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Vierzehntes Kapitel

Gabriele und ihr Mann dachten, jeder für sich:

›Nur noch bis zur Aufführung!‹

Es war Aberglaube. Denn was sollte am nahen Tag der Aufführung sich wenden? Sie aber vertraute darauf, sie werde es mit Pidohn zuletzt an jenem Abend und dann nie mehr zu tun haben. Er wieder verlegte auf den Abend die Entscheidung darüber, ob sie sich weiter aufrecht hielten. Er meinte: ›Pidohn und ich‹, was innerlich gesprochen von verzweifelter Ironie war.

Konsul West verzichtete auf Selbsttäuschungen über seinen Geschäftsfreund. Seit dem Nachmittag im Schlafzimmer machte er keine Anstrengung mehr, sich gutgläubig zu erhalten. Schon vorher hatte er beiläufig gewußt, mit wem er arbeitete. Aber noch fand er es nicht ausgeschlossen in ungewöhnlichen Zeiten, daß ein Mensch wie Pidohn ausersehn sein sollte zum Retter des Hauses West und anderer geachteter Häuser. Grade Abenteurer konnten alten Firmen, wie man hörte, einen neuen Antrieb geben.

An jenem Nachmittag erfuhr er, daß höchstens noch auf Schwankungen zu rechnen und von ihnen das Dasein zu fristen sei. Für den Tag der Aufführung versprach Pidohn selbst ihm den endgültigen Triumph. West verstand: eine Schwankung nach oben – vielleicht die letzte. Das wäre dann der Augenblick, der äußerste Augenblick gewesen, sich aus der Sache zu ziehn – nur noch sich. Den anderen mußte er weiter Vertrauen einflößen, bis es für sie zu spät war.

Unter dieser Bedingung war er selbst vielleicht gerettet, fand es freilich dann kaum noch wünschenswert. Hintreten vor die Zugrundegegangenen – selbst ein Geretteter: wie machte man das? Morgen wählten sie ihn vielleicht zum Vorsitzenden der Bürgervertretung. Vertrauten ihm ihr gemeinsames Wohl, wie sie es schon manchem seines Namens vertraut hatten. Ihr Wohl sollte seins sein, – plötzlich aber kostete hundert Personen ihr Vertrauen zu ihm Kopf und Kragen. War es denkbar? Nein, nicht denkbar, aber es trat einfach ein. Dann fand sich auch, was man darüber dachte. Nur vorher nichts! So ging alles.

Jürgen West sah sich in Gegenden versetzt, wo er sozusagen niemand kannte, auch nicht die geringsten angeborenen Erinnerungen hatte. Denn niemand aus seiner Familie war solche Wege gegangen. ›Wirklich?‹ fragte er mit Ironie. ›Das vergißt sich. Auch mein Sohn wird einstmals hoffentlich fest überzeugt sein, daß seinem Vater das nie zugestoßen ist, um so weniger daher ihm selbst droht.‹

Dies bedachte er in Gegenwart des Kindes, indes er es mit einem Scherz ansprach und ihm den Kopf streichelte. Es sah von seinem Spiel auf, wenn der Vater hier hinten im Garten bei ihm stehenblieb. Jürgen West ging jetzt bei seiner Heimkunft nicht sogleich in das Haus zu Gabriele. Vorher machte er, um manches zu überlegen, im stillen Garten eine Anzahl seiner langen, wiegenden Schritte. Sie sah ihm aus dem Fenster vielleicht nach, aber er hatte die Hände auf dem Rücken und den Blick am Boden.

In seinen Erwägungen kam Pidohn immer nur als der Beauftragte des Schicksals vor. Er haßte ihn nicht; Pidohn für sich allein erschien ihm unbeträchtlich. Die Absichten, mit denen Pidohn beauftragt war, gingen auf West, auf alte Familien und diese Stadt. Jürgen West ahnte, daß man etwas vorhatte mit der Gesamtheit, die er vertrat, mit dem Bürgertum. Er wußte nicht, wer es war, was man wollte. Ihm war nur, als werde ein erstes Signal gegeben.

Man gab es vorzugsweise ihm, damit er derart handelte, daß er persönlich vielleicht davonkam. Dann hatte er seine Pflicht erfüllt. Denn jede gegebene Lage hat eine Pflicht, so wenig es früher eine gewesen wäre oder so ausgesehn hätte. Das Pflichtgefühl erhielt Jürgen West in diesen Tagen bei Kraft und Gesundheit. Er schlief nicht weniger als sonst. Er ließ auch seine Frau nicht entgelten, daß die kritische Stunde gekommen war.

