Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel

Gleichwohl fand sie im »Krug« des Dorfes Suturp ein Wägelchen.

›Geschieht ihm recht‹, dachte sie. ›Jetzt wartet er umsonst darauf, daß ich ihn bitten komme.‹ Noch auf der Straße um den Waldhügel war sie bei jeder Wendung gewiß, ihn vorzufinden mitsamt Pagels und dem schwarzen Gespann. Nein, nichts.

Nach längerer Fahrt bemerkte Gabriele, wie unberechenbar ein Mensch dieser Art sei. Sie versuchte, sich auf dem heutigen Ausflug statt seiner vorzustellen wen immer, jeder hätte Punkt für Punkt anders gehandelt als Pidohn. Er strengte an, denn er überraschte zu oft. Das allein schon ist unhöflich, sah die Dame. Alles in allem wäre sie froh gewesen, allein zurückzukehren, ja, ihn los zu sein. Aber die Aufführung! Er ward gebraucht. War jetzt der Weg zu ihm verstellt wie das erste Mal?

Sie sagte: »Nein« – sprach es aus und machte dazu in der beginnenden Dämmerung ein Gesicht, das schlau lauschte. Für nichts und niemand, im leeren Abend, behielt sie das rätselhafte Lächeln bis nahe der Gartenwirtschaft Anton. Hier erst erinnerte sie sich des verlassenen Kindes.

Es langweilte sie, es abzuholen. Sie wollte nicht wissen, daß sie auch erschrocken war bei dem Gedanken an seine kleine Gestalt in dem fremden, schon dunkelnden Garten. Ein Kind allein! Und nicht einmal die Familien, soweit sie zählten, betraten ein Wirtshaus. Frau Konsul West mit ihrem Söhnchen bei Anton! Frau Konsul West, die ihr Kindchen bei Anton zurückließ und verschwand, wer weiß wo, bis in die Nacht! Die Familien, die in kein Wirtshaus gingen, hätten Stoff gehabt, sich bei Tisch zu unterhalten.

Gabriele gab ihnen recht. Nur langweilte es sie, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Zu ändern war nichts, nicht die Fahrt nach Suturp mit Pidohn oder was sonst vielleicht noch eintrat – ungerufen eintrat. Auch die Verlassenheit Jürgens bei Anton hatte nun einmal nicht verhindert werden können ... Dort war er! Die Mutter erblickte ihn im Garten schon aus dem Wagen, der Zaun war niedrig.

Er war so klein und so allein, wie sie es vorausgesehn hatte. Alle seine Spielgefährten waren schon fortgegangen. Darum aber stand er doch nicht, wie sie gefürchtet hatte, und weinte. Ach nein, er spielte für sich, kroch hinter einen Erdhaufen, ja, versteckte sich wohl vor Gestalten, die er selbst erfand. So war er; seine Mutter mochte ihn in solchen Fällen nicht. Sie verdachte ihm fragwürdige Gaben, die ihm von ihr selbst kamen.

Sie rief, ohne den Wagen zu verlassen, unwillig seinen Namen. Er erschrak, wollte sich anfangs noch verstecken, erkannte die Unmöglichkeit und lief herbei wie das gute Kind, als das er sich nicht fühlte.

Seine Mutter drohte: »Soll ich es Papa sagen?« – worauf Jürgen nicht mehr zu atmen wagte.

So fuhren sie dann beim Hause vor.

Im Wohnzimmer war Licht. ›Er ist da. Nun gut‹, dachte Gabriele.

Sie fühlte ungeduldig, so könne es nicht weitergehn. Ihr Mann mußte endlich bemerkt haben, was vorging. Sie trieb es zu arg – und mit einem Pidohn noch dazu! Mochte der Konsul sie lieber sofort davonjagen – aus dem Tor, durch das sie in die Stadt gekommen war ... Gradeswegs ging sie hin, ihn selbst um Geld zu bitten für den Kutscher aus Suturp.

Sie erstieg die Terrasse, sie stieß die Tür auf. Wie? Niemand? Das Licht brannte allein.

Sie riß an der Klingelschnur, sie rief. Das Mädchen kam erstaunt gelaufen. Wer das Licht hier habe stehen lassen? Sie wußte es nicht. Wo der Konsul wäre? Die Hausleute hatten gedacht: mit der Frau Konsul. Denn er war seit dem Nachmittag noch nicht zurückgekehrt. Gleichwohl fand sich das Geld für den Kutscher.

Alles kam anders, als es hätte kommen sollen. Sogar der kleine Jürgen empfand es wohl; schon war er dem Mädchen, das ihn schlafen legen wollte, in den Garten entwischt.

