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Fünfzehntes Kapitel

Der Vorhang hob sich, man sah in ein rotes Zimmer und sagte vor Vergnügen: »Oh!«

Es wäre nichts Neues gewesen, vom Zuschauerraum des Stadttheaters in ein rotes Zimmer zu blicken. Dies aber geschah bei Konsul West an der Rückwand seines richtigen Hauses. Daher war die Bühne auch zu beiden Seiten geschlossen, die gewohnten Kulissen hätten hier gleich zum Garten hinabgeführt. Eine hohe weiße Tür unterbrach hinten den roten Prospekt. Wohin konnte sie anders gehn als in das Zimmer der Konsulin. Übrigens blieb sie noch einen Augenblick geschlossen und die Bühne leer, man bewunderte die Pracht.

Das reiche Rot war mit goldenen Gewinden besetzt, vielleicht auch nur bemalt. Erstaunlicherweise verhinderte schon die kürzeste Entfernung, es zu unterscheiden. Auch über der Tür glitzerten goldene Ornamente, die aber sicher vorgetäuscht waren, wie die Tür selbst zur Hälfte falsch sein mußte. Nie hatte das Zimmer der Konsulin eine solche Tür gehabt. Es war Blendwerk, das lag am Rampenlicht.

Eine richtige Rampe lief vorn entlang, und Lampengläser sahen darüber vor. Eine Lampe blakte. Auch oben an der geschlossenen Decke schien eine verborgene Beleuchtung mitzuwirken; sogar dunkle Stellen der Bühne waren nie wirklich dunkel, sondern ein buntes Gefunkel, das geheimnisvoll blieb, machte sie höchst anziehend. Wachskerzen brannten in Haltern an der Wand.

»Es ist wie ein Schloß, das Sofa aus Seide, und der geblumte Lehnstuhl, aber die Lampe blakt.«

Eines der jungen Mädchen im Publikum wäre bestimmt hingelaufen und hätte den Docht hinabgeschraubt, aber die Jugend saß rückwärts. Die alten Leute vorn rührten sich nicht. Glücklicherweise kamen die Personen des Stückes zur Tür herein.

Es waren zuerst zwei Damen, dann zwei Herren. Die erste Dame warf nur einen unzufriedenen Blick auf die Lampe, die Ruß und Gestank verbreitete. Die zweite Dame aber lief munter hin und schraubte sie nieder. Als ihr Gesicht das volle Licht der Rampe bekam, sah man, daß es Emmy war. Ihre Freundinnen klatschten, und sie lachte ihnen entgegen. Es war ihr erster Erfolg.

Die andere Dame war beleidigt aufgetreten, stürmisch sogar. Jetzt ließ sie sich von dem deutschen Offizier etwas erzählen, stand aber vor Ungeduld mit der Schulter zu ihm. Der andere Mann, der ihr angehörte, bewegte nicht sein Gesicht, das im Schatten gelblich hingemalt einfach furchtbar war. Der deutsche Offizier sagte: »Majestät!« Ah! das war sie.

Auf dem Zettel stand zuerst »König Wilhelm von Preußen«, dann »Napoleon und Eugénie«, hinter ihren Namen eine Klammer, »Kaiser und Kaiserin der Franzosen«.

Sie ward betrachtet, als wäre sie es in Person gewesen, so gespannt und ausschließlich. Die Damen glaubten ihr die nächste Mode absehn zu können, die Herren wollten allen Ernstes die berühmte Schönheit wiederfinden. Sie trug einen hohen »Chasseur«, hoch wie ein Zylinderhut. Der weiße Schleier, der ihn zur Hälfte umwickelte, fiel nicht frei herunter, sie hatte ihn seitwärts abgebogen und hielt ihn über dem Arm. Das anliegende Reisekostüm schillerte an den Füßen von der Beleuchtung heller. Es zeigte offenen weißen Kragen, Taschentuch und große Schleife.

Ihr weggewendetes Profil war noch gedeckt, Licht hatte nur das Kinn. Dafür glitzerte und sprühte der rötliche Haarknoten. Plötzlich gab sie das ganze Gesicht preis und gleich in starker Gemütsbewegung. Sie war empört über den deutschen Offizier, denn er ließ sie warten. Sie wollte den Kaiser sehn. Er hatte noch nicht verstanden? Napoleon, ihren Gemahl. Sie stampfte auf, ihre kleine Hand ward überaus unruhig, der Offizier hätte sie fürchten können.