Was konnte seine arme Frau für dies alles? Auch ihr war Pidohn vom Schicksal beschert, sie hatte sich ihn nicht ausgesucht. Er war ihr zweifellos widerwärtig gewesen, ihr aber nähergerückt nur in dem Maße, wie Jürgen selbst mit ihm zusammenwuchs. Sogar die Komödie, die sie jetzt mit Pidohn als Napoleon spielte, wer hatte sie ihr auferlegt?

›Meine eigenen Ohren haben gehört, daß sie mit dem Menschen auf und davon gehn wollte. Wie kommt es, daß ich es nicht glaube? Keinen Augenblick wirklich glauben konnte? Wir sind viel enger verbunden, als wir oft wissen. Bin ich ein lächerlicher Ehemann? Sie spielt vielleicht nur meinetwegen mit Pidohn die Komödie und hat ihm auch die Flucht nur angetragen, weil sie mit mir und meinen Nerven fühlt, was vorgeht. Sie wäre geflohen, als ob ich selbst dadurch aus allem herausgewesen wäre ... Mir fallen unzusammenhängende Dinge ein. Bin ich nicht doch einfach ein lächerlicher Ehemann?‹

In dieser Befürchtung betonte er gegenüber Gabriele das Konventionelle mehr, als er selbst gewünscht hätte. Er gab sich höflich, vielbeschäftigt und nach Möglichkeit unbefangen. Zuzeiten ließ er merken, daß irgend etwas unentschieden und nur hinausgeschoben war. Gemeint sein konnte eine Aussprache, vielleicht ein Ereignis. Bis dahin Zurückhaltung, – und sie ward noch fühlbarer, wenn man zur Ruhe ging. Die Zigarette auf der Terrasse war unerläßlich geworden, und bevor Jürgen in das Zimmer zurückkehrte, schlief Gabriele oder tat so.

Auch sie berief sich in ihrem Herzen, damit es nicht verzweifelte, auf den Abend der Aufführung, wenn alles glücklich aus sein sollte. Sie dachte, Jürgen werde wohl seinen Plan haben, – wie Jürgen die Absichten Unbekannter annahm. So hielt auch sie diese Tage aus.

Sie wollte nicht glauben, daß ihr Haus und Leben wirklich zusammenbrächen, wußte auch nicht, wie das Unglück noch aussehn sollte, wenn es nicht mehr das Gesicht Pidohns trug. Pidohn aber hatte ausdrücklich abgelehnt, ihr als Unglück zu dienen. Jetzt konnte die Armut kommen, eine Unbekannte. Die Reue und die Traurigkeit konnten kommen, zwei neue Bekannte, vor denen sie sich nach Kräften noch verleugnete. Dennoch gelang es diesen beiden, wenn sie dem Anschein entgegen nicht schlief, ihr zuzuflüstern, daß alles ihre Schuld sei, sie habe ihren Mann ins Unglück gebracht und so gut wie betrogen.

Er wieder sann im Dunkeln angstvoll, was er aus dem kindlichen Geschöpf, ihm anvertraut, jetzt gemacht habe.

Sie schliefen gleichwohl ein, denn sie fühlten, daß sie einander einst wieder würden lieben dürfen. Sie müßten nur jetzt ihre Pflicht tun gegen die unbekannten Mächte, dann würden sie später einander wieder lieben dürfen. Daher schliefen sie ein.

 

Als am Abend der Aufführung der Bürgermeister eintraf, sagte ein Lohndiener es dem anderen und der letzte dem Hausherrn. Konsul West winkte eilig seiner Kusine Emmy und beide waren schnell genug, um Bürgermeister Reuter und seine Frau noch am Wagen in Empfang zu nehmen. Sie führten sie durch den vorderen Garten, wo Gäste in Gruppen standen, nach hinten auf ihre Plätze.

Der Bürgermeister und seine Frau erhielten die Lehnsessel in der ersten Reihe zu beiden Seiten des Mittelganges. Die nächsten Reihen hatten gepolsterte Stühle. Zuletzt kamen Rohrstühle. Die hölzerne Terrasse war durch den Podest stark vergrößert, und ein Vorhang aus blauem Samt schloß sie überall. Emmy selbst hatte den Stoff entdeckt bei einem Tapezierer, der froh war, ihn verleihen zu können.

»Sie werden sehn, auch vergoldete Möbel hat unsere Bühne, wie ein Schloß. Meine Kusine Gabriele hält sie für echt.«

»Dann sind sie es«, sagte Konsul West. »Meine Frau hat Sinn dafür. Sie bittet Herrn und Frau Bürgermeister, sie jetzt noch entschuldigen zu wollen. Sie maskiert sich.«

»Ich fragte mich schon: wo ist die liebenswürdige Hausfrau?« bemerkte Frau Bürgermeister Reuter und betrachtete sowohl den Konsul wie seine Kusine durch ihr Stielglas.

