheuer intensiv. Ich las den Mädchen meine Verse vor, woran sich die intensivsten Diskussionen knüpften. Die Kammermusik-Konzerte, die es an Sonntagabenden im Goethehaus gab, die wechselnden Schönheiten der Natur, Bücher, Bilder und Spiele, alles stimulierte uns zum hitzigen Gespräch, zur leidenschaftlich suchenden, bohrenden schweifenden, hochfliegend wirren Debatte. Wir schmeichelten, provozierten, kritisierten einander. Man bemühte sich, einander zu ergründen; einer den anderen, vor allem aber jeder sich selbst. Es galt, sich und dem Partner das eigene Genie zu beweisen. Eva hielt sich für ein Genie. Oda hielt sich für genialisch. Ilse bewunderte Eva und Oda, dachte aber auch von sich selbst nicht gering. (Sie spielte Bach, studierte die Philosophen.) Ich bewunderte Eva, Oda und Ilse, legte aber Wert darauf, auch meinerseits von ihnen anerkannt zu werden.

Ich war sechzehn Jahre alt. Ich schrieb Gedichte in freien Rhythmen: »Mein Sturmlied«, »Mein Liebeslied«, »Das Lied von der Dummheit«, »Das Lied von der Schönheit«, »Das Lied von mir selbst«. Die Kurse interessierten mich nicht. (Es gab keine festen Klassen in der Odenwaldschule, sondern ein Kurssystem, das dem einzelnen Schüler gestattete, sich für jedes Fach einer Gruppe anzuschließen, deren Kenntnisse auf diesem bestimmten Gebiet seinen eigenen entsprachen.) Paulus, der Verständnis für mein Verlangen nach Einsamkeit und privater Lektüre hatte, dispensierte mich von vielen Unterrichtsstunden. Ein großer Teil des Tages gehörte mir selbst – meinen eigenen Träumen und Meditationen. Ich nutzte die Zeit, die mir so großmütig gewährt ward. Ich las.

 

Ich las gierig, enthusiastisch, unersättlich. Indessen war es doch nicht mehr ein wahlloses Verschlingen von Massen gedruckter Worte wie in den frühen Jahren meiner Lesewut. Mein Geschmack entwickelte sich in einer bestimmten Richtung; ich fing an, mir der eigenen Neigungen und Bedürfnisse bewußt zu werden. Ich fand meine Meister, meine Götter; ich entdeckte meinen Olymp.

Ich schaue sie mir an, die Heiligen, die Dämonen meiner sechszehn Jahre, und ich finde keinen unter ihnen, dessen ich mich heute schämen müßte. Freilich, manche dieser frühgeliebten Figuren haben heute in meinem Herzen nicht mehr den zentralen Platz, den ich ihnen damals im Überschwang erster Ergriffenheit, erster Dankbarkeit so willig einräumte. Der Glanz, der mich einst blendete und berauschte, mag in einigen Fällen schwächer geworden sein; auch sind andere Sterne hinzugekommen, die jenen ersten Konstellationen den Rang streitig machen. Aber sie leuchten doch noch, die Sonnen meiner Jugend; ihr Feuer, selbst wo es an Stärke verloren hat, ist rein geblieben. Nein, ich habe mich nicht täuschen lassen von Irrlichtern und künstlichen Flammen; ich habe keine falschen Götter angebetet.

In unverminderter Glorie strahlt das Vierergestirn, das um diese Zeit meinen Himmel beherrschte und dem ich mich noch heute gerne anvertraue: Sokrates, Nietzsche, Novalis und Walt Whitman.

Ich liebte den Sokrates des »Gastmahl« und des »Phaidon«, weil er die Schönen liebte – ach, mit welcher Verschlagenheit! welch zärtlicher Ambivalenz und schillernder Ironie! – und weil er alles vom Eros wußte und nichts von seinem furchtbaren Wissen verriet. Es waren nur einige Andeutungen und suggestive Winke, die er uns zukommen ließ. Er sagte uns, daß Eros häßlich sei, nicht schön. Und er sagte uns auch, daß Eros, die unschöne, schönheitsdurstige Gottheit beim Liebenden sei, nicht beim Geliebten. Wie gern ich dies hörte! Welch bittersüße Genugtuung mir solche Weisheit bereitete! Ich wußte, daß Sokrates die Wahrheit sprach. Ja, Eros ist häßlich, nicht schön. Ja, die Gottheit ist beim Liebenden, nicht beim Geliebten. Hatte Sokrates auch recht, wenn er das Leben eine Krankheit nannte? Da man ihm den Schierlingsbecher reichte, bemerkte er lächelnden Mundes, nun sei es Zeit für ihn, dem Gott der Heilkunst einen Hahn zu weihen: »Denn, meine Freunde, ich bin lange krank gewesen.« Ist auch dies die Wahrheit? Ich habe nie aufgehört, mir diese Frage zu stellen. Und je länger ich mich bemühe, seinem letzten Orakel auf den Grund zu kommen, desto mehr verfalle ich dem Zauber dieses unwiderstehlichen Dämons und abgefeimten Heiligen, dieses großen Liebenden und Sophisten, desto inniger liebe ich den Sokrates.

