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Siebentes Kapitel

Am Morgen war es Sonntag und überaus hell. »Der schönste Tag im Jahr«, sagte Gabriele schon beim Frühstück zu ihrem Gatten. Sie wollte sich damit Mut machen. Was ihr heute nachmittag bevorstand, war spannend, aber furchtbar.

»Ich weiß etwas!« rief sie. Es war ein Versuch, zu entkommen. »Heute fahren wir an die See«, rief sie begeistert.

»Gleich vom Frühstück weg?« fragte der Konsul und griff nach einer Börsenzeitung. »Laß mir Zeit, mein Kind. Hier auf unserer Terrasse beim Tee in der Sonne ist uns wohler, als wenn wir stundenlang im Wagen schaukeln. Das ist nur für Pidohn.«

Bei dem Namen ward Gabriele noch lauter.

»Den ganzen Tag bleiben wir fort!« rief sie. »Wir essen in Suturp zu Mittag, später baden wir mit dem Kind.«

Er griff sich an die Stirn.

»Dann muß ich schon längst in der Stadt sein. Sitzung mit Pidohn.«

Sie dachte daran, daß Pidohn heute doch hatte spazierenfahren wollen. Er fuhr nicht, sondern hielt Sitzung ab? Dies erleichterte sie unvermutet, gleichzeitig aber enttäuschte es sie. Nachdem die Erleichterung einmal eingetreten war, nahm die Enttäuschung sogar zu; Gabriele hätte gern bezweifelt, daß Pidohn Sitzung abhielt.

»Sogar sonntags?« fragte sie – mit einer Stimme, als gäbe sie den Kampf auf.

»Das geht dir näher, als ich denken konnte«, bemerkte der Konsul. Er betrachtete sie aufmerksam. Sie lächelte zuerst noch bittend, dann zeigte sie ihm Unzufriedenheit.

»Pidohn und immer nur Pidohn! Mit wem bist du verheiratet? Du kommst zu Tisch jeden Abend später. Jetzt soll ich dich auch Sonntags nicht mehr sehn.«

»Davon ist nicht die Rede, mein Kind. Die Sitzung dauert zwei Stunden.«

»Oder sechs. Und den ganzen Sommer werden wir nicht ein einziges Mal an der See gewesen sein.«

»Fahre mit dem Kind!« sagte ihr Mann.

»Warum mit dem Kind? Mit Jürgen allein?« stammelte sie. Denn schon sah sie sich im ungedeckten Wagen auf der Landstraße, und hinter ihr war ein anderer, der sie einholte. Sie hörte ihn rollen. Offene Angst befiel sie.

»Wann wirst du einmal selbständiger werden?« fragte ihr Gatte mit gerunzelter Stirn. »Es ist kein gefährliches Unternehmen, nach Suturp zu fahren.«

Das glaubte er. Es konnte aber gefährlich werden, wie sie sehr wohl wußte, und er selbst lieferte sie der Gefahr aus. Sie ward es müde, sich zu wehren. Schließlich hielt Pidohn vielleicht doch die Sitzung ab.

»Er hat euch zusammenberufen?« fragte sie.

»Hier ist sein Brief«, sagte der Konsul.

Sie sah den Brief, er war von gestern abend. Das war es, was Herr Pidohn diktiert hatte in seinem erleuchteten Guckkasten gestern abend! Den Kutscher aber hatte er bestellt zum Spazierenfahren. Was tat er nun wirklich?

»Er ist nicht zuverlässig«, behauptete sie, aber ohne besonderen Nachdruck.

»Bei geschäftlichen Verabredungen?« Der Konsul war befremdet. »Das wäre noch schöner«, sagte er wegwerfend.

Zum ersten Male, seit sie ihn kannte, fand Gabriele ihn dumm, und ihr Eindruck reizte sie.

»Bist du denn taub, daß du nichts hörst von allem, was geredet wird über deinen Freund?«

»Freund ist zuviel gesagt«, erklärte der Konsul. Er sah auf seine Zeitung nieder, woraus hervorging, daß er dennoch manches wußte.

»Er führt ein Doppelleben«, sagte seine Frau – dies so geheimnisvoll betont, daß ihr Mann hinsehen mußte. Ihre Augen waren erweitert, und sie saß reglos aufrecht.

