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3. Kapitel.
Der Resedastrauß

Glücklicherweise hatte Doktor Schmids erster Ausspruch zu recht bestanden, und hatte der Unfall keine schlimmen Folgen für Eddy gehabt.

Zwei Tage mußte er auf Befehl des Hausarztes sein Bett hüten, dann aber durfte er den Besuch seiner Spielgefährten wieder annehmen; doch wurde es Lotte und Karlhans eingeschärft, den Kranken nicht aufzuregen und sich möglichst ruhig zu verhalten.

Eddy trug die Stirn noch verbunden und Karlhans scherzte, um seine Rührung zu verbergen und bemerkte: »Donnerschlag, du siehst ja wie ein verwundeter Krieger aus, wirklich sehr interessant.« Während Lotte zu ihm sagte: »Eddy, zürnst du mir? Ich bin doch die unschuldig Schuldige an deiner Verwundung, ich wollte aber –«

»Weiß schon, Lotti, ich denke, wir lassen die Untersuchung der Schuldfrage ruhen und freuen uns, daß alles so fein abgelaufen ist. Montag gehe ich wieder zur Schule,« setzte er lebhafter hinzu.

Lotte hielt ihre linke Hand auf dem Rücken verborgen, jetzt zog sie diese, dunkel errötend, hervor, sie hielt Eddy ein Sträußchen Reseda entgegen.

»Meine Lieblingsblumen,« rief Eddy hocherfreut aus.

Karlhans war näher gekommen.

»Ach – Lotte, deshalb kauftest du dir kein Stück Kuchen?«

Lotte stand da mit dunkel geröteten Wangen, den Blick hielt sie zu Boden gesenkt.

»Was meinst du, Karlhans?« fragte Eddy, sich etwas im Bette aufrichtend.

»Gestern besuchte uns Onkel Haupt, er schenkte uns jeden eine Mark zu Süßigkeiten; hm, ich kaufte mir ein Stück Apfelkuchen, einen Mohrenkopf und zwei Schokoladenzigarren, Lotte versicherte, keinen Appetit auf Kuchen zu verspüren; nun ich sehe, sie hat dir für ihre Mark die Blumen gekauft.«

»Lotte, ist das wahr?« fragte Eddy tief bewegt.

»Na ja, macht nur nicht solch große Sache, ich hatte eben keinen Appetit für Kuchen, und dann wußte ich, daß du gerade Reseda so liebtest und da –«

»Da gibst du dein ganzes Geld aus, um mir eine Freude zu bereiten? O Lotte, das vergesse ich dir nicht,« flammte Eddy auf, er reichte Lotte seine Hand. »Wie lieb von dir, ich hatte mich auch sehr nach euch gesehnt, es ist zu langweilig, so allein zu liegen; lesen darf ich nicht, um die Augen nicht zu sehr anzustrengen,« setzte Eddy etwas unmutig sprechend hinzu.

»Weißt du, Eddy, ich lese dir etwas vor; gewiß Eddy, ich tue es recht gern,« beteuerte Lotte, doch der Kranke schüttelte den Kopf.

»Ich weiß etwas Besseres. Meine Schwester Grete kennt viele schöne Märchen und Sagen, sie hat mir schon manchmal etwas erzählt. Bitte du sie, Lotte, sie soll zu uns kommen, um –«

Eddy konnte seinen Satz nicht vollenden, die Tür ging auf, und Schwester Grete erschien. Sie trug ein Tablett mit Kaffeetassen und einen mächtigen Teller mit kleinen Mürbekuchen, die Eddy so gern aß.

Grete rückte einen Tisch an das Bett, und bald saßen die Kinder gemütlich beim Vespermahle, selbst der Kranke schien in der frohen Gesellschaft seine Langeweile vergessen zu haben. Man langte tüchtig zu, und bald war der große Teller abgeleert.

»Das hat geschmeckt,« meinte Karlhans, sich die Gegend des Magens klopfend. »So etwas Feines gibt es bei uns nicht. Wir –«

»Ihr seid frisch und gesund,« warf Fräulein Grete ein. »Nicht wahr, Eddy, wenn man krank ist, gibt es auch feine Süppchen mit Täubchen, Eierstand und Morcheln.«

»Freilich, aber wenn man gesund ist und gern mal solche Mahlzeit verzehrte, da schüttelst du den Kopf. Ist nur für Kranke, heißt es dann, und da – da hat man niemals den rechten Appetit.«

Karlhans und Lotte mußten lachen, sie dachten an ihr letztes Kranksein, damals hatten sie Masern und da kochte ihnen die Mutter auch allerlei schöne Mittagessen, obschon ihr Appetit nur mäßig war.

