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Prolog

Wo beginnt die Geschichte? Wo sind die Quellen unseres individuellen Lebens? Welche versunkenen Abenteuer und Leidenschaften haben unser Wesen geformt? Woher kommt die Vielfalt widerspruchsvoller Züge und Tendenzen, aus denen unser Charakter sich zusammensetzt?

Ohne Frage, wir sind tiefer verwurzelt, als unser Bewußtsein es wahrhaben will. Niemand, nichts ist zusammenhangslos. Ein umfassender Rhythmus bestimmt unsere Gedanken und Handlungen; unsere Schicksalskurve ist Teil eines gewaltigen Mosaiks, das durch Jahrhunderte hindurch dieselben uralten Figuren prägt und variiert. Jede unserer Gesten wiederholt einen urväterlichen Ritus und antizipiert zugleich die Gebärden künftiger Geschlechter; noch die einsamste Erfahrung unseres Herzens ist die Vorwegnahme oder das Echo vergangener oder kommender Passionen.

Es ist ein langes Suchen und Wandern: wir mögen es zurückverfolgen bis ins fahle Zwielicht der Höhle, des barbarischen Tempels. Das blutige Zeremoniell der Darbringung geht weiter in unseren Träumen; in unserem Unterbewußtsein widerhallen die Schreie vom primitiven Altar, und die Flamme, die das Opfer verzehrt, sendet noch immer ihre flackernden Lichter. Die atavistischen Tabus und inzestuösen Impulse früher Generationen bleiben in uns lebendig; die tiefste Schicht unseres Wesens büßt für die Schuld der Ahnen; unsere Herzen tragen die Last vergessenen Kummers und vergangener Qual.

Woher stammt diese Unruhe in meinem Blut? Unter meinen nordischen Vorfahren mag es Piraten gegeben haben, deren Rastlosigkeit in mir weiterlebt. Welche meiner Schwächen und Laster verdanke ich einem hanseatischen Urgroßvater – Kapitän, Handelsmann der Richter –, dessen Namen ich nie kennen werde? Was ich für mein persönlichstes Drama hielt, ist vielleicht nur die Fortsetzung von Tragödien, die sich einst in der stickigen Gemütlichkeit eines norddeutschen Patrizierhauses abgespielt haben – weit weg, irgendwo am Gestade der Ostsee.

Eine würdig-idyllische Kleinstadt mit engen Gassen und grauen, giebeligen Häusern: beginnt hier die Geschichte? Ich habe nichts mit dieser Stadt zu tun, noch verlangt es mich, sie jemals zu besuchen. Und doch würde ich nicht existieren ohne einen gewissen Senator Heinrich Mann, hochrespektablen Bürger der Freien Hansastadt Lübeck, aber eben doch nicht mehr völlig hochrespektabel, schon ein wenig exzentrisch. Ein Lübecker Patrizier, der wirklich zur Gänze comme il faut ist, sucht sich seine Lebensgefährtin unter den Töchtern der Stadt und wählt nicht eine junge Dame aus dem fernen Brasilien, wie der Senator es tat. Sie war das Kind eines deutschen Kaufmanns und einer Eingeborenen. Daß sie als kleines Mädchen den Ozean auf einem Segelschiff überqueren mußte, um nach Lübeck zu gelangen, schien mir das aufregendste Detail ihrer Geschichte. Denn dort, in der nördlichen Fremde, genoß sie eine durchaus »feine«, bedauerlich unromantische Erziehung und bewegte sich bald ganz natürlich unter den blonden Gespielinnen. Doch blieb es reizend, sich den Großpapa vorzustellen – den ich übrigens in Wirklichkeit nie gesehen hatte –, wie er mit seiner exotischen Braut zur Kirche fuhr. Der Senator, sehr stattlich und distinguiert, mit Backenbart, hohem Stehkragen, lehnt, ein wenig befangen, im Fond der prächtigen Kutsche, den er mit ihr teilt. Sie, das dunkle Köpfchen an ihn geschmiegt, darf hinter geschlossenen Lidern noch einmal die Palmen und bunten Vögel ihrer brasilianischen Heimat sehen, während der Wagen, vorbei an viel altem Gemäuer und majestätisch ragenden Türmen, den Weg zum Altar nimmt.