Gabriele mußte warten. Die Katastrophe traf sie nicht, wie sie gedacht hatte, auf einmal. Sie schickte sich vielmehr an, qualvoll langsam dies Haus einzunehmen. ›War nicht der Konsul schon hier gewesen? Hatte das Haus leer gefunden und es zu Tode beleidigt wieder verlassen? Wer – oh, wer hatte die Kerze angezündet?‹ Gern hätte Gabriele alle zusammengerufen und Auskunft verlangt. Nein, sie mußte warten.

Das Kind war aufgefunden. Sie hörte, wie es in die Küche zum Essen gebracht wurde. Nachher zogen sie es mit Gepolter über die Treppe nach oben.

Gabriele veränderte in der ganzen Zeit ihre Haltung nicht. Sie saß vor der rätselhaften Kerze, saß vorgeneigt mit den Ellenbogen auf ihre Knie gestützt, hielt sich die Wangen und starrte in das Licht. Volants und seidener Überwurf stiegen hinter ihr bis über die Stuhllehne. Noch trug die hohe Frisur das Häubchen mit dem Blumengärtchen, dem langen Band.

Je länger sie wartete, um so weniger zwingend fand sie, was geschehen war.

›Ich bin mit Herrn Pidohn nach Suturp gefahren, – und es ging nicht anders? Was habe in Wirklichkeit aber ich, Gabriele West, zu schaffen mit seinem auffallenden Wesen, diesem schreienden Glück, durch das hindurch doch etwas ganz anderes mich anatmet?‹

Sie mußte blinzeln – nicht vor der Flamme, nur, weil sie erstaunte, was alles ihr allein jetzt bekannt war. Mochten die anderen törichte Märchen erzählen, niemand außer ihr selbst wußte, daß Herr Pidohn auf seinem Grunde ein schrecklich trauriges Wesen verbarg, ein nicht geheures, sogar unaussprechliches, einen – wahrhaftig einen Sträfling. Da wäret ihr erschrocken!

Gabriele war wieder großes Auge, worin die Flamme hüpfte.

›Davor kriecht nun die ganze Stadt am Boden. Laden ihn ein, laufen sogar noch seinen Freunden nach. Das tun die reichsten Grafen, die Creme der Gesellschaft.‹

Sie dachte Namen, sah Gesichter.

›Sie konnten anständig weiterleben, nicht hinsehn mußten sie nach dem Sträfling. Doch! Sie mußten es. Sie hatten anders keine Ruhe. Die Geldgier drückte ihnen die Kehle zu, der Goldglanz machte sie blind. Tun das nur die Herren? Wessen aber wären die Damen fähig?‹ sann Gabriele.

Sie erblickte Pidohn in Gesellschaft – einer unbestimmten Gesellschaft, Gesichter, die ineinander übergingen, und irgendein Haus; aber ihn umringten Damen. Sie benahmen sich so herausfordernd, daß es ihr grauste. Gleichzeitig fühlte sie sich überaus allein.

›Wenn Jürgen käme!‹

Sie würde ihrem Mann von den Damen gesprochen haben. Pidohn ward verfolgt, ob das nicht schamlos war? Ob man nicht gut daran täte, sich rechtzeitig, bevor ein Skandal entstand, aus gewissen Kreisen zurückzuziehen? ... Sie richtete in Gedanken die fertige Rede an ihren Mann.

Plötzlich stockte sie, ihr war eingefallen, daß sie ihn wohl hätte warnen sollen – aber aus anderen, viel furchtbareren Gründen. Pidohn, der Pidohn, den sie jetzt kannte, war dabei, zum Ruin ihres Mannes zu werden. Er richtete jeden zugrunde, der in seinen Bereich kam, soviel fühlte sie; und wen hatte er sicherer in den Händen als ihren Mann!

›Ich werde Jürgen alles sagen.‹

Zugleich erschrak sie, denn er war da. Sie hörte ihn durch den Garten kommen, aber nicht schnell, auch nicht mit der Sicherheit, die sie gewohnt war. Sonst sagte ihr schon sein Schritt, sie sei geborgen. ›Er weiß alles‹, dachte sie, von Schrecken erfüllt.

Er trat ein, wünschte guten Abend wie geistesabwesend. Die Kerze schien ihr in die Augen, ihr entsetzter Blick veranlaßte ihn nur, sie auf die Stirn zu küssen. Gleich vergaß er sie wieder, sah vor sich hin und zog an seinem Schnurrbart. Nach einer Weile weckte Gabriele ihn, sie rief leise:

»Jürgen!«

Als er aufsah, schloß sie: »Ich bin nicht glücklich.«

Indes sie es aussprach, ward ihr klar, mit ihm selbst stehe es nicht anders. Er hätte ihr so viel, so Schlimmes zu eröffnen wie sie ihm, und auch er werde es wahrscheinlich nicht tun. ›Dann sind wir wohl verloren‹, dachte sie erstarrt. ›Jürgen, ich und das Kind‹, dachte sie in der gewohnten Reihenfolge. ›Alle verloren.‹

Einen Versuch machte sie.