»Romantik«, meinte ihr Mann. »Reine Romantik. Mein – Freund hat eine neue Art zu leben und zu arbeiten hier eingeführt. Die Leute verstehen nicht, was er tut. Er ist für sie der Zauberer. Ihre Geldgier und ihr Aberglaube streiten sich, sie kommen in Verlegenheit, was sie ihm alles nachsagen sollen.«

»Du mußt es wissen«, sagte seine Frau noch immer mit dem Blick der Geheimnisse.

Er ward unruhig, er stand auf.

»Wenn auch nur die Hälfte von allem, was geredet wird, wahr wäre«, sagte er im Umhergehen, »ich würde mich von ihm trennen. Ich ließe Pidohn allein, soviel ich auch mit ihm verdienen kann!« beteuerte der Konsul, wen wollte er überzeugen?

»Die einfachste Menschenkenntnis sagt mir doch, daß bei einem Manne von seinem Gewicht alle diese Abenteuerlichkeit unmöglich ist. Unmöglich, weil ungeziemend. Übrigens, hätte er denn Zeit dazu?«

Der, den er überzeugen wollte, schien dennoch Zweifel zu behalten.

»Führt Pidohn aber wirklich ein unregelmäßiges Leben«, so ergänzte er daher, »was bewiese es, müßten deshalb seine Geschäfte nur Luftschlösser sein?«

Hier wandte Konsul West sich wieder an seine Frau, die ihm nicht mehr zugehört hatte. Sie ordnete Blumen in einer lebensgroßen Taube, die eine Schale war.

»Eins ist sicher«, sagte er noch. »Seit meine Firma besteht, weder zu Zeiten meines Vaters noch meines Großvaters war sie so reich fundiert, wie in diesem Augenblick.« Das letzte betont.

Plötzlich hörte er seine Worte nachklingen und bereute sie. Er war nun einmal im Zuge gewesen, sonst wären sie nie gefallen.

»Wir sprachen eigentlich nur von der Fahrt nach Suturp«, äußerte er im Ton einer Zurechtweisung.

»Ich weiß noch nicht, ob ich fahre«, schloß Gabriele.

 

Sie wußte es auch am Nachmittag noch nicht. Der Konsul war geraume Zeit schon fort zu der Sitzung, Gabriele stand fertig im Promenadenkostüm, aber unschlüssig. Sie schickte ein Mädchen zum Lohnkutscher, rief es aber zurück, bevor es aus dem Garten war. Hier nun stellte der kleine Junge sich vor sie hin und sah sie an. Dies entschied. »Komm!« sagte sie.

Beide gingen die Allee hinauf, weiter fort von der Stadt. Vor ihnen in der Ferne schienen die Kronen der Linden einander entgegen zu wachsen und den Boden zu streifen. Die Mutter hatte es eilig, sie zog den Knaben nach. Hinten an ihrem ausgestreckten Arm hängend, stammelte er atemlos vom Laufen immer dieselben Worte, auf die sie nicht achtete. Der kleine Jürgen kannte einen Angsttraum: die Hand der Mutter verlieren und in der Welt verlorengehn. Er wußte, daß es schlimm des Nachts im Traum war; daher bat er jetzt unaufhörlich: »Nicht träumen!« Sie eilten aber weiter dahin.

Wie reizend diese Dame war! Aus den Gärten der Villen, die schon seltener wurden, sah vielleicht irgendein Blick ihr nach. Dann bewunderte er unter einigem Befremden das feine Promenadenkleid, das sie so allein über die Landstraße trug. In ihrer Eile schleifte sie es sogar, ließ die zarten Volants hinten ziemlich weit nachschleppen, indes vorn die Spitze des Füßchens frei ward von der Bewegung. Hinten weit gebauscht, stand der zart seidene Überwurf von der kurzen Taille steil ab. Dann erst fiel er, mehrfach gerafft. Blaues Band schlang sich um die weiten Ärmel, ja, um die ganze Gestalt. Wo immer es sich kreuzte, saß eine Rose. Auch vom Hütchen wehten reichlich Schleifen. Es nistete auf der hohen Frisur nur wie ein Häubchen mit einem Blumengärtchen. In der Hand aber, die weißes Glanzleder kleidete, hielt diese Dame ihr gleichfalls bewimpeltes Schirmchen – hielt es oben an der Spitze, die gedrechselt und poliert war, und setzte es vor sich her, wie sie spazierte.