Ich liebte Nietzsche, nicht um seiner Lehre willen (weder der »Übermensch« noch die »Ewige Wiederkehr« haben mich je überzeugt), sondern als Künstler, als Gestalt. Zuerst kaptivierte mich der »Zarathustra«, dessen etwas forcierte Gebärde mir seither fremd, fast peinlich geworden ist; dann waren es der »Antichrist«, der »Fall Wagner«, der »Ecce Homo«, von denen ich mich verführen, erregen, faszinieren ließ. Die Ansichten und Gesinnungen, die in diesen Büchern mit schriller Insistenz vertreten werden, ließen mich ziemlich kalt. Aber der Stil! Welch ungeheure denkerische Leidenschaft mußte es sein, die sich in so hinreißenden, tödlich beschwingten Rhythmen und Akzenten manifestierte! Ich spürte die Schauer einer fast übermenschlichen Einsamkeit, den Hauch der verzehrenden Flamme hinter der fulminanten Eleganz der späten Nietzsche-Prosa. Das Schauspiel seiner intellektuellen Passion, seiner Hybris, seines Unterganges bestimmte meinen Begriff vom Wesen des Genies. Ihm verdankte meine Jugend die ersten Ahnungen vom Wesen des Tragischen und vom Wesen des Dämonischen. Die Antithese zwischen dem Helden und dem Heiligen hob sich mir auf in seiner Figur, seinem Drama. Er war der heilige Held, Rebell und Märtyrer zugleich. Prometheus und Christus, Dionysos und der Gekreuzigte. Er war der erfüllte Mensch. Jugend will anbeten, will beten. Das Nietzsche-Bild war immer über meinem Bett, ein Porträt aus der Leidenszeit, mit der tragisch verfinsterten Stirn, dem Dulderblick, schon entrückt, ins Nichts, ins Unendliche starrend. Dies nach vorne sinkende Haupt, was hat es zu tun mit der blonden Bestie, dem Übermenschen? Es ist der Menschensohn, der solche Qual und solche Wunden trägt: Ecce Homo, voilà l'Homme!

Ich liebte Novalis, weil er mir tiefer als alle anderen bewandert schien in den Mysterien der Nacht, der Wollust, des Todes. Der Zauber der deutschen Romantiker hat früh auf mich gewirkt und niemals aufgehört, mich in seinem Bann zu halten. Tiecks Geschichten von den Elfen und vom Blonden Eckbert, die wundersamen Weisen und Märchen der Eichendorff, Arnim, Brentano, die schaurigholden Halluzinationen des E. T. A. Hoffmann; Chamissos Peter Schlemihl und de la Motte-Fouqués Undine als ewig rührende und ewig gültige Symbole der Heimatlosigkeit, des Heimwehs, der Entwurzelung – diese ganze Sphäre, in der höchste Geistigkeit und reinste Poesie, Ahnung und Raffinement, Magie und Witz sich zur schillernd komplexen Einheit finden, hat für mich immer eine Faszination gehabt, wie vielleicht keine zweite in sich geschlossene Gruppe oder »Schule« der Weltliteratur. Unter so vielen verführerisch-bedeutsamen Geistern war mir Friedrich von Hardenberg der verführerischste, der bedeutungsvollste. Ich mußte zwanzig, mußte dreißig werden, um die strengere Größe Hölderlins zu würdigen; aber der Sechzehn- und Siebzehnjährige war nur zu empfänglich für den hypnotisierend süßen Flötenruf, die abgründige Lockung der »Hymnen an die Nacht«. Die Mischung aus Erotik und Metaphysik, aus schwärmerischer Frömmigkeit und febriler Sexualität– diese zugleich franziskanisch reine und morbid sinnliche Ekstase des Phthisikers kam meiner eigenen Stimmung in jenen empfindsam aufgewühlten Jahren aufs wunderbarste entgegen. Wie tief war dieser hellsüchtige Kranke eingeweiht in die Geheimnisse der göttlichen Natur, wo alles Eros und Metamorphose ist! Ich lauschte ihm offenen Mundes, ehrfürchtig erweiterten Blickes, wenn er mir von dem Erlösungsprozeß sprach, der sich vielleicht fortwährend in der Natur vollzieht; denn wenn Gott sich dazu herbeiließ, Mensch zu werden, warum sollte er sich nicht auch in Stein, Pflanze, Tier und Element verwandeln? Die Konzeptionen der Auflösung und der Erlösung fließen ineinander, Tod und Lust werden eins. Alles Geschaffene will Lust, alle Lust will den Tod. Leben ist nur der Anfang des Todes, existiert nur um des Todes willen; Tod ist Anfang und Ende zugleich. O welche süße, große Hochzeit wird es sein, wenn drüben, im Reich der Nacht, die Dinge und Begriffe sich in libidinöser Universalfusion begatten und durchdringen! Die Materie verschmilzt mit der Idee; der Mensch – endlich befreit vom Fluch der Individuation – wird Teil der Natur; die erlöste, aufgelöste Natur sinkt ihrem Schöpfer ans entzückte Herz … Ida konnte nicht genug bekommen von solch tröstlich-erregenden Prophezeiungen. Ich liebten den tuberkulösen Visionär, dessen zarte Stimme mir so gewaltige Kunde brachte.