»Wer hat die Kerze angezündet?«

»Ich war hier«, sagte er, als ob mehr folgen sollte, – schwieg aber schon wieder.

»Niemand hat dich gehört.«

»Ich hatte Eile«, sagte er. Auch die Bewegung, die er dazu machte, wich aus.

Sie dachte: ›Jemand erwartete ihn – eine Frau! Das fällt mir erst jetzt ein?‹

Sie betrachtete seine verdächtige Haltung, die schuldbewußte Stummheit.

›Er betrügt mich! Schon lange vielleicht. Mit Emmy? Ja, mit Emmy, denn sie liebt ihn immer noch, warum heiratet sie sonst keinen anderen.‹

Die Eifersucht machte ihr schwindlig, in diesem Augenblick kannte sie nur noch ihre Eifersucht. Sie stand auf, ging, mit der Hand nach den Möbeln tastend, von ihm fort und hörte ihr Blut sagen: ›Du bist die einzige, die nichts weiß. Hier hast du gesessen. Er war bei der anderen, du saßest hier.‹

Als sie das Schlafzimmer erreicht hatte, fühlte sie sich von hinten umfaßt, er riß sie an sich, gewaltsam wie noch nie. Sie schrie auf, plötzlich aber erwiderte sie seine verzweifelte Umarmung.

Endlich war das Licht gelöscht, da hätte sie gern geweint, nur ging es nicht. Den Mann wußte sie mit offenen Augen daliegen, sie zog sich die Decke über das Gesicht und versuchte zu schluchzen. Nein. Die Tränen waren verloren mit der Unschuld ihrer Liebe, mit dem Glück. Nur diese innere Erstarrung, anzufühlen fast wie Ruhe, – ›und das soll alles sein, wenn es so steht wie mit mir?‹ Denn es stand furchtbar.

Sie hörte ihn tiefer atmen, sie stand auf. Sie wollte zu dem Kind. Sie hatte den Fuß schon auf der Treppe, zog ihn aber zurück, etwas wie Empörung hielt sie auf. Sie fühlte: ›Wieder oben sitzen an seinem Bett, wie gestern, als ich vom Hafen kam – mit großer Reue, weil ich nicht die ganze Zeit bei ihm gesessen hatte? Nun, ich war in Suturp, daran ist nichts zu ändern. Jürgen und ich, aus uns ist geworden, was wir jetzt sind. Ich kann es nicht ändern.‹

Sie fühlte, daß sie ihr Kind nicht liebe, noch niemals wirklich ganz geliebt habe und eine schlechte Mutter sei. Wunderbar war nur, wie ruhig sie sogar dies hinnahm. Alle Tatsachen ließen sie ruhig, erstarrt und ruhig – daß sie auch Jürgen, ihren Mann, ihr fern und bald verloren wußte, und was noch alles drohte. Nur dachte sie einmal: ›Es ist die Nacht. Es wird auch wieder Morgen.‹

 

Der Konsul war am nächsten Morgen müde, aber unruhig. Er klagte über Kopfschmerz, ja, zögerte fortzugehn. Ein Montagmorgen, und er verspätete sich! Kehrte nach einem Gang durch den Garten zurück zum abgeräumten Frühstückstisch.

Dies geschah auf der hölzernen Terrasse im Rücken des Hauses, in der Morgensonne, die aber schon stechend wurde. Die Hausfrau eilte tätig hin und her.

»Geh doch hinein!« rief sie ihm zu. »Deine Kopfschmerzen werden ärger werden.«

Soviel aber erlaubte sein Gewissen ihm noch nicht. Sich müßig ins Zimmer zu setzen! Hier draußen war er doch immer im Aufbruch.

Sie verschwand und kam wieder, jetzt mit Schürze und alten Handschuhen bekleidet. Die Zeremonie des Lampenputzens begann. Jeden Morgen trugen die Mädchen alle Petroleumlampen des Hauses auf einen Tisch zusammen. Sie hätten sie ebensogut gleich reinigen und auffüllen können. Nein, dies war der Hausfrau vorbehalten. Einzig nur den Küchenzettel zu machen, wäre zu wenig gewesen. Die Achtung der Dienenden wie auch der Beifall des Mannes ward nur durch eigenes Handanlegen behauptet. Symbol der Arbeit war das Lampenputzen. Wäre es nicht getan gewesen, Gabriele hätte keine Dame, keinen Herrn, die schon vormittags Besuch machten, sorglos empfangen.