Sie setzte hinzu:

»Sie selbst scheinen mir auch beinahe geschminkt zu sein.«

Da dies mißbilligend klang, berichtigte es der Bürgermeister selbst.

»Ich hoffe, daß Sie sich sogar verkleiden.«

»Es ist geschehn«, sagte Konsul West und öffnete flüchtig seinen leichten Mantel.

Emmy ließ den ihren von den Schultern fallen.

»Alle Wetter«, rief der Bürgermeister. »Ich verstehe Ihren Leutnant. Wo ist er?«

»Er soll einen Briganten spielen. Mit solch einer Maske könnte er sich hier draußen nicht zeigen.«

»Dann hilft er drinnen Ihrer Frau, Konsul West«, stellte die alte Dame fest.

Er erwiderte ehrerbietig:

»Sie kostümiert sich unten, die Herren oben.«

»Ist Herr Pidohn schon da?« fragte jemand.

»Ich glaube wohl«, sagte der Konsul leichthin.

Der Bürgermeister erinnerte sich:

»Das Stück, das Sie aufführen wollen, ist von unserem Heines. Heißt es nicht Eugénie?«

»Hier, bitte, der Zettel, Herr Bürgermeister«, sagte ein gedrungener Herr mit langen weißen Backenbärten.

»Dann hat Heines es sicher nur gemacht wegen der Ähnlichkeit Ihrer Frau mit der Kaiserin. Mir ist sie schon immer aufgefallen.«

»Das wollen wir nicht hoffen«, schrie die bellende Stimme des kleinen Herrn. Er war ein Verwandter Wests und schon Rentner. »Ähnlichkeit mit Eugénie!«

»Warum denn nicht?« fragte Emmy. »Wegen ihres Rufes? Der täuscht oft.«

»So ist es, mein Kind«, bestätigte die Bürgermeisterin aus Achtung vor dem Hause, in dem sie zu Gast war. Sonst hätte auch sie Bedenken gehabt.

Emmy machte vor der alten Dame einen tiefen Knicks, sie war stolz, sich überwunden, Gabriele verteidigt zu haben. Jetzt entfernte sie sich, sie mußte den einen ihre Plätze zeigen, die anderen begrüßen.

Der Bürgermeister sagte:

»West, ich war schon dabei, als Ihr Großvater sich verheiratete. Dann Ihr Vater, dann Sie, – aber Sie haben die Schönste genommen. Es ist sogar eine«, sagte er leiser, »wie es sonst hier bei uns keine gibt.«

»Sie machen mich glücklich, Herr Bürgermeister.«

»Na, seien Sie glücklich! Vorsitzender der Bürgervertretung sind Sie jetzt auch.«

»Ich wollte dir dazu noch gratulieren«, bellte der kleingewachsene Rentner dazwischen.

Der Bürgermeister wendete sich in seinem Lehnsessel nach der entgegengesetzten Seite, und Konsul West folgte ihm dorthin.

»Geschäftlich läuft auch alles glatt«, sagte der Bürgermeister und machte eine Pause.

Er hatte einen großen, verwitterten alten Kopf, eher bäurisch, obwohl er von jeher in der Stadt lebte; war auch bartlos wie ein Bauer und trug eine weiße gestärkte Halsbinde. Der Mund war fein und umspielt von Launen, obwohl sein dichtes graues Haar struppige Wirbel bildete. Kleine, scharfe Augen, die durch hängende Brauen geschützt wurden, verrieten sich plötzlich.

Konsul West hielt ihren überraschenden Blick ruhig aus. Hinter ihm fragte wieder jemand – nicht ihn, sondern einen dritten:

»Ist Pidohn da?«

»Zieht sich um«, sagte Konsul West über die Schulter.

»Ach! Pidohn spielt mit Theater. Und West ist heute Bürgerschaftspräsident geworden. Immer machen die beiden ihre Streiche gleichzeitig. Glückwunsch, West, Glückwunsch!«

Sie drückten ihm die Hand, bemüht, die freundschaftliche Gleichberechtigung aufrechtzuerhalten. Aber er war seit heute mehr als sie. In seiner gewinnenden Art fühlten sie es ausgedrückt. Sie gingen weiter, riefen nochmals: »Pidohn spielt Theater!« und lachten ansteckend.

Der Bürgermeister fuhr fort:

»Wenn alles so schön in Ordnung ist, West, brauchen Sie nur noch für Nachkommenschaft zu sorgen. Sie haben nicht genug Verwandte – und keine, die Ihnen viel helfen können.«

Er bewegte den Kopf in der Richtung, wo vielleicht der langbärtige Rentner sich aufhielt.