»Grete, erzähle uns eine Geschichte,« bat Eddy, als die Schwester das Kaffeezeug zusammengesetzt hatte und sich eben anschickte, das Zimmer zu verlassen.

Karlhans und Lotte schlossen sich Eddys Bitte an.

»Na ja, ich komme bald zurück, jetzt muß ich erst für Vater einen Weg machen; bleibt inzwischen recht artig beisammen und vergeßt nicht, daß Eddy noch Patient ist.«

»Aber Worthalten,« rief Eddy seiner Schwester noch nach.

»Habe ich nicht stets Wort gehalten?« gegenfragte Grete.

»Nun ja, also beeile dich –«

Karlhans hatte sein geliebtes Dominospiel mitgebracht. Ueber Eddys Bettdecke wurde ein Brettchen gelegt, und bald klapperten die Steine auf dem improvisierten Tische.

»Ich habe den Sechserpasch,« rief Lotte glückstrahlend.

»Dann heraus damit. Du fängst also an.«

Bald waren die Spieler so in ihr Spiel vertieft, daß sie selbst nicht merkten, wie das Tageslicht schwand und Dämmerschatten das Zimmer erfüllten.

Eddy legte die Steine zur Seite.

»Grete bleibt lange aus,« murrte er. Er lehnte sich sichtlich ermüdet in seine Kissen, die ihm Lotte glatt strich, zurück.

Karlhans packte die schwarzen, polierten Steine in den Kasten.

Lotte drehte die Daumen umeinander, sie blickte gedankenvoll vor sich hin. Dann aber hob sie ihr Köpfchen.

»Wißt ihr etwas vom Ursprung des Dominospieles? Woher mag es stammen?« Die beiden Knaben schüttelten den Kopf, wohl hatten sie manch liebes Mal Domino gespielt, doch noch niemals hatten sie über dessen Ursprung nachgedacht.

»Was du oft für seltsame Fragen stellst,« meinte Eddy nach einer Welle.

»Mir stieg eben der Gedanke auf, vielleicht vermag deine Schwester uns Aufschluß zu geben,« warf Lotte ein. »Ich für mein Teil möchte es schon gerne erfahren.«

Die Kinder brauchten sich nicht mehr lange zu gedulden, Schwester Grete trat ein und konnte glücklicherweise dem Wunsch der Kinder nach Belehrung genügen.

Sie nahm nahe am Bette auf einem bequemen Stuhl Platz.

»So hört, was ich vor nicht langer Zeit in einer Zeitschrift gelesen habe: In grauer Zeit lebte, ich denke es war in Persien, ein weiser Schriftgelehrter. Er hatte sein Lebenlang in den heiligen Büchern geforscht, die Jugend belehrt und sich bemüht, dem ganzen Volke durch seine Lebensführung ein gutes Beispiel zu geben.

Er lebte am Hofe eines mächtigen Fürsten, der sich in seinen Mußestunden gern mit den Schriftgelehrten und Staatsräten unterhielt. Sie auch wohl um ihren Rat fragte, denn er war viel zu klug, um nicht zu erkennen, daß er, um sein Volk glücklich zu machen, nicht nur den Eingebungen seines Geistes folgen dürfte, sondern sich der Weisheit und Erfahrung kluger Männer bedienen mußte.

Hochbetagt starb der weise Fürst. Sein Volk betrauerte seinen Heimgang, denn er hatte es mit Weisheit, Güte und Klugheit regiert.

Ihm folgte, da sein Sohn und Erbe plötzlich vor ihm gestorben war, ein Neffe in der Regierung.

Prinz Ibrahim war noch jung an Jahren und Erfahrungen, und da man niemals daran gedacht hatte, daß er einst zur Regierung berufen sein würde, so war er nicht am Hofe erzogen worden, sondern er hatte auf seinem Landgute gelebt, ohne daß er für den hohen Stand und die Verantwortung, die ihm seine Erhöhung bringen mußte, vorgebildet worden war.

Die Hofgesellschaft umschmeichelte den jungen Herrscher. Man verglich ihn mit der Sonne, deren Strahlen bis hinab in die Dunkelheit und Nacht erhellend wirkten. So kam es, daß der Jüngling sich endlich klüger dünkte als seine Vorfahren und daß er nichts mehr auf den Rat derer gab, die einst am Hofe seines Onkels gelebt hatten.

Eine Zeitlang ging alles gut, wie ein fein gestelltes Uhrwerk wickelten sich die Regierungsgeschäfte ab.

Alle Welt jubelte dem neuen Herrscher zu und dieser, viel zu jung und unerfahren für seine verantwortliche Stellung, begann sich bald als Alleinherrscher zu fühlen. Seine Umgebung, anstatt ihm das Gefährliche seiner Handlungsweise vorzustellen, beeiferte sich, ihm zu schmeicheln; nur der alte Rechtsgelehrte, der im Dienste der Dynastie ergraut war, erhob seine Stimme und versuchte den Herrscher mit freundlichen Worten auf sein Unrecht aufmerksam zu machen.

Eine Weile hörte der Fürst dem alten Gelehrten zu, doch als der Alte ihn glattweg tadelte, da erzürnte er sich und ließ den ehemaligen Ratgeber seines Onkels gefangen nehmen.

In einer engen Klause, abgeschnitten von der Welt, einsam und verlassen, verlebte der Gefangene eine Reihe von Jahren.

Niemand kam zu ihm, mit niemand durfte er sprechen, so erfuhr er nichts von dem, was draußen in der Welt geschah.

So lebte und siechte er langsam dahin.

Das Gefängnis grenzte an einen Wald, in dem der Gefangene täglich eine Stunde spazieren gehen durfte. Auf diesen Spaziergängen fielen ihm eine Anzahl gleichfarbiger und gleich großer Steine auf, mit denen der Weg beschüttet war.

Unwillkürlich hob der Gefangene einige dieser glatten, wie poliert erscheinenden Steine auf und nahm sie mit sich in seine Zelle.

Eines Tages legte er, getrieben von Langeweile, aus diesen Steinen allerlei Figuren auf seinen Holztisch. Monatelang vertrieb er sich mit diesem Spiele die Zeit, besonders an den langen Winterabenden saß er und sann sich allerlei neue Figuren und Stellungen aus.

Doch später genügte es ihm wohl nicht mehr, diese Steine aneinander zu setzen, er nahm einen Griffel zur Hand und malte damit Zahlen auf die platten Steine, die er dann nach den Zahlen aneinander setzte und sich mit diesem neuen Spiel die langen Stunden seiner Gefangenschaft vertrieb.«

Die Erzählerin machte eine Pause, doch als sie die aufmerksam auf sich gerichteten Augen ihrer kleinen Zuhörer bemerkte, die sichtlich nach einer Fortsetzung ihrer Erzählung lechzten, da fuhr sie fort.

»Auf diese Art und Weise soll das Dominospiel entstanden sein. In späteren Zeiten wurde es nach und nach vervollkommnet. Im Orient, seiner Heimat, hatte es schon im sechsten Jahrhundert nach Christi Geburt eine weite Verbreitung gefunden. In Persien, China und Japan, besonders aber in dem schier unermeßlich großen Indien spielte man es mit Leidenschaft, und es ist wohl später durch die Schiffer und Handelsleute, die das große Weltmeer durchfuhren, um die Erzeugnisse ihrer Heimat nach dem kalten Norden zu bringen, in Europa eingeführt worden. Zuerst fand das neue Spiel Freunde in Italien, von wo es erst zu Anfang des 18. Jahrhunderts nach Frankreich und Belgien, später erst in Deutschland eingeführt wurde.

Noch heute spielt man es in den romanischen Ländern mit großer Leidenschaft, während bei uns und im Norden Europas das Dominospiel viel weniger gepflegt wird.«

Mit immer höher gesteigerter Aufmerksamkeit hatten die Kinder dieser Erzählung gelauscht. Für sie erhielten die platten schwarzen Steine mit einem Male eine erhöhte Wichtigkeit. Selbst Karlhans, der sich als forscher Quartaner schon fast erwachsen und über Kindergeschichten hoch erhaben dünkte, drückte seine Befriedigung durch aufmerksames Zuhören aus; während seine viel lebhaftere Schwester ihre Bewunderung in Worten aussprechen mußte.

»Sooft ich nun Domino spiele, werde ich an Ihre Erzählung denken müssen, Fräulein Gretchen,« beeiferte sie sich zu versichern. »Und meinen Freundinnen in der Schule werde ich erzählen, woher dieses schöne Spiel gekommen ist, und daß ein armer Gefangener es erfunden hat. Der arme Mann,« setzte sie mitleidig hinzu, »wie gräßlich muß es sein, eingesperrt, getrennt von allen denen, die man lieb hat, so viele Jahre zu leben. Hatte der arme Mann keine Kinder?« wendete sich Lotte an die Erzählerin, die aufgestanden war und eben das Zimmer verlassen wollte.

»Ja, Lottchen, diese Frage kann ich dir nicht beantworten, bedenke, in welch grauer Vorzeit jener Vorgang liegt, und jetzt, Kinder, wird es Zeit, daß ihr Eddy allein laßt, er ist müde geworden, er ist doch noch nicht völlig gesund, das greift ihn alles noch an.«

Zwar ungern, doch schließlich fügten sich Lotte und Karlhans diesem Ausspruch, verließen sie ihren Freund mit dem Versprechen, recht bald wiederzukommen und dann wieder Domino zu spielen.


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