Sie sah den Mann seinen gequälten Kopf in den Händen halten. Ihr war bei der Arbeit wohl und entschlossen zu Sinn. Die Erlebnisse von gestern waren über Nacht kraftlos geworden, sie fand ihre Bedeutung nicht mehr. Grade das Übermaß aller gestrigen Zumutungen stimmte sie heute nüchtern. Pidohn als Schreckensgestalt, Pidohn als Mann des Schicksals schien ihr bei Tageslicht weit übertrieben und nicht stichhaltig. Sie wollte nicht an Emmy denken. Emmy wäre dann doch ernster zu nehmen gewesen ... Vorerst tat der Konsul ihr unbestimmt leid, ja, sie betrachtete ihn ohne jede Unterordnung, wie er dort saß und sich die Haare hielt, die übrigens anfingen auszugehn.

Überraschend für sie selbst, trat Gabriele auf den Fußspitzen hinter ihn. Da ihre Hände voll Petroleum waren, legte sie die Wange gegen seinen Nacken. Unter der Liebkosung seufzte Jürgen, – worauf er sich umwandte, um sie anzusehn, zum erstenmal heute.

»Mir ist nicht wohl«, sagte er. »Ich habe gespielt.«

»Gespielt?« wiederholte sie, die Stirn hinaufgezogen, die Augen weit offen. »In Herrengesellschaft?«

»Ja.«

»Nur mit Herren?« fragte sie nochmals.

»Ja. Pidohn kam nämlich gestern spät. Er wollte nicht sagen, wo er gesteckt hatte. Aber er wollte spielen und legte auch gleich die Bank auf. Es war nichts zu machen.«

»Du hast verloren?« fragte sie, bemüht, keine helle Freude zu zeigen. Nicht Emmy war im Spiel! Was sonst geschehen war, sollte alles gut sein. Gut, er hatte verloren. Er sagte aber:

»Im Gegenteil, gewonnen. Das ist das Schlimme. Wir Herren spielen sonst Bézigue, während ihr mit den jungen Leuten tanzt. Es geht, sagen wir, bis hundert Mark, sagen wir sogar dreihundert. Wieviel ich aber gestern gewonnen habe, mag ich nicht aussprechen. Ich schäme mich und habe davon Kopfweh.«

»Ist es so schlimm?« fragte Gabriele, gedankenlos vor Freude. Nicht Emmy war im Spiel, was hieß da noch das andere ... Doch! Was sonst geschah, war schlimm. Keine Freude hielt dagegen stand, gleich kam es wieder über sie.

Sie wollte ihn trotz allem trösten.

»Was tust du dann überhaupt mit Pidohn? Ihr spekuliert, ist das kein Spiel? Verzeih die Frage. Du sprichst mit mir nicht von Geschäften.«

Er runzelte auch schon die Stirn.

»Das läßt sich entfernt nicht vergleichen, meine Liebe.«

»Du weißt es besser«, sagte sie folgsam. Aber plötzlich ward sie kurz und bestimmt.

»Wenn er spielt, spielt er falsch.«

»Wer? Pidohn?« Der Konsul war aufgefahren. »Woher willst du das wissen?«

»Das sieht man«, behauptete sie im gleichen Ton wie vorher.

Er verstand sie nicht. »Hüte deine Zunge!« sagte er mehr ratlos als befehlend. Sie aber hatte auf einmal keine Lust mehr, zu gehorchen.

»Er ist ein Zuchthäusler«, stieß sie zornig aus.

Ihr Mann kam vom Ende der Terrasse herbei und auf sie zu.

»Was ist er?«

»Ein Zuchthäusler«, rief ihre kleine zornige Stimme.

»Und das ist noch nichts. Seinen Genossen, mit dem er saß, muß er umgebracht haben. Sonst würde der Mensch ihm jetzt nicht erscheinen.«

»Wo erscheint er ihm?« fragte der Konsul.

Da erst erkannte sie in seinen hellen Augen, die nach den ihren spähten, die ganze Gefahr. Noch ein Wort, und sie hätte sich selbst zugrunde gerichtet. Sie hätte sogar mehr als das getan, wie ihr schien.

»Man ist ihm nachgegangen«, warf sie hin. Sofort blies der Mann die Luft aus.

