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Zehntes Kapitel

»Das ist nicht wahr!« sagte Emmy. Denn der Zeiger der Wanduhr stand noch auf halb drei, schon aber fuhr ein Wagen vor. Ihm entstiegen alle fünf Herren, die beiden Geschäftsleute, die beiden Offiziere, der Dichter.

Dieser schien verjüngt. Seine Schritte waren länger. Er bog die Knie leichter. An der Spitze seiner Truppe durcheilte er das Haus, fand die hintere Terrasse zu schmal für seine Bühne, maß sofort den zu bestellenden Podest ab. Dann verteilte er die Rollen. Mehrere Statisten des Stadttheaters hatten einen Teil der Nacht mit Abschreiben verbracht, ja, auch er selbst war aufgeblieben. Dennoch diese Frische! Er ward bewundert.

Aber er lehnte Äußerungen privater Art für die Dauer der Probe ab. Die Herrschaften wurden gebeten, sich ihre Stellungen zu merken.

»Erste Szene: der französische Kammerherr, der preußische Adjutant, hierher, bitte!«

Er klatschte in die Hände, aber niemand kam.

»Herr Leutnant von Kessel, Herr Konsul West, Sie sind gemeint.«

»Verzeihung!« sagte Kessel, »ich muß mich erst einleben.«

Von dem Platz, den der Dichter ihm anwies, betrachtete er noch immer in heimlicher Wehmut Gabriele. Sie bemerkte es nicht. Sie verhielt sich so unaufmerksam, als erwartete sie die Entscheidung anderer, höherer Spiele, die niemand ahnte. Warum machte sie diese schroffe Wendung? Ah! Jetzt ließ der Dichter sie auftreten.

Sie stand in der Tür, sie hob ihren Rock von den Fußspitzen, wie beim Überschreiten der wichtigsten Schwelle. Die Miene war nervös geteilt in unheilvolle Absichten und das leichte Herrscherinnenlächeln von einst, das beglückendste, das Kessel je gekannt hatte.

»Herr Leutnant von Kessel!«

Der Dichter stampfte jetzt schon auf.

»Lesen Sie doch Ihren Satz! Sie werden ihn doch ablesen können.«

Nein. Kessel konnte nicht lesen. Die Erscheinung Gabrieles bewirkte, daß er die Zeile nicht fand. Der Dichter brachte selbst den Satz. Die Kaiserin antwortete ihm. Inzwischen hatte Adjutant Konsul West abzugehen und Napoleon Pidohn zu holen.

Er ging und sagte ihm ins Ohr:

»Kein Mensch würde begreifen, wie wir grade heute vor Schluß der Börse verschwinden konnten. Ich habe mich gehütet, zu erzählen, was wir hier tun.«

Pidohn erwiderte:

»Sie sind zu ängstlich, Adjutant. Ich habe es im Gegenteil jedem erzählt. Alle sollen wissen: ich bin sorgenfrei und habe Zeit, Theater zu spielen. Die Herren von der Börse können zusehn, ich habe sie herbestellt.«

»Ich meinerseits habe noch andere Sorgen: grade heute, wo wir den ersten Stillstand der Kurse erleben, ist auch die Wahl des –«

Er mußte abbrechen, der Dichter rief mit Ausdruck:

»Hier gibt es Wichtigeres, meine Herren, als Ihre Unterhaltung.«

Er zeigte sich völlig unbefriedigt von dem Auftreten Pidohns. Nicht einmal bei der allerersten Probe hätte der Darsteller die Rolle derart verkennen dürfen. Statt eines Besiegten, Gebrochenen dieser hochgetragene Kopf, das selbstgewisse Lächeln!

Er könne nicht anders, behauptete Pidohn. Manchmal sah er sich um, ob seine Zuschauer aus der Stadt nicht schon kämen.

Als er seine peinlich vorgeschriebene Stellung verlassen durfte, hielten die beiden Offiziere ihn an.

»Herr von Kühn!« rief der Dichter.

Der Darsteller des Kaisers Wilhelm wollte trotz allem das künftige Schicksal seiner einzigen Aktie bündig voraus erfahren. Glückstrahlend begab er sich sodann zu der Unterredung mit der Kaiserin Eugénie. Alles, was sie ihm in ihrer Rolle zu sagen hatte, bezog er übrigens auf sich persönlich.

Sein Kamerad war im Augenblick unbeschäftigt, denn Eugénie richtete an Wilhelm ihr Flehen und ihre Drohungen in Abwesenheit aller Begleiter.

Sie hatte schon die zornigen und die mit Verführung schwer beladenen Blicke, die dem Monarchen eigentlich erst am Abend der Aufführung bestimmt waren. Unmöglich konnte Kühn dabei an seinen Kaiser denken. Er dachte an sich selbst, er fühlte einen unverhofften Glanz unter Schaudern der Angst und der Freude in sein Dasein fallen.

