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6. Kapitel.
Im alten Turm

Das Hussitenfest war, vom schönsten Wetter begünstigt, verlaufen. Besonders der Zug der Kinder hatte, wie gewöhnlich, große Freude bereitet.

Lotte war an der Spitze mit ihren Freundinnen gegangen. Alle weiß gekleidet, trugen die Mädchen zur Erinnerung an jenen ersten Kinderzug grüne Kränze im Haar und neben einem Blumenstrauß eine goldgelbe Zitrone in der Hand. Die kleineren Knaben hielten Stöcke mit Kränzen, während die Gymnasiasten nur in geschlossenem Zuge marschierten.

Wie alljährlich waren aus der Umgegend Züge von Neugierigen eingetroffen, um dieses einzig in seiner Art dastehende Fest zu besuchen.

Auch in der Schmiede waren liebe Gäste eingekehrt, die nun draußen in der Laube auf dem Anger sich bei Kaffee und Kuchen gemütlich taten. Auch Tante Eva war aus Weimar erschienen, eine Schwester von Frau Hildebrandt. Tante Eva war ein gerngesehener Gast in der Schmiede, sie war reich und besaß keine Kinder. Deshalb hatte sie besonders Lotte in ihr Herz geschlossen und schon oft den Wunsch ausgesprochen, ihre liebe Nichte mal für längere Zeit in ihr stilles Haus zu nehmen, doch Lotte selbst war stets dagegen gewesen, sie wollte sich nicht gern von Eddy und Karlhans trennen.

Auch an diesem Kirschfeste hatte Tante Eva den gleichen Wunsch ausgesprochen, doch Lotte hatte sie auf die Zukunft vertröstet.

Nachdem der Kaffee getrunken, entfernten sich die Kinder. Es gab heute doch recht viel zu sehen und anzustaunen, und da Tante Eva ihre Liebe zu den Schwesterkindern in blanker Münze bewiesen hatte, so konnten Lotte und Karlhans sich den Vergnügungen hingeben.

Die Karusselle lockten mit ihrer schrillen Musik. Weithin leuchteten die bunten Perlengehänge im Sonnenschein. Lotte hatte sich einen Schimmel ausersehen, während Karlhans und Eddy zwei stattliche Hirsche als Reittiere benutzten.

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Lottes Wangen glühten. Mit vollem Behagen genoß sie die sich ihr darbietenden Freuden; besonders die Würfelbuden mit ihrem bunten Tand zogen sie magnetisch an.

Eddy wich nicht von ihrer Seite, während Karlhans ab und zu verschwand, um gleich darauf wieder aus der Menge aufzutauchen.

»Du hast ja deinen Ritter,« bemerkte er auf eine Frage seiner Schwester, als er wieder einmal nach kurzer Abwesenheit erschien.

Lotte beugte sich gegen Karlhans vor.

»Junge, Junge,« schalt sie, mit dem Zeigefinger drohend, »du hast geraucht! Ja, leugne es nicht, das riecht man ja meilenweit. Wenn Mutter das wüßte,« setzte sie, sich frische Luft zufächelnd, hinzu.

»Bist neunmal klug, hörst das Gras wachsen,« spottete Karlhans.

Dabei wischte er sich energisch mit dem Taschentuch über die Lippen, um die letzte Spur der verstohlen gerauchten Zigarette zu tilgen.

Das Kleeblatt betrat die Reihe, in der Würfelbuden aufgestellt waren. Hier herrschte großes Gedränge. Nur gewaltsam sich durchwindend kamen die Kinder vorwärts.

»Lotte, du drehst dir noch den Kopf ab,« lachte Karlhans.

»Ich will mir die schönen Auslagen besehen, ich habe doch Geld im Beutel, da kann ich mir das Vergnügen erlauben. Ich habe meine Groschen nicht in die blaue Luft verblasen, wie gewisse Herren Gymnasiasten,« setzte sie spöttisch lachend hinzu.

»Na, sei nur gut,« erwiderte Karlhans, sein mageres Geldbeutelchen hebend. »Hier sitzen auch noch Moses und die Propheten.«

»Ein paar elendige Kupferpfennige,« lachte Lotte. »Ich halte mein Geld besser zu Rate.«

»Du – na du –« spottete Karlhans.

»Na – du, weißt du weiter nichts zu sagen?«

Karlhans wendete sein Gesicht zur Seite.

»Mit Mädchen streiten, heißt leeres Stroh dreschen.«

»Woher stammt diese Weisheit? Aus deinem Kopfe wahrlich nicht,« nahm Lotte den hingeworfenen spöttischen Einwurf auf.

»Von wem, vom Gotthelf Jatko, der kennt die Mädel –«

»Ach, aus der Schmiede stammt deine Weisheit! Wenn ich Vater wäre, so erlaubte ich dir nicht mehr, die Schmiede zu betreten, ich –«

»So schweig doch, Lotte,« mahnte Eddy, »wollt ihr euch an dem schönen Festtag noch zanken. Sieh mal dahin, Lotte, die hübschen Schmucksachen. Ein Händler aus Oberstein im Nahetal. Sieh die schön geschliffenen Sachen – wollen wir mal unser Glück versuchen?«

Lotte nickte Beifall, und bald stand sie vor den verlockend ausgelegten Herrlichkeiten. Wie das blitzte und blinkte im Sonnenlicht. Als wäre der Schatz der Nibelungen hier ausgeschüttet worden.

»Aber der Wurf ist hier recht teuer,« meinte Lotte.

»Dafür erhält man auf jeden Wurf einen Gewinn, und fein sind diese Sachen.«

Die Verkäuferin las in Lottes Augen den Wunsch, sich eines dieser kleinen Schmuckstücke zu erwürfeln. Sie nahm den Becher auf und klapperte mit den darin liegenden Würfeln.

»Bitte, hier ist das Geld.« Lotte hatte ein Fünfzigpfennigstück aus ihrem Beutel genommen, mit vor Erwartung zitternder Hand reichte sie es über den Tisch.

Dann rollten die kleinen Würfel über das Brettspiel.

»Ach, Lotte, achtzehn Augen,« lobte Eddy, während Lottes Blicke falkenartig auf den Schmucksachen hafteten.

»Das kleine hübsche Fräulein hat Glück,« bemerkte die Verkäuferin, ein kleines Achatherz aufhebend und in der Sonne blitzen lastend.

Lotte faßte schnell zu, gerade dieses Herz hatte sie ersehnt, fest hielt sie ihre Hand geschlossen, die das Kleinod gefaßt hatte.

»Wollen die jungen Herren nicht auch mal ihr Glück versuchen, alles schöne Sachen, echte Steine,« lobte die Verkäuferin, ein wirklich schönes Stück hochhaltend.

Karlhans schüttelte den Kopf.

»Für solchen Klimbim habe ich keinen Groschen übrig,« murrte er, doch Eddy reichte ein blankes Markstück über den Tisch.

»Ich möchte –« flüsterte er fast schüchtern.

»Der junge Herr versteht den Wert meiner Sachen,« lobte die Verkäuferin.

Eddy würfelte – die drei kleinen Würfel rollten über das Brett. Eddy erhielt eine Brosche mit einem Rheinkiesel.

»Strahlt genau wie ein Diamant.«

Lotte staunte, solch ein glitzerndes Ding hatte sie noch niemals gesehen.

»Ach, wie schön,« flüsterte sie.

»Möchtest du das Schmuckstück besitzen?« fragte Eddy.

»Ich, ach nein, das ist viel zu schön für mich –«

»Wenn ich es dir nun schenke?« fragte Eddy.

»Mir schenken?« staunte Lotte; »ich dachte, du wolltest es deiner Schwester mitnehmen.« Doch, obschon ihr Mund ablehnende Worte sprach, so streckte sie doch schon die Hand aus, die kostbare funkelnde Brosche zu nehmen.

»Na, du bist ein rechter Dummerian,« lachte Karlhans. »Ich würde mein Geld für solch dummes Zeug nicht wegwerfen; nein, selbst ist der Mann, und nun gehe ich sogleich nach den Bratwurstzelten; schnuppere mal, wie gut das duftet – das ist Genuß.«

»Wir gehen mit, nicht wahr, Lotte, die Würste schmecken fein.«

Lotte hob, als sie sich angeredet hörte, den Kopf. Ihr ganzes Denken und Trachten war auf die kostbare Brosche gerichtet.

»Wie werden Hilde und Aenny staunen, wenn ich nächsten Sonntag diese Brosche anstecke,« flüsterte sie Eddy zu.

»Stecke sie doch heute an,« meinte dieser; doch Lotte schüttelte den Kopf.

»Ich könnte sie im Trubel verlieren, und Sonntag gehe ich mit Mutter zur Kirche, da will ich sie das erste Mal tragen.«

»Na, wie du willst; aber jetzt komm schneller, Karlhans ist uns schon ein ganzes Stück voraus.«


Es war am Tage nach dem Feste. Lotte wartete auf Karlhans und Eddy. Sie hatte heute ihre Schularbeiten viel schneller beendet als an anderen Tagen, denn heute erwartete sie ja ein ganz besonderes Vergnügen: der Besuch des alten Wartturmes. Des einzigen Turmes, der noch als ein Wahrzeichen aus lange vergangener Zeit in die Gegenwart hineinragte.

Der Turm war, wie Eddy erzählt hatte, vermorscht, sein Mauerwerk vom Zahn der Zeit, von Regen und Sonnenschein ziemlich zermürbt, so daß man im Rat des Städtchens beschlossen hatte, diesen letzten Zeugen einer gewaltigen Vergangenheit niederzulegen. Man fürchtete mit Recht den Einsturz des alten Gemäuers – doch vorher hatte das lustige Kleeblatt noch einen Besuch des Turmes beschlossen.

Karlhans war schon hoch droben bis auf der Zinne des Trotzers gewesen, nun mußte Lotte auch dort oben stehen, und Eddy, der getreue Freund und Ritter Lottes, konnte und wollte sich von diesem Unternehmen nicht ausschließen. –

Lotte saß wartend auf ihrem Lieblingsplatz. »Lottes Thron«, nannte ihn die Mutter.

Im Schmiedhofe stand eine uralte Linde. Ihre Zweige ragten weit über die Gartenmauer hinaus, die hier, wie so oft in früher befestigten Städten, aus Ueberresten der ehemaligen Stadtmauer bestand.

Hoch droben, wo die Hauptäste sich gabelten, hatten ihr Eddy und Karlhans einen Holzsitz gezimmert – nur ein schmales Brett, das zwischen starken Aesten eingeklemmt, hoch droben in der Krone des alten Baumes angebracht war.

Hier saß Lotte oft. Von hier aus genoß sie einen weiten Ausblick über die Mauer hinüber in das freie Land. Ja bis nach den im Sonnenduft verblauenden Weinbergen verlor sich ihr Blick.

Aber auch den Garten und Eddys Elternhaus konnte Lotte von hier aus betrachten.

Hier fühlte sie sich als kleine Königin, die ihr Reich mit hellen Augen überschaute.

Auch heute hatte sie sich, in Erwartung der kommenden Erlebnisse, in ihr »Reich« zurückgezogen.

Gedankenvoll überblickte sie die unter ihr liegende im Sommerschmuck prangende Welt, und dabei entflatterten ihr die Gedanken, und die Ereignisse des gestrigen Festtages stiegen hell in ihrer Erinnerung empor.

Ein glückliches Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie des Achatherzens oder gar der glänzenden Brosche gedachte, mit der sie sich am nächsten Sonntag beim Kirchgang schmücken und sich dabei von ihren Freundinnen bewundern und beneiden lassen wollte.

Weder Hilde nach Aenny besaßen solch prachtvolles Schmuckstück, und auf dem neuen lichtblauen Kleide mußte die Brosche wie ein Stern strahlen.

Wie lieb und gut von Eddy, ihr solch ein prachtvolles Geschenk zu machen. Ueberhaupt Eddy, wie lieb und gut war er stets zu ihr. Wie oft hatte er sein Taschengeld für sie ausgegeben, wenn es galt, ihr einen Lieblingswunsch zu erfüllen.

Auch heute, das wußte sie bestimmt, verdankte sie es nur Eddy, daß sie mit nach dem alten Wartturm gehen durfte – – – Ein heller Pfiff durchschnitt die Stille des frühen Nachmittags, und da – zwängte sich auch schon Eddy durch die Lücke in der Hecke.

Fast zur gleichen Zeit trat Karlhans aus der Hintertür der Schmiede. Lotte klopfte das Herz doch ein wenig. Man erzählte sich schauderhafte Dinge von dem alten Wartturm – doch entschlossen verließ sie ihren »Thron« und glitt behend am Stamm der alten Linde auf den Erdboden hinab.

Freundlich nickend streckte sie Eddy beide Hände entgegen.

»Ihr seid pünktlich, nun so kann es losgehen.«

»Ist auch höchste Zeit, morgen früh beginnt der Abbruch. Eben war der Ratsbaumeister bei meinem Vater und meldete, daß morgen früh sechs Uhr der Abbruch beginnen solle, da ein Zumauern der Tür nichts nütze.«

»Na, dann rasch ans Werk,« erwiderte Karlhans. »Zur Vorsicht habe ich ein Licht und Streichhölzer mitgenommen, man kann manchmal nicht wissen.«

Eddy stimmte dem vorsorglichen Freund zu, und das Kleeblatt machte sich auf den Weg.

»Mutter schläft,« zischelte Lotte, einen letzten Blick nach dem Hause werfend. »Die Gardinen sind im Schlafzimmer noch zugezogen, da kann sie uns nicht beobachten. Also schnell – mir ist so seltsam zu Mute –«

»Hast du Angst, dann bleibe zurück, Zimperliesen können wir nicht gebrauchen,« entschied Karlhans.

»Hm, so viel Mut wie du, habe ich auch,« entgegnete Lotte schnippisch.

»Na, dann rede nicht unnützes Zeug, sondern komm.«

Stillschweigend legten die drei Kinder das erste Stück des Weges zurück. Niemand begegnete ihnen auf der stillen Seitenstraße.

Karlhans lief zwei Schritte voraus, während Eddy und Lotte folgten. Sie hatten nicht allzu weit zu gehen. Schon blinkte zwischen den knorrigen Weiden, die längs dem Ufer standen, der vom Sonnenschein bestrahlte Fluß auf. Glucksend schlugen die Wellchen gegen das sandige Ufer.

Libellen und bunte Schmetterlinge gaukelten über den heute silbern leuchtenden Fluß.

Blumen blühten auf der das Ufer umsäumenden Wiese. Gelbe Dotterblumen, rosa Federnelken und die zierlichen weißen Dolden der wilden Petersilie, auf denen bläulich schimmernde Käfer emsig nach Nahrung suchten.

Lotte wäre am liebsten über die Wiese gelaufen und hätte sich einen Strauß Feldblumen gesucht, doch Karlhans schritt ohne anzuhalten den schmalen Fußpfad entlang, der nach dem alten Wartturm führte.

»Du, Eddy, bei dunkler Nacht möchte ich nicht hier gehen,« tuschelte Lotte ihrem Gefährten zu.

»Wenn ich dich beschütze, Lotte, wäre es nicht gefährlich,« antwortete Eddy ebenso leise.

Karlhans hemmte seine Schritte.

Vor den Kindern baute sich der aus mächtigen Quadern gleichsam für eine Ewigkeit aufgerichtete Turm auf.

An seiner einen Seite grenzte er an ein Stück alter Stadtmauer, die aber auf der anderen Seite längst verfallen war. Nur noch einzelne Steinbrocken zeigten an, daß hier einst eine Mauer zum Schutze der Stadt gestanden hatte.

In den Turm selbst führte nur eine schmale, mit Eisenblech beschlagene Holztür, deren Schloß, halb verrostet, von außen geöffnet werden konnte.

»Das reine Räubernest,« meinte Eddy, leicht zusammenschauernd.

»Ist jetzt nicht gefährlich, soll ein sogenannter Hungerturm einst gewesen sein,« behauptete Karlhans.

Die Holztür bewegte sich kreischend in ihren Angeln.

Die sonst so forsche Lotte fühlte, wie in diesem Augenblicke ihr Herzschlag aussetzte; trotzdem drängte sie sich durch die enge Oeffnung.

Eine eisige Kälte wehte den Eintretenden entgegen, sie stach scharf gegen die warme Sommerluft ab, aus der die Kinder kamen.

Vorsichtig bewegte Karlhans die Tür hinter ihnen. Er zwängte einen im Türwinkel liegenden Stein in den Spalt.

»Was machst du da?« fragte Eddy.

»Ich sichere uns den Rückzug. Diese Tür darf nicht völlig zugeschlagen werden, sonst sitzen wir gefangen im Turm und könnten bis morgen früh warten, ehe man uns befreite. Hierher verirrt sich selten ein Spaziergänger und weit ab liegt jede Wohnung.«

»Du, Karlhans, die Geschichte scheint gefährlicher, als ich dachte,« begann Eddy.

»Willst wohl im letzten Augenblick kneifen?« fragte Karlhans. Der in seinem »Mannesstolz« gepackte Eddy schüttelte abwehrend den Kopf.

»Ich gehe mit dir durch dick und dünn; aber Lotte –«

»Na, Lotte hat jetzt noch die Wahl, sie kann noch heimgehen.«

»Ich bleibe bei euch,« erwiderte die Gefragte.

Zwar empfand sie ein geheimes Gruseln, doch gerade dieses unheimliche Gefühl stachelte Lotte an, zu bleiben.

»Ich bleibe bei euch,« wiederholte sie und trat als erste tiefer in das alte Gemäuer.

Im Hintergrund des Turmes lag eine schmale Holztreppe, die scharf gewendelt zur Höhe des Turmes führte.

Plötzlich schrie Lotte laut auf, eine grün schillernde Eidechse war an ihr vorüber gehuscht; doch dann stieg sie entschlossen höher.

Im Turme herrschte mattes Dämmerlicht. Die Schießscharten, Fenster gab es hier nicht, waren von Spinnweben wie mit Gardinen verhängt, in die sich ein viel hundert Jahre alter Staub und Schmutz festgelegt hatte.

Die Luft war nur schwer zu atmen, aber je höher die drei Kinder stiegen, desto heller wurde es auch und desto reiner die Luft; freilich die Holzstufen waren, je höher sie gestiegen, um so mehr vermorscht. Hier hatte die durch die Schießscharten eindringende Luft an der Verwitterung gearbeitet.

Lotte hatte ihren Gleichmut wiedergefunden. Leise summte sie ein Kinderlied vor sich hin.

Endlich war die Zinne des Turmes erreicht. Die letzte Höhe mußte auf einer Leiter erklommen werden – dann traten die Kinder plötzlich auf die Plattform des Turmes hinaus.

Karlhans stieg rasch die letzten Stufen empor, er hatte ja vor wenig Tagen schon den Turm bestiegen. Eddy und Lotte waren überrascht. Sie hatten sich gar nicht gedacht, welche Höhe sie erklettert hatten. Nun standen die Kinder, sprachlos vor Erstaunen, doch sich Hand in Hand haltend, an der Mauerkrone des Turmes, die etwa meterhoch vom Fußboden aus lief.

Zwischen den einzelnen Zacken gewannen sie eine köstliche Fernsicht. Der Fluß, der den Fuß des Turmes umspülte, wand sich in Schlangenlinien durch das fruchtbare Land.

Wiesen wechselten mit Feldern, auf denen schon die ersten Garben zum Trocknen aufgestellt waren. Gärten reihten sich an schimmernde Steinbrüche. In der nahen Ferne blauten die Weinberge, auf deren Rücken noch Ueberreste alter Burgen thronten. Mächtige Türme waren vorhanden, die dazu gehörenden Schlösser und Burgen waren längst verfallen, nur die Türme trotzten noch dem Zahn der Zeit. Sie waren die Wahrzeichen einer längst vergangenen, doch poesiedurchlohten Zeit. Wie verzückt stand Lotte und schaute hinaus in die sonnumwobene Landschaft.

»Wie schön, wie herrlich,« flüsterte sie. »Ich hätte niemals gedacht, daß die Welt so schön sein könnte.«

»Siehst du, und diesen schönen Ausblick verdankst du mir,« fiel ihr der Bruder frohlockend in das Wort, während Eddy, tief erschüttert vom Schauen, kein Wort sprach.

Sein langes Schweigen erschien Lotte endlich überflüssig, sie zog den stummen Freund am Arm.

»Eddy, du scheinst ganz und gar auf mich vergessen zu haben.«

»Verzeih, ich träumte –«

»Wie ein Hase mit offenen Augen,« fiel ihm Karlhans ins Wort. »Ihr seid mir eine misepetrige Reisegesellschaft. Steht da und haltet Maulaffen feil,« grollte er.

»Aber, Karlhans, ich bin dir von Herzen dankbar, mir gefällt es hier ebenso gut, mein ganzes Herz ist erfüllt –«

»Mit Trübsal blasen,« meinte Karlhans geringschätzend. »Da war es lustiger, als ich mit meinen Freunden hier herauf gekraxelt war. Wir warfen Steine in den Fluß, daß das Wasser hoch aufspritzte, und in die Dohlennester haben wir eingeguckt, und eine Eule saß in der einen Luke, die hat sich Stephan Brise mit nach Hause genommen.«

Lotte staunte, eine lebendige Eule hatte sie ihr Leblang noch nicht gesehen.

»Du, Karlhans, sind alle Eulen fort?« fragte sie, mit neugierigen Augen sich umschauend.

»Denkst du, die warten gemütlich, bis du die Gnade hast, dem alten Turm einen Besuch abzustatten? Doch vielleicht zeigt dir mein Freund seine Eule; aber jetzt habt ihr genug gesehen, ich fürchte die dunklen Wolken, da braut sich ein Gewitter zusammen. Also vorwärts mit frischem Mut.« Karlhans intonierte ein bekanntes Knabenmarschlied.

»Ich möchte ein Maler sein, um dieses Bild festhalten zu können,« schwärmte Eddy. Träumerisch blickte er hinaus in das weite Land.

»Ein Maler?« Karlhans schüttelte sich. »Nicht in die Hand. Ich werde einmal ein Schmied wie mein Vater, dazu gehören Kraft und Mut. Und Vater sagt oft: Handwerk hat einen goldenen Boden.«

»Aber der Ruß in der Schmiede und der Lärm,« warf Lotte ein.

»Oho – die Schmiede waren immer sehr angesehene Leute,« brauste Karlhans auf. »Aber jetzt beeilt euch, die Wetterwolke zieht rasch herauf. Es ist auch so schwül,« bemerkte er, sich mit der Hand Luft zufächelnd.

Lotte gehorchte, nur Eddy blieb noch am Rand der Turmzinne stehen. Er hatte seine Hand fest auf den gemauerten Rand gelegt; als nun Lotte ihn kräftig am Arme zog, löste sich ein Stück Stein unter seiner Hand, es rollte mit Gepolter hinab und verschwand in dem hoch aufspritzenden Wasser des Flusses.

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Lotte erschrak, sie erbleichte und trat schnell einen Schritt zurück.

»Eddy, komm, mir wurde auf einmal schwindelig, auch fühlte ich, wie der Boden unter meinen Füßen schwankte.«

»Kindskopf, der liegt seit Jahrhunderten fest,« spottete Karlhans. »Aber dort das Gewitter zieht mit Siebenmeilenstiefeln daher.«

Im selben Augenblick traf ein heftiger Windstoß die auf der Plattform des Turmes stehenden Kinder; zugleich ließ sich ein ferner Donner vernehmen.

»Da haben wir die Bescherung,« rief Karlhans übelgelaunt aus.

Dem ersten Windstoß folgte ein zweiter, dritter – die in der Nähe des Turmes stehenden Bäume ächzten unter der Gewalt der Aeste.

Unheimlich klang das Rauschen und Raunen in den alten Bäumen.

»Kommt, hier ist es heute nicht geheuer,« rief Karlhans, schon mit einem Fuß auf der Leiter stehend; als plötzlich ein Blitz aus den tief herabhängenden Wolken schoß, den ein weithin rollender Donner begleitete. Zugleich lief ein Beben durch das alte Gemäuer, und es klang, als würde irgendwo eine Türe gewaltsam ins Schloß geworfen.

Karlhans hielt den Kopf lauschend vorgeneigt; sein gesundes Knabengesicht erblaßte, er schwankte und mußte sich an dem Strick festhalten, der den Herabsteigenden als Halt und Stütze dienen sollte.

»Was war das?« fragte Eddy mit zitternden Lippen, während Lotte sichtlich verstört nach ihrem Bruder blickte.

»Die Tür,« murmelte Karlhans, doch dann straffte sich seine Gestalt, und mit einer gebietenden Handbewegung lud er Schwester und Freund zur Nachfolge ein.

Der Abstieg gestaltete sich viel schwieriger. Nur langsam kamen die Kinder vorwärts.

Nur noch spärliches Licht drang durch die Schießscharten. War es der herabsinkende Abend oder hatte sich der Himmel mehr und mehr mit dunklem Gewölk bedeckt. Nur das fahlblaue Licht der Blitze erleuchtete das Innere des Turmes.

Eddy stolperte, auch Lotte schritt zaghaft vorwärts.

Nur Karlhans bewahrte seinen Gleichmut, doch auch er schien unter dem Schrecken des Gewitters und einem geheimen Grausen zu leiden. Er hielt die Lippen fest zusammengepreßt, gleichsam, als wollte er verhindern, daß ein Ton, ein Wort ihnen entschlüpfte.

Jetzt erst bemerkten die Kinder, wie ausgetreten die Holzstufen waren, wie sie oftmals unter ihren Tritten erzitterten und wie sogar hier und da ein breiter Spalt in dem Bretterbelag klaffte.

Um den Turm raste der Gewittersturm. Es klang unheimlich, wenn die Aeste der zunächststehenden Bäume gegen das Mauerwerk schlugen oder daran herabglitten.

Eddy hielt Lottes Hand; während Karlhans als Führer voran schritt. Lottes sonst so kecker Mut war vergangen, sie hielt Eddys Hand fast krampfhaft fest.

Je tiefer die Kinder hinabschritten, desto dunkler wurde es um sie her.

»Nun noch das letzte Stück,« bemerkte Karlhans aufatmend, als der letzte Podest erreicht war. »Dann laufen wir heidi heim,« setzte er mit einem schwachen Versuch, zu scherzen, hinzu.

Ein gellender Schrei durchschnitt die eingetretene Stille, Karlhans hatte ihn ausgestoßen.

»Die Tür ist zugesperrt! Wir sind im Turme gefangen,« schrie er entsetzt auf.

Lotte riß Eddy die letzten Stufen hinab.

Kreidebleich blickten sich die Kinder an. Gewaltsam rüttelte Karlhans am Schloß, der Riegel wich und wankte nicht.

Lotte weinte auf, bisher hatte sie standhaft ihre aufsteigenden Tränen zurückgehalten, nun erpreßten sie Angst und Schrecken.

»Karlhans, was soll nun mit uns werden?« fragte sie weinerlich.

»Was werden soll? Wir bleiben eingeschlossen, vielleicht die ganze Nacht über. Niemand wird uns hier suchen, niemand kann uns hören, wer sollte bei diesem Wetter hierher kommen?«

Lotte rang die Hände, der Gedanke, die ganze Nacht über hier eingeschlossen zu sein, schreckte sie.

»Und Mutter,« flüsterte sie, »sie wird sich ängstigen,« setzte sie vor Angst zitternd hinzu.

»Vater wird uns vermissen, uns suchen,« nahm Karlhans das Wort. Zu wiederholten Malen hatte er versucht, den Riegel zurückzuziehen, doch dieser spottete allen Anstrengungen der Knabenhand. »Es geht nicht! Er rührt sich nicht.«

Entmutigt ließ er sich auf die unterste Treppenstufe nieder.

»Morgen früh sechs Uhr kommen die Arbeiter, dann –« Eddy schwieg, er berechnete im stillen, wie viele Stunden vergehen mußten, ehe ihnen dann Erlösung kommen konnte.

»Niemand ahnt, wo wir sind,« begann Lotte nach einer Weile, ihre nassen Augen mit dem Taschentuch trocknend. »Ich habe Hunger,« setzte sie kleinlaut hinzu.

»Denkst du, ich nicht? Ich mache nur kein Aufhebens davon,« erwiderte Karlhans tadelnd.

Eine Weile schwiegen die Kinder. Jedes hing seinen Gedanken nach, und die waren trübe genug.

Inzwischen war es finster geworden. Es blitzte und donnerte nicht mehr, das Gewitter schien abgezogen; doch nun klatschte der Regen gegen die Mauer. Einzelne kleine Rinnsale sickerten unter der Steinschwelle hervor, und drunten im Kellergeschoß begann es sich zu regen.

Lotte schauderte zusammen.

»Ob es hier Ratten gibt?« fragte sie.

»Aber gewiß,« erwiderte Karlhans.

»Ich fürchte mich,« begann Lotte wieder, während sie angestrengt nach allen Seiten lauschte. »Karlhans, wie spät mag es sein?« fragte sie bald darauf. »Zünde das Licht an, bitte, Karlhans, im Dunkeln ist es hier so gruselig.«

»Sofort.« Karlhans zog das Licht aus der Tasche, allein so emsig er auch suchte, die Schachtel mit den Streichhölzern war fort. Karlhans erschrak, hatte er die Hