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12. Kapitel.
Abschied

Tante Eva hatte das Osterfest noch im Hause ihrer Verwandten mitgefeiert. Man hatte einen Ausflug nach dem nahen Solebad Kösen unternommen. Das Wetter war herrlich gewesen, man hatte im »Mutigen Ritter« zu Mittag gespeist und war dann hinauf nach der Saline und von dort durch den noch wenig belaubten Buchenwald nach der Rudelsburg gewandert.

Eddy hatte die Partie mitgemacht. Man wollte den Kindern doch die letzten Tage nicht verderben, und so waren sie fast immer beieinander.

Eddy schritt mit Lotte hinterher. Er erzählte ihr von seiner Zukunft, von dem lustigen Leben und Treiben auf der Fürstenschule zu Schulpforta.

»Bischof Uto von Naumburg gründete in Pforta ein Zisterzienserkloster, auf dem sogenannten Knabenberg. Schon Herzog Heinrich von Sachsen hob 1540 das Kloster auf und errichtete im Mai 1543 eine fürstliche Landesschule. Später wurde das Schulhaus beträchtlich vergrößert,« erzählte er der aufhorchenden Lotte. »Ich freu mich auf Schulpforta, es soll dort ein sehr netter Ton unter den Schülern herrschen. Natürlich sind nur Lehrer von allerbestem Rufe dort angestellt.«

»Wirst du mir manchmal schreiben?« fragte Lotte mit leicht umschleierter Stimme. Das sonst so heitere Mädchen war wie verwandelt.

Es schien, als sei der Ernst des Lebens ihr plötzlich aufgegangen.

»Aber gewiß, Lotte, weshalb sollte ich dir nicht schreiben, ich habe dir doch gewiß sehr viel zu erzählen, bedenke, bisher waren wir gewöhnt, stets Freude und Leid zusammen zu tragen, zusammen zu spielen, alles zu teilen. Das hört nun auf, aber das Band der Freundschaft, das uns bisher umschlossen hat, das wollen wir festhalten für alle Zeiten.«

Lotte nickte nur, ihr war das Herz so voll, daß es ihr an Worten mangelte, da sauste Karlhans herbei.

»Schnell, ich habe eine köstliche Aussicht entdeckt.« Mit diesen Worten zog er Schwester und Freund nach einer Waldblöße. Hier standen mehrere Bänke unter den heute noch spärlich belaubten Zweigen altehrwürdiger Buchen. Eddy und Lotte bewunderten die Aussicht. Die Anhöhe fiel hier schroff in das Tal hinab, durch das die Saale ihren Lauf in vielfachen Windungen nimmt. Im Hintergrunde baute sich die Rudelsburg und etwas mehr rechts die Ruine Saaleck auf.

»Hier ist es schön,« schwärmte Karlhans. »Du wirst öfter hier stehen. Weißt du, Eddy, wir wollen unsere Namen in die Rinde jenes Baumes einritzen, sooft du dann hier vorüber kommst, mußt du unser gedenken.«

Dieser Gedanke fand bei Lotte und Eddy vielen Anklang, obschon letzterer meinte, »ich denke an euch auch ohne diese Namen.«

Karlhans und Eddy schnitten dann ihre Namen in die glatte Buchenrinde ein. Zuletzt wurde noch Lottes Anfangsbuchstabe dazwischen eingegraben.

»So, nun noch eine Umrahmung dazu und das Datum des heutigen Tages,« bestimmte Karlhans. »Hierher wollen wir mal später, vielleicht erst nach Jahren zurückkehren und uns dabei an die glückliche Zeit unserer frohen Kinderjahre erinnern.«

»Lotte! Lotte!« Tante Evas Stimme riß das Kleeblatt aus seiner Gedankenwelt.

»Tante ruft, lasset uns eilen, damit wir sie einholen. Wer ist am ersten bei Tante Eva?!« rief Lotte, davonjagend. Die elegische Stimmung war verflogen, die schöne Gegenwart verlangte ihr Recht. Tante Eva nahm ihre Nichte am Arm.