Frau Julia schenkte dem Senator fünf Kinder, zwei Töchter und drei Knaben. Die beiden älteren Söhne hießen Heinrich und Thomas.

Das Mannsche Haus gehörte zu den feinsten der Stadt. Man speiste vorzüglich dort, auch die Weine ließen nichts zu wünschen übrig. Die Familie erfreute sich allgemeiner Beliebtheit, obwohl sie letzthin so viel Pech gehabt hatte, daß es beinah anstößig wirkte. Die Schwester des Senators, Elisabeth, ließ sich von ihrem süddeutschen Gatten scheiden und kam auch mit ihrem zweiten Gemahl nicht aus; noch problematischer stand es um einen Bruder, meinen Großonkel Friedel, einen neurotischen Tunichtgut, der sich in der Welt herumtrieb und über eingebildete Krankheiten klagte. Was aber die schöne Frau Senator betraf, so ließ sich nicht leugnen, daß sie unter den Damen der bourgeoisen Aristokratie oft ein wenig fehl am Platze wirkte. Nicht als ob an ihrem Lebenswandel etwas auszusetzen gewesen wäre! Man fand sie nur ein bißchen zu »originell«. Es lag wohl an der exotischen Herkunft. In Lübeck paßt es sich nicht, so dunkle Augen zu haben wie Frau Julia Mann; Schmelz und Feuer ihres Blickes hatten schon den Stich ins Skandalöse. Sie spielte Klavier, gerade ein wenig zu gut für eine Dame in ihrer Stellung, und sang fremdländische Lieder, die lieblich, aber auch verfänglich klangen: nur gut, daß man den Text nicht verstand … Die beiden Söhne, Heinrich und Thomas, wären gewiß viel lustiger und strammer geworden, hätten sie eine Mama von gutem nordischem Schlage gehabt, an Stelle der übertrieben pikanten Brasilianerin. Mit den beiden Jungen war nicht viel Staat zu machen; in der Schule fielen sie durch Aufsässigkeit und Faulheit auf, was verzeihlich gewesen wäre, wenn sie sich wenigstens sportlich hervorgetan hätten. Gerade auf diesem Gebiet aber waren sie komplette Versager. Es ging das Gerücht, daß sie sich mit Literatur beschäftigten. Der Herr Senator konnte einem leid tun! Kein Wunder, daß er oft so nervös und deprimiert erschien.

Offenbar stand auch mit seiner Getreidefirma nicht alles zum besten. Senator Mann war wohl nicht mehr ganz so tüchtig und energisch, wie seine Vorfahren es zu sein pflegten. Ein sehr feiner Herr, ohne Frage; vielleicht etwas zu fein, zu sensitiv, zu wählerisch, um es mit der derberen Konkurrenz aufnehmen zu können. Als er starb, ganz plötzlich, stellte sich heraus, daß das Vermögen der Familie beinah völlig dahingeschmolzen war. Die alte Firma wurde aufgelöst; Frau Julia verließ Lübeck, wo sie sich immer als Fremde gefühlt hatte. Es war das freiere, südlichere München, welches sie sich nun als Aufenthaltsort wählte. Sie ließ sich dort mit den drei jüngeren Kindern nieder; Heinrich und Thomas folgten, nachdem sie sich irgendwie durch die Schule gemogelt hatten. Jetzt waren sie endlich frei, zwei unabhängige junge Leute im Besitz einer bescheidenen Rente und einer Fülle von melancholischem Humor, Beobachtungsgabe, Gefühl und Phantasie. Beide waren seit längerem entschlossen, sich ganz der Literatur zu widmen, Schriftsteller zu werden.