Auf einmal hielt sie an, es kam so schnell, daß ihr Kind noch nachträglich flehte: »Nicht träumen!« Sie hatte einen Wagen gehört.

Weit hinten war er auch zu sehen. Frau Konsul West und ihr Söhnchen befanden sich grade jetzt vor der Gartenwirtschaft Anton. Sie traten ein. An mehreren langen Tischen aßen Kinder Erdbeeren. Andere spielten Topfschlagen. Frau Konsul West führte ihr Söhnchen zu diesen. Sie gab dem Mädchen Geld für das Kind, sagte, daß sie es in kurzer Zeit wieder abholen werde, war schon wieder draußen.

Es sah ihr nach, es stand beiseite, es schüttelte sich, als jemand es berührte. Seine Mutter hatte dies alles nicht abgewartet, denn der Wagen dort hinten rollte jetzt laut. Sie wandte ihm den Rücken und ging weiter.

Sie setzte ihr bewimpeltes Schirmchen vor sich her, sie promenierte. Der Wagen war schon fast neben ihr, da rief jemand:

»Frau Konsul! Wer hätte das gedacht, Frau Konsul!«

Es war die wohlwollendste Stimme, dennoch zwang der bloße Schrecken Gabriele, stillzustehn. Sie hatte es nicht gewollt. Der Wagen hielt knarrend an. Herr Pidohn stieg aus, er trug seinen schwarzen Strohhut in der Hand vor sich her. Bei jedem Schritt nahm er sich halb wieder zurück, dies belehrte die Dame, die ihn einst beleidigt hatte, über seine gute Erziehung. Sie empfand es durchaus. Errötet und mit großen Augen stand sie da.

»Sie können hier doch nicht so ganz allein den Staub fegen, Frau Konsulin«, sagte Herr Pidohn väterlich gediegen. »Was heißt denn das?«

»Da mein Mann mit Ihnen Sitzung hat«, erwiderte sie, deutlich ironisch. Herr Pidohn blieb unbefangen.

»Ich habe West bitten lassen, daß er mich vertritt in der Sitzung. Ich muß einmal wieder spazierenfahren. Gute Gedanken kommen nur unterwegs ... Steigen Sie ein, Frau Konsul«, sagte er, als wären sie verabredet gewesen.

Gabriele sagte überaus hochmütig: »Ich gehe nach Hause.«

»Dorthin will ich Sie doch bringen«, erklärte Herr Pidohn. »Was dachten Sie denn?«

Er hielt an sich, bevor er endlich verlauten ließ:

»Oder dachten Sie, ich wollte mit Ihnen spazierenfahren? Nein, die Dreistigkeit trauen Sie mir nicht zu. Ich weiß immerhin, was sich schickt, Frau Konsulin.«

»Ich habe eine Bitte.« Ihr Ton bat im geringsten nicht. Dennoch griff Pidohn sogleich zu.

»Wenn Sie etwas von mir wollen, Frau Konsul, dann bin ich am besten unterwegs zu sprechen. Steigen Sie ein!«

Gabriele dachte noch: ›Werde ich es tun?‹ Da tat sie es schon. ›Wäre der Wagen geschlossen, dachte sie hierauf, ›ich wäre nicht eingestiegen, aber heute ist er offen.‹

»Sie wissen Bescheid, Herr Pagels, nach Suturp«, rief Herr Pidohn dem Kutscher zu, und die Pferde zogen an.

Nach einer Pause des Schreckens wagte Gabriele:

»Ich habe nicht die Absicht, mit Ihnen bis nach Suturp zu fahren.«

»Sie können jederzeit aussteigen«, erwiderte er. Das weitere war auf seinem braunen Gesicht zu lesen: ›Wie Sie dann zurückkommen, ist Ihre Sache.‹

Hierauf ward sie rein konventionell, – als wäre mit den nötigen Formen auch die bedenklichste Lage zu beherrschen.

»Wir haben noch in diesem Sommer ein größeres Fest vor. Wer gesellschaftlich mitzählt, wird dabei sein. Auch der Bürgermeister kommt, meine Kusine hat schon seine Zusage.«

Bei jedem Wort wurde die Lage bedenklicher, denn der Wagen rollte nachgerade mit der vollen Schnelligkeit der beiden starken Pferde. Immer weniger war an Aussteigen zu denken. Sie seufzte, sie hatte vergessen, daß sie sprach.