»Darf ich Ihnen meinen Sohn vorstellen, Herr Bürgermeister? Jürgen!« rief Konsul West, denn noch soeben war das Kind zu sehn gewesen. In diesem Augenblick verschwand es dort hinten zwischen zwei Damenkleidern unter den Stühlen.

»Verzeihn Sie!« sagte sein Vater.

Er bemerkte, daß er den Oberstleutnant, der hier die beiden Bataillone kommandierte, auf seinen Platz zu bringen hatte. Er führte ihn in die zweite Reihe. Die erste gehörte den Spitzen der Bürgerschaft.

Der Oberstleutnant hatte Glatze, Baß und Kaiserbart. Er sagte:

»Ich verspreche mir viel von Ihrer Frau, Herr Konsul. Außerdem soll ein komischer Mensch mitspielen. Pidohn?«

Frau Oberstleutnant gab sich Mühe, Konsul West festzuhalten. Sie hatte von ihren Reizen mehr hervorgekehrt, als er für richtig hielt. Er wußte, daß es seinetwegen geschah. Diese reife Dame mit weißem Busen, aber rotem Gesicht hatte ihn ausersehn. Er verhielt sich höflich ironisch, sie bedauerte indes nur seine Eile.

Er hatte noch immer zu empfangen, die Gäste kamen in Schüben. Oft war es Publikum ohne gesellschaftliche Bedeutung. Dann hatten solche Leute aber Gewicht in einer Körperschaft, ob städtisch oder kaufmännisch. Konsul West wußte von jedem, wie er zu seiner Wahl gestanden hatte, und kannte den, der ihn als Vorsitzenden nicht haben wollte. Der mußte gewonnen werden. Er vervielfältigte sich und bearbeitete gleichzeitig fast alle Stuhlreihen, die letzten am meisten.

»Wo bleibt Pidohn?« fragten viele.

Er antwortete sicher und unermüdlich.

Ihm half seine Kusine. Sie war heute in der Behandlung der Menschen gewinnend wie nur er selbst. Ihre Verwandtschaft ward allen sichtbar. Manchmal streifte er sie von weitem; er dachte dann: ›Was doch das Glück macht!‹

Sie war hübscher und anmutiger als sonst, sie gefiel, sie ward beglückwünscht. Man beglückwünschte sie aufrichtig, sogar aufrichtiger Neid war zu merken. Dagegen sagten die Gäste untereinander:

»Wo hat West seinen Pidohn gelassen? Bloß wegen Pidohn haben wir ihn doch gewählt.«

So sprachen die hinteren Reihen. Vorn die alten Familien äußerten Bedauern, daß ein West eines Pidohn bedurft hatte, um zu Ehren zu gelangen.

»Früher hätten wir ihn alle wegen seines Namens und um seiner selbst willen gewählt. Jetzt müssen wir uns nachsagen lassen, daß wir seinem Freunde, dem Spekulanten, seinen Willen getan haben.«

»Und wir haben ihn dem Kerl auch getan«, schrie Maßmann, einer der ersten an der Börse.

»Ich habe dem Kerl den Willen getan, das kann ich mir selbst bezeugen«, schrie er, hüpfte auf und ward blaurot in seinem kurzen Bart.

»Jetzt soll der Kerl nur noch fallieren, und mich mit meinen ewigen Geschäftsfrühstücken trifft der Schlag.«

»Herr Maßmann, Sie haben nichts zu fürchten«, sagte mit Leidenschaft ein ernster junger Mann. »Für meinen Onkel lege ich die Hand ins Feuer.«

»Was nützt es mir, wenn Sie nachher einarmig sind«, knurrte der Apoplektiker.

»Mein Onkel West«, beteuerte der junge Mann, die Hand auf dem Herzen, »ist für mich das Ideal eines Kaufmannes. Zu Michaeli gehe ich über See, dann will ich ihnen drüben zeigen, was wir hier sind, und das beste, was wir sind, ist mein Onkel.«

Während der Junge sein Bekenntnis ablegte, ward es um ihn still.

Erst daraus erfuhr Konsul West, was vorging. Sofort trat er zu der Gruppe und erklärte:

»Pidohn hat sich etwas verspätet. Er hatte eine Sitzung mit Herren von auswärts, die ihm unerwartet große Kapitalien bringen. Ihnen kann ich verraten, daß es englisches Geld ist«, sagte er leiser zu Maßmann. »Vor den anderen mußte ich so tun, als ob er längst da wäre.«

»Und jetzt ist er wirklich da?« fragte Maßmann. Wenn man ihm zugab, daß die anderen belogen wurden, faßte er selbst wieder Vertrauen.

»Zieht sich um. Übrigens kann das Theater erst anfangen, wenn es dunkel genug geworden ist«, gab Konsul West zu bedenken.