»Ach so.« Er lachte stumm. »Wieder bis in die bekannte Hafenkneipe? Was für Dummheiten! Und meine Frau macht sie mit!«

Hier kamen Gabriele die Tränen – vor ihrer Machtlosigkeit, die zum Weinen war. Sie durfte nicht sprechen, nicht warnen, und was sie dennoch zu äußern wagte, versagte. Dazu trug sie eine befleckte Schürze und ihre Hände waren voll Petroleum. Unvorteilhafter hätte ihre Lage nicht mehr sein können.

Während sie dies noch überlegte, nahm der Konsul seinen Hut, um zu gehn. Wenigstens verließ sie den Schauplatz vor ihm, mit allen Zeichen ihrer Mißbilligung.

Als sie aber gereinigt und schon im Empfangskleid vor ihrem Ankleidespiegel stand, wer trat ein? Gabriele dachte, er bereue und wolle sich wieder einschmeicheln. Jürgen fragte vielmehr, nicht einmal sehr höflich:

»Warum lassen Kühn und Kessel sich hier nicht mehr blicken?«

Sie lachte spöttisch, denn sie erriet nicht, was er wollte.

Jürgen bemerkte gereizt:

»Du mußt wohl deine Gründe haben, wenn du Pidohn bei mir schlecht machst.«

›Um Gottes willen‹, dachte Gabriele. Sie betrachtete ihn heimlich im Spiegel. Er hatte die Braue aufgestellt, die Stirn in Falten, und sah sowohl drohend als gequält aus.

»Hast du dein Kopfweh noch?« fragte Gabriele sanft. Er fuhr auf.

»Bilde dir nur nicht ein, daß ich drauf los rede!«

Dann ward er viel leiser, ja, sprach Wort für Wort.

»Über Pidohn«, sagte er, »wird von unseren Geschäftsgegnern so viel geklatscht, daß schon nicht mehr jeder in die Häuser geht, wo man ihn treffen könnte. Einen Verkehr aufzugeben aus Standesgründen, damit sind besonders Offiziere gleich bei der Hand.«

Ah! Dies verstand sie, und es beleidigte sie. Ihm voll zugewendet, verlangte sie: »Sage lieber gleich, daß ich mir von ihnen den Hof machen lasse! Das hat noch gefehlt. Ich werde mich hüten, dich vor gefährlichen Menschen nochmals zu warnen. Anstatt ihm, mißtraust du nur mir.«

Er senkte den Kopf; denn wenn man dies so offen aussprach, war es nicht schön. Aber er hatte nun einmal wahrgenommen, daß es ihn innerlich schon längst beunruhigte. »Hiergeblieben!« rief er daher, als sie auch diesen Schauplatz wieder vor ihm räumen wollte.

»Beliebt?« fragte sie kühl, mit augenscheinlicher Neugier ... »Ich warte«, erklärte sie nach einer Pause.

Er fand nichts zu sagen, obwohl die Gefahr ihm plötzlich auf den Nägeln brannte. Die Offiziere, jetzt war es ihm blendend klar, die beiden Leutnants waren der Grund, daß sie Pidohn los sein wollte. Nur einer von ihnen natürlich, aber welcher? Der Draufgänger Kühn? Der Schleicher Kessel?

Konsul West war bereit, jeden zu hassen. So einer hatte Zeit, hier Besuche zu machen, indes er selbst auf seinem Kontorbock hockte. Während er arbeitete, ward er lächerlich gemacht!

»Wie weit ist es schon gekommen?« brachte er hervor, er war heiser geworden. Ihr beleidigtes Gesicht konnte ihn nicht mehr aufhalten, im Gegenteil.

»Gewarnt hatte ich dich genug. Vergnügungssucht und Verschwendung laufen zuletzt immer auf das hinaus, was jetzt da ist.«

»Was ist da?« warf sie dazwischen. Nur aus Selbstachtung schluchzte sie nicht, so schrecklich war ihr sein Zustand.

»Komm zu dir!« bat sie ihn, aber die Stimme gehorchte ihr nicht, er überhörte es.

»Ich wußte wohl«, rief er, »daß eine Frau, die viel Geld ausgibt, sich auch den Hof machen läßt!«

Sie fand es unwahr, nur konnte sie nicht sprechen. Abwehrend streckte sie eine Hand vor. Es war eine zu schnelle, dabei zu anmutige Bewegung. Was er am meisten liebte an ihr, jetzt reizte es ihn qualvoll.

»Nie hab ich dir getraut!« rief er.

Er glaubte es. Er sah einen Mann, der Uniform trug, begehrlich zu ihr geneigt, und glaubte fest, dies schon immer vor Augen gehabt zu haben.