Er blieb indes gelassen, ja, gewinnend trotz fester Haltung. Da hatte man den ganzen Konsul West – und hatte auch gleich seine Frau. Es mußte eine Aufgabe sein, mit ihr zu leben.

»Eugénie sah einmal besser aus«, bemerkten Ältere. »Ja, die Zeit vergeht.«

»Konsul West verstellt sich nicht, so kann niemand sich verstellen«, versicherten Kaufleute einander. »Hoffen wir, daß Pidohn jetzt wirklich zur Tür hereinkommt!«

»Sie ist so wütend, daß ich glaube, er kommt nicht.«

»Aber ihr Hochmut! Die Leute verlassen sich noch immer auf die Börse. Eugénie ist und bleibt eine schöne Person. Kaiser Napoleon wußte, was er tat, als er sie nahm.«

»Gleich werden wir sehn, was aus ihm geworden ist.«

»Und ob er überhaupt kommt.«

Andere lachten, es galt Emmy. Sie und Leutnant von Kessel als zweites, komisches Paar, spielten auf der anderen Seite der Bühne. Die junge Hofdame foppte den Geheimagenten mit seiner furchtbaren Maske. Sie fragte ihn, wo sein Dolch sei, ob er nicht einfach über die Leiche des deutschen Offiziers zu Napoleon vordringen wolle.

Sie neigte sich lustig in das Rampenlicht, davon trat aus ihrem geschminkten Gesicht gewölbt der Mund vor. Die Nasenflügel wurden erhellt, der Sattel der Nase schwarz, und die Augen glitzerten durch eine dunkle Schranke. Sie warf die Arme in das Publikum, als begänne jetzt gleich ein Couplet, das sie singen sollte.

Statt dessen ging nochmals die Tür auf, herein trat Napoleon. Große Bewegung im Publikum.

Er war allein. Als er vorhatte, die Tür auch selbst wieder zu schließen, nahm seine Kreatur, sein ehemaliger Leibwächter, sie ihm aus der Hand – verneigte sich aber nicht, sondern behielt seinen Herrn und jeden Schritt, den er tat, fest im Auge. Wahrscheinlich kamen ihm Besorgnisse wegen des preußischen Offiziers, der Napoleon anstarrte wie ein Gespenst. Jetzt sah man ihn einen Anlauf nehmen, wer weiß, was noch geschah, wenn er an den Kaiser herangelangte. Der Polizist trat schnell dazwischen.

Vielleicht nicht ganz so sehr wie dieser Offizier, aber auch im Publikum war mancher vom Erscheinen Pidohns tief ergriffen.

›Also doch. Er ist da. Er hat das Geld. Ich verdiene.‹

›Wenn es doch unmöglich ist! Woher kommt er?‹

Napoleon machte nur zwei oder drei seiner müden Schritte, plötzlich stand er vor Eugénie, die erstarrte. Noch soeben hatte sie sich wütend gebärdet. Beide waren nichts mehr als Bilder, die Bildsäulen eines historischen Augenblickes, und drunten ihre Zeitgenossen betrachteten ihn ergriffen.

»Ja, ja«, seufzte der Bürgermeister.

»Paß auf!« verlangte ein Vater von seinem Sohn. »Das haben wir miterlebt.«

»Das kommt davon«, sagte eine triumphierende Stimme, der es im Grunde aber schauderte.

Napoleon hatte wie ein Nachdenkender den Kopf gesenkt, er drehte an seinem Schnurrbart. Eugénie gab indessen ihren Leuten ein Zeichen, sie zogen sich zurück. Auch der deutsche Offizier verließ das Zimmer. Jetzt lud der Kaiser seine Gemahlin ein, sich zu setzen. Sie nahm den äußersten Teil des Sofas ein, das gerundet war. Er saß ihr auf der anderen Seite fast gegenüber.

Sie fanden nicht sogleich Worte. Er war verfallen nach seinen Niederlagen und von der Krankheit. Aber auch sie trug sichtbare Spuren. Sogar Jüngere sagten:

»Jetzt ist es doch zu sehn, daß sie etwas durchgemacht hat.«

Zweifelhaft blieb, wer gemeint war, Eugénie oder Gabriele.

»Er hat das Geld nicht, sonst sähe er so arg nicht aus.«

Hiermit tröstete ein Baissespieler den anderen. Sie meinten Pidohn.

Die junge Tochter der Frau Ermelin murmelte ergriffen: »Die hohe Dulderin!«

Aber ihre Mutter verwies es ihr. Erstens sei Eugénie nicht auf dem Throne geboren. Ferner habe sie all ihr Unglück reichlich verdient, besonders um Deutschland willen.