Ich liebte Walt Whitman, den Amerikaner, »of mighty Manhattan the son«, weil er den Leib, den elektrischen, sang und weil er mein Kamerad sein wollte. Sein Zuspruch war kräftiger als die geisterhaften Winke des romantischen Sehers, weniger paradox und pathologisch als die krasse Selbstglorifizierung, Selbstgeißelung Zarathustras, weniger vertrackt und doppeldeutig als die ironische Dialektik des Sokrates. Der transatlantische Barde redete zu mir mit einem Überschwang, der niemals ins Hysterisch-Manische ausartet. Realistisch bei aller Hingerissenheit, zählte er in dithyrambischen Katalogen die Herrlichkeiten dieser Schöpfung auf. Ja, dieser athletische Pionier eines jungen Erdteils, einer neuen Zivilisation verdiente meine Liebe, da er seinerseits mit so gewaltiger Generosität zu lieben wußte. Er liebte en masse, liebte den Menschen als solchen, ohne Unterschied des Geschlechts, des Alters, der Nationalität und Rasse (»The armies of those I love engirth me, and I engirth them«); er liebte als Demokrat, liebte die Demokratie um des Menschen willen, dessen psycho-physische Beschaffenheit ihm so über die Maßen rührend, so bewunderungs- und liebenswürdig schien. Der Knabe in der Einsamkeit seiner kahlen Stube ward es nicht müde, sich von dieser weltumarmenden Begeisterung begeistern zu lassen. Aber vielleicht hätten die Ausbrüche einer ungeheuren emotionellen Energie und dynamischen Gastlichkeit mich nicht so tief und innig berührt, wenn mir nicht auch in ihrem robusten Enthusiasmus der Hauch transzendentaler Sehnsucht spürbar gewesen wäre. Freilich, der Dichter der Neuen Welt, sehr im Gegensatz zum deutschen Romantiker, wollte und propagierte den Fortschritt (das Wort »Progreß« erscheint bei ihm fast nur mit großem Anfangsbuchstaben), die moderne Technik und Wissenschaft, den internationalen Verkehr, die Befreiung der Völker von den Fesseln des Obskurantismus und der Sklaverei. Und doch fehlt es diesem mannhaften Optimismus nicht an mystisch-dunklen Zwischentönen. Der »Eternal Progreß«, den Whitman fordert und feiert, was ist denn sein letztes Ziel? Diese kosmische Fortschrittsvision, wo endet sie? Wohin führt sie? Die sich kameradschaftlich umschlingenden Republiken, die erotisch verbrüderten Massen, denen in den »Leaves of Grass« gehuldigt wird, sind sie nicht bereit und reif für eben jene sinnlich-übersinnliche Hochzeit, für die wollüstige Apokalypse, von der Novalis singt? Wenn dem todessüchtigen Romantiker das Reich der Schatten zur Stätte unschuldig-lustvollen, entsühnten und gesteigerten Lebens wird, so ahnt Whitman, der Weltfreund, die Nähe des Todes, die Gegenwart des Jenseits mitten im Hiesigen. Der Barde des Fortschritts und der Demokratie war vertraut mit dem eisig-zärtlichen Hauch, der geflüsterten Mahnung aus dunkler Sphäre »the whisper of heavenly death«, und es war vielleicht diese Vertrautheit, dieser Einschlag von romantischer Dämmerung in seinem lichten Gesang, der ihn mir erst ganz verständlich, durchaus liebenswert machte.

Ich liebte Walt Whitman, den stolzen Sohn Manhattans, um des frommen Schauers willen, mit dem er diese zwei kurzen Worte niederschrieb – die Toten: »Denn lebendig sind sie, die Toten; (vielleicht die einzig Lebendigen, einzig Wirklichen und ich die Erscheinung, ich das Gespenst …)«

Um diese vier herrschenden Gestalten meines Pantheons gruppierten sich die Helden und Heiligen geringeren Formats. Nicht weit von Novalis steht Angelus Silesius, der Cherubinische Wandersmann. Sein Antlitz hat den ritterlichen Ernst, die zugleich asketisch-strenge und kindlich-sanfte Schönheit, die wir an den Figuren des Meister Riemenschneider bewundern. Ich erinnere mich nicht, je ein Porträt des Silesius gesehen zu haben; aber ich glaubte, seine Züge in einem Johanneskopf von Riemenschneider wiederzuerkennen. Eine Photographie dieser außerordentlichen Skulptur – das nach hinten gesunkene Haupt des Lieblingsjüngers, in tränenvoller Ekstase zum Kreuz aufblickend – stand auf meinem Arbeitstisch neben einer Reproduktion des griechischen Dornausziehers.

Die Schriften der deutschen Mystiker wurden damals vom Insel-Verlag in einer schönen Bücherreihe, »Der Dom«, herausgebracht. In meiner kleinen Bibliothek nahmen die schlanken blauen Bände mit dem weißen Rücken einen Ehrenplatz ein. Noch näher als Meister Eckhart und Mechthild von Magdeburg war mir der »Wandersmann«, dessen Sprüche (ich wußte ihrer viele auswendig, habe mir auch manche bis auf den heutigen Tag gemerkt) ich beim Spazierengehen oder abends vor dem Einschlafen vor mich hinzusprechen liebte. Gläubigkeit, jenseits des Dogmas, Religiosität als spontanes, tief persönliches Erlebnis, unabhängig, ja gegen die klerikale Orthodoxie – es waren die schlichten Reime des Angelus Silesius, die mir diese seelischen Möglichkeiten zuerst offenbarten und einprägten.