Inzwischen stand Leutnant von Kessel vor Pidohn stramm. Die Aussprüche des großen Mannes beglückten ihn um ihrer selbst willen, ungerechnet den Gewinn. Er erinnerte sich nicht, demselben Pidohn jemals mißtraut zu haben. Niemand hatte hier einst gelacht über einen dunkelhäutigen Aufschneider, dem der Mißerfolg aus den Augen sah.

Herr Pidohn gewährte im Gegenteil allen das Versprechen des Glückes. Sein Licht erheiterte den Nachmittag und die Gäste. Nur der Dichter warf sich beim Anblick der Siegergestalt vor, daß er seine Papiere schon verkauft hatte.

Konsul West kam auf seine Wahl zurück. Er konnte, vom Glück seines Freundes Pidohn getragen, Vorsitzender der Bürgervertretung werden. Wenn aber die Kurse fielen? Er fragte leichthin, nur als Gewissensberuhigung und zur Abwehr alberner Gefahren. Pidohn strich einfach mit seiner braunen Hand, sie waren ausgelöscht.

Pidohn fragte:

»Woran liegt Ihnen mehr, West! Am Geld oder an der Ehre bei Ihren Mitbürgern?«

»An der Ehre«, entschied Jürgen West ohne Besinnen.

»Grade darum bekommen Sie auch das Geld. Sehen Sie mich an! Meinen Sie, ich hätte so viel Glück, wenn ich gewinnsüchtig wäre?«

Er mußte seine Szene mit Kusine Emmy nachholen. Der Dichter selbst hatte an der Verwechslung der Auftritte die Schuld, obwohl er sie auf alle anderen abzuwälzen versuchte. Er hatte nicht aufgepaßt. Figuren, die seine Phantasie mit einer gewissen Unfehlbarkeit umherschob, gerieten ihm durcheinander, sobald sie wirklich waren. Rätselhafterweise schämte er sich dessen mehr, als hätte er schlecht gedichtet. Sein Gesicht war nachgrade hochrot, es wirkte besonders blühend in dem weißen Haar und Bart.

Hofdame Emmy hatte mit Napoleon nur grade gemessen zu verfahren. Beiseite aber war sie so oft wie möglich liebenswürdig, lächelte Pidohn zu, entschuldigte sich, wenn sie gegen die gefallene Majestät nicht höflich genug handle.

War es reine Lustigkeit? Pidohn und Gabriele sahen sich deswegen an. Sie hätte zweifeln wollen, aber sein Blick riet ihr diesmal ausdrücklich ab, an der Echtheit irgendeiner Freundschaft, irgendeiner glücklichen Zuversicht zu zweifeln.

Alle waren beglückt, ja, unter der Terrasse hervor drang ein fröhliches Stimmchen. Der kleine Jürgen hielt sich dort versteckt, er hatte still genossen, was die Großen trieben. Jetzt lachte er, wer weiß warum.

»Wenn mein Stück Sie alle bei der ersten Probe so gut gelaunt macht«, bemerkte der Dichter, »wie wird erst am Abend der Aufführung die Stimmung sein!«

Ein Augenblick kam, da fragte Gabriele selbst sich, warum sie ihrer eigenen Unruhe länger glauben, diese innere Schwere noch ertragen solle. Sie konnte sie abschütteln und verleugnen. Was war im Grunde geschehen, seit sie –. Plötzlich erschien ihr ein Tag von früher, aus der Welt ohne Sorgen, ohne Schrecken, die einst die ihre gewesen war, ein leichter Tag. Wenn sie nun in die Hände klatschte?

Sie klatschte in die Hände. Der Tag von einst war wieder da, weil sie es wollte.

»Pause!« rief sie. »Herr Dichter, wir laufen Ihnen davon.«

Sie sprang hinab, die beiden Leutnants, wie jemals, hinter sich. Beide wurden unversehens überholt – von wem? Dem kleinen Jürgen und dem großen Pidohn. Der Kleine versuchte im Laufen dem Großen ein Bein zu stellen, er wollte ihn besiegen. Herr Pidohn lachte unmäßig und wandte dem Kleinen ein so furchtbares Gesicht zu, daß jener weinend stehen blieb. Jetzt lief Pidohn allein auf dem Rasen neben Gabriele.

»Du willst geschaukelt werden, meine Tochter«, raunte er, indes seine Schöße flogen.

Sie dachte wohl: ›Er weiß, daß ich damals gern schaukelte. Hat mich auch in der glücklichen Zeit schon überwacht. Nennt mich du, ist unentrinnbar.‹

Dennoch lief sie in die Laube zur Schaukel.

Er half ihr hinauf, er hatte das Schauspiel ihres enthüllten Fußes für sich allein. Bevor er sie freilich in Bewegung setzen konnte, waren die Leutnants da. Kühn fühlte sich im Gewinnen, er ließ die Schaukel mit großem Schwunge los, sie wäre Pidohn an den Schädel gefahren.

Denn Pidohn stand vorn und wollte sich nicht losreißen. Plötzlich schrak er auf, glaubte der Herbeischwingenden nicht mehr entgehn zu können und warf sich flach hin. Alle lachten, am meisten der kleine Jürgen.

Gabriele wendete den Kopf nach Kühn, gefallsüchtig, so sah Emmy. Kühn verlor sichtlich ganz den seinen. Daher kamen ihr Zweifel an allem, was sie Gabriele hinsichtlich Pidohns fast schon zutraute. Hätte Gabriele sonst noch anderen gefallen wollen? Gradezu schlecht durfte ihre Verwandte nicht sein. Emmy hätte in ihrer eigenen Würde gelitten.

Übrigens war der Anblick so heiter. Sie rief ohne Schärfe: »Jetzt wird Krocket gespielt.«

Der kleine Jürgen hatte es erwartet und das Spiel schon aufgestellt. Die Gesellschaft beteiligte sich vollzählig, Frau Konsul West mit allen ihren Herren, selbst dem Dichter, – nur Leutnant von Kessel hielt sich zu ihrer Kusine Emmy.

Er begriff Gabriele West nicht mehr. Er war ratlos in einem Grade, daß er nicht mehr wußte, ob er litt oder nur staunte und wartete.

 

1873 an diesem Nachmittag im Sommer erhob die Luft sich leicht und so hell wie Perlen über den Gärten vor der Stadt. Die Fahrstraße stand leer. Sie war eine Lindenallee und zog dahin, bis der Blick sich unter den Baumkronen verlor. Wer anhielt vor dem Landhause des Konsuls West, sah seitwärts bis in die Tiefe seines Gartens. Man sah darin klar und schleierlos hingezeichnet die Gestalten, ihre Bewegungen beim Krocketspiel, sah Falbeln und Spitzen flüchtig aufwehen. Das glückliche junge Lachen der Konsulin war einmal genau zu hören.

Draußen vor der Gartenpforte warteten wirklich mehrere Herren, die zueinander sagten:

»Wie lange hält sich das noch?«

»Ihre Nachrichten können auch falsch sein, Blohm.«

»Ich sage nicht, daß sie richtig sind. Verkaufen Sie nicht, wenn Sie nicht wollen! Nur, wie lange hält sich das noch?«

»Fischer, Sie waren doch immer Menschenkenner. Sie haben von drei Schwestern die geheiratet, die nachher den Onkel beerbte. Was sagen Sie?«

»Ich sage: Hier ist nichts zu erben. Aber das glauben Sie mir nicht.«

»Glauben Sie es denn selbst?«

»Nein, – wenn ich so zusehe.«

Sie wurden hineingeholt, Pidohn hatte sie entdeckt.

Die Herren waren jedem bekannt, sie selbst kannten Jürgen West von Kind auf. »Wir sind nur mal herausgekommen«, erklärten sie verlegen. Denn es war nicht mehr zu vertreten, daß sie hatten nach dem Rechten sehn wollen. Auf der vorderen Terrasse standen schon Tee und Portwein für alle bereit.

Als Gabriele ihrem Gegenüber, Pidohn, das Glas reichte, bekam sie dafür einen Blick, der ihr die neuen Gäste zeigte, die anderen übrigens einbegriff. ›Erzählen Sie denen doch, was Sie wollen‹, hieß der Blick. ›Werden die Ihnen ein einziges Wort glauben?‹

Jähe, schamlose Mahnung an alles, ihr Einverständnis, ihre Mitschuld, ihre Gefangenschaft in seinen Händen für alle noch übrige Lebensfrist: sie vernahm es, begriff es, die ganze Not hatte sie wieder. Das Glas ging grade noch unverschüttet in die Hand Pidohns über. Sie selbst glitt, die Augen geschlossen, zu Boden.

Ein peinlicher Zwischenfall, fanden die Herren, die doch einen Teil der Börse oder ihr Mittagessen versäumt hatten, um ihn mitzumachen. Sie wagten sich nicht sogleich zu verabschieden. Untereinander sagten sie:

»Was hat nun das zu bedeuten?«

»Was wird es sein? Eine Liebesgeschichte, – und sogar das ist zuviel gesagt. Soll sein Glück, dies mörderische Glück, den Damen nicht mal eine kleine Ohnmacht wert sein? Ich selbst bekreuzige mich, wenn ich ihn sehe.«

»Wo verbotene Neigungen mitspielen, steht es auch geschäftlich nicht mehr sicher. Soviel weiß ich, Fischer.«

»Seien wir lieber froh, Blohm, daß diese Leute dafür noch Sinn haben! Es muß ihnen gut gehn.«

Trommeln war zu hören. Der Dichter hatte dort hinten den kleinen Jürgen mit seiner Trommel gefunden. Eigenhändig gab er mit diesem Wirbel das Zeichen zum Wiederbeginn der Probe. Er konnte nicht wissen, wie es hier vorn stand. Hier war man still geworden, man ließ ihn trommeln und empfahl sich.


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