»Dazu wollen Sie auch mich einladen?« fragte aber Herr Pidohn, »Frau Konsulin, das ist mehr Ehre, als ich erwarten durfte.«

Er sprach bieder, – gerade die große Biederkeit erinnerte vielleicht an Ironie.

»Nicht nur das, Herr Pidohn, wir führen ein Stück auf, darin bitten wir Sie mitzuspielen.«

Er sah sie nur an. Dies verschlug ihm wahrhaftig die Rede.

»Wenn ich etwas nicht erwartet hätte!« brachte er vor.

Hier fühlte er sich klein, der Dame entging es nicht; daher die Überlegenheit, mit der sie erklärte:

»Das Stück ist von Professor von Heines. Er ist unser größter Dichter. Haben Sie Sinn für Poesie, Herr Pidohn?«

Er sah sie an.

»Ich, Sinn für Poesie? Sagen Sie, Madame, ist Heines schon mal mit Ihnen nach Suturp gefahren, – und Ihr Mann hielt für ihn Sitzung ab?«

Sie fürchtete sein Auge und die verwitterte Haut seines Gesichts, das ihr nähergekommen war. Er entschuldigte sich aber.

»Dann fragen Sie bitte ihn, ob er Sinn für Poesie hat! Was geht in dem Stück denn vor?« fragte er, um wieder anzuknüpfen.

»Ja, sehen Sie,« begann Gabriele. »Kaiser Napoleon wurde bei Sedan geschlagen.«

»Und ich soll bei Sedan geschlagen werden? Wie? So ist es.«

Er stieß ein Gelächter aus.

»Ich soll bei Sedan geschlagen werden!«

»Nein! Nein!« wiederholte sie mehrmals schnell. »Darauf kommt es in unserem Stück nicht an. Hauptsache ist, was Sie sprechen und – ja, erleben, was Sie erleben mit Eugénie.«

Sie erschrak bei jedem Wort tiefer.

Endlich sagte Pidohn:

»Eugénie –«

»Ist seine Frau.«

»Weiß ich. Aber wer ist sie sonst noch?«

»Ich.«

Das Schweigen währte zu lange. Sie fühlte: ›Sagt er denn nichts? Er soll sprechen, was immer.‹

Da äußerte er auch schon, er finde den Gedanken recht glücklich. Das werde allgemein interessieren.

»In den Hauptrollen die meistbeachtete Dame der Stadt und ein Mann, der grade etwas von sich reden macht«, äußerte Herr Pidohn nur wenig selbstgefällig. Er verstehe sich auf Erfolg beim Publikum, und die Sache sehe ihm ganz nach einem starken Erfolg aus.

Für dies alles bediente er sich einer gewissen Förmlichkeit, die beruhigte. Er sprach so leicht und beiläufig, wie seine breite Stimme es ihm irgend erlaubte. Gabriele war nahezu gerührt von soviel unverhofftem Takt.

»Ich nehme an«, schloß er ausdrücklich.

»Ich danke Ihnen.«

»Ich Ihnen«, entschied der ritterliche Pidohn, worauf sie für den Augenblick beide beruhigt nach Suturp weiterfuhren.

 

Plötzlich grüßte Herr Pidohn – wen, war unklar. Rechts hatte Gehölz begonnen, sein Bekannter mußte hinter den Bäumen kurz aufgetaucht sein. Aber Gabriele hatte niemand gesehn.

»Ihr Mann ist der beste Freund«, sagte er grade hier. Sie hätte denken können, es sei ihr Mann, den er gegrüßt hatte. Der Gedanke war unmöglich, er war sinnlos! Wie nun, wenn Pidohn darauf bestand? Sie sah mit Spannung seinem nächsten Wort entgegen. Er öffnete den Mund, er sagte:

»Aber West und ich verstehn uns nicht.«

Schade. Sie war enttäuscht in ihrer Hoffnung auf das Ungewöhnliche.

»Was Sie auch von mir halten, Frau Konsul, ich bin ein schlichtes Gemüt«, so erklärte Herr Pidohn. »Was will ich? Die Leute glücklich machen. Alle auf einmal, ohne viel Federlesen. Sie sehn doch ein, daß ich darüber im einzelnen nicht immer Buch führen kann. Ich, und ein Kontor!«

»Sie haben doch eins, ich habe es selbst gesehn«, verriet Gabriele. Sie meinte dies herausfordernd. Er sollte sich wieder an sie wenden und darauf aufmerksam werden, daß neben ihm eine verwöhnte Dame saß. Er erwiderte aber mit Strenge und Brauenfalte:

»Sie dürfen nicht spionieren, Frau Konsul«, – was der Armen einen Stoß versetzte. Er mißtraute ihr. Wahrscheinlich mißtraute Herr Pidohn aller Welt und mußte es auch.