Rainer Maria Rilke gehört zur gleichen Gruppe der wandernden Gottsucher und vereinsamten Beter. Diejenigen seiner Werke, die mir heute die kostbarsten sind – »Die Sonette an Orpheus« und die »Duineser Elegien« – waren mir damals noch nicht bekannt; aber mit welch andächtiger Zärtlichkeit liebte ich das »Stundenbuch«, den »Malte Laurids Brigge«! Noch seine Manieriertheiten waren mir ergreifend und bedeutungsvoll, noch seine künstlichsten Schnörkel und Arabesken verehrte ich als Ausdruck mönchischen Eifers. In hold gezierten Tönen sang er von der Armut und vom Tode; sein reiner Fleiß huldigte dem Herrn in preziösen Reimen und ausgefallenen Metaphern. Eine Seite meines eigenen Wesens antwortete auf diesen sublimen Ästhetizismus, teilte diese verspielte Prädilektion für seltene Worte und schöne Dinge: Fontänen, Orchideen, Gemmen, Spiegel, Edelsteine, Engel. Vor allem diese. Noch ehe ich mir den Swedenborg entdeckte und mich mit Jean Cocteaus anrüchigen Cherubim anfreundete, lernte ich bei Rilke die Grundlagen der Engelskunde. »Jeder Engel ist schrecklich«, wie ich später aus den »Duineser Elegien« erfahren sollte; aber damals ergötzte ich mich noch voll kindlichen Zutrauens an den »tödlichen Vögeln der Seele«, deren sanfter Flügelschlag mir aus dem »Buch der Bilder« und dem »Stundenbuch« so lieblich entgegenkam.

Was mich an Rilke vor allem anzog, war die schillernde Zusammengesetztheit seiner geistigen Physiognomie, die Vielschichtigkeit seines Idioms, seiner Erbschaft. Dieser deutsche Dichter österreichisch-böhmischer Abkunft schien halb in Paris zu Hause (er konnte auch französische Verse schreiben), halb in einem kuppelreich-byzantinischen Moskau. Zu den slawischen und lateinischen Komponenten kommt, besonders im »Malte Laurids Brigge«, ein skandinavischer Einschlag. Rilkes Prosadichtung, die mir noch heute sein bedeutendstes Werk neben den »Sonetten« und den »Elegien« scheint, gehörte zu den großen Schätzen, den Offenbarungen meiner Jugend. Die schwermutsvolle Melodie der »Aufzeichnungen« begleitete mich durch die Jahre geistigen und physischen Erwachens, die für jede sensitive Natur Jahre krisenhafter Problematik sind. Vielleicht gab es nur noch einen zweiten Prosaisten, der mir ebensoviel bedeutete, den ich mit derselben Hingabe liebte und bewunderte: Herman Bang.

Ich liebte alle seine Bücher, von den »Hoffnungslosen Geschlechtern« bis zu den »Vaterlandslosen«. Ich liebte seine Technik, die raffinierte Diskretion eines Impressionismus, dessen Wirkungen an Monet und Debussy gemahnen. Das eigentliche Drama spielte sich bei Bang stets zwischen den Zeilen ab, kaum ausgesprochen, nur angedeutet im nervösen Staccato der Dialoge. Die Menschen Bangs scheinen immer aneinander vorbei zu sprechen: keiner versteht die scheue Bitte, den Hilferuf, den Verzweiflungsschrei des anderen. Eine furchtbare Aura von Einsamkeit umgibt sie alle, die versteinten Alten im »Grauen Haus«, die Akrobaten und Abenteurer der »Exzentrischen Novellen«, die umgetriebenen, gehetzten, todmüden Virtuosen in den »Vaterlandslosen«, die liebenden, ach, wie hoffnungslos liebenden Mädchen und jungen Frauen in »Das Weiße Haus«, »Am Wege«, »Tine«, »Ludwigshöhe«. Die Isoliertheit der Kreatur, die Vergeblichkeit des Gefühls – Bang hat kein anderes Thema. Wenn einer von uns sich dem anderen nähern möchte, wenn wir die Hand zur Liebkosung heben, springt ein Abgrund auf, der unüberbrückbare, gnadenlose Abgrund, der den Meister von Michael trennt.

Im »Michael« gibt Bang die Quintessenz, die fundamentale Formel der Tragödie, die er in seinen anderen Büchern variiert. Dieser Roman nimmt, als direktes Bekenntnis und bewußter Höhepunkt, innerhalb des Bangschen Oeuvre eine ähnliche Stellung ein wie die »Symphonie Pathétique« im Opus des Peter Iljitsch Tschaikowsky. Damit soll nicht gesagt werden, daß »Michael« das bedeutendste, geglückteste von Bangs Büchern sei; ich bin heute geneigt, anderen seiner Werke – etwa dem »Grauen Haus« und den »Vaterlandslosen« – den Vorzug zu geben, ebenso wie ich übrigens Tschaikowskys Fünfte Symphonie seiner Sechsten künstlerisch überlegen finde. Aber den Sechzehnjährigen beeindruckte die etwas sentimentale Geschichte vom Meister Claude Zoret und seinem grausamen, angebeteten Knaben tiefer und nachhaltiger als irgendeines der vielen Meisterwerke, die er mit mehr oder weniger Verständnis und Genuß in sich aufgenommen hatte. Die Augen gingen mir über, sooft ich die letzten Seiten des Romanes las. Es geschah ziemlich häufig, daß ich mir vorm Einschlafen eine Viertelstunde »Michael« gönnte: die Todesszene des Meisters war gar zu traurig und herzzerreißend, dabei aber auch höchst genußreich; ein schmerzlicher Leckerbissen, eine bittere Wonne. Sich vorzustellen, wie der berühmte Alte – Claude Zoret, »Maler der Schmerzen« – in der Einsamkeit seines prunkvollen Hauses lag und auf Michael wartete! Auf den Tod und auf Michael … Der Tod kam, er findet sich wohl schließlich immer ein; nicht aber Michael. Der schöne, ruchlose Michael, den der Meister überhäuft hatte mit seiner Großmut und mit seiner Liebe, er lag in den Armen einer ebenso schönen, ebenso ruchlosen Frau. Während sie sich küßten, starb der alte Mann. Michael war nicht gekommen. Nur der Tod war gekommen, des Meisters einsamer Tod …