Sie aber wußte sich unschuldig in allem, was er meinte. Jener Besuch des Leutnants von Kessel, sein Kuß – Jürgen hätte sie mit klaren Worten daran erinnern dürfen, sie würde es nicht geglaubt haben. Vergessen und nie gewesen, – sie aber stand in schlimmeren Sorgen und einem Ansturm, der viel schwerer war. Den Hof machen? O Gott! Wer machte hier den Hof.

Sie sah auf mit einem Blick wie um Hilfe. Es geht doch um das Leben! Geht um unser Leben!

Dies traf ihn, er erschrak. Er wußte nicht mehr, was tun, und bekam eine Haltung wie vielleicht bei einem Besuch, der zu lange gedauert hat. Er fühlte nur: nicht weiter eindringen! Nicht weiter!

Gabriele fühlte Mitleid mit ihm und mit sich. So kannte sie sich nicht, aber ihr Mitleid war stark genug, um auch ihn zu ergreifen. Er machte eine rücksichtsvolle Wendung, eine Verbeugung nahezu.

»Man spricht zuviel«, murmelte er. »Was darf ich überhaupt sagen, ich habe gespielt.«

Er ging langsam hinaus. Sie sah ihm lange nach.

 

Dann kam Emmy. Ahnte sie etwas? Sagten die Luft im Zimmer oder das »Guten Tag« Gabrieles ihr etwas? Sie hatte heute morgen ihren spitzen Blick, der sich von Gabriele nicht trennen konnte. Gabriele hätte auf ihrer Hut sein sollen, sie wußte es wohl. Aber das Bedürfnis, Emmy für ihre Freundin zu halten, eine Freundin in der Not zu haben, war größer als ihre Vorsicht.

»Jürgen ist manchmal komisch«, äußerte sie, ohne Emmy anzusehn. Denn sie kramte in ihrem Körbchen unter Bändern und Scheren.

»So?« machte Emmy. Es war nicht Aufforderung, eher Ablehnung.

Gabriele sagte dennoch: »Jetzt ist er eifersüchtig.« Hierbei sah sie auf. Sie hatte ein kindlich ernstes, ja, erschrockenes Gesicht, die Augen weit offen, und sie drückte die Spitze des Zeigefingers an den geschlossenen Mundwinkel.

Die Miene Emmys verhehlte kaum, daß sie gegen diese Kindlichkeit die größte Abneigung fühlte. Nach ihrer Meinung war Gabriele alt genug zur Selbsterkenntnis.

»Seine Eifersucht macht dir doch grade Spaß, nicht?« sagte sie leichthin, als hätte sie eingesehn, hier sei nicht zu helfen.

»O Gott, nein!« rief Gabriele leise und noch mehr erschrocken.

»Warum bist du dann so?« fragte Emmy scharf.

»Wie bin ich?«

Dies ward ihr nicht erklärt. Emmy zuckte die Achseln. Während ihres Schweigens fühlte Gabriele, daß Emmy ihr viel, viel mehr vorwarf, als nur irgendeinen Hofmacher. Was aber? Was eigentlich?

Statt zu antworten, brachte Emmy eine Überraschung.

»Mit Frau Konsul Ermelin und Polizeidirektor Siemsen ist es ein Skandal«, fing Emmy an – ganz von vorn, als hätte sie noch nichts gesprochen.

»Seine Nachbarn halten sich darüber auf, wenn sie ihn besucht. Die beiden schämen sich nicht.«

»Vielleicht schämen sie sich doch, können aber nicht anders«, erwiderte Gabriele, denn plötzlich erfaßte Trotz sie. Dann ward sie wegwerfend.

»Die Geschichte ist schon genug erzählt worden. Das sind alte Leute.«

Kaum gesagt, erschreckte das Wort sie tief. War nicht auch Pidohn alt – wenigstens in den Augen Emmys? Erzählte Emmy das Beispiel des alten Liebespaares grade im Hinblick auf Pidohn? Wußte diese Emmy im Grunde von Pidohn und Gabriele alles, auch das Verborgenste, die Fahrt nach Suturp? Es war ihr zuzutrauen, ihre Augen und Ohren waren überall. Noch hatte sie nichts gesagt, aber gleich, gleich sprach sie aus, was sie wußte, – dann war alles verloren!

Die Angst machte Gabriele fähig, sich zu verstellen.

»Wenn ich nur wüßte«, sagte sie vollendet kindlich, »auf wen Jürgen, genaugenommen, eifersüchtig ist. Er sagt immer: Kühn und Kessel. Das sind doch zwei. Zwei Leutnants auf einmal. Wie kann ich es ihm ausreden, wenn er nicht sagt, welchen er meint. Ahnst du es?«

Kalt hörte Emmy die lange Rede an.

»Die sind es beide nicht«, versetzte sie endlich. Sie lächelte eingeweiht, aber zurückhaltend.

Gabriele wollte dies nicht sehn.

»Da du es selbst sagst!« rief sie. »Keiner ist es. Ich verstehe Jürgen nicht. Keiner der beiden macht mir den Hof. Oh, ich will wohl zugeben, daß sie es ganz gern täten, wenn ich es ihnen erlaubte. Aber bei welchem sollte ich dann anfangen? Ich sehe doch nie den einen ohne den anderen. Und seit dem Abend mit Professor von Heines ist weder der eine noch der andere hier gewesen.«

»Das ist nun auch wieder nicht wahr«, sagte Emmy, genau so eingeweiht, aber schon weniger zurückhaltend.

Gabriele erschrak nochmals furchtbar. Sollte sie aus den Ängsten nicht mehr herauskommen? Sie begann ihre Lage empörend zu finden. Auch Emmy war sichtlich nahe daran, die Geduld zu verlieren. Die Damen maßen sich mit Blicken, die nichts mehr von Freundschaft hatten.

»Was willst du eigentlich von mir?« fragte die eine zornig.

»Bist du auch wirklich entschlossen, es zu hören?« fragte die andere, – worauf jene wieder nach einem Aufschub griff.

»Drüben«, – sie warf den Arm, sie streckte den Finger aus, »die schrecklichen alten Jungfern, die dort wohnen, spionieren durch die Baumkronen – sogar mit Operngläsern, und was nicht da ist, erfinden sie. Daher hast du das mit dem Leutnant.«

Die andere aber sehr scharf: »An Leutnants denke ich nicht. Du weißt ganz gut, an wen ich denke.«

Sie setzte ab. Oh! Sie redete nicht wie ihre Feindin, hastig in einem Zuge. Sie setzte ab und begann gestärkt.

»Daher will ich dir nur sagen, daß es mit euch noch genau so kommt, wie mit der alten Ermelin und Polizeidirektor Siemsen. Ich will dich nur warnen. Bevor erst die ganze Stadt über dich Bescheid weiß, wäre es doch entschieden besser, daß du deiner Wege gehst und verschwindest.«

Wie kalt ward es hier Gabriele! Entblößt stand sie da, mit ihrem arm, arm hilflosen Gesicht. Entblößt und vertrieben, wäre sie vielleicht aus der Tür und immer weiter gegangen. Nur die jäh hereingebrochene Entkräftung hielt sie.

In diesem Augenblick gab sie der anderen in allem recht. Sie konnte gehn. Denn sie liebte Pidohn und hatte Jürgen schon betrogen. So wenigstens mußte jeder, der von ihren Handlungen erfuhr, sie auffassen. Was aber hätte man erst zu ihren Gedanken gesagt?

Gabriele verstand, was sie alles gedacht haben mochte, selbst nicht. Was sie getan hatte, war ihr auch nur geschehen. Es war nicht voll gegenwärtig, es betraf sogar eher eine andere. Aber es galt, das sah sie ein, und man konnte sie dafür vertreiben. Jürgen selbst wäre der erste gewesen, sie aus dem Tor zu weisen, durch das sie zur Stadt hereingekommen war.

Sie blieb die Fremde. Die nicht zugelassenen Neigungen, die ihre unbekannte Natur hierher mitgebracht hatte, machten sie zuerst den anderen verdächtig, zuletzt aber auch ihr selbst; da war sie schon abgewichen. Da fand sie sich schon, erstaunt, daß sie es hatte tun können, in Suturp. Da lag schon das Schiff des Herrn Pidohn, bereit, sie zu entführen, und er lud sie dahin ein. Sie hatte es ihm nur für später versprochen. Jetzt mußte es gleich sein. Das Beste schien ihr, zu ihm zu gehn und zu sagen: hier bin ich.

Zu ihrem Glück wurde eben jetzt ihr kleiner Sohn vom Hund des Nachbarn angefallen. Jürgen schrie, daß beide Häuser zusammenliefen, das Westsche, das Pidohnsche. Ja, als Gabriele bei ihrem am Boden hingestreckten Kinde eintraf, erschien auf der anderen Seite der niederen Hecke Herr Pidohn selbst.

Er streckte seine Hand durch die Hecke, wobei die Hand besonders braun und kräftig erschien, und nahm seinen kleinen, kläffenden Hund von dem Kind fort. Hierauf begannen die Bemühungen, das Kind zum Aufstehn zu bewegen. Die Mädchen versuchten es gegen sein Sträuben vom Boden loszureißen. Auch seine Mutter unternahm dies, indes von drüben Herr Pidohn dringende Ermahnungen an Jürgen richtete. Plötzlich kläffte der Hund nicht mehr, das Kind hatte sein Geschrei eingestellt, auch die Dienerschaft war still. Da merkten Gabriele und Pidohn gleichzeitig, daß nur sie noch die Stimmen erhoben. Auf einmal schwiegen sie, sahen nacheinander um, ja, grüßten erst jetzt. Gabriele war es klar, sie stehe vor einem fremden Mann.

