Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Elftes Kapitel

Leutnant von Kessel begleitete Kusine Emmy. Sie wohnte noch weiter draußen an derselben Allee, aber hinter mehreren Gärten, in einem schon älteren Landhaus. Sie sollte es von der Tante, mit der sie lebte, einst erben, war auch sonst nicht unbegütert, erfreute sich übrigens einer seltenen Unabhängigkeit. Man traf sie allein in Gesellschaften.

Sie dachte bei allen Gelegenheiten, besonders in Begleitung eines jungen Mannes: ›Nun? Es wird Zeit, mein gutes altes Mädchen.‹

Dies, um sich selbst dahin zu bringen, daß sie endlich einen Bewerber ermutige, seine Erklärung zu machen. An ihr lag es, wenn sie es nicht taten, soviel fühlte sie. Übrigens liebte sie ihren Vetter West.

»Ja, ein ganz reizender Nachmittag war es«, antwortete sie dem Leutnant, indes sie voll schmerzlicher Sorge an die Abenteuer ihrer Kusine Gabriele dachte.

Emmy war nicht umsonst Herrin ihrer Zeit und ihrer Schritte. Sie hatte die eigene Freiheit benützt, um den Fluchtversuchen jener kleinen Gefangenen nachzuspüren. Jetzt kannte sie die aus der Ferne her verschlagene Gabriele genauer als irgendein anderer, besonders als Jürgen West. ›Hätte er nicht einfach mich heiraten sollen? Jetzt weiß er nicht, wie ihm geschieht, und ist unglücklich. Nicht einmal die Frau hat, was sie will‹, dachte sie gerechterweise.

»Ja, so ist meine Kusine West«, bestätigte sie dem Leutnant. »Sie braucht Abwechslung, wußten Sie das nicht?«

Sein ratloses Staunen erregte bei ihr Geringschätzung, sie nannte es höchst männlich. Ein Mädchen sitzenzulassen, kostete den Mann keine Bedenken, sie hatte es erfahren. Das Gegenstück war dieser hier, der sich nicht beherrschen konnte, wenn seine Angebetete ihm mit seinem eigenen Kameraden denselben Streich spielte.

›Ein Mädchen muß sich wohl beherrschen‹, dachte Emmy. ›Sonst wäre es kompromittiert. Ich bin seitdem erst recht zu Jürgen und Gabriele gegangen – solange, bis ...‹

»Ja, das anregendste Haus der ganzen Stadt«, erklärte sie dem Leutnant. »Das war es immer, und jetzt sehen Sie dort den berühmten Pidohn leibhaftig in einem Stück mitspielen.«

›– solange, bis ich‹, dachte sie unaufhaltsam weiter, ›meinen Vetter Jürgen im Grunde nicht mehr liebte. Es ist nur noch alte Gewohnheit – hindert mich aber, andere zu ermutigen. Jürgen weiß es. Er hat die Dreistigkeit, mir die Wange zu tätscheln, als sagte er: mein gutes Opferlamm. Nein, das soll aufhören.‹

Sie blieb stehn unter einer der großen Linden, weit und breit weder Mensch noch Tier, und sie sagte zu Herrn von Kessel:

»Erleichtern Sie doch ruhig Ihr Herz!«

»Ruhig?« wiederholte er vorwurfsvoll. Plötzlich ließ er sich gehn, er stöhnte.

Vor einem jungen Mädchen hätte er sein Stöhnen doch beherrschen sollen. Ihr bereitete es Widerwillen. Auch dies wieder um Gabriele! Immer um dieselbe, Emmy lehnte sich endlich auf. Sie spürte die Regungen einer Eifersucht, die wußte, was sie wollte.

›Ich will Leutnant von Kessel heiraten‹, beschloß sie. ›Gott sei Dank. Ich wurde schon bequem. Wenig fehlte, und ich hätte es nicht mehr fertig gebracht, noch irgendeinen Mann zu ermutigen.‹

»Ich weiß, was Sie haben«, sagte sie klar. »Sie bildeten sich zeitweilig ein, Sie liebten Gabriele West. Sie hat mit Ihnen kokettiert, Sie nahmen es ernst. Jetzt sehn Sie aber die gute Gabriele auch mit Ihrem Kameraden von Kühn kokettieren. Lassen Sie es dabei. Noch mehr beschäftigt meine Kusine Herr Pidohn, das können Sie nicht so wissen. Ich aber weiß sogar, daß sie auch den alten Heines zu verführen versucht hat. Ich weiß es von seiner eigenen Haushälterin.«

Der heitere Augenblick, in dem die Kusine milder gedacht hatte, war längst vorbei. Sie stand mitten im Kampf.