»Ich kenne übrigens nur anständige Frauen und andere«, setzte die Dame hinzu.

Napoleon und Eugénie droben redeten inzwischen aneinander vorbei. Er hätte ihr gern mitgeteilt aus der Zeit, seit er sie in Paris verlassen hatte nach Ausbruch des Krieges, – besonders aus seinen schlimmen Tagen. Sie dagegen sah nur vorwärts. Sie wollte ihn inmitten eines preußischen Heeres in seine Hauptstadt wieder einziehen lassen. König Wilhelm hatte sich mit ihr verabredet in Schloß Wilhelmshöhe, sogleich mußte er eintreffen. Sie vermaß sich, den König für ihren Plan zu gewinnen.

Er sah sie unter seinen schweren Lidern an. Natürlich müsse sie sich umkleiden, setzte sie schnell hinzu. Worauf er nach seinem Sohn fragte.

Er sehnte sich, an glücklichere Tage erinnert zu werden. Er bat darum in seinem Elend wie um ein Almosen. Sie reichte es ihm nicht, weil sie es verachtete. Sie selbst blieb ungebrochen. Ihr Sohn – ob sie ihn liebte! Sie zweifelte nicht, daß er einst den Thron bestieg, bald sogar. Denn wozu führte sie diesen Sterbenden zurück, wenn nicht des Kindes wegen!

Er rollte, ergeben in sein Geschick, zwischen den Fingern die Zigarette. Er sagte ihr, daß sie nationale Fürsten seien und nichts ihm ferner liegen müsse als eine Rückkehr inmitten feindlicher Heere. Zu hören war, daß er sich seines Unglücks heute so sicher wußte wie früher des Glückes. Nichts gab es mehr als Ertragen: das Beschlossene, ja, die Strafe, die gewollt war; – und ein Verhängnis, das drunten seine Zeitgenossen schaudern machte, sie sahen, wie nur er es mit Hingebung empfing.

»Soviel Unglück wird nicht verziehn«, dies erkannte er in Ergebung stark.

»Tapfer war er, das ist gewiß«, sagte in der zweiten Reihe der Zuschauer beinahe laut der Oberstleutnant.

Zwei Professoren der Gelehrtenschule riefen, auch halblaut, bravo.

»Bravo, Heines!« riefen sie. »Da sieht man unseren Heines, der mit den Schicksalsgöttinnen zu verkehren gewohnt ist. Das ist vom Geist seiner Elektra.«

Gegen die Mitte des Parterres saßen jüngere Herren aus guten Familien, Offiziere der Reserve. Sie sagten:

»Man darf auch nicht glauben, daß wir immer nur planmäßig gesiegt haben. Es ging bei uns oft drunter und drüber, das kann ich bezeugen.«

»Es war mehr Zufall, daß es gut ging ... Und war es nicht Zufall, dann war es unsere Übermacht.«

»Ich«, der Neffe des Konsuls sprach, »habe Napoleon bei Sedan gesehn. Es war noch früh am Morgen, er hatte die Sonne in den Augen. Ich erkannte ihn durch den Feldstecher meines Obersten, der grade frühstückte. Napoleon stieg vom Pferd und trat unter seine Kanoniere, zuerst glänzte nur das Gold an seiner roten Kappe, ich dachte: ein General. Dann schrien alle auf einmal, da wußte ich, wer er war.«

»Was sonst?«

»Nichts. Später sah ich ihn gefangen, ich ritt sogar eine Strecke lang neben seinem Wagen. Niemand rief mehr, wo er vorbeikam.«

»Er hatte noch einen weiten Weg.«

Von diesem Weg, der weit und schwer gewesen war, konnte droben Napoleon endlich reden, Eugénie erlaubte es ihm.

Sehr schmerzlich, so erfuhr sie, ist eine Gefangennahme, wenn du kurz vorher mit dem Manne, der sie schon vorhat, Gespräche führst, als wäre er noch dein Gast wie einst in deinem Schloß. Dies begibt sich vor dem kleinen Hause eines Handwerkers nahe der Landstraße. Bismarck ging schon und hatte keine Hoffnung zurückgelassen. Man durchwandelt schwerfällig und unter körperlichen Qualen den Gemüsegarten, raucht Zigaretten und hat keinen Gedanken, nur eine Art Fiebertraum – da sprengen Kürassiere herbei. Es ist eine Schwadron preußischer Gardekürassiere. Sie umzingeln das Haus, ihr Befehlshaber sitzt ab und stellt sich mit gezogenem Säbel hinter Napoleon, der zusammenzuckt. So endet der Ruhm der Welt. So endet vieles, das sie nicht weiß. Denn was hat sie schließlich gewußt, wenn es mit uns aus ist.