Hier sah er Professor von Heines mit Mienen der Sorge und des Mißtrauens auf ihn zueilen. Grade konnte er noch vorbeugen und den Dichter beiseite nehmen.

»Er ist nicht da? Er war aber da. Ich weiß es, Herr Professor. War er aber schon da, so kann er höchstens –«

Konsul West brach ab, er sah die Vergeblichkeit. Hier stieß er zuerst auf entschlossenen Unglauben.

Professor von Heines sagte:

»Herr Konsul, ich habe alle meine Papiere längst verkauft. Mich brauchen Sie in dieser Hinsicht nicht zu trösten. Aber mein Stück muß gespielt werden, was auch immer eintritt. Verstehn Sie? Wir müssen jemand ausfindig machen, der statt seiner die Rolle übernimmt, wenn Herr Pidohn nicht mehr käme.«

»Er kommt!«

»Setzen wir den schlimmeren Fall. Sie müssen das Publikum hinhalten, Herr Konsul, bis ich meinen Napoleon so weit habe.«

»Ich schicke zu ihm hinüber.«

»Sie meinen wohl, ich sei noch nicht dort gewesen?«

Sie sahen einander an, – und Konsul West wich aus. Ihm ward es unheimlich. Endlich begriff er, wodurch eigentlich dieser Mann, eine nur halb ernste Figur bislang, in der Welt sich dennoch Platz geschafft hatte. Nicht nur mit guten Versen, wahrhaftig nicht nur damit ... Angesichts aber einer solchen Unbeirrbarkeit fühlte er selbst sich enthüllt und sah zum erstenmal, was er tat.

›Ich betrüge.‹

Dies nur gedachte Wort trieb ihm den Schweiß aus der Stirn. Er wußte sich totenbleich und segnete die Dämmerung und seine Schminke. Er war ratlos, fast lahm, einen Augenblick begriff er nicht im geringsten mehr, wie alles kam. Ein Betrüger geworden zu sein! Es konnte nicht ernst gemeint sein. Pidohn mußte sogleich um das Haus biegen und hatte das Geld aus England. Ach! ›Auch das Geld habe ich selbst erfunden!‹

Hier ward er gerufen aus einer größeren Versammlung. Sofort versteifte sein Gewissen sich wieder und die Glieder wurden gewandt. Er dachte: ›Haltung zeigen ist alles, was ich noch tun kann. Daher ist es meine Pflicht.‹ Dieses Wort verscheuchte den letzten inneren Nachhall jenes anderen, furchtbaren.

Auch Heines sagte ihm durch einen Blick wie ein Mitwisser, daß er eilen und jene Leute beruhigen müsse. So eilte er.

 

Sie hatten Durst, sofort schlug er ihnen eine Bowle vor. Die Bowle war für später bestimmt gewesen, jetzt diente sie der Unterhaltung beim Warten. Auch leuchteten nachgrade trotz der sehr langsamen Dämmerung die bunten Laternen im Laub der Bäume. Es war warm, fast sternenlos, buntes Licht sprenkelte die entblößten Schultern der Damen, und die Bowle ward gerühmt. Da vernahm man auch noch Musik.

Klavier und Geige, es kam durch das Haus. Im Terrassenzimmer vorn, weit fort, ward gespielt. Um so verführerischer klang es, wie nicht bestimmt für die hier Versammelten. Zauberhaft rauschte es einmal auf. Jemand sagte:

»Kennst du das Land.«

»Wer spielt eigentlich?«

Mehrere gingen und spähten hinein. Die Musizierenden waren Fräulein Emmy Nissen und ihr Verlobter, der Leutnant, dieser in abenteuerlicher Maske. Man berichtete erstaunt, darauf schlichen noch andere sich hin. Frau Ermelin sagte heimlich zu ihrem Liebhaber, dem Polizeidirektor Siemsen:

»Ich bleibe lieber hier hinten und will nicht wissen, warum heute abend alles gut und schön ist, seidenweich sogar«, sagte sie schwermütig zu ihrem alten Freund.

Indessen kehrte Emmy zurück.

»Sie sind unser aufgehender Stern«, versicherte ihr Frau Ermelin. »Sie bleiben uns doch erhalten mit Ihrem künftigen Mann? Nein? Aufs Land ziehn Sie? Schließlich haben Sie recht.«

Die ehebrecherische Dame sah ihren Freund an.