»Mein Kamerad ist ein so strenger Protestant«, beteuerte der Arme. Er wollte sagen, daß die vielgeliebte Gabriele bei Kühn um alle ihre Künste gebracht sei und vielmehr Mitleid verdiene. Emmy verstand ihn, sogleich schnitt sie ihm die Ausflucht ab.

»Ihr Kamerad würde auf der Stelle mit ihr durchgehn, wenn sie es verlangte. Er würde den Dienst quittieren und Abenteurer in schönen Ländern werden – und das grade, weil er kalt ist! Einmal will auch so einer gelebt haben. Eine Frau wie unsere Gabriele ist der Notbehelf derer, – die sonst zu vernünftig wären.«

»Sie müssen sie furchtbar hassen«, klagte der Arme. »Ist sie denn nicht unglücklich?«

»Ach ja. So unglücklich wie die Katze, wenn hoch droben die Vögel zu schön singen.«

»Sie fiel doch heute in Ohnmacht. Ich glaube oft, daß nur dieser Pidohn aus ihr die Frau macht, die Sie in ihr sehn, aber die sie nicht ist.«

»Ahnungsvoller Engel! Und seine Papiere kaufen wir alle trotzdem.«

»Man steht stramm vor Pidohn, man macht die ganze Verblendung mit, inzwischen nahen vielleicht Dinge.«

»Sagen Sie: Katastrophen!«

»Ich möchte das nicht mit ansehn. Ich lasse mich nach den Manövern versetzen.«

»Ich glaube, daß ich schon vorher meine Heimat verlassen werde«, sagte sie taktvoll verhalten. Offenbar nur gegen ihren Willen war zu merken, wieviel sie erlitt.

»Wohin gehn Sie?« fragte er nicht ohne Teilnahme. Ihre ungewisse Handbewegung, der schöne große Blick ins Unbekannte gewannen erst recht seine Aufmerksamkeit.

»Ich kann gehn, wohin ich will. Ich habe ein ziemlich großes Gut«, sprach sie ins Unbekannte. »Ich kann es umtauschen gegen ein passend gelegenes.«

»Zum Beispiel bei uns zu Hause neben unserem Familienbesitz ist ein prachtvolles Gut abzugeben. Wir haben nur die Mittel nicht flüssig.«

»Es macht sich oft ohne Mittel«, sagte sie dunkel.

Hierauf bog sie in den Weg zwischen Gärten, der zu ihrem Hause führte. Der Weg war schmal, ihr Begleiter hielt sich halb hinter ihr. Er fragte und es klang wie Unterordnung, weil er halb hinter ihr war:

»Glauben gnädiges Fräulein, ich sollte meinen Eltern folgen? Die alten Herrschaften wünschen, daß ich schon heirate. Ich würde dann das Gut bewirtschaften.«

»Das erweiterte Gut?« fragte sie über die Schulter.

»Vielleicht.«

Er verbesserte:

»Womöglich. Sogar mit Freuden. Nur nicht, wie die alten Herrschaften es sich denken. Sie haben für mich eine Wahl getroffen, die ich leider nicht billigen kann.«

»Ehret Vater und Mutter!« sagte sie über die Schulter.

»Soweit irgend tunlich«, bestätigte er.

Auch Emmy trug dieses stolze Spazierkleid aus Überwürfen, Falbeln, Besatz, das hinten gebauscht war. Band flatterte vom Häubchen, der kleine Schirm beschattete die schmal gesenkten Schultern. Sie rührte ihn herzlich, grade weil sie keinen ganz so außerordentlichen Geschmack zeigte, wie jene andere, die jetzt verloren sein mußte. Die getürmte Frisur lächelte nicht, wie bei Gabriele, mit Goldlichtern. Das Profil – ach, es schien leicht verschwommen, man hätte sagen können, verdickt; aber das beginnende Doppelkinn gefiel ihm. In diesem günstigen Augenblick ward Emmy auffallend beleuchtet.