Noch eben im Geist seine Mitschuldige, noch eben willig, mit ihm zu fliehen, – jetzt aber grüßte sie der sachliche Blick eines Herrn, den der Lärm vielleicht aus dem Schlaf geweckt hatte, denn wann schlief eigentlich Pidohn?

Nein, er teilte ihr mit, daß ein Geschäftsfreund ihn im Hause erwarte, er müsse um Entschuldigung bitten. Einen Hut konnte er nicht abnehmen, führte aber die Hand von der Stirn bis gegen den Boden. So grüßte er auch Emmy, die dabeistand.

Sie sah enttäuscht aus. Gabriele lachte ihr einfach ins Gesicht. Sie war sich bewußt, vor Pidohn tief errötet zu sein; um so heftiger lachte sie, damit auch das Gelächter ihr Blut ins Gesicht treibe. Schnell nahm sie den Arm Emmys.

»Ist das komisch, Emmy, ist das komisch!«

»Ich verstehe zwar nicht, was hier komisch sein soll«, konnte Emmy vorbringen, weil Gabriele ein wenig erstickte.

»O doch, du verstehst«, sagte sie schon wieder. »Du verstehst ausgezeichnet, daß Pidohn, wie er soeben dastand, aus deiner haarsträubenden Geschichte den reinsten Witz gemacht hat ... Nicht wahr? Du sagst nichts mehr.«

Wahrhaftig, Emmy schwieg. Sie hielt sogar still, indes Gabriele, vom Lachen zu sehr geschüttelt, sich über ihren Arm krümmte. Lachend versetzte sie:

»Ich dachte mir doch gleich, was du eigentlich heute hier wolltest, Emmy. Mich hinaushaben, das wolltest du! Hofmacher? Du wirfst mir Hofmacher vor? Nicht doch, liebes Kind, Jürgen wirfst du mir vor. Jürgen, meinen eigenen Mann! Ich kann es dir auch nicht verdenken –« mit Druck auf den Arm Emmys, »denn du selbst hättest ihn damals haben wollen. Man vergißt das nur immer, wenn man so intim ist wie wir.«

Ihr Atem war schon freier, sie lachte nur noch einige Male heiter zwischen den Worten.

»Wenn ich es nun aber Jürgen erzähle, daß du mich vertreiben wolltest, um doch noch seine Frau zu werden, – was der wohl sagt! Er müßte sich eigentlich geschmeichelt fühlen. Er soll nur nichts gegen dich tun.«

Emmy empfand die Drohung, sofort zischte sie auf.

»Du wolltest das Kind nicht haben. Du haßtest es, als du mit ihm in der Hoffnung warst. Was du mir damals alles anvertraut hast! Davon weiß Jürgen auch nichts.«

Der Arm Emmys machte einen kurzen Ruck, gleichzeitig ließ Gabriele ihn schon von selbst los. Nebeneinander, aber getrennt gingen sie in das Haus zurück.

Gabriele begann:

»Woran meinem Jürgen am meisten liegt, das ist die Theateraufführung, der große Empfang bei uns und das Stück von Heines. Darum will ich mich jetzt ernsthaft bekümmern.«

»Ich gönne dir alles Gute, das weißt du«, sagte Emmy. Sie beteuerte: »Nie habe ich dir gewünscht, daß du Jürgen verlierst. Aber mit Professor von Heines und seinem Stück wird es schwer sein. Er hat den Ausspruch getan, dies Haus sei angefault«, sagte Emmy ohne Widerspruch im Ton.

»Hast du es selbst gehört? Wie kommt er dazu?«

»Er war doch im Ärger von hier fortgegangen.«

»Trotzdem soll er mir das Stück verfassen. Ich gehe sofort zu ihm«, beschloß Gabriele. »Warte! Ich setze mir den Hut auf.«

Emmy wartete unentschlossen. Als sie aber zusammen aus dem Garten in die Allee traten, bedurfte es nur der flüchtigsten Verständigung, damit jede ihres Weges ging.

»Du kommst nicht in die Stadt mit?«

»Nein.«

Sie hatten Gesichter, daß ein Bäckerjunge, der pfeifend daherzog, kurz anhielt und mitten zwischen die beiden Damen einen gellenden Pfiff schickte.


 << zurück weiter >>