Sie waren einander sehr ähnlich und doch grundverschieden; ihre Charaktere und ihre Träume schienen kontrastierende Variationen des gleichen Themas zu sein. Das Leitmotiv, das sie gemeinsam hatten und unablässig abwandelten, war das Problem der gemischten Rasse, die schmerzlich-stimulierende Spannung zwischen dem nordisch-germanischen und dem südlich-lateinischen Erbe in ihrem Blut.

Aus diesem primären Konflikt entsprang ihnen ein zweiter, der Antagonismus zwischen »Bürger« und »Künstler«: auf der einen Seite der Typ des gewöhnlichen und robusten Durchschnittsmenschen; auf der anderen der Entwurzelte, Gespaltene, von des Gedankens Blässe Angekränkelte – Hamlet, der Intellektuelle. Die Beziehung zwischen den beiden ist problematisch, doppeldeutig, geladen mit ambivalentem Gefühl. Eine recht eigentlich erotische Beziehung, wenn man Eros, im Sinne des Sokrates, als den Dämon der unstillbaren Sehnsucht, des dialektischen Spieles versteht. Der »Bürger«, das heißt der normale Mann, der sich wohlfühlt in seiner Haut und in dieser Welt, ehrt und bewundert (wenngleich niemals ganz ohne mißtrauische Reserve) die »Macht des Geistes«, die »erhabenen Ideale«, die »reine Schönheit der Kunst«, all jene sublimen Produkte moralischer Fragwürdigkeit, leidvollen Dienstes, stolz verborgener Qual. Der kreative Typ seinerseits empfindet eine seltsame Mischung aus Verachtung und Neid angesichts von so viel ahnungsloser Unschuld. Wie leicht, denkt er, muß das Leben sein für jene, die keinen Traum, keine Sendung haben! Glückliche Toren – sie wissen nichts vom Fluch der schöpferischen Manie, vom Martyrium der Auserwähltheit! Wie glatt und leer ihre Gesichter sind, wie hübsch, ach, wie verlockend! Wäre man doch wie sie! … Möchte man es wirklich? Würde man mit ihnen tauschen?

Es hängt vom individuellen Fall ab, welches Element in diesem Gefühlskomplex die Oberhand gewinnt: die Sehnsucht oder die Verachtung. Beim jungen Heinrich Mann dominierte der künstlerische Stolz; seine Geringschätzung des Philisters – wenngleich zunächst durchaus vom Ästhetischen her bestimmt – hatte von Anfang an die gesellschaftskritisch-revolutionäre Nuance. So unbedingt und intensiv war diese Idiosynkrasie gegen den deutschen Spießer, den »Untertan«, daß sie zum Ausgangspunkt, zur Basis einer politischen Gesinnung werden konnte. Der soziale Radikalismus seiner Reifezeit entspringt, scheinbar paradox und doch logisch, dem radikalen Ästhetizismus jener frühen Epoche.

Der jüngere der beiden Brüder hingegen war geneigt, die sehnsüchtige Zärtlichkeit für die Blonden und Lachenden inniger zu betonen als die sinnlich-übersinnlichen Ekstasen des Künstlertums. Er war ein Bohémien mit schlechtem Gewissen, voll Heimweh nach den »Wonnen der Gewöhnlichkeit«, dem Paradies des wohlbehüteten Bürgerhauses. Und während Heinrich Mann, der Schüler Stendhals und D'Annunzios, den deutsch-bürgerlichen Geschmack durch den nervösen Elan seiner frühen Prosa befremdete und verletzte, warb der andere, an Fontane, Storm und Turgeniew erzogen, mit diskreteren und delikateren Mitteln. Der wehmütig-humoristische Ton, das Lächeln einer Ironie, die aus Verzicht und Verlangen kommt, wird zum besonderen Kennzeichen, zur stilistischen Spezialität des jungen Autors.

Sie lebten und reisten zusammen, ein ungleiches und doch so brüderliches Paar. Nach längerem Aufenthalt in Italien ließ man sich in München nieder, wo die Mutter mit den drei jüngeren Geschwistern schon seit geraumer Weile ihren Haushalt hatte. Heinrich und Thomas logierten nicht mehr zusammen; vielmehr bezog jeder eine Junggesellenwohnung in Schwabing, das damals noch ein wirkliches Zentrum geistigen Lebens und zudem ein Tummelplatz exzentrischer Originale war.