Der Weg bildete hier eine Laube, die schräg durch Blätter strahlende Sonne sprenkelte Emmy gefällig, fast süß. Als wüßte sie alles, blieb sie nochmals stehn und hielt das angenehme Doppelkinn hin. Ihn rührte herzlich, daß sie ihre dermaßen bescheidenen Reize, sooft sie in Gegenwart der anderen schon zurückgetreten war, jetzt tapfer anbot. Er brauchte seinerseits einfach den Mut, sie zu bewundern! War es der Mut zur Bescheidung, gleichviel. Wie hier, konnte Emmy einst auf seinem Gutshof stehn, grün überlaubt, und in dem rinnenden Licht glänzten allein die Augen fest und für die Dauer.

»Ich will wahrhaftig keinem, der mich liebhat, Kummer machen«, sagte er bewegt. »Hoffentlich sind meine Eltern nicht schon Verpflichtungen eingegangen, die ich als Ehrenmann –«

Sie antwortete hierauf durchaus unerwartet.

»In Ihrer Gegend sind berühmte Bäder. Meine Tante will sie gebrauchen. Nach den Manövern finden Sie uns dort.«

Hierüber durfte er Freude äußern, durfte aber weder Hoffnungen noch Versprechungen daran knüpfen. Emmy selbst, so klar sie das Ziel sah, brach hier ab und ging weiter. Beide fühlten: Gabriele war nahe, man mußte schweigen.

Das Haus lag da mit offener Tür, der Blick ging mitten hindurch, und den Ausgang drüben erfüllte rote Sonne. Dorthin wollte Emmy ihm entschwinden.

»Zeigen Sie sich drinnen nochmals!« bat er dringend.

Hätte nicht die Sonne ihn geblendet und verwirrt, er würde dies nie gesagt haben.

Emmy wandte sich um.

»Wenn Sie sich selbst noch einmal zeigen«, erwiderte sie, nickte ihm zu und trat ein.

Er ging schnell den Weg zurück, kam aber nur bis zu der Laube. Hier ward ihm unversehens angstvoll zumute. Er stand und hielt sich die Schläfen.

›Ich, der Gabriele liebt!‹

Plötzlich hörte er sagen:

›Schämen Sie sich, Herr von Kessel, Sie waren doch im Krieg.‹

Er erschrak, er forschte nach. Gabriele war natürlich nicht zugegen, nur ihre Stimme begleitete ihn. Nur Wesen, Stimme, Glanz und leichter Schritt sollten noch einige Zeit mit ihm sein. Er bildete sich nicht ein, es wäre für sehr, sehr lange.

›Vielleicht sogar liebe ich sie heute das letzte Mal noch wie bisher. Dies ist mein letzter romantischer Tag. Bald werde ich kein junger Mensch mehr, dafür aber ein recht ordentlicher Mann sein.‹

Dies Vorgefühl ward gestört durch ein anderes. Was aus ihr würde. Aus ihr, aus Gabriele – bedroht, wie sie war, verstrickt, wie sie war. Sie fiel doch heute in Ohnmacht. Er ahnte viel bei all seiner Liebe, und Emmy hatte ihm noch mehr zugeraunt; dennoch empfand er Gabriele schuldlos, nur das Unglück hatte sich verschworen gegen die eine. Die Frage war allein noch, ob das Unglück vorhatte, bis zur Katastrophe zu gehn. Sie fiel doch heute in Ohnmacht.

›Ich aber, als wüßte ich nichts, hätte nie um sie gezittert, ihretwegen auch nur die kleinste Bequemlichkeit geopfert. Sie retten? Ich armer Dutzendmensch und künftiger Landwirt halte hier mein kleines Idyll ab vor dem Hintergrund ihrer vielleicht unermeßlichen Tragödie.‹

Bei diesen, innerlich gesprochenen Worten hatte er die Laube schon wieder verlassen, ging wieder in Richtung des Hauses, kam schon in Sicht. In dem Augenblick, als er anhielt, zeigte droben sich jemand. Es war jetzt dämmerig, aber sie erkannten einander. Leutnant von Kessel grüßte mit gradliniger Anmut, wie vorgeschrieben. Von droben winkte seine Braut.