Indessen tropfte ihm Wachs auf die Schulter, es war nur gut. Er saß, um seiner Frau zu berichten, etwas zu nah dem Kerzenhalter an der Wand, Tropfen fielen auf seinen schwarzen Gehrock. Er bemerkte es nicht, aber für die Zuschauer war es eine Erleichterung, weil es ihn ein wenig lächerlich machte. Wer irgend konnte, kicherte.

Die Macht des Geschickes hätte, ohne diese neckischen Wachstropfen, seine Zeitgenossen viel zu ernst getroffen. Es kam daher, daß er selbst sein Geschick zu lieben schien, so geheimnisvoll und furchtbar dies berührte. Damit wäre er beinahe über Eugénie Sieger geblieben, denn die stürmische Dame war merklich stiller geworden. Sie wehrte sich wie sie konnte, und auch die Zeitgenossen wehrten sich gegen den entmutigenden Eindruck.

Die beiden Professoren der Gelehrtenschule ergänzten ihr voriges Urteil.

»Dies ist zweifelsohne vom Geist seiner Elektra. Aber was fiel unserem Heines ein, seine antiken Personen nach Schloß Wilhelmshöhe zu versetzen? So werden wir erst recht aufmerksam, daß dieses Kaiserpaar in Wahrheit dort nie beisammen war, ja, daß von allem Äußeren nichts stimmt. Man könnte sagen, daß der Dichter seine richtige Erkenntnis der Seelen diesmal in falsch erfundene Umstände verlegt hat.«

So das Urteil der Gelehrten. Andere hörten vielleicht im Falschen mehr das Richtige, besonders die Kriegsteilnehmer im Publikum. Manche jüngeren Leute wurden, sie wußten nicht wieso, heilsam angerührt, sie hätten dies nicht verlieren wollen. Ältere wiegten die Köpfe. Auf einmal drang an einer Stelle Schluchzen durch, man suchte vergeblich woher, es ward auch sogleich unterdrückt. Polizeidirektor Siemsen aber flüsterte:

»Nehmen Sie sich zusammen, Olga, wir wollen doch nicht auffallen.«

Frau Ermelin sah es nur zu gut ein. Aber sie hatte nicht verhindern können, daß vor ihr plötzlich ihr eigenes Jugendbild stand, sie selbst auf ihrer Hochzeitsreise in Paris. Sie hatte es sich damals in den Kopf gesetzt, die berühmte Eugénie zu sehn. Sie sagte: »Die berühmteste Frau der Welt, ich muß sie sehn.« Warum eigentlich? Nur schnell nach Fontainebleau! Dort sollte es zu erreichen sein, wenn das Glück grade wollte.

Es wollte grade. Der Frühling selbst sprengte durch den Wald, als die Reiter nahten. Frau Ermelin stand hinter Bäumen versteckt, und grade hier hielt Eugénie. Sie hielt, um ihre Gesellschaft nachkommen zu lassen, auf ihrem weißen Pferd vor einem schwebenden Hintergrund bläulicher Laubmassen. Sie selbst war in blauer Seide, das Kleid fiel in großen Falten – es war noch vor der Krinoline, Eugénie ganz jung. Grade hatte sie erst den Gipfel des Glückes erreicht. Wie glücklich war auch die junge Ermelin, sie durfte sie sehn!

Eugénie streichelte ihr Pferd, ›noch sehe ich die Hand‹. Dann nahm sie den Hut von ihren runden Haaren, dann wendete sie sich seitwärts, ›noch sehe ich dies Gesicht‹. Es war glatt, stolz, hell, und es drückte aus, daß sie viel mehr, immer mehr erwartete von ihrer strahlenden Jugend, die nie enden konnte. Frau Ermelin hinter den Bäumen fühlte damals alles mit, auch sie erwartete für sich Namenloses. Jetzt saß dort oben die Unglückliche, sie selbst aber hier unten, was war aus ihr geworden! Daher ihr Aufschluchzen. Zum Glück war es schon unterdrückt.

»Was hatten Sie?« fragte ihr alter Liebhaber.

»Ich glaube, daß ich mich in Frau Konsul West geirrt habe«, sagte sie, ihr selbst unerwartet.