›Hat er mich gestern dennoch ertappt vor seinem erhellten Guckkasten?‹

Dann war er ihr auch nachgegangen an den Hafen! Seine Stimme hatte vielleicht wirklich nahe an ihrem Ohr geflüstert, mehr als einmal im Dunkeln!

Zu ihrer Verteidigung wollte sie sagen: ›Herr Pidohn, Sie führen ein Doppelleben!‹ Aber ihre Zähne gingen nicht auseinander. Statt dessen fühlte sie: ›Und ich selbst? Wer erstieg den Steg zu dem dunklen Schiff gestern nacht?‹ Sie hatte ihn nicht zu Ende erstiegen bei Nacht, sie war nicht mitgefahren. Wo wäre sie sonst jetzt? ... Plötzlich begann sie zu sprechen.

»Vielleicht, Herr Pidohn, kennen wir beide ein anderes Leben, als das Leben, das wir hier führen. Ich zum Beispiel wäre gestern nacht beinahe mit einem Schiff fortgefahren.«

»Was soll das heißen?« fragte er schroff, sah sie scharf an und gleich wieder weg.

Sie erschrak, sie gab es wieder einmal auf, groß dazustehn.

»Ich wollte doch nur etwas erzählen«, gestand sie kindlich.

»Nun, dann erzählen Sie, gute Frau«, sagte er sichtlich abwesend. Wahrscheinlich rechnete er? War innerlich ganz mit Rechnen beschäftigt? Sie fing dennoch an, von sich zu sprechen, unterbrach sich aber bald.

»Herr Pidohn, wozu rede ich, wenn Sie immer in den Wald sehn?« Denn er hielt den Kopf meist rechts gewendet.

»Ich höre«, sagte er hierauf. »Aber was haben Sie schon zu erzählen? Es stand einmal anders mit Ihnen? Wer fragt danach? Was Sie heute sind, das ist der Punkt. Trumpf ist es, Sie schlagen damit jeden – auch ihre Freunde von damals, wenn Sie wiederkämen ... Am besten, Sie hätten alle längst vergessen!«

Er wandte ihr seine Augen zu.

»Eigentlich haben Sie auch alle vergessen.«

Sie verwahrte sich. »Nein! Nein!«

»Dann erzählen Sie mal!« verlangte er, – worauf sie, fast ohne sich zu besinnen, von einer Straße in Bordeaux begann: ein Fenster stand offen, als sie einst dort vorbeiging. Drinnen arbeitete in einem leeren Zimmer ein junger Anstreicher, die Papiermütze schief hinter seinen schwarzen Locken. Er sang; bei ihrem Anblick, die zu ihm aufsah, brach er ab, Arbeit und Gesang, lächelte ihr nach, sie fühlte es noch lange im Rücken.

Dies war alles, mehr fiel ihr von allem, was sie gemeint hatte, nicht ein. Es war erstaunlich, war beschämend, nur gut, daß Herr Pidohn wieder einmal nicht zuhörte. Jetzt grüßte er, wie vorher, nach rechts, ohne daß jemand zu erblicken war. Aber wie? Er ließ anhalten?

»Halt, Pagels«, befahl Herr Pidohn. »Nun, dann steig ein!« sagte er wie für sich beiseite und mit einer Art finsteren Hohnes. Dabei zog er die Beine fort, um wirklich jemand einsteigen zu lassen. Den Einsteigenden aber sah man nicht. Gabriele sprang auf die Füße vor Schrecken, sie packte den Kutscher beim Arm.

»Pagels!« flüsterte sie fliegend. »Was ist das? Was tut er?«

Der Mann blieb gleichmütig. »Lassen Sie ihn ruhig, Madame«, sagte er, ohne sich nur umzuwenden. »Das kommt bei ihm vor. Es ist nicht weiter schlimm. Sind wohl die vielen Gedanken.«

»Weiter, Pagels!« befahl Pidohn. Gabriele hatte sich wieder hingesetzt, blieb aber wachsam. Sie konnte nicht wissen, was in diesem Wagen noch alles geschah. Vorläufig knurrte Herr Pidohn nur.