Hierauf machte er kehrt und marschierte in Richtung der Kaserne. Er wünschte sich, im Dunkeln einem Strolch zu begegnen, die Straße blieb aber menschenleer. Im Zimmer bei West brannte die Lampe, die dem draußen Irrenden etwas von Frieden und Sicherheit ins Gedächtnis rief. Leutnant von Kessel wußte, daß sie täuschte.

Sein Zimmer in der Kaserne stieß an das Kühnsche. Er hörte den Kameraden umhergehn. Da Rauch durch die Tür drang, hatte Kühn schon zu Abend gegessen. Alles war geregelt, alles alltäglich, – und fern, ohne Zugang drohte eine Welt der großen Gewalten. Dieser aber gehörte Gabriele West, immer schrecklicher stellte es sich heraus. Dorthin gehörte die Frau, der Fritz von Kessel, noch am ehesten ihr unter allen Lebenden, sich dargebracht hätte.

Wie oft hatte er hier im Zimmer, anstatt zu schlafen, dem Mond entgegengeträumt und gefragt, ob auch sie ihn gleichzeitig betrachte. Er schämte sich inmitten seiner Rührung. Sie – und solch eine flache Empfindelei! Sie war durchsichtig, aber nicht wie Mondschein. Sie hatte für ihn die Klarheit der Vernunft, jede ihrer Bewegungen war schön durch Vernünftigkeit, ja, ihre Leidenschaft wäre klar und einfach gewesen. Ihm brannte das Herz, weil er sie in Leidenschaft nie kennen sollte.

Er wartete nicht ab, daß der Mond aufging, er trat bei Kühn ein. Hier sah er den Burschen dastehn wie einen Kleiderhalter, und Kühn legte ihm auf die steif hingestreckten Arme einen Zivilanzug, mehrere Hemden, was noch.

»Du nimmst doch nicht Urlaub?« fragte Kessel.

»Wer weiß«, sagte Kühn, ohne ihn anzusehn.

»Wie kannst du vor den Manövern noch in Urlaub gehn?«

»Du meinst, vor der Theateraufführung bei Wests.«

»Sagen wir, vor der Theateraufführung.«

»Sie wird nicht sein«, sagte Kühn. »Kehrt, marsch«, rief er dem Burschen zu, der auch abtrat.

»Sie wird nicht sein?« wiederholte Kessel, in dem Gefühl, er sei erbleicht.

»Nein, denn die beiden Hauptrollen sind die Kaiserin Eugénie und der Kaiser Wilhelm, und die gehn zusammen durch.«

»Du – mit Gabriele, mit Frau Konsul West?« verbesserte sich der arme Kessel. Er glaubte sich in einem Traum, der ausartet.

»Vielleicht nicht?« machte Kühn, als ob er bellte.

»Das muß ein Irrtum sein«, stammelte Kessel. Kühn lachte auf.

»Sei mal deutlicher, als sie heute war! Daß sie mir nicht ausdrücklich um den Hals fällt, ist alles. Zum Schluß die Ohnmacht.«

»Du bist verrückt«, brachte Kessel vor.

»Ich will nicht genaunehmen, was du redest in deinem Ärger. Dir ist es eben nicht gelungen. Glaubst du übrigens, daß eine Entführung dienstliche Unannehmlichkeiten nach sich zieht? Meine Karriere ist mir die Sache denn doch nicht wert.«

Hier sah Kessel, daß er keinen Freund hatte, daß dies ein fremder Mensch war. Diesem aber hatte er vorgeschwärmt von der Einzigen, Unerreichbaren, manchmal konnte man sich leider nicht enthalten. Was schloß daraus Kühn? Sie sei für jeden zu haben, sogar für ihn. Man müsse nur zugreifen. Wer zuerst da sei, mit dem reise sie.