Der Polizeidirektor benachrichtigte sie leise:

»Es kann hier noch Lärm geben. Dann beherrschen Sie sich, bitte, Olga!«

 

Inzwischen hatte Eugénie ihren Gatten verlassen. Hofdame Emmy und der furchtbare Kessel traten wieder auf – immer durch dieselbe Tür, gradezu die Schicksalstür. Mancher drunten dachte: ›Merkwürdig, draußen müssen alle einander treffen. Was sagen sie dort? Wenn sie nun im Schlafzimmer bei Frau Konsul West etwas reden, das nicht vorgesehn war, kommt vielleicht alles anders. Zum Beispiel hat Napoleon plötzlich doch gesiegt. Pidohn hat das Geld. Ich gewinne, ich bin reich.‹

So drunten. Auf der Bühne wurde es heiter dank Emmy. Sie behandelte den Kaiser Napoleon, dem sie eigentlich nur die Tollheiten Eugénies vernünftig beibringen sollte, wie ein kleines Kind. Vor allem putzte sie ihm mit ihrem Taschentuch, so viel als möglich, das Wachs von seinem Rock. Es war erstaunlich, welche wohltätige Wirkung dieser Einfall auf die Zuschauer ausübte. Man lachte, aber ohne Mißachtung. Der Dichter verlor nichts, er konnte Emmy nur danken. Aber wo war er? Nicht im Publikum, und auch die Mitwirkenden fragten sich: wo?

Ihre nächsten Freunde hatten Emmy selten in ähnlicher Laune gesehn, auch sie hätten dies nie für ihre wirkliche Natur gehalten. Sie war fast immer still gewesen, ja, hatte sich schon angeschickt, spitznäsig und streng zu werden. Auf einmal offenbart ein Wesen solch eine gesittete Ausgelassenheit, diese Anmut, der man befriedigt zunickt. Der Leutnant ward beneidet. Mit ihrem Leutnant verfuhr sie ohne Umstände. Er bekam einen Stoß in den Rücken, damit er dem Kaiser Napoleon vormachte, wie er notfalls den König Wilhelm erdolchen würde.

Dies ging nun bis an die Grenze des Erlaubten, vielleicht überschritt es sie schon. Aber alles ward gerettet durch die Harmlosigkeit Emmys. Freilich machte sie hier aus ihren beiden Mitspielern reine Grotesken. Napoleon merkte es auch, ihm ward sichtlich unbehaglich, er warf drohend den Kopf. Der klugen Emmy lag aber vor allem daran, die Szene in die Länge zu ziehn, bis ihre Kusine sich fertig umgekleidet hätte. Sie wußte genau, wie lange es dauerte. Jetzt konnte sie abgehn, denn noch hatte Napoleon seinen Auftritt mit König Wilhelm.

Beim Erscheinen des ehrfürchtig geliebten Herrschers trat große Stille ein. Kaum, daß jemand zu flüstern wagte, der Schauspieler sei ein Leutnant namens Kühn; aber man flüsterte es zurückhaltend, als könnte es gegen die Ehrfurcht verstoßen.

Leutnant von Kühn brachte für seine Rolle die hohe Gestalt und das einfache Gesicht mit. Auch war er über sich selbst gerührt, bei leichter Verlegenheit. Dazu kam die bekannte Generalsuniform mit Ordensband und Sternen, die bekannte Glatze, der weiße Backenbart. Das Wichtigste blieb, daß er Napoleon überragte.

Was sagten die beiden? Das war's nicht, worauf es ankam. Sie mußten dastehn und vorstellen, was sie waren: den Sieg und die Niederlage, den glänzenden Zwischenfall neben der gediegenen Dauer, zusammen aber den Willen Gottes.

Die Würde unseres Kaisers schloß nicht aus, daß Napoleon die seine hatte. Er war von breiter Brust, wenn auch kurzbeinig. Trotz leidendem Ausdruck blieb sein Kopf schön und romantisch. Wenn er, mühsam aufgerichtet, seinen bürgerlichen Rock wölbte, erhob die Schleife seines einzigen Ordens sich wie quellendes Blut.

Bürgermeister Reuter sagte etwas Merkwürdiges.

»Er trägt seinen bürgerlichen Rock mit Recht«, sagte Bürgermeister Reuter. »Denn er hat dem Bürgertum Glanz verliehen, hatte übrigens von ihm seine ganze Macht.«

»Und unser Kaiser Wilhelm?« wurde gefragt.

»Dasselbe«, sagte Bürgermeister Reuter. »Er gibt sich mehr historisch, bleibt aber dabei unser Mann.«

»Ich möchte doch bitten«, erlaubte sich hinter ihm eine tiefe Stimme.

»Sonst könnten wir ihn nicht so herzlich lieben«, schloß der Bürgermeister halb hingewendet.

Da gab auch der Oberstleutnant sich zufrieden.

Gleichzeitig empfahl sich Napoleon, König Wilhelm blieb allein.

Er blieb lange allein. Nur weil eben er es war, ging es noch, sonst wäre es aufgefallen. Die Verzögerung lag nicht an Gabriele, sie war fertig. Aber der preußische General mußte sie bei König Wilhelm einführen, dies gebot unbedingt die Schicklichkeit. Sie rief: »Jürgen!«, der Inspizient rief: »Herr Konsul!«

Sie riefen es aus jeder Tür und sogar die Treppe hinauf. Während aber der Inspizient, um ihn zu holen, in das erste Stockwerk eilte, fand Gabriele ihren Mann im vorderen Garten unter der Terrasse auf einem zerbrochenen Stuhl. Er hörte nicht, sie stieß ihn an, da fuhr er auf, eine ihr unbekannte Stimme, wild, atemlos, brachte vor:

»Was? Was wollt ihr?«

»Du sollst nur auftreten«, stammelte sie, mit ihm erschrocken.

Er besann sich mühsam.

»Wie kann Pidohn –? Er ist doch –«

»Er ist grade abgegangen. Wir sollen auftreten.«

Als sie es ausgesprochen hatte, kam ihr erst das Bewußtsein der Zweifel, die sie in ihrer Szene mit Napoleon schon empfunden und nur vor dem Eifer des Spielens vergessen hatte. Ratlos fragte sie:

»Sollte gar nicht Pidohn –?«

»Pidohn spielt Napoleon«, sagte aber der Konsul fest. Jetzt beherrschte er sich wieder.

»Pidohn macht seine Sache richtig«, sagte er, »und auch an uns soll es nicht fehlen – solange ihr uns laßt.«

Dies letzte hörte sie nicht mehr, er war ihr voran. Er öffnete seiner Eugénie die verhängnisvolle Tür, sie traten auf. Der Adjutant meldete seinem König die fremde Kaiserin. Der König winkte ihm, sich zurückzuziehn.

Er schloß von draußen die Tür nicht ganz. Er konnte sehn, wie Wilhelm mit gastfreundlichem Lächeln Gabriele zu dem halbrunden Sofa geleitete. Konsul West war es zumute, als bewegte sie sich wirklich in hoher Gesellschaft, indes er draußen lauschen mußte. Seine Zeit war vorbei, er fühlte sich abfallen und zurückbleiben. Er hatte gespielt, verloren, ja, seine zusammengezogene Brust sagte ihm, daß er auch sie verlor. Von weiblichen Stimmen hörte er ein bewunderndes »Ah!«, das ihrem Kleide galt. Es war das letzte, das er ihr geschenkt hatte. Als sie sich setzte, verbreiteten die Spitzen ihres gebauschten Rockes Fächer nach allen Seiten. Ihr Rock ergoß sich elfenbeinfarben über den Boden, das Rampenlicht aber zackte ihn phantastisch, legte scharfe Tiefen hinein, und schillernd zerknickte es die Schleppe.

Die Dame neigte sich sprechend vor. Es war ein Ereignis. Die Tunika aus stahlblauer Seide schob sich in reichen Gebilden, die leise rauschten, hinter ihrem Leibchen die Lehne des Sitzes hinan – um so schmaler und geschmeidiger lebte sie darin selbst. Der zarte Rücken, die sanfte Schulter und der junge Arm, wie beherrschten sie all den Stoff, der ihr süßes Leben nachahmte! Nur diese wenigen Teile ihres Körpers tauchten eng und seidig umhäutet aus dem Meer, sie vertraten die Frau selbst. Man träumte zu den hingeneigten, nur Träumen dargebotenen Teilen ihres Körpers, und die gerührten Herzen schlugen.

Die Unterredung der hohen Herrschaften war dahin gelangt, daß die Dame aufsprang.

»Geben Sie mir den Kaiser heraus!« rief sie.

»Die Ehre des deutschen Namens verbietet es mir!« antwortete er begeistert.