Soviel schien ihr sicher, daß Herr Pidohn mit seinem neuen Gegenüber auf keinem besonders guten Fuß stand. Sie machten sich knurrend Vorwürfe. Dann fiel ein Name: Tornton. So hieß das Gegenüber, und der Satz, der mit dem Namen begann, war englisch. Sie sprachen englisch, sie wurden dabei lauter.

Gabriele drückte sich um so tiefer in ihren Winkel, sie strebte fort von den beiden. Pagels hieb auf die Pferde ein, auch er schien zuletzt doch die Flucht zu ergreifen.

Auf der wilden Fahrt erhoben sich nur noch stärker die streitenden Stimmen. Es waren zwei; Gabriele unterschied sie. Ja, sie fürchtete, im nächsten Augenblick werde sie auf dem Platz, wohin Herr Pidohn fuchtelte, einen Mann erblicken in braunem Cheviot und mit rötlichem Bart ... Es fing schon an, die Knie waren das erste, das sich andeutete.

Sie verstand nicht alles, jedenfalls aber ging der Streit um Dinge, die längst vorbei waren. Eisenbahngesellschaft, hörte sie. Während eine gelbe Hand drohend erhoben und geschüttelt wurde, verstand sie auch die Worte Gefängnis und Entlassung, Entlassung aus dem Gefängnis. Sie hielt den Atem an und schloß die Augen.

Darum endete dies noch längst nicht. Als Gabriele wieder hinspähte, hatte Pidohn Papiere hervorgeholt, es war ein ganzer Packen. Er las dem anderen Telegramme vor, die für ihn selbst schmeichelhaft waren. Er legte den Ton auf die Hauptstädte, wo sie aufgegeben waren, und auf die Ehrfurcht gebietenden Namen der Absender.

»So stehe ich da«, wiederholte er jedesmal. »Als erfolgreichster Geschäftsmann weit und breit, geehrt und mit Nimbus stehe ich da.«

Was half es ihm, zu prahlen und zu drohen, der andere blieb hart und ließ sich niemals überzeugen. Die Zuschauerin sah die Katastrophe nahen, denn Pidohn, der vorgeneigt saß, hatte eine vom Zorn geschwollene Stirn und seine beiden Fäuste zitterten. Nein! Pidohn war stärker als sein Feind, er beherrschte selbst die eigene Natur. Unversehens lachte er klar und breit auf.

»Hier können Sie aussteigen«, sagte er nahezu wohlwollend.

Man hätte erwartet, er werde halten lassen. Nein, absteigen sollte sein Gast in voller Fahrt. Pagels verlangsamte sie von selbst ein wenig.

Herr Pidohn sah jemandem nach, er zuckte die Achseln, worauf er sich die Stirn betupfte.

»Es ist ein heißer Tag«, sagte er so unbefangen wie höflich. Er sah ihre Miene und fragte:

»Kann ich Theater spielen? Jetzt sind Sie beruhigt über mein Talent.«

›Guter Gott!‹ fühlte Gabriele. ›Beschütze diesen armen Mann!‹

»Hatten Sie ihn lange nicht gesehn?« fragte sie kaum hörbar. Pidohn sagte:

»Sehr lange. Bedenken Sie, seit acht Jahren ist er tot.«

Er sagte es mit düsterer Schelmerei. Wer weiß, was es hieß. Wer weiß, wo er selbst die acht Jahre seit dem Tode seines Freundes verbracht hatte. ›Die beiden sprachen vom Gefängnis. Neben mir habe ich einen Sträfling. Wenn ich die Hand ausstrecke, berühre ich ihn.‹

Sie dachte: ›Ich werde es Jürgen sagen. Der Sträfling muß entlarvt werden, das versteht sich von selbst.‹

Sie überlegte und spähte nach seinem Profil:

›Jetzt kann er sich aber schon denken, was ich tun werde. Vielleicht bringt er mich vorher um!‹

Sie wäre hinausgesprungen und davongelaufen, nur fürchtete sie seinen Griff, wenn er ihr zuvorkam. Unmerklich zog sie die Füße nach dem Wagenschlag, auch ihre Hand tastete dorthin, indes sie immer nach seinem Profil spähte.