Kühn wartete auf Antwort, er wendete halb den Kopf. Dies zeigte in seiner häuslichen Drillichjacke und ohne Kragen wie er war, die auffallend breite, rote Halssehne hart wie Eisen. Der Hinterkopf verlief in Verlängerung derselben harten Linie ohne Ausbuchtung. Rötliche Borsten, rote Haut, jedes Blinzeln der farblosen Wimpern wirkte peinlich wie eine böse Absicht. Kessel staunte nur, daß er dies sonst, wenn nicht verkannt, doch übersehn hatte.

Er selbst wurde sich eines anderen Blutes bewußt. Der Anblick Kühns zwang ihn, an den eigenen, besser gebildeten Schädel und an seinen weicheren Ausdruck zu denken. Sein Haar war dunkler, und er trug es länger. Er konnte bleich sein und gelöste, dem Gefühl überlassene Glieder haben. War er nicht doch, sei es nur für Augenblicke, Gabrieles würdig, ja, ähnlich ihrer Art? In Kessel stritten sich Stolz, Leiden und Verzicht.

Daher sagte er mit Überlegenheit:

»Denke, du liebtest sie! Dann erledigen sich deine Fragen.«

»Man muß kein Schmachtlappen sein.«

»Man muß auch kein gemeiner Mensch sein«, sagte Kessel mit wahrer Wollust, denn alles, was jetzt folgen mußte, war ihr zu Ehren.

Die beiden Offiziere wechselten noch einige kurze und scharfe Worte, nichts Persönliches mehr, nur die vorgeschriebenen Feststellungen. Nach korrekter Verbeugung verließ Kessel den anderen. Das erste war, Zeugen zu suchen. Dann zurück in sein Zimmer.

Bei ihm stand der Mond im Fenster. Er wendete sich dem Gestirn zu, diesmal ohne Scham, denn er war nicht mehr nur der Schwärmer. Er handelte, er bekannte sich zu ihr, die es nicht wußte. Unbeachtet, handelte er doch.

Er konnte fallen – schon morgen ganz früh. Sie lag noch im Schlummer. Sie träumte ihren eigenen Schicksalen entgegen, inzwischen fiel unter sieben Männern, die sich im leeren Kasernenhof versammelt hatten, einer vom Säbel getroffen um und stand nicht mehr auf. Auch dies war ein Leben gewesen, aber sie kannte es nicht.

Sein Leben, das nicht unter ihren Augen gespielt hatte, schien ihm arm und bedauernswert. Nacheinander kehrten Kindheit und Jugend in seinen Geist zurück; aber Spielgefährten, erste Liebe, erster Verlust samt Auszeichnungen, Streichen, großen Freuden, alles war entwertet, da von ihr kein Blick es traf.

Eine Stunde lang ihr Ohr haben, dann sterben. Oh, fremd und abgeneigt wie sie jedesmal geblieben war, wenn er sich aufschließen wollte. Jener Kuß auf ihren Nacken, noch einmal hätte er ihn nicht gewagt, denn niemand erträgt zweimal dies Erstarren des Blutes.

Hier fand er die ganze Szene lebend wieder vor. Er hatte gekämpft nicht nur um sie, auch gegen ihren Feind und Verfolger Pidohn. Gab es nicht Augenblicke in jener Szene, da sie gestutzt, ihm im stillen vielleicht gedankt hatte? Pidohn war jetzt Sieger – gleichviel. Noch einmal ihr Gehör, ihre unverwehrte Nähe, und Fritz von Kessel vermaß sich, sie zu retten, ja, sie zu gewinnen ... Da ward ihm klar, daß er nicht sterben wollte – nicht, so lange sie lebte und Leben schenken konnte.

Er reckte die Arme hinan, zur Begrüßung dieses unerhörten Gefühls, nur durch sie noch da zu sein. Inmitten seiner Begeisterung fiel ihm ein, daß er verlobt sei.

›O pfui‹, rief der Jüngling. ›Welch eine schreckliche, unbeseelte Stunde war das? Als ich mich vor ihr, der allzu Geliebten, in Sicherheit bringen wollte? Ich verstehe mich nicht mehr.‹

Jetzt machte er Licht, um ihr zu schreiben, sich ihr darzulegen, ihre Verzeihung, ihr Gedächtnis zu erlangen.