Meine Wehmut steigerte sich, wenn ich bedachte, wie der Autor dieser rührenden Geschichte, wie der Dichter Bang gestorben war: allein, wie der Meister; unbehaust, wie einer der Artisten und Virtuosen, die er so gerne beschrieb. Sein Leben endete in einem amerikanischen Pullmanwagen, irgendwo im wilden fernen Westen, in einem Land namens Utah, nicht weit von einer Stadt namens Ogden. Diese Todesfahrt des Vaterlandslosen durch fremde, ungeheure Steppen, diese einsame Agonie im Eisenbahncoupé, war es nicht eine Szene aus einem seiner Bücher? »O Herr, gib jedem seinen eigenen Tod«, hatte Rainer Maria Rilke gebetet.

Mein Olymp ist voll von Kranken und Sündern. Der wissensdurstige Knabe glaubte, von ihnen am meisten lernen zu können über die Geheimnisse der menschlichen Natur. Dieser, zum Beispiel, mit der gezeichneten, ausgezehrten Miene und dem spöttisch-wehen Lächeln, er sieht aus, als sei er nur zu gründlich bewandert in der Problematik, der Fragwürdigkeit und Qual des Erdendaseins. Sein Gesang ist zuweilen drollig, zuweilen erschütternd, niemals langweilig – der boshaft beschwingte, süße, kluge Gesang des Heinrich Heine.

Der Heine meines Pantheon ist keineswegs der parfümierte Jüngling, der mit dem »Buch der Lieder« eine schöngeistige Bourgeoisie in Entzücken versetzte; es ist der gemarterte Dichter des »Romanzero«, das Gespenst aus der Rue d'Amsterdam, das in sich verkrümmte, eingeschnurrte, vielfach gezwickte und gezwackte Männlein, das lebendigen, oder doch noch halb-lebendigen Leibes in der Matratzengruft verfault. Aber was für zwingende lyrische Akzente er findet, inmitten seiner Qual! Und mit welch sprühendem Witz und durchdringendem Scharfsinn er zu plaudern versteht! Der lernbegierige Sechzehnjährige tut gut daran, ihm recht aufmerksam zuzuhören, diesem gewandten und hellsichtigen Mittler zwischen germanischer und gallischer Kultur, zwischen Aufklärung und Romantik, christlich-jüdischer und heidnischer Philosophie. Er kennt sich aus, er kann dem Knaben mancherlei erzählen: über die großen Spannungen und Antithesen in unserer Zivilisation, über das Wesen des Deutschtums, das Wesen des Judentums, die Zukunft Europas, die Größe und die Gefahren des Sozialismus, über aktuelle Probleme, kommende Auseinandersetzungen und zeitlose Gefühle, über Schönheit, Liebe, Leiden, Tod und Schmerz.

Der Knabe lauscht ihm gern und mit Gewinn. Das Ohr dieses Halbwüchsigen gehört allen denen, die auf der Stirn das Zeichen der Leidenserfahrung tragen und in den Abgründen zu Hause sind.

»De Profundis«! Es war um dieses Dokumentes willen, daß ich dem späten Oscar Wilde einen so prominenten Platz in meiner Ruhmeshalle einräumte; der große Brief des Sträflings an Lord Alfred Douglas bedeutete mir mehr als »The Picture of Dorian Gray«, »The Importance of Being Earnest« und »Salomé« zusammengenommen. Der brillante Wilde der Dandy- und Erfolgsepoche ließ mich ebenso kalt wie der charmante junge Heine, der mit artig gespitztem Mäulchen »Du bist wie eine Blume« sang. Es war der ruinierte und verkommene Wilde, der seinen eigenen Untergang gewollt und provoziert hatte (aus Hybris? aus christlichem Leidenswillen?); Wilde, der Büßer, dem immer noch freche Witzworte von den einst verführerischen Lippen kommen. Es war ein tragischer Wilde, den ich mit tiefem Bückling in meine erlauchte Gesellschaft bat.

Dort gesellt sich der arme Oscar – oder tritt er unter dem Namen »Sebastian Melmoth« auf, aus Angst vor den Gläubigern? – zu anderen verdächtigen und verehrungswürdigen Figuren. Man bemerkt Edgar Allan Poe, den verglasten Alkoholiker-Blick in Fernen gerichtet, die sich ihm mit schaurig-lieblichen Gesichtern füllen. (Als Kind hatte ich Angst vor seiner »Schwarzen Katze«, seinem »Mörderischen Pendel«, seinem »Schwatzenden Herzen«; später war es seine artistische Besessenheit, die mir vor allem unheimlich erschien, die wahrhaft dämonische Disziplin und Akuratesse, mit der er sein Delirium zum Kunstwerk stilisierte.) Der dort neben ihm, mit den geistvoll gespannten, adelig-mephistophelischen Zügen, ist Charles Baudelaire, dem Frankreich und Europa die Bekanntschaft mit Poe und anderen guten Dingen verdanken. Der Autor der »Fleurs du Mal« darf nicht fehlen in dieser etwas gar zu romantischen Walpurgisnacht. Nicht, als ob der Halbwüchsige imstande gewesen wäre, die schwierige Größe des Dichter-Kritikers ganz zu würdigen! Aber es fehlte dem aufgeweckten Knaben doch nicht an Gefühl für den intellektuellen Reichtum, die emotionelle Intensität, die sich hinter diesem verzehrend anspruchsvollen, tödlich ernsten Schönheitskult verbarg.