»Dort hat man Ruhe. Dort wohnt das Glück.«

Emmy tat es leid um sie, es war eine alte Frau. Zugleich entdeckte sie in einer Aufwallung ihres Gefühls, was ihre Kusine Gabriele zuletzt wohl ausgestanden haben mußte – und wie es noch immer in ihr zuging. Sie sagte mit bewegter Stimme:

»Ich wünsche mir so sehr – so sehr, daß diese Aufführung gelingt. Meine Kusine Gabriele hat dafür getan, Sie wissen nicht wieviel.«

Sie bekam nicht sogleich eine Antwort, obwohl alle in der Nähe aufmerksam wurden. Dieses Schweigen verwirrte Emmy zuerst, – bis sie sich erinnerte, daß erst die Theateraufführung Gabriele dem öffentlichen Gerede ausgesetzt habe. Ach! Sie selbst war daran keineswegs unschuldig. Um so eifriger behauptete sie jetzt:

»Am seltensten war Herr Pidohn dabei. Hat er auch nur eine einzige Probe von Anfang bis zu Ende mitgemacht? Damit meine ich nicht, daß er schlecht spielen wird. Er hat Talent.«

»Auch Ihre Kusine hat Talent«, äußerte Frau Ermelin. »Zwei richtige Talente haben sich gefunden.«

Sie äußerte es in einem Ton, daß jeder verstand: Komödianten, hier nicht zugehörig.

Emmy erstaunte ein wenig. Die Ehebrecherin, der Nachsicht bedürftig wie sie war, bekannte sich vielmehr zur Strenge.

Hinter der Dame erschien einen Augenblick drunten nahe dem Boden eine kleine Gestalt, die leise sagte:

»Meine Mama kann Herrn Pidohn nicht leiden.«

›Der auch?‹ dachte Emmy. ›Woher hat er es?‹

Sie versicherte verwirrt:

»Wir spielen alle zum erstenmal ein richtiges Stück. Finden Sie etwas dabei? Mein Verlobter hat selbst eine Rolle.«

»Meine Mama kann Herrn Pidohn nicht leiden«, sagte das Kind, diesmal hinter der Frau Oberstleutnant. Da es nicht beachtet wurde, wiederholte es dasselbe etwas lauter.

Frau Oberstleutnant entschied:

»Sie, liebes Fräulein Nissen, spielen sicher nur mit, weil auch Ihr Verlobter dabei ist. Niemand verdenkt es Ihnen.«

Dies ward vielfach bestätigt.

Emmy schwankte. Ein für sie günstiger Abstand wurde hergestellt vom öffentlichen Urteil zwischen ihr und Gabriele. Verdiente sie es? Im Grunde mußte sie zugeben, daß sie es verdiente.

»Meine Mama kann Herrn Pidohn nicht leiden«, sagte das Kind jetzt schon mit heller Stimme, aber man sah es nicht. Im Augenblick duckte es sich hinter den Dichter Heines.

Dieser hatte mit dem Oberstleutnant zu tun. Er wurde zur Rede gestellt wegen seines Stückes, worin der deutsche Kaiser, wie man hörte, auftrat in höchsteigener Person. Bei dem Oberstleutnant bestanden Bedenken, er äußerte sie gewohntermaßen im Befehlston.

»Eine so hohe Meinung, Herr Professor, die Zivilbevölkerung von Ihnen hat –«

Der Dichter war errötet bis in seine weißen Haare. Ohne den Offizier aus den Augen zu lassen, griff er sich auf die Schulter nach dem übergeschlagenen Zipfel seines ewigen Plaids. Er nahm es auseinander auf der Brust, da erschienen seine Orden. Der schwarze Rock war besternt, am Halse blitzte es.

»– eine so hohe Meinung habe auch ich«, schloß eilends der Oberstleutnant und salutierte.

Emmy räumte allmählich ein, daß ihre Kusine Fehler habe. Der größte sei ihr Leichtsinn. Nach Beispielen begierig, warteten die Gesichter. Sie selbst, belebt von Erfolgen, hätte zu gern gesprochen. Das Wort »Suturp« war in ihrem Munde fertig, es wollte kommen. Da hörte sie hinter sich, zu ihrem Ohr hinauf sagen:

»Meine Mama kann Herrn Pidohn nicht leiden.«

Emmy biß sich auf die Lippe. Sie sah sich auch um. Jener geliehene Samtvorhang war ganz nahe, Gabriele beobachtete sie vielleicht. Freilich konnte Emmy nichts feststellen.

Aber sie hatte ganz recht, Gabriele war da. Sie stand, als Eugénie gekleidet und maskiert, hinter einem kleinen Loch des Vorhangs, sah und hörte, was sie trieben, Jürgen, Emmy, das Kind und alle anderen. Sie wohnte allem bei, stumm, wie eine Abgeschiedene. So laut war es draußen, so still um sie. Nur ihr Herz klopfte. Dies war eine Bühne, dahinter die leeren Zimmer. Wer sollte sie noch betreten. Draußen, zuviel, zu Schlimmes geschah draußen!