Da wandte er ihr das Gesicht zu, ein Gesicht, dessen dunkler Gram ihr alles vorhielt, was sie in diesen Augenblicken sann und tat. ›Beschütze diesen armen Mann!‹ fühlte sie sogleich wieder, und vor seinen Augen nahm sie ihre Glieder, die hatten flüchten wollen, wieder zurück.

›Was er für ein Mensch ist, weiß ich ganz allein. Niemand ahnt, woher er kommt. Mir aber hat er sich anvertraut. Ich kann mir auch denken, wohin sein Unglück ihn eines Tages wieder bringt. Er hat Unglück, er ist ein unglücklicher Mensch‹, dachte sie, die Brauen gefaltet. Sowohl ihre Furcht wie ihr Erbarmen waren vergessen. Neben ihr im Wagen saß das Unglück selbst. Gabriele wunderte sich nur. Wie war sie dennoch an seine Seite gelangt? Blieb an seiner Seite! Wußte im voraus, daß sie ihn an Jürgen nicht verraten werde!

Leider zerstörte Herr Pidohn selbst unverzüglich die ganze schöne Teilnahme, die er eingeflößt hatte. Denn er begann furchtbar mit seinem Glück zu prahlen. Nicht nur hier, sogar in der Hauptstadt gehörte ihm die erste Rolle. Sein Palais dort war schon gekauft. Hier residierte er künftig nur noch im Sommer. Soeben fuhren sie eine bewaldete Höhe entlang. »Dort oben!« rief Pidohn.

Er begann sein Schloß zu beschreiben. Säulen und Dach traten alsbald zwischen den Bäumen hervor, sichtbar für jedermann; auch Kutscher Pagels sah sich danach um. Von der breiten Terrasse erblickten seine Gäste die See, bei den Klängen von Tanzmusik.

»Freuen Sie sich darauf?« fragte er Gabriele.

Sie sagte: »Nein. Durchaus nicht.«

»Gleich werden Sie sich freuen!« rief er. »Alle meine Gäste wohnen in den Kavalierhäusern hinter meinem Schloß. Nur Sie, Madame, ziehen in das Haupthaus und befehlen, was Sie wollen.«

Dies sprach er mit gewährender Gebärde und sein Antlitz thronte erhaben zwischen den schwarzen Backenbärten. Wenn man sie ihm ausrisse? So falsch hatten sie noch niemals ausgesehn.

Sie ließ Pidohn in seinen Gesichten schwelgen, nur noch eine Frage beschäftigte sie. ›Wie alt ist er?‹

Sie hatte gehört, daß Abenteuer alt machen.

›Wenn ich mich noch öfter nachts an den Hafen schliche, würde ich alt werden ... Oh! Meine Abenteuer! Was habe ich erlebt, verglichen mit Herrn Pidohn. Was kann ich jemals erleben.‹

Machten nur seine Abenteuer ihn alt, dann war er in Wirklichkeit doch jünger. Die Falten an seinen Augen bewiesen nichts. ›Vierzig‹, entschied sie kühn. Sie hatte seine Frau gesehn, eine müde, schon ergraute Dame. Aber hatte er nicht einfach zu jung geheiratet? Jetzt war er vierzig, entschied sie. ›Oder wäre fünfundvierzig zu alt?‹ fragte dahinter noch ein Gedanke.

Inzwischen waren sie um die waldige Höhe bis vor den Strand gelangt. Rechts hatten sie Suturp, die Kirche aus Ziegelsteinen, seine Strohdächer, alles für ihre Blicke halb verkleidet von den braunen Fischernetzen, die quer hin liefen über den Strand. Im wiegenden Wasser hatten die Kähne genaue Umrisse. Klar sah man auch die Möwen zwischen Himmel und Wasser schweben. Weit draußen noch bewegten sich scharfe Fischergestalten, solch ein Licht hatte der Tag.

»An einem Tag wie heute stirbt man nicht«, sagte Herr Pidohn mit Aufseufzen.

Hier begriff sie, daß er sich unaufhörlich bedroht sah und nach Suturp nur kam, um aufzuatmen.

Ihr Blick fiel grade jetzt auf ein Segelschiff, wenig größer als die anderen, aber feiner und leichter. Es gefiel ihr; sie fragte, ob er es kenne.

»Es ist meins«, antwortete er sofort. »Es liegt immer aufgetakelt vor Anker und wartet auf mich.«

»Damit Sie damit fortfahren, – wenn es soweit ist?« fragte sie und ward immer leiser.

»Was heißt: wenn es soweit ist? Das Schiff ist meine Vergnügungsjacht. Steht erst mein Schloß dort oben, dann ist auch Ihre Zeit. Dann segeln wir zusammen, Madame, in lauter Lust und Herrlichkeit hinaus auf die blaue, blaue See.«

»Das denken Sie heute, Herr Pidohn.«

Sie konnte ganz leise bleiben, denn der Wagen stand und der Kutscher war verschwunden.

»Aber so still wie heute, und besonders von so verlockenden Farben, ist die See vielleicht nur einmal im Jahr. Schon morgen kann sie wieder blaß und neblig sein, und schon ist auch der Sturm da. Dann fahren wir nicht, Ihre Schloßgäste fahren dann nicht. Dann fahren Sie vielleicht ganz allein in den Sturm hinaus, Herr Pidohn, – wenn es soweit ist.«

Er lachte auf, aber nur wie aus Gewohnheit. Im nächsten Augenblick ward er nachdenklich anzusehn.

»Das liegt im Bereich der Möglichkeit«, sagte er, »das kann immer eintreten. Dafür sind wir kühn und unerschrocken.«

Er sagte es freilich eher klagend, wie eine bittere Entdeckung.

Dann hob er aber die Stirn. »Nur grade Sie, meine beste Konsulin, sollten mich nicht daran erinnern, daß wir Unglück haben können. Das wäre, müssen Sie wissen, auch Ihres.«

»Nein. Wir sind etwas anderes als Sie, Herr Pidohn«, erwiderte Frau Konsul West.

Er gab ihr dies sofort auch zu.

»Sie werden nicht mit hinaus müssen in den wilden Sturm. Nein, so weit kommt es mit Euresgleichen nie. Ihr seid, sogar für Unglücksfälle, noch immer beieinander versichert. Ich nicht, Madame, Heinrich Pidohn bei niemand.«

Er war im Wagen aufgestanden, er sah mit derselben Überhebung und ebenso vieldeutig auf sie herab, wie einst bei ihrem ersten Zusammenstoß. Damals hatte er sich erlaubt, ihr die sogenannten heiligen Frauen und die Schule des Unglücks vorzuhalten ... Plötzlich bemerkte sie, wie sehr es seitdem schon anders stand, und daß sie vielleicht nicht mehr fern war mitzugehn, wohin er meinte.

Sie dachte: ›mitgehn‹ – und sah nicht mehr die See, den Kahn und die Weite. Sie weilte auf den Augen Pidohns, die sich ihr aber nur noch mehr verdunkelten, wie auf einer engen Pforte. Du dringst ein. Dahinter ist ein Mensch, verdient er Vertrauen? Wohl nicht; aber du dringst ein.

Sie erschrak. Ihr Mann! Ihr Kind! ›Was tue ich hier? Wo bin ich?‹ – begriff aber doch, es seien höhere Ereignisse, sie habe nichts hinzugefügt. Fremd wirst du in sie verwickelt. Du wunderst dich noch. Du wunderst dich noch und gehst schon mit.

»Wenn es soweit ist«, äußerte sie lauter als vorher, »sagen Sie es mir.«

Sie hatte hoffentlich nicht Dank erwartet! ›Aha, man ist neugierig‹, stellte Pidohn fest und setzte sich zu ihr – viel näher zu ihr, als er sonst gesessen hatte.

»Warum aber dann nicht gleich jetzt zusammen fortreisen? Jetzt hätten wir davon nur das Angenehme. Heute ist die See spiegelglatt«, erklärte er, da sie zurückweichen wollte. »Sie fallen hinaus«, rief er auf einmal ungesittet und versuchte, sie mit dem ganzen Arm zu umfassen. Sie kam ihm grade noch zuvor, mit einem Sprung verließ sie den Wagen.

»Flegel!« schnaubte sie.

»Was wollten Sie dann von mir?« fragte er ungesittet.

Sie wandte ihm den Rücken und ging schnell ab. Nur erst hinter den Netzen angelangt sein! Den Blicken des Menschen entzogen! Sie fürchtete das Lachen, das er gewohntermaßen gleich anschlagen werde. Nein, es blieb aus.

Hinter den Netzen stellte sie fest, daß er sie einfach gehn ließ. ›Flegel, dem es gleich ist, was in dieser Wüste aus mir wird.‹


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