›Denken Sie meiner! Ich werde, sollte ich sterben, nur diesen Wunsch noch auf den Lippen haben. Dem Rest der Menschen will ich vergessen sein. Glauben Sie nie, o Gabriele, ich hätte irgendeinem anderen Wesen mein trauriges Geschick zu teilen angetragen, außer vielleicht in völliger Verzweiflung. Ja, ich war verlobt ...‹

»Auch noch verlobt warst du?« fragte hinter ihm die Stimme Kühns. Er stand und hatte mitgelesen.

»Ich klopfte mehrmals«, erklärte er, »aber du antwortetest nicht. Ich verstehe, warum«, schloß er milde.

Nur diesen Ton brauchte es, Kessel kamen Tränen. Kühn wollte sie nicht gesehn haben. Er habe mitzuteilen, daß ihre vier Zeugen sich noch heute abend träfen. Einer von ihnen war bis jetzt nicht nach Haus gekommen. Aber nach dem Geschehenen war kein Zweifel, daß sie sich auf ziemlich schwere Bedingungen einigen würden. Stockend sagte Kühn:

»Nun, wir waren sonst immer gute Kameraden.«

Sein Kamerad sah ihn an. Um dies zu sagen, war Kühn eingetreten. Seine farblosen Wimpern blinzelten auch jetzt in dem roten Gesicht, aber es zeigte keine bösen Absichten mehr an. Es zeigte den Freund und Bruder, der ein Herz hatte und die Hand hinhielt. Kessel nahm sie, stürmisch stürzten beide einander an die Brust.

»Wenn wir nicht gleich die Zeugen gerufen hätten«, sagte Kühn. »Jetzt muß es sein. Wir werden uns ehrlich schlagen.«

»Es ist auch besser«, sagte Kessel mit einem Blick auf den begonnenen Brief.

»Zerreiße ihn!« riet Kühn. »Das Weib soll sich nicht noch freuen, was es geleistet hat.«

Kessel widersprach empört, fast wäre es zu einer zweiten Forderung gekommen. Rechtzeitig fingen sie an zu lachen.

»Junge!« rief Kühn. »Rede mir nicht ein, daß du ihr lange nachtrauern wirst. Nicht länger als sie dir, wenn ich das Unglück habe, dich totzustechen.«

»An mir hat niemals viel gehaftet. Sollte nicht dies wenigstens für das ganze Leben sein?«

›Wozu sonst das ganze Leben?‹ fragte Kessel immer wieder, als Kühn längst draußen war.

Beim Morgengrauen traten sie zum Zweikampf an. Eine Verwundung des rechten Armes machte Kessel kampfunfähig. Die Gegner versöhnten sich. Im Zimmer Kessels leerten fünf der Herren eine Flasche Wein. Der Arzt dankte. Trotz Zureden dankte auch der Patient. Ihn ließen sie, als er verbunden war, allein.

Er hatte, so sehr es ihn anfangs befremdete, ein deutliches Gefühl der Erleichterung, das Gefühl, anders dazustehn als noch gestern, vor sich, vor ihr, vor dem Sinn der Ereignisse. Warum? Wem hatte er sich hiermit bewiesen? Nicht ihr, sie sollte von seiner Verwundung, wenn es nach ihm ging, nie erfahren. Eher die andere! Die andere hatte unbedingt mehr Sinn für seine schlichte Entschlossenheit. Einfach hatte er sich ihr erklärt, einfach nachher sich geschlagen. Gleichviel für wen geschlagen, er wollte alles einfach finden.

Hier fiel ihm freilich der Brief ein. Wäre er abgeschickt worden, der Brief hätte die Sache furchtbar verwickeln können. Aber er war nicht abgeschickt, nicht einmal beendet war er. Der Verwundete erhob sich trotz empfangenem Verbot und holte den Brief.

Er las ihn, wollte ergriffen werden, lehnte sich aber mit Kraft dagegen auf.

›Ja, ich war verlobt‹, las er – nahm die Feder und machte ›ich bin‹ daraus. ›Ja, ich bin verlobt.‹

Dann zerriß er das Ganze.


 << zurück weiter >>