»Ich will es. Einst fanden Sie mich liebenswürdig.«

Unbestimmte Laute im Publikum, Seufzer oder Bravos, bezeugten es ihr nochmals. Wie sie sich reckte, schritt und mit dem Fächer klappte! Stehender Rüschenkragen, schwarzes Band mit Brillantenschließe, darüber hinweg auf so zerbrechlichem Hals hergewendet das stolze, tragisch veränderte Gesicht. Immer noch diese Schönheit, so sehr sie erbleicht war. Immer noch hochgetürmtes Haar, Kamm mit Kronenzinken, zur Seite aber die kleine gelbliche Blume, – von Brillanten war die Nadel, die sie in das Haar stach.

»Liebenswürdig – Sie sind es mehr als je«, bestätigte der König. »Hörte ich auf meine Wünsche –. Aber ich bin ein König und kenne meine Pflicht.«

Was kümmerte sie Pflicht. Nach Paris sollte er sie führen mit seiner Armee. Girrend und stolz umkreiste sie ihn. Sie fieberte wohl, wie hätte sie sonst so gut gespielt.

»Bravo!« riefen die Zuschauer, diesmal offen und laut.

Als vertrüge sie den Beifall nicht, ließ sie sich zu Ausschreitungen hinreißen. Sie drohte dem König. Sie habe Helfer, Personen, auf die sie in jeder Lage zählen könne. Da stand auch schon in der Tür, vom Mantel unten noch verhüllt, das furchtbare Gesicht. Es war zum Schaudern, jeder, der dabei war, zitterte für den geliebten hohen Herrn. Sogar der Oberstleutnant gab knurrende Töne von sich.

Nur der König selbst blieb so ruhig, als wüßte er gar nicht, daß Entsetzliches geschehen konnte und alle um ihn bangten. Er prahlte nicht etwa mit Todesverachtung, er blieb einfach. Ruhig drückte er auf eine Tischglocke, endlich, gottlob, kam sein Adjutant. In diesem Augenblick hatte der Korse tatsächlich seinen Mantel fallen gelassen und einen verdächtigen Griff getan. Es war Zeit, daß er abging mit Hilfe des preußischen Generals. Er paßte nicht hierher.

Nach seiner Entfernung sagten die Kaiserin und der König einander noch einige höfliche Worte. Beide benahmen sich, als sei nichts vorgefallen. Die Zuschauer dankten ihnen ihr Taktgefühl. Man bemerkte dennoch: die Kaiserin sei nicht mehr dieselbe wie zu Beginn des Spieles. Ihre letzte Hoffnung hatte versagt, und verlassen war die Arme jetzt sogar von dem Mut ihrer Verzweiflung. Sie hielt sich aufrecht, sie behauptete sowohl noch ihren Stolz wie ihre Schönheit. Aber niemand hätte ihr folgen wollen, wenn sie erst draußen allein war. Es tat zu weh.

Nein, nicht sie ging. König Wilhelm verabschiedete sich. Ihn löste sein Adjutant bei Eugénie ab, was hatte er ihr zu eröffnen? Sie wartete darauf nicht, sondern irrte wie eine Verlorene über die Bühne. Er wieder zeigte ein Gesicht, das sie viel tiefer, viel schreckensvoller bedauerte, als ein preußischer General vermutlich Eugénie je bedauert hatte. Es ward still.

Es ward so still, weil man fühlte, daß er sie vorbereiten solle auf das Schwerste, den Verzicht. Sie war auf dem Wege. Sagte dieser Offizier, der ihren armen Mann mitten im Unglück gekannt hatte, wo sie selbst ihn noch nicht kannte – sagte er ihr nur einige Worte! Sagte er ihr die Worte, die der Verblendeten zum Erfassen ihrer wirklichen Lage noch fehlten, dann war es mit ihr aus. Dann konnte sie sich zu dem Besiegten begeben, oder er konnte herkommen, und beide zusammen waren dann besiegt. Das Unglück hatte sie widerstandslos endlich beide, hoffentlich vergossen sie gemeinsam Tränen, die sie erleichterten.

So fühlten alle Leute und waren weich gestimmt. Bevor es aber zu der erwarteten Lösung kommen konnte, entstand rückwärts Lärm – mehrere grobe Stimmen, auch eine Art Kampf, wovon die Tür wankte. Schon stürmen zwei Männer heraus, niemand erkennt sie sogleich unter den erregenden Umständen. Ein dritter, der Inspizient, macht hinter ihnen entschuldigende Bewegungen, er hat sie nicht aufhalten können.