Frau Julia Mann wohnte mit den zwei Töchtern und dem halbwüchsigen Viktor nicht weit von ihren beiden Ältesten. Die brasilianische Schöne hatte sich unversehens, gleichsam über Nacht, in eine schlichte Matrone verwandelt, als hätte sie Schönheit, Anmut und Lächeln wie Juwelen oder kostbare Andenken ihren Kindern zum Opfer gebracht. Das ältere der beiden Mädchen, Lula, war von scheuem Liebreiz, wart und reserviert; die jüngere, Carla, beeindruckte die Herrenwelt durch sensuellen Charme und leicht gewagte Manieren. Sie wollte Schauspielerin werden, trug kecke Hüte und rauchte Zigaretten. Ihr Bruder Heinrich betete sie an und porträtierte sie später in vielen seiner Bücher. Aber da war es schon zu Ende mit ihren Kapricen und Extravaganzen; die zu tief dekolletierten Abendkleider, die hektischen Flirts, die Bohème-Alluren – sie hatte einen hohen Preis für alles dies bezahlt. Die letzte Szene ihres Dramas spielte sich hinter verschlossenen Türen ab. Sie nahm Gift im Hause ihrer Mutter, die auf dem Korridor zuhören mußte, wie ihr Kind in der verriegelten Stube röchelte und verschied. Die Schauspielerin Carla Mann beging Selbstmord, ehe ihre theatralische Karriere eigentlich begonnen hatte, vielleicht, weil sie im Grunde ihres Herzens wußte, daß ihr Talent für eine Karriere großen Stils wohl kaum ausgereicht hätte. Mit etwas Geringerem aber fand sie sich nicht ab.

Die beiden älteren Brüder dieses reizenden und bemitleidenswerten Geschöpfes begannen ihre künstlerische Laufbahn in aller Ruhe und mit Selbstgewißheit. Heinrichs kühnes und provokantes Talent wirkte zunächst nur auf eine kleine Gruppe eingeweihter Connaisseurs, während die Arbeiten von Thomas schon anfingen, bei einem breiteren Publikum Aufsehen zu machen. Heinrich, stolz und gehemmt, beschränkte seine gesellschaftlichen Kontakte beinahe ausschließlich auf die Schwabinger Bohème; Thomas fand seinen Weg zu einigen der exklusiveren Münchener Salons. Und während Heinrich sich im Literatencafé mit der befangenen Würde eines verirrten Prinzen bewegte, blieb Thomas in der »großen Welt« stets ein intellektueller Außenseiter, hinter dessen verbindlich-urbanem Auftreten sich Schüchternheit verbarg. Der junge Poet mochte sich in den Häusern der Kommerzienräte und Barone als Zigeuner empfinden; aber er war ein Zigeuner mit untadeligen Manieren – zu höflich und diszipliniert, um seine Verlegenheit oder seinen Spott zu zeigen, wenn eine der mondänen Gastgeberinnen ihn mit jubilierender Herzlichkeit begrüßte: »Ich bin ja so glücklich, daß Sie gekommen sind, mein lieber junger Freund! Gerade haben die Gräfin und ich uns über Ihren Roman unterhalten – wie heißt er noch? Budden …? Mein armes Gedächtnis! Helfen Sie mir doch, liebster Herr Mann! Ist es Buddenbrooks …?«

Die schönste und geistvollste femme du monde der bayerischen Kapitale, Frau Hedwig Pringsheim-Dohm, sollte eine entscheidende Rolle in der Biographie des jungen Hanseaten spielen; denn in dem Renaissance-Palast der Pringsheims gab es, neben vielen anderen Kostbarkeiten, ein höchst liebliches und besonderes Mädchen, namens Katja – die einzige Tochter, Schwester von vier Brüdern, deren jüngster ihr Zwilling war.