»Du solltest nicht mehr so schnell laufen, du siehst ganz erhitzt aus. Du bist nun zu groß, um wie ein Junge zu laufen und zu springen. Deine Mutter wünscht sehr, daß du dich mehr beherrschst.«

Lotte fächelte sich mit ihrem Hut Kühlung zu, sie wollte und konnte doch nicht sagen, weshalb sie alle drei auf der Anhöhe zurückgeblieben waren, und der Wald, nun, der schirmte ihr Geheimnis.

Auf der Rudelsburg herrschte reges Leben. Studenten aller Farben waren dort eingekehrt. Sie saßen an langen Holztischen, sangen und tranken, wie die alten Deutschen immer noch eins.

Eddy beobachtete mit glänzenden Augen das studentische Leben. Er dachte sich dort sitzend, das buntgestickte Cerevis auf dem linken Ohr, das Rapier in der Hand.

»Wenn es nur erst so weit wäre,« murmelte er, da tippte ihm Lotte auf den Arm.

»Wohin flatterten deine Gedanken, Eddy?« fragte sie in vorwurfsvollem Tone.

»Das kann ich dir nicht sagen, doch jetzt halte ich sie fest – nun entschlüpfen sie mir nicht mehr.«

Vater Hildebrandt hatte für sich und die Seinen einen günstig gelegenen Tisch gefunden. Von hier aus genoß man die Aussicht ins Tal, und zugleich, wie er scherzhaft sagte: »die Einsicht«.

Erst spät am Abend kehrte die Gesellschaft heim.

»Uebermorgen reise ich nach Weimar mit Tante Eva. Kommst du noch einmal morgen zu uns in den Garten?« fragte Lotte, als sich Eddy verabschiedete.

»Aber gewiß, ich komme pünktlich,« erwiderte er ebenso leise.


Und nun war Lottes letzter Tag im Vaterhause angebrochen. Es galt noch viel einzupacken und zu sichten. In Lottes Stübchen stand der halb voll gepackte Koffer, denn sie brachte noch jeden Augenblick irgend eine Kleinigkeit, »die notwendigerweise nach Weimar mitgenommen werden mußte.«

»Schleppen die Mädchen viel Kram mit durch die Welt!« hatte Karlhans noch am Tage vorher gespottet. »Wenn ich einmal auf die Wanderschaft ziehe, dann nehme ich einen Stock zur Hand und mein Ränzlein auf den Rücken, und dann geht es heidi flott in die Welt.«

Lotte hatte ein Schmollmäulchen gezogen.

»Ich besuche in Weimar doch das Oberlyzeum,« hatte sie, stolz ihr Köpfchen gehoben, hinzugefügt.

»Und ich bin dann ein wohlbestallter Geselle,« erwiderte Karlhans ebenso stolz.

»Und ich muß noch manches Jahr die Schulbank drücken,« hatte Eddy hinzugefügt. »Unsere Lebenswege sind recht verschieden, doch –«

»In den Herzen bleiben wir das lustige Kleeblatt,« fiel Lotte, zwischen Rührung und Scherz schwankend, ein.


An diese Worte mußte Lotte eben denken, als sie vorsichtig die Treppe hinabschlüpfte, um noch einmal allein den Garten zu betreten. Freilich heute lag noch Nebel und Dämmerung auf den Beeten, noch standen die Bäume nur karg belaubt. Doch Lotte betrachtete den lieben Schauplatz ihrer fröhlichen Kinderspiele mit zärtlichen Blicken.

Jetzt stand sie an der Hecke, welche die Gärten trennte. Der Durchschlupf, der den Kindern ungestörten Ein- und Ausgang gewährt hatte, würde wohl, wenn sie wiederkämen, verwachsen sein, schon heute konnte sie sich kaum durchzwängen.