Verlaine ist leichter zu verstehen. Die raffinierte Simplizität seines lyrischen Stils wirkt unmittelbar, unwiderstehlich auf eine empfänglich-empfindsame junge Seele. Wie bezauberte mich die sanfte Klage des »pauvre Gaspard« und das magisch schlichte Lied von der »lune blanche«, dem schillernden Stern, der »heure exquise«! Die frommen Weisen der »Sagesse« (die ich in einem schönen Lederband besaß) waren mir ebenso vertraut und köstlich wie die inspirierte Pornographie der »Hombres« (die ich mir in einer seltenen Privatausgabe zu verschaffen gewußt hatte).

Was mich an Verlaine am tiefsten rührte, war sein Gefühl für Rimbaud, Artur Rimbaud, den Rebellen, den ungebärdigen Wunderknaben: Rimbaud, le Voyou – Rimbaud, le Voyant, der in meinem Parnaß eine so selbstherrlich dominierende Rolle spielt. Wie Nietzsche, in dessen Nähe ich sein Standbild placiert finde, war er mir vor allem als Gestalt und Schicksal ergreifend und bewundernswert. Von seinem Werk, diesem großartig fragmentarischen, gefährlich explosiven Oeuvre, hatten sich mir damals nur ein paar Gedichte eingeprägt (meine mangelhafte Kenntnis des Französischen gestattete mir kaum, die »Illuminations« und die »Saison en Enfer« zu goutieren): die makabre Vision der »Läusesucherinnen«, die zwingende Beschwörung der Vokale (»A noir, E blanc, I rouge, U vert, O bleu, voyelles – Je dirai quelque jour vos naissances latentes …«), und – muß ich es betonen? – Die ungeheure poetische Tat des »Bateau Ivre«.

Drei Generationen sind es nun schon, die meine ebensosehr wie die vorhergehende und die folgende, die unter dem Bann des »Trunkenen Schiffes« stehen. Unser »Unbehagen in der Kultur« verlangte nach Verzauberung, wollte Aufbruch und Flucht, sehnte sich nach den glühenden Horizonten, den metallischen Regenbogen, den schwülen Nächten und fiebrigen Morgenröten, nach all den unerhörten Schönheiten und Schrecken, die Rimbaud uns mit betörend wilder Geste vorgaukelte, verhieß, enthüllte. Müde einer Zivilisation, deren Brüchigkeit und Angefaultheit wir zwar noch nicht ermessen konnten, aber doch schon mit banger Ahnung spürten, waren wir nur zu bereit, diesem dynamischen Mentor zu folgen. Wohin? In welche Weiten? In was für apokalyptische Reiche? Kein Traum-Eiland war uns zu entlegen, kein Blitz leuchtete uns zu grell. Wir wünschten, die verfluchte Fahrt bis zum Letzten, Äußersten mitzumachen; wir liebten die Gefahr, den Sturm, die Katastrophe – wenigstens im Gedicht …

Rimbauds Flucht war mir ein Symbol, ein mythisches Ereignis, ebenso suggestiv und bedeutungsvoll wie der Wahnsinn Nietzsches, der Selbstmord Heinrich von Kleists. Nicht als Autor der »Penthesilea« oder des »Michael Kohlhaas«, sondern um seines furchtbaren Todes willen, ausdrücklich und ausschließlich als Selbstmörder wurde der besessene Junker in meinen problematisch-distinguierten Geister-Club aufgenommen. Sogar die anstößige»Hermannsschlacht« ließ sich verzeihen, angesichts der finalen Geste, in welcher eine prometheisch ringende Natur sich zerstört und erfüllt. Der Kleist meines Pantheon steht regungslos, den Revolver gegen die eigene Schläfe gerichtet, die tragische Stirne leuchtend im Glanz jener »unaussprechlichen Heiterkeit«, von der im Abschiedsbrief die Rede ist. »Die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war«, spricht der Kleist meines Knaben-Olymp. »Und nun lebe wohl …«

Georg Büchner bedarf keiner außer-literarischen Legitimation: sein Werk ist Ausweis genug. Ich weiß nicht, welches seiner drei Stücke mir das liebste war, ich liebte alle drei: das tiefsinnig verspielte Märchen von »Leonce und Lena« (wir führten es auf, in der Bergschule: ich war Leonce, Erika gab der Lena ihre dunkel belebte Stimme, ihren noch ungelenk scheuen Charme); die bittere und kühne »Wozzeck«-Tragödie (die mir jetzt als sein bedeutendstes Werk erscheint); den farben- und figurenreichen dramatischen Teppich des »Danton«. Vielleicht war es dieser, dem ich damals den Vorzug gab: ich hatte ein Penchant für die schöne, buhlerische Marion, von der ich mich nur zu gerne darüber belehren ließ, daß es nicht darauf ankommt, woran wir unsere Freude haben, an Kinderspielen oder am Göttlichen oder an den Spielen der Lust: »Wer am meisten genießt, betet am meisten.«

Büchner war meine große Liebe unter den Dramatikern – zusammen mit einem Modernen, der zur Familie des »Wozzeck«-Dichters gehört: Frank Wedekind. Was mich an ihm faszinierte, war die steile Gebärde, der schneidende, unerbittliche, dabei immer leicht diabolisch-sarkastisch gefärbte Ernst, mit dem er seine gewagten, mir aber durchaus einleuchtenden moralischen Thesen künstlerisch demonstrierte und kämpferisch vertrat. So nimmt er seinen Platz ein zwischen meinen Heroen, noch im Dunstkreis Nietzsches, nicht weit von Heine und Büchner, aber doch feierlich isoliert: eine plumpe, gedrungene Gestalt von aggressiver Würde, halb Hanswurst, halb Prediger, der messerscharfen Mundes die »Wiedervereinigung von Moral und Schönheit« fordert. Er doziert, grimassiert, gestikuliert, vollführt barocke Sprünge; er wechselt das Kostüm, aber nie den sarkastisch-weihevollen Akzent, die stilisierte Gebärde: sein Pathos ist immer das gleiche und für mich immer gleich überzeugend, ob er sich nun als Dr. Schön, Liebhaber der Lulu, präsentiert oder als Marquis von Keith, als König oder als Mädchenhändler. Am liebsten sehe ich ihn in der Rolle des Vermummten Herrn, der in der Schlußszene von »Frühlings Erwachen« seine sardonische Weisheit hören läßt. Der Vermummte Herr nimmt den Knaben Melchior bei der Hand und führt ihn ins Leben hinein, dessen Gefahr und Lockung er in grimmig pointierter Rede preist. Er ist vieldeutig, witzig und geheimnisvoll, der Vermummte Herr; er ist etwas schaurig und sehr attraktiv; er ist liebenswert wie das Leben.

In einem Pantheon, das dem diabolischen Moralisten Frank Wedekind einen so prominenten Platz einräumt, darf August Strindberg nicht fehlen. Seine Tragik entartet zuweilen in monomane Rechthaberei, aus der Klage wird ein schrilles Keifen. Aber in manchem seiner Werke verdichtet sich die subjektive Qual zur objektiven Vision, nimmt Gestalt an, überzeugt, bezwingt. Besonders das »Traumspiel«, meiner Jugend ebenso bedeutsam wie »Danton« und »Frühlings Erwachen«, hat diese nicht zu begründende und doch evidente Gültigkeit, die über-reale Realität und irrationale Logik, die zum Wesen des Poetischen gehört. Nicht ohne ahnungsvolles Schaudern wiederholte sich der Sechzehnjährige den furchtbar einfachen, furchtbar wahren Refrain: Es ist schade um die Menschen …

Von Strindberg und Wedekind führt eine direkte Linie zum Expressionismus, der die literarische Mode war. Indessen wußte ich mit den Anarchisten und Ekstatikern der deutschen Nachkriegsepoche nicht viel anzufangen; die meisten von ihnen scheinen mir lärmende Mitläufer einer apokalyptischen Konjunktur. Hinter der zuckenden Geste, dem exzessiven Vokabular fehlte das Gefühl, das solchen Aufwand gerechtfertigt hätte. Bei einigen freilich war das Pathos echt; am echtesten, am reinsten schien es mir bei Georg Trakl.

Wenn der damals noch fast unbekannte Kafka, nach einem schönen Wort Hermann Hesses, der »heimliche König deutscher Prosa« ist, so gehört Trakl zu den verborgenen Fürsten deutscher Poesie. Sein Werk (der österreichische Dichter, der seinem Leben während des Krieges ein Ende machte, hinterließ nur einen schmalen Band) stand auf meinem Sims neben dem »Stundenbuch«, den »Fleurs du Mal«, den »Hymnen an die Nacht«.

Er hob die Leier auf, wo Hölderlin sie hatte sinken lassen. Es sind immer die gleichen Farben, dieselben Töne und Gesichte, die er mit sanfter Insistenz beschwört: das stumme Antlitz der Schwester, die schwangere Magd, der Mönch – er taucht »hyazinthene Finger« in eine Wunde wie in eine Quelle –, zielloser Vogelflug über öder Flur, das milde Gold der Astern und Sonnenblumen, der Purpur des Mohns, das fahle Blau des abendlichen Himmels. Da die Fahnen im Winde klirren und das herbstliche Land mit gelber Frucht in den See hängt, tritt der Knabe Elis aus blauer Höhle, die »mondenen« Augen geweitet in tödlicher Verzückung …

Trakl ist die dunkelste Stimme in meinem Chor. Ist es noch Gesang, was er vernehmen läßt? Oft klingt es wie ein Lallen. Stammelnden Mundes kündet er die Schauer der Auflösung, des Verfalls. Die Form zerfließt bei ihm in purpurner Dämmerung. Er führte mich in die Mysterien des Zwielichts ein. Wo ist der Geist, der mich in den Geheimnissen der Klarheit unterwies?

Les mystères de la clarté: die Formel ist von Paul Valéry, den ich damals nicht kannte. Aber ich kannte Stefan George. Ihm fühlte ich mich so nah, so tief verbunden und so tief verpflichtet wie nur irgendeinem meiner Heiligen.

Hätte ich ihm einen Platz unter den zentralen Gestalten meines Olymp einräumen sollen? Ist er desselben Ranges wie jene vier Erlauchten, die ich eingangs nannte, Sokrates, Nietzsche, Whitman und Novalis? Ohne Frage, im »Jahr der Seele«, im »Siebenten Ring«, überall in seinem Werk, gibt es Dinge, die zum kostbarsten Bestand deutscher Dichtung gehören. Indessen würde man den Poeten williger, uneingeschränkter bewundern können, wenn er sich nicht die Haltung des Tyrannen anmaßte. Ja, Stefan George ist groß; aber hat er das exorbitante Format, das sein »Kreis« ihm mit servilem Eifer zugestand? Wenn mein Verhältnis zu ihm im Lauf der Jahre kühler, skeptischer geworden ist, so liegt es wohl vor allem an meiner Aversion gegen den Kult, den er von nationalistischen Professoren und reaktionären Snobs bedauerlicherweise mit sich treiben ließ.

Aber was immer mich heute von ihm trennen mag, damals kannte meine Verehrung keine Grenzen. Ich sah in ihm den Führer und Propheten, die cäsarisch-priesterliche Figur, als die er sich präsentierte. Inmitten einer morschen und rohen Zivilisation verkündete, verkörperte er eine menschlich-künstlerische Würde in der Zucht und Leidenschaft, Anmut und Majestät sich vereinen. Jede seiner Gebärden und Affekte hatte den Charakter des Beispielhaften, Programmatischen. Er stilisierte die eigene Biographie zum Mythos; sein Liebeserlebnis, die Neigung zum Knaben Maximin, bildete das Kernstück einer Philosophie, die für den Kreis der Jünger Offenbarung war.

Die Begegnung zwischen Dichter und Jüngling unter dem Bogen des Münchener Siegestores, ihre Vereinigung, ihr kurzes Glück, der Tod des Herrlichen, der Klagegesang am Grabe, dies Drama, das »Der Siebente Ring« glorifiziert, wurde mir zum integralen Bestandteil des eigenen Fühlens und Denkens. Die »Wiedervereinigung von Moral und Schönheit«, die Frank Wedekind – und nicht er allein! – mit so eifervollem Nachdruck empfahl: im Maximin-Mysterium schien sie Ereignis geworden. Die Versöhnung zwischen hellenischem und christlichem Ethos, hier fand ich sie erreicht. Stefan Georges ordnender Geist hatte, so wollte ich glauben, den fundamentalen Konflikt gelöst, den Heinrich Heine mit Intuition und Scharfsinn analysiert und der als tragisches Leitmotiv das Werk Friedrich Nietzsches beherrscht.

Meine Jugend verehrte in Stefan George den Templer, dessen Sendung und Tat er im Gedicht beschreibt. Da die schwarze Woge des Nihilismus unsere Kultur zu verschlingen droht, da die große Nährerin in einer Weltnacht starr und müde pocht, tritt er auf den Plan – der militante Seher und inspirierte Ritter. Er packt die Flechte der Störrischen, Erlahmten; von seinen Lippen kommt das magische Wort, welches bewirkt, »daß sie ihr Werk willfährig weitertreibt: Den Leib vergottet und den Gott verleibt.«

Dies waren meine Erzieher! Eine bunt gemischte Gesellschaft, wie man sieht, in der übrigens zwei weitere Figuren auf inkommensurable Art von jeher wirksam waren: mein Vater und Heinrich Mann, zwei Künstler also, mit denen ich durch Affinitäten sehr besonderer und tiefer Natur verbunden bin.

Bei aller Buntheit scheint mein Olymp von etwas einseitiger Zusammensetzung. Das erotisch-religiöse Element überwiegt, während das soziale fast völlig vernachlässigt bleibt. Der Realismus findet sich kaum vertreten in meinem Knaben-Olymp; auch Klassiker im strengen Sinn des Wortes sind dort nicht zugelassen. Das Pantheon des Sechzehnjährigen bevorzugt eine Romantik, in der Ironie und Schwermut, Wollust und Frömmigkeit metaphysische Ahnung und sexuell-emotionelle Ekstase einander begegnen und durchdringen.

Freilich blieb die Auswahl meiner Heiligen bis zum gewissen Grade dem Zufall überlassen. Meine Neugier war nicht exklusiv. Ich bedurfte der Führung; ich wollte lernen, verehren; vor allem aber suchte ich nach Deutung und Bestätigung des eigenen wirren, ringenden Gefühls. Mein unreifer, ungefestigter Geist öffnete, ergab sich jedem Einfluß, in dem ich auch nur die entfernteste Affinität zu meiner eigenen Art, meinem eigenen Erlebnis zu spüren glaubte.

Unter meinen Papieren aus dieser Zeit finden sich diese Zeilen, die ich, wie mir noch erinnerlich, eines Nachts, aus dem Schlafe fahrend, mit flüchtiger Hand auf einen Zettel schrieb:

Eine fremde Stimme, süß und gebieterisch, weckt mich aus
tiefem Schlaf.
Woher kommt mir der Ruf?
Willkommen, mein Führer!
Hier bin ich – zu folgen bereit: mich kümmert's nicht,
wem …
Wer du auch seist: mit deiner Hilfe find ich am Ende –
mich selbst!


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