Die Pringsheims waren eine ungewöhnliche Familie, auffallend sogar in dem bunt gemischten Milieu der Münchener Gesellschaft vor dem ersten Weltkrieg. Der Professor und seine Gattin stammten beide aus Berlin: er, jüdischer Herkunft, Erbe eines großen Vermögens, das während der sogenannten »Gründerjahre« von seinem Vater im Schlesischen erworben worden war. Sie, aus unbemitteltem, aber gesellschaftlich prominentem Hause. Madame Pringsheims Vater, Ernst Dohm, gehörte zu den Gründern der satirischen Wochenschrift »Kladderadatsch«, die in der Bismarck-Zeit einen nicht unerheblichen politischen Einfluß ausübte. Ihre Mutter, Hedwig Dohm, war eine führende Frauenrechtlerin und übrigens auch literarisch erfolgreich. Ihre Romane, die um die Jahrhundertwende viel gelesen wurden, handelten meist von unverstandenen Frauen, die unter ihren banausischen Gatten litten, Nietzsche lasen und das Wahlrecht verlangten. Der Salon der Frau Hedwig Dohm gehörte zu den angeregtesten intellektuellen Treffpunkten des alten Berlin. Franz Liszt, mit dem die alte Dame übrigens eine auffallende Ähnlichkeit hatte, war einer der regelmäßigen Besucher.

Die Dohms hatten mehrere Töchter; eine von ihnen, Hedwig, fiel durch Schönheit und Anmut auf. Sie wurde Schauspielerin und spielte Shakespearesche Heldinnen in Meiningen. Als der große Joseph Kainz dort als Romeo gastierte, war sie seine Julia und sah so unwiderstehlich aus, daß einer der jungen Kavaliere in der Proszeniumsloge, Dr. Alfred Pringsheim aus Berlin, prompt beschloß, sie zu ehelichen. So geschah es. Der junge Gatte baute seiner geliebten Hedwig ein fürstliches Haus in der feinsten Gegend der schönen Stadt München.

Er sammelte Gemälde, Gobelins, Majolikas, Silbergerät und Bronze-Statuetten – alles im Renaissance-Stil. Seine Kollektion war so bedeutend, daß Kaiser Wilhelm II. ihm als Zeichen seiner Anerkennung dafür den Kronenorden zweiter Klasse verlieh. Das Palais in der Arcisstraße wirkte wie ein Museum, war aber mit allem Komfort der Neuzeit ausgestattet. Die Pringsheims waren unter den ersten, die sich in München ein Telephon und elektrisches Licht zulegten. Ihr Haus wurde bald zu einem Zentrum der intellektuellen und mondänen Welt.

Es war übrigens keineswegs nur sein Reichtum, dem der Professor sein soziales Prestige verdankte. Weit davon entfernt, sich mit der Position eines wohlhabenden Dilettanten und Müßiggängers zufriedenzugeben, nahm er seinen Beruf äußerst ernst und machte sich einen Namen in der Gelehrtenwelt. Er war Mathematikprofessor an der Universität München – geachtet als Dozent und Theoretiker. Seine vierte Passion – neben der Mathematik, der schönen Frau Hedwig und den italienischen Altertümern – war die Musik Richard Wagners: der junge Professor gehörte zu den ersten finanziellen Förderern der Bayreuther Festspiele und blieb sein ganzes Leben lang ein enthusiastischer Anhänger des Wagner-Kultes. Sein persönlicher Kontakt mit dem Meister freilich kam zu einem etwas abrupten Ende, als sich der Meister in Gegenwart seines »nicht-arischen« Bewunderers eine antisemitische Bemerkung entschlüpfen ließ. Das Genie war taktlos und undankbar, und der Professor hatte ein reizbares Temperament.

Der gesellschaftliche Stil des Hauses war zugleich zwanglos und opulent. Die berühmtesten Maler, Musiker und Dichter der Epoche trafen sich dort mit Prinzen vom Hause Wittelsbach, bayrischen Generälen und durchreisenden Bankiers aus Frankfurt und Berlin. Die Wirtin – eine verführerische Mischung aus venezianischer Schönheit à la Tizian und problematischer grande dame à la Henrik Ibsen – beherrschte die in unserem Jahrhundert so seltene Kunst vollendeter Konversation, wobei sie ihre geübte Beredsamkeit gerne mit Kaskaden perlenden Gelächters begleitete. Sie wußte immer amüsant und originell zu sein – ob sie nun über Schopenhauer und Dostojewski plauderte oder über die letzte Soirée im Hause der Kronprinzessin. Zu ihren Verehrern gehörten Künstler wie Franz von Lenbach, Kaulbach und Stuck, von denen sie sich porträtieren ließ, und Schriftsteller wie Paul Heyse und Maximilian Harden, die ihr die geistvollsten Huldigungen darbrachten. Professor Pringsheim seinerseits – klein von Statur, äußerst agil und lebhaft – schokierte und erheiterte die Gäste mit sarkastischen Bonmots und Wortspielen, oft etwas gewagter Natur. Seine knarrende Stimme ward übertönt vom melodiösen Protest der heiter entrüsteten Gattin: »Ach, Alfred! Wie schrecklich du wieder bist!«

Es war in diesem kosmopolitisch geselligen, heiter kultivierten Milieu, daß der ernste junge Romancier aus Lübeck dem dunkeläugigen Mädchen begegnete, dem sein Herz sich zuwendete und ein Leben lang die Treue hielt. Er hatte sie von weitem beobachtet, ehe er sie noch gesellschaftlich kennenlernte. Sie pflegte auf dem Rad zur Universität zu fahren – umgeben von ihren Brüdern wie eine gelehrte kleine Amazone von der Schar ihrer Trabanten. Sie studierte Mathematik und vereinte den schlagfertigen Witz der Porzia mit Jessicas exotisch-süßer Erscheinung. Die Sanftheit des goldbraunen Blicks kontrastierte zur aggressiven Ironie der geschwinden Rede; hinter der kapriziösen Wortgewandtheit der verwöhnten Prinzessin verbargen sich kindhafte Sprödheit und Unschuld. Der junge Romancier war bezaubert. Er sah und beschrieb sie als ein Wunder von Geist und Charme, eine zugleich wilde und delikate Blume von fremder Lieblichkeit. Neben ihrem Zwillingsbruder Klaus, dem jungen Musiker, zeigte sie sich bei Theaterpremieren, auf Festen, in der Oper. Das Gespräch zwischen den beiden wimmelte von geheimen Formeln, zärtlichen Anspielungen, rätselhaften Scherzen. Die zwei seltsamen Kinder schienen in einer Welt für sich zu leben – beschützt von ihrem Reichtum und von ihrem Witz, bewacht und verwöhnt von Bedienten und Verwandten. Daheim, im väterlichen Palast, spielten und kicherten sie miteinander, während das Lachen ihrer Mama von der Terrasse kam wie das Plätschern einer Fontäne und die Melodien aus »Walküre« und »Parsifal« vom Musiksaal zu den Zwillingen herübertönten.

Zunächst verhielt die Märchenprinzessin sich spöttisch kühl gegenüber den Werbungen des jungen Dichters. Allmählich jedoch gelang es seinen subtilen Schmeicheleien und seiner geduldigen Zärtlichkeit, das Eis zu brechen – besonders da der Zwillingsbruder und die majestätische Mama seine Absichten eher begünstigten. Was den Vater betraf, so war er freilich als Gegner zu betrachten: jeder, der ihm das geliebte Kind entführen wollte, hatte mit seinem Widerstand zu rechnen. Es war keine leichte Aufgabe, das gallige Temperament des Alten wenigstens halbwegs zu besänftigen und ihn dahin zu bringen, daß er die Visiten des Freiers mit einer Art von grollender Resignation duldete. Glücklicherweise gab es wenigstens eine Neigung, die der kratzbürstige Gelehrte und sein künftiger Schwiegersohn gemeinsam hatten, außer ihrer Liebe zu Katja – die Liebe zu Wagners Werk. Der Professor machte sich nichts aus Literatur, noch interessierte der Romancier sich für Mathematik oder Majolikas; aber beide waren unter dem Bann von »Tristan« und »Lohengrin«. Wenn sie sich sonst nicht viel zu sagen hatten, so konnten sie immer noch Zitate aus den Musikdramen austauschen und sich gemeinsam kostbarer Details aus dem bewunderten Oeuvre erinnern.

Die Romanze zwischen Katja und Thomas entwickelte sich unter dem Schutz Wagnerischer Harmonien. Endlich wurde sie von den Eltern gesegnet und von einem protestantischen Pastor legalisiert.

Das Hochzeitsfest im Hause Pringsheim war ein gesellschaftliches Ereignis großen Stils, wie man sich vorstellen kann. »Ganz München« gratulierte dem jungen Paar; der Professor hielt eine Rede voll beißender Scherzhaftigkeiten; Frau Hedwig schimmerte in großer Toilette wie ein Traum von Tizian, und sogar Frau Julia Mann zeigte in festlicher Erregung Spuren der alten Schönheit. Die Braut glich mehr denn je einer Märchenprinzessin – die dunklen, versonnenen Augen weit geöffnet unter dem Myrtenkranz. Blaß und jung saß sie zwischen dem grimmig witzelnden Papa und dem Bräutigam, dessen Gesicht mit dem buschigen Schnurrbart gleichfalls recht bleich erschien. Ein hübscher junger Mann, wie allgemein festgestellt wurde – und wie gut er sich hielt, wie gestrafft und zusammengenommen, beinah militärisch. Aufrecht und schlank in seinem gutsitzenden Frack, versuchte er seine Erregung zu verbergen – lächelnd und konversierend, so liebenswürdig und korrekt wie je. Aber die hellen Augen, zugleich zerstreut und durchdringend unter den schräg gestellten Brauen, schienen nichts von der Rede zu wissen, die so glatt und kühl aus seinem Munde kam. Übrigens geschah es auch wohl, daß seine Braut zu antworten vergaß und in Gedanken versunken blieb, während der Vater scherzte und der Gatte parlierte.

Klammerte sich ihr Herz an die Vergangenheit? Gedachte sie all der süßen und vertrauten Dinge, die sie verlieren sollte? Die Spiele mit den Brüdern, die Teegesellschaften der Mama, der Gutenachtkuß des Vaters, die Riten am Frühstückstisch – sollte es mit all dem nun vorüber sein? Die Neckereien, das Gekicher, die Studien, das Familienkauderwelsch, jedem Außenstehenden unverständlich. Es galt, Abschied davon zu nehmen.

Und jetzt? Was wartete ihrer, wenn dies Fest vorüber war? War es ein neues Abenteuer, ein neues Märchen, das nun beginnen sollte? Was meinte er denn, ihr junger Schriftsteller, wenn er von einem »strengen Glück« sprach, das sie gemeinsam erleben würden? Er hatte eine seltsame Art, solche Dinge zu sagen, feierlich und spöttisch zugleich, als machte er sich ein wenig lustig über sein eigenes Wort, über das eigene Gefühl. »Ein strenges Glück« … wie charakteristisch für ihn diese Formel war! Er verachtete alles Weiche und Schlaffe. Glück – ein gewöhnliches Glück ohne Strenge – wäre wohl ein bißchen weich und schlaff, etwas banal, ein wenig ordinär: so viel verstand die sinnende junge Braut.

Aber warum war sie auserwählt – sie unter allen Frauen –, sein ungewöhnliches und strenges Los zu teilen? Was war es, was sie mit diesem disziplinierten Träumer aus einer fernen hanseatischen Stadt verband? Gehörten sie zueinander, sie und er, weil sie beide »anders« waren – beide distanziert vom Wirklichen, beide problematisch, verwundbar und zur Ironie geneigt? Das satte und sentimentale Behagen trivialen Eheglückes hätte zu ihr so wenig gepaßt wie zu ihm.

Denn offenbar gehörte sie nicht zu jenem Typ der Blauäugigen und »Gewöhnlichen«, zu denen die Helden seiner Bücher sich mit so viel zärtlicher Verachtung und ironischer Sehnsucht hingezogen fühlten. Sie war weder blond noch unwissend und robust, sondern dunkeläugig und nachdenklich und nur zu vertraut mit den Schmerzen, die er beschrieb. Ihre Ehe war also nicht die Begegnung zweier polarer Elemente; eher handelte es sich wohl um die Vereinigung von zwei Wesen, die sich miteinander verwandt wußten – um ein Bündnis zwischen zwei Einsamen und Empfindlichen, die gemeinsam einen Kampf zu bestehen hofften, dem jeder für sich vielleicht nicht gewachsen wäre. Sein Entschluß, die Freuden und Verantwortlichkeiten des normalen Lebens zu akzeptieren, Kinder zu zeugen, eine Familie zu gründen – sein Entschluß, glücklich zu sein: was war es denn im Grunde, wenn nicht ein von moralischem Pflichtgefühl diktierter Schritt, ein Versuch, jene »Sympathie mit dem Tode« zu überwinden, die wie ein Leitmotiv durch das Gewebe all seiner Träume ging? Weder Disziplin noch Ironie wären stark genug gewesen, jener süßen und gefährlichen Verlockung zu begegnen – Tristans nihilistischer Verzückung, dem Nirwana-Komplex, der tödlichen Faszination aller Romantik. Welche Macht war groß genug, um es aufzunehmen mit diesem dunklen Zauber? War die Liebe das magische Heilmittel, durch dessen Kraft das Fragwürdige und Zerstörerische sich dem Leben dienstbar machen ließe? … Aber wie schwer muß es sein, das Idiom der Liebe zu lernen! Wieviel Scham wird zu überwinden, wieviel Opfer werden zu bringen sein!?

Bin ich tapfer genug? dachte die junge Braut – sehr zart und kindlich zwischen dem amüsanten Papa und dem feierlichen Bräutigam. Soll alles ganz und gar anders sein von jetzt an? Wird es sehr lange dauern, bis ich mich dran gewöhne?

Alles dauert lang, das Leben hat es nicht eilig. Die großen Entscheidungen mögen in einem dramatischen Augenblick gefaßt werden, aber sie materialisieren und entwickeln sich nur allmählich; es dauert Monate oder Jahre, bis sie die Bedeutung und die vertraute Gestalt der Realität annehmen.

Eine kleine Wohnung in der Franz-Joseph-Straße in Schwabing, nicht weit vom Pringsheimschen Elternhause – war das die große Verwandlung? Der intime Kontakt mit dem barocken Vater, der glänzenden und zärtlichen Mama, den ritterlichen Brüdern ging weiter – beinahe unverändert. Alles schien fast beim alten. Erst nach Monaten wurde klar, daß man schon mitten im neuen Abenteuer, mitten in der Metamorphose war.

Wie schwer und entstellt sie nun erschien, die delikate Märchenprinzessin! Wie verwirrt und hilflos sie war, angesichts der natürlichsten und doch wunderbarsten Verheißung! Nur Geduld, kleine Mutter! – ein paar Monate noch, und du weißt, ob es ein Bub ist oder ein Mädchen …

Es war ein Mädchen; sie wurde auf den Namen Erika getauft. Sie hatte die dunklen Augen der Mutter. Der junge Vater war über die Maßen stolz auf sie.

Und bevor Erika noch ihr erstes »Papa« stammeln lernte, traf ein Bruder und Gespiele ein – am 18. November 1906. Zwei seiner Onkel – der Zwilling der Mutter, Klaus, und der ältere Bruder des Vaters, Heinrich – standen Pate bei ihm. Sein voller Name war Klaus Heinrich Thomas Mann.


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