Sie stürzen ungebärdig schreiend nach vorn, mit ihren beiden Personen füllen sie plötzlich auf anstandswidrige Art die Bühne. Die Dame und der Herr weichen ihnen weit aus.

Sie schreien durcheinander, zuletzt sind sie dennoch zu verstehn.

»Pidohn ist verhaftet!«

Sie werden jetzt auch erkannt, trotz ihrem Gebaren und dem ungewohnten Licht; es sind Fischer und Blohm von der aufstrebenden Firma. Sofort wissen drunten einige, was die Brüder wollen.

»Pidohn ist verhaftet!« brüllen sie.

»Wahren Sie den Anstand!« befiehlt Bürgermeister Reuter. »Verlassen Sie die Bühne!«

Unglaublich, die Brüder schreien weiter. Jetzt wird ihnen von drunten zugerufen:

»Falsch. Pidohn stand noch soeben vor uns.«

»Das lügst du. Er sitzt schon längst«, erwidern sie und werfen mit Armen und Beinen um sich. Sie haben alle gewohnten Fesseln gesprengt, sie duzen die Leute.

»Er hat dich betrogen um all dein Geld, uns auch. Kurssturz und Zusammenbruch, aus. Wir sind betrogen.«

»Ihr beide nicht«, sagt dieselbe feste Stimme, der Neffe des Konsuls West. »Euch hat er nicht betrogen. Denn ihr habt gegen ihn spekuliert. Ihr gewinnt an uns.«

Dies überschreien sie. Grade um dies zu überschreien, sind sie mitten im Spiel auf die Bühne gestürzt und vollführen all den Lärm. Es ist zu merken, daß sie im Grunde vor Freude so wild sind. Wenigstens der Neffe des Konsuls merkt es, obwohl er mit verliert. Von anderen Verlierern ist es kaum zu erwarten, sie lassen sich von den Brüdern täuschen.

Beide brüllen wie Ausrufer:

»Er hat unser Geld gestohlen. Hier habt ihr seine Helfershelfer!«

Dabei winken sie mit ihren sämtlichen Fingern nach dem Herrn und der Dame, die in ihren Kostümen noch immer dastehn. Sie sind auf einmal wieder Konsul West und Frau, obwohl sie mit Anstrengung weiter die Mienen ihrer Rollen tragen. Aber hier gilt kein Spiel mehr, die unverhüllteste Wirklichkeit hat eingegriffen. Ganze Reihen der Zuschauer springen auf. »Ruhe!« rufen andere.

Man wagt bis jetzt nur einzeln seinen inneren Aufruhr zu äußern. Dies ist noch immer der Garten des Konsuls West, der Bürgermeister ist zugegen, den Damen schuldet man Rücksicht. Man ist festlich gekleidet, und Anstand herrscht. Viele werden still und mit Anstand fortgehn, nachdem sie alles verloren haben.

Solch eine zurückhaltende Gesellschaft vernimmt auf einmal ein Wort – das ungesittetste, den nacktesten Schimpfnamen, sie traut ihren Ohren nicht. Nochmals, nochmals das Wort, es klingt immer nackter. Wer ruft es? Herr Maßmann, ein Herr aus guter Familie, Vater von Töchtern – und er ruft es Konsul West zu.

Kann dies wahr sein, erleben wir wirklich dies, dann ist es wohl nicht mehr geboten, zu sein wie sonst. Man darf aufschreien, die Gesichter dürfen die Schicklichkeit abwerfen. Sie tun es noch zaghaft. Die Körper erlernen mehr oder weniger maßlose Bewegungen, die sonst nicht vorkommen. Das Wort Maßmanns wird wiederholt – nur von wenigen und mehr zur Probe; aber viele grausame Augen sprechen es mit. Alle die Augen, die Herzen waren noch vor kurzem, kaum Minuten kann es her sein, weich gestimmt durch das Unglück Eugénies und ihres Gatten.

Bürgermeister Reuter sah sich um, er fand jede Scheu durchbrochen, die Lage unwürdig und drohend. Er prüfte auch die Bühne. Konsul West und seine Frau waren von ihr verschwunden. An Blohm und Fischer sah man die geöffneten Münder, hörte sie aber nicht mehr.

Ein Gegenstand, vielleicht nur eine Papierkugel, flog hinauf, er traf das Sofa. Dahinter schnellte eine von Angst gerötete dicke Frau hervor und flüchtete. Der Bürgermeister hob die Hand. Der Inspizient raffte sich von seiner Erstarrung auf, er lief aus der Tür. Gleich darauf fiel endlich der Vorhang.


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