Aus dem bewegten Publikum lösten sich zwei Gestalten, ihr bekannt; zogen sich nach vorn bis unter den Vorhang und raunten.

»Was meinen Sie, Fischer, ist es soweit?«

»Ihre Nachrichten waren doch richtig, Blohm.«

»Sie haben sich noch grade rechtzeitig mit auf Baisse verlegt. Sehn Sie? Jetzt läßt Pidohn seine Leute schon sitzen.«

»Er soll noch mal Geld gefunden haben, behaupten sie. Glauben Sie, daß West es glaubt?«

Sie sahen einander an und hoben die Schultern.

»Wir müssen in die Stadt und nachsehn. Ich sage: es ist soweit.«

Wirklich brachen sie auf.

Ein Reiter trabte herbei, als sie grade fort waren. Es war ein Lastträger vom Hafen auf einem Arbeitspferd, er hielt vor der Villa und wollte den Konsul selbst sprechen. Gabriele sah es aus ihrem Schlafzimmer, weiter getraute sie sich nicht vor. Ihre Füße schienen ihr schwerer geworden.

Ein Lohndiener holte den Konsul. Als Jürgen um das Haus bog, hatte er noch Gang und Miene des freien Mannes. Zwei Schritte weiter schleppte er deutlich erkennbar ein Gewicht, eine Kette, und die Anstrengung verzog sein Gesicht.

Er nahm aus der Hand des Lastträgers einen verklebten Zettel, öffnete und las ihn. Jetzt veränderte er sich nicht mehr, eher ließ seine schreckliche Anstrengung nach. Über ihn war entschieden.

Er fertigte den Boten ab, kehrte um, blickte die Terrasse hinan, zögernd, ob er eintreten solle. Gabriele fühlte: ›Ach! Daß er käme!‹

Sie hätte hinlaufen, sich ihm zeigen wollen. Nur ihre Füße entschlossen sich nicht, – und so erging es wohl auch seinen. Er setzte seinen Weg fort. Zwei Schritte vor der Hausecke bekam er, wie je, die freie Haltung des Glücklichen.

Als seine Frau noch dastand und ihm schmerzlich nachsann, ward im Wohnzimmer die Seitentür geöffnet, jemand drang vorsichtig ein. Jetzt hätte sie fortlaufen können, die Furcht, sinnlose Furcht, machte sie sofort beweglich. Sie hatte aber noch in den Augen, wie Jürgen sich Haltung gab.

Seinetwegen tat auch sie es. Sie trat vor.

»Nur Sie, Herr von Kessel?«

»Nur ich. Mir scheint, Sie haben mich nicht gleich erkannt. Ich erschrecke Sie doch nicht?«

»So gut wie Sie erwarte ich Herrn von Kühn – übrigens auch Herrn Pidohn.«

»Herr Pidohn war noch nicht angekommen, als ich droben war. Hat der Theaterfriseur mir eine gute Maske gemacht? Ich fürchte noch immer, daß ich Sie erschreckt habe. Aber eine Kaiserin von solcher unnachahmlichen Echtheit erschreckt man wohl nicht so leicht.«

»Sie haben es schon einmal, wie ich mich jetzt entsinne, recht ungeschickt versucht.«

Sie konnte mit aller Ruhe auf seinen Kuß anspielen, weil sie in diesem Augenblick den Kopf so hoch trug und das weiße, kalte Gesicht ihrer Rolle hatte.

Er nahm unvermutet ein Messer zwischen die Zähne, bückte sich, zog die falschen Brauen über die ganze Stirn hinauf, denn die Perücke machte ihm künstlich eine Tierstirn, – so funkelte er sie an, plötzlich aber warf er sich wie ein Hund auf ihre Schwelle.

»Unnütz, stehn Sie auf! Keinen einzigen Unglücksboten, wenn er käme, werden Sie niederstechen«, sagte sie erfahren, streifte mit einem Blick seinen verbundenen Arm und wandte den Kopf weg.

Ihr Profil war schärfer als sonst, die Stimme kälter. Die schmale Wange trug ein Schönheitsmal. Aus den großen falschen Kleinodien erhob der Hals sich strahlend und senkten die Schultern sich tief entblößt, vom Atem bewegt, unnahbar. So sah er sie, ihm war bewußt, das letzte Mal.

»Wir müssen noch Abschied nehmen«, flüsterte er, verwirrt dastehend mit seiner schrecklichen Maske, die hier ohne Verwendung war.

»Ihre Maske ist übertrieben«, sagte sie auch noch grausam. »Sehn Sie, Herr von Kessel, so ist es mit Ihnen. Sie möchten beständig mehr aus sich machen, als Sie verantworten können; wird es aber ernst, sind Sie mit Ihrer ganzen Romantik nicht mehr da.«

Er wollte widersprechen. Ihre Hand wehrte ab, man fiel ihr nicht ins Wort. Jetzt erlaubte er sich, trotz Sträubens seines Herzens, sie ungerecht zu finden. Ihr war aber eingefallen, was wohl geschehen wäre, wenn er ihr, statt jeder romantischen Schwärmerei, einfach und klar seine Zukunft angeboten hätte wie seither der anderen. Sie sah über ihn fort, weil sie angestrengt nachdachte.

Sie fand es nicht. Hätte sie je vorausgesehn, wie ihre eigene Romantik enden sollte? »Alles nur Romantik«, hörte sie die Stimme Pidohns sagen, und die Stimme war voll Haß. Sie begriff den Haß. Sie hatte ihm nicht helfen können, so wenig wie ihr selbst dieser Knabe. Das Leben schien anfangs so oder anders ausfallen zu können. Verlockungen näherten sich, Versprechungen machten sich heran, es sah aus, als hätten wir die Wahl. Wir konnten im Hafen das Schiff besteigen, das in die Vergangenheit fährt, oder die Zukunft mit einem Abenteurer teilen oder den sanftesten der Liebhaber erhören. Zuletzt drängt uns doch alles auf einen unausweichlichen Punkt, und er heißt Bescheidung, heißt Ertragen.

Plötzlich fragte sie:

»Sind Sie glücklich, lieber Freund?«

Aufmerksam sah sie sein entstelltes Gesicht gegen ein Schluchzen kämpfen.

Sie verlangte noch:

»Gestehn Sie doch, für wen Sie sich duelliert haben! Sie haben sich duelliert, Sie brauchen nicht länger zu leugnen.«

Er empörte sich, bevor er es selbst wußte. Auch ihn empörte die Zumutung, sich nochmals hinzugeben, wo es vergeblich war. Mit einer bösen Stimme, die sie nie hatte hören sollen, sagte er:

»Für meine Verlobte.«

Hierauf fanden sie einander nichts mehr mitzuteilen. Es war gut, daß jemand kam. Die Tür ging auf, herein trat Napoleon III.

Er gelangte nicht weit mit seinen müden Schritten. Schon neben der Wand ließ er sich hoffnungslos in einen Sessel, stützte einen Ellenbogen auf das Tischchen daneben und den Kopf an die gebogene Hand. Er schien sich hier allein zu glauben. Dann ging aber sein ganzes fahles Gesicht mit einer langsamen Wendung über die beiden Personen hin, – sie konnten nicht wissen, ob auch die Augen. Seine Augen waren fast geschlossen, übrigens unerkennbar, undurchdringlich. Vielleicht nur die Schwellungen unterhalb der Lider verursachten den Ausdruck von Schlauheit.

Seine Kenntnisnahme der Anwesenden war schon beendet, er saß fortan da wie für den Photographen oder für die Nachwelt.

Sie sollte, gestürzt wie er nun war, doch seinen gut hergerichteten Kopf bewahren, wuchtige Nase, lange glatte Wangenflächen, den gedrehten Schnurrbart und gekräuselten Kinnbart, um die breite Stirn noch immer, wenn auch erbleicht, die romantisch gebogenen Haare. Er trug Stehkragen und schwarzen Knoten, auf dem geschlossenen, aber faltigen Gehrock die große Schleife seines Ordens. Die Hand, die nicht den Kopf hielt, ruhte zierlich geordnet auf seinem Schenkel.

»Bravo, Herr Pidohn!« rief Gabriele.

Umsonst, Napoleon rührte sich nicht. Sie sagte zu Leutnant von Kessel:

»Mich wundert es nicht. Sogar im hellen Sommeranzug war er nahezu richtig. Er hatte damals auch schon den Bart. Endlich sollten wir anfangen«, setzte sie hinzu. »Ah! Herr von Kühn!«

Denn König Wilhelm war gleichfalls erschienen. Beim Anblick seines besiegten Vetters durchfuhr es ihn, er hätte vielleicht sprechen wollen. Gabriele klatschte schon in die Hände. Der vom Stadttheater geliehene Inspizient bekam den Auftrag, zu läuten und beim zweiten Läuten den Vorhang aufzuziehn.

Auch die Souffleuse war da. In Ermangelung eines Kastens sollte sie hinter der Tür des Prospektes sitzen. Napoleon, der mit müden Schritten herbeiwankte, gab ihr stumm, aber herrisch das Zeichen, auf der Bühne sich hinter das Sofa zu kauern. Das Sofa war sein Platz, dort brauchte er sie.


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