»Mein Thron,« flüsterte sie dann, am Fuße der Linde stehenbleibend. Dann flog ihr Blick spähend durch den Hof – es war niemand zu sehen, so durfte sie noch einmal den Aufstieg wagen.

Gedacht, getan, Lotte liebte es nicht, lange Bedenken zu hegen. Von Ast zu Ast klomm Lotte hinauf, bald hatte sie den dicken gegabelten Ast erreicht, und mit einem Seufzer ließ sie sich auf das schmale Sitzplätzchen fallen.

Wie frei und luftig saß es sich hier oben, wie weit reichte ihr Blick. Sie konnte bis nach Hoffmanns Haus hinüberschauen. Dort hatte sie viele schöne Stunden verlebt, wann würde sie alle die ihr so lieben Menschen wiedersehen?

Lotte strich sich mit der Hand über die heiß gewordene Stirn.

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»Ich will nicht rückblicken, sondern unentwegt in die Zukunft schauen. Meine Kinderjahre liegen hinter mir, nun heißt es lernen und der Zeit zu nützen. Ich gehe ja nicht auf immer fort, in den großen Ferien, da kehre ich heim, und dann –« Lotte schwieg, das nächste Wort blieb ihr in der Kehle stecken.

Im Hof wurde es lebendig, zuerst erschien der alte Jatko, der nach der Schmiede ging, um das große Tor zu öffnen, dann wurde die Magd sichtbar, die mit dem Milcheimer nach dem Stalle schritt. Jetzt hieß es rasch und ohne Aufsehen zu erregen, von ihrer Höhe herabzuklettern.

Lotte wartete noch einen Augenblick, dann klomm sie behend herunter. Es war höchste Zeit gewesen, eben steckte Tante Eva ihren Kopf aus dem Fenster.

Lotte schlüpfte ungesehen ins Haus. – – –

Am Nachmittag begleiteten Eddy und Karlhans Lotte und Tante Eva nach dem Bahnhof. Der alte Jatko hatte es sich nicht nehmen lassen, er hatte Lottes Koffer nach der Bahn spediert.

»Ich muß dabei sein, wenn unser kleines Fräulein abfährt,« hatte er gesagt, und nun stand er auch auf dem Bahnsteig und wartete auf den Einlauf des D-Zuges, der Lotte für längere Zeit entführen sollte.

Tante Eva war etwas reiseunruhig, sie zählte immer wieder ihre Gepäckstücke, während Lotte, die doch noch niemals solch eine weite Reise unternommen hatte, still daneben stand und sich leise flüsternd mit Eddy unterhielt.

Karlhans tröstete Tante Eva.

»Sei nur unbesorgt, ich vergesse nichts, es soll dir kein Stück verloren gehen.«

Bald darauf brauste der Zug in die Station. Da er nur wenige Minuten Aufenthalt hatte, so entwickelte sich plötzlich ein ganz tolles Durcheinander.

»Morgen fahre ich nach Schulpforta,« flüsterte Eddy Lotte noch zu. »Dann ist unser lustiges Kleeblatt für alle Zeiten auseinander gesprengt.«

»Doch wir sehen uns wieder, vergiß mich nicht, wie ich deiner niemals vergessen werde.«

»Na, ihr nehmt wohl Abschied für alle Ewigkeiten,« scherzte Karlhans. »Schnell, Lotte, Tante Eva sitzt schon im Abteil, und alle ihre vielen Pakete sind bestens verstaut.«

Noch ein letzter Händedruck, ein letztes, allerletztes Lebewohl; dann rückte der Zug an, und bald rollte er zum Bahnhof hinaus.

Lotte bog sich weit aus dem Fenster, sie winkte den Zurückbleibenden mit dem flatternden Taschentuche die letzten Grüße zu.

Der alte Jatko stand in strammer Haltung auf dem Bahnsteig. Er grüßte militärisch.

»Lebt wohl, lebt wohl,« flüsterte Lotte. »Auf frohes Wiedersehen!«

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