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4. Kapitel.
Das Geheimnis

Mehrere Tage waren vergangen, Eddy hatte das Gymnasium noch nicht wieder besucht; obschon ihm sein Auge nicht mehr schmerzte, so befiel ihn öfter eine eigenartige Mattigkeit, die nach Ausspruch des Hausarztes von dem gehabten Schrecken herrührte.

Karlhans und Lotte hatten dem lieben Kranken täglich Gesellschaft geleistet, ja selbst die immer bewegliche, lebhafte Lotte hatte fein artig und sittsam ihrem lieben Eddy stundenlang vorgelesen.

Das Federballspiel, erst die Sehnsucht Lottes, blieb unbeachtet in seinem Kasten liegen, Lotte hatte die Lust verloren, damit zu spielen. Auch der köstliche Sonnenschein, der zum weit offenstehenden Fenster hereinstrahlte, verlockte sie nicht, das Krankenzimmer zu verlassen; denn noch zitterte der Schreck und Schmerz in ihrem jungen Herzen wieder, sie konnte den Anblick des mit Blut überströmten Gesichtes ihres lieben Gespielen nicht vergessen.

Der Frühling war mit Vogelsang und Sonnenschein eingezogen. In den Gärten sproßte, grünte und blühte alles. Die weißstämmigen Birken trugen herrliches hellgrünes zartes Laub, die knorrigen Eichen zeigten die ersten Blätter, und in den jungbelaubten Zweigen sangen und zwitscherten die Vöglein. Sie trugen Halme und Federn herbei, um ihre Nester für die kommende Brut behaglich und weich zu machen.

Lotte stand am Fenster des Wohnzimmers.

Von der Schmiede herauf klang das taktmäßige Geräusch des Eisenhammers. Dazwischen mischte sich das helle Gekreisch der Säge und das Blustern des Blasebalges.

Lotte liebte diese Geräusche nicht; deshalb schloß sie schnell das Fenster.

Einen Augenblick stand sie bewegungslos still, nur ihre Blicke durchliefen forschend die Ecken des ziemlich geräumigen Zimmers.

Da hellte sich ihr Gesicht auf, dort nahe dem großen Kachelofen stand ja ihr Puppenwagen, in dem ihr kleiner Liebling Fritzchen, der Porzellanknabe, lag.

»Der arme liebe Fritz!« flüsterte Lotte, etwas schuldbewußt das Köpfchen neigend. Sie hatte ihr Puppenkind in den letzten Tagen stark vernachlässigt und allein gelassen. »Mein armer Junge, na warte, du sollst heute an die frische Luft kommen,« tröstete sie den Knaben, der aus seinen starren Blauaugen nach seiner kleinen Puppenmama blickte. »Zur Belohnung ziehe ich dir dein neues weißes Kleidchen an, ja, Hilde soll staunen, was für ein feines Kind mein süßes Fritzchen ist,« setzte sie liebkosend hinzu, indem sie einen Kuß auf das schwarzhaarige Köpfchen ihres Lieblings preßte.

Lotte hatte in ihrem mütterlichen Eifer nicht bemerkt, daß sich die Tür geöffnet hatte und ihr Bruder Karlhans eingetreten war. Mit geringschätzig vorgeschobener Lippe beobachtete er das anmutige Spiel der Schwester.

»Na, nu schlage einer ein Rad,« knurrte Karlhans. »Solch albernes Getue mit dem häßlichen Porzellanjungen! Du denkst wohl, der versteht dein Geschnussel?« fragte er, sich keck vor der Schwester aufpflanzend.

Lotte errötete, sie hatte sich unbeobachtet gewähnt.

»Ach, lasse mich spielen. Und häßlich ist mein Fritzchen nicht. Sieh nur seine rosigen Bäckchen,« verteidigte Lotte ihr Kind.

»Rosige Bäckchen?« höhnte Karlhans. »Feuerrote Kleckse, die zu dem gräßlichen stieren Blau der Augen passen, aber schön ist anders.«

»Na, sind deine Bleisoldaten etwa schön?« fragte Lotte sichtlich geärgert, während sie ihr Puppenkind zärtlich an sich preßte.

»Hm, Soldaten sind mit solchem steifen Porzellankinde nicht zu vergleichen,« bemerkte Karlhans, sich wichtig emporrichtend.

»Na, die mußt du immer vorwärts schieben, ich mag die kleinen dummen Gesichter gar nicht ansehen.«

»Brauchst du auch nicht, Soldaten sind kein Spielzeug für dumme kleine Mädchen. Wir Gymnasiasten freilich –«

»Ach, ihr Zierbengel,« lachte Lotte. »Was bildet ihr euch ein, ihr seid ebenfalls Schulfüchse wie wir und nächstes Jahr, da komme ich in das Oberlyzeum – dann –«

»Dann wirst du erst recht ein Zieraffe,« höhnte Karlhans.

Während dieses Gespräches hatte sich Lotte auf ein Bänkchen niedergelassen. Und nun küßte und herzte sie ihren Fritz, während Karlhans mit höhnischem Lachen seiner Schwester »Getue« bespöttelte.

.

Er schnippte mit den Fingern.

»Habe eben deine Freundin, die Hilde, getroffen; na tut die sich! Als ob sie eine Dame sei, so scherwenzelt sie die Straße entlang. Soll mir gewogen bleiben. Ich pfeife auf alle die Mädchen,« schloß Karlhans seine Rede.

Lotte hatte feindselig aufgeschaut, doch dann ihre volle Aufmerksamkeit wieder ihrem Kinde zugewendet.

»Na, Schwesterlein, deshalb keine Feindschaft nicht. Bist noch eine von den nettesten Mädchen. Ich will dir auch ein funkelnagelneues Geheimnis verraten.«

»Ach geh! Auf dein Geheimnis bin ich kein bißchen neugierig,« entgegnete Lotte.

»Na, aber mein Geheimnis ist großartig fein. Sollst Augen machen, so groß wie die Mühlräder, und wenn du mich recht schön bittest, dann sollst du es erfahren.«

»Spüre keine Lust, es zu erfahren! Was wird es sein, als Jungengeschwätz oder Prahlerei. War Eddy heute in der Schule?« setzte sie nach kurzem Nachdenken hinzu.

»Schau, schau, also hübsch neugierig ist Fräulein Schwester doch. Ja, Eddy kam heute zum ersten Male wieder in den Kasten,« setzte er breitspurig hinzu.

»Ob er uns heute besucht?« fragte Lotte, ihr Puppenkind in den Wagen legend.

Karlhans zuckte die Achseln.

»Was weiß ich, davon war nicht die Rede; aber –«

Er hielt inne und blickte herausfordernd auf seine Schwester.

»Nun, aber?« drängte Lotte.

»Das ist ja eben mein Geheimnis,« erwiderte Karlhans mit einer großartigen Handbewegung.

Lotte kramte in ihrer Kleidertasche. Allerlei sonderbare Gegenstände kamen zum Vorschein. Ein Endchen blaues Band, ein Kämmchen, ein niedliches Gelenkpüppchen im Badeanzug, ein Stück Bleistift, zuletzt ein zusammengeknittertes rosa Seidenpapier. Triumphierend hielt sie es hoch.

»Was steckt darin?« fragte Karlhans, sich neugierig vorneigend.

»Ein süßer Kern,« antwortete Lotte. »Du weißt, ich mag nicht bitten, aber ich schenke dir das rosa Etwas, wenn –«

»›Ah bah, und ich kaufe keine Katze im Sack.‹ So sagt unser Vorarbeiter Jatko. Zeige mal erst –«

»Nein, dann wäre es für dich kein Kunststück, jetzt gib acht; ich zähle bis drei. Wenn ich bis drei gezählt habe und du hast mir das Geheimnis nicht gesagt, dann verschwindet das rosa Seidenpapier wieder in meiner Tasche, und du hast das Nachsehen. Eins – – zwei – –« zählte Lotte. Zwischen jeder Zahl ließ sie eine Pause eintreten. »Nun –«

Noch ehe Lotte die verhängnisvolle Drei aussprechen konnte, faßte Karlhans nach Lottes Hand und entriß ihr das rosa Seidenpapierpaketchen.

»Drei –« schloß Lotte. Sie reckte sich, sie hatte ja wieder den älteren Bruder besiegt.

»Mit List,« meinte Papa Hildebrandt. »Der Waffe des Weibergeschlechtes.« Karlhans wickelte mit vieler Umständlichkeit das Paketchen auf. Ein Freudenschrei begrüßte den »süßen Kern«. Ein Fruchtbonbon lag darin, solch ein feiner, mit einer kleinen Frucht in der Mitte.

»Nun, und das Geheimnis?« forschte Lotte.

Karlhans hielt beide Hände dicht an seine Lippen, blickte sich um, als fürchtete er belauscht zu werden und flüsterte dann so leise, daß Lotte es kaum verstehen konnte: »In drei Wochen findet unser Schulfest statt, wir feiern es dieses Jahr großartig, auf dem Anger vor dem Tore, wo die vielen Kirschbäume stehen. Bis dahin reifen die Frühkirschen,« setzte er mit einem pfiffigen Gesichte hinzu, als schmeckte er die leckeren Früchte schon.

»Du, Karlhans, das ist doch kein Geheimnis, du hast mich betrogen,« erwiderte Lotte sichtlich enttäuscht. »Das Schulfest wird ja jedes Jahr gefeiert.«

»Aber nicht so großartig wie dieses Jahr,« versicherte Karlhans. »Wir feiern das einhundertjährige Bestehen der Schulanstalt. Mit Musik, Tanz und allerlei Kurzweil; wie uns Emil Schuster erzählte, und als Sohn unseres Direktors muß er es am besten wissen.«

Lotte schien nicht überzeugt, sie drehte sich auf dem Absatz herum und bemerkte schnippisch: »Welche lächerliche Prahlerei, als ob unsere Schule –«

»Na, da schweig man mäuschenstill!« fiel ihr Karlhans ins Wort. »Eure Schule, die besteht noch keine fünfzig Jahre.«

»Gib mir den Bonbon zurück. Dein Geheimnis ist nicht so viel wert,« schrie Lotte, aufgeregt durch ihres Bruders letzte Bemerkung.

Karlhans lachte höhnisch auf.

»Ist schon verzehrt, hole ihn dir,« und dabei klopfte er sich behaglich auf seinen Magen.

Lotte war tief beleidigt; ohne noch ein Wort an den »dummen Jungen« zu verschwenden, zog sie sich in die Ofenecke zurück und nahm ihren »süßen Fritz« wieder aus dem Wagen.

Karlhans stand am Fenster, er trommelte aus Leibeskräften gegen die Fensterscheibe.

»Sei doch nicht so laut,« mahnte Lotte. »Du weckst meinen Jungen auf.«

»Dumme Trine,« grollte Karlhans. »Dein Junge, wie ich das finde! Ein Junge aus Porzellan,« höhnte er hell auf. »Ach, da bringt der Bursche vom Doktor den Gaul zum Beschlagen. Der wird wieder einen Mordspektakel dabei machen, das muß ich sehen.«

Mit seinen genagelten Schuhen kräftig auftretend, so daß die Gläser auf dem Büfett klirrten, verließ Karlhans das Zimmer. Doch auch Lotte mußte ihr Spiel bald unterbrechen. Die Hausmagd steckte den unfrisierten Kopf durch die Türspalte.

»Lotting, was dein Klavierlehrer ist, der ist eben gekommen, drüben in der guten Stube wartet er auf dich.«

Lotte hatte bei ihrem Spiel völlig darauf vergessen, daß sie heute nachmittag Klavierunterricht erhielt. Mit einem tiefen Seufzer des Unmutes erhob sie sich und legte ihr Kind behutsam in den Wagen.

»Ach, die ekliche Klavierstunde,« maulte sie, »das wird nett werden, ich habe die langweilige Sonate keinmal geübt. Ein Glück, daß Mutter nicht zu Hause ist, sonst setzte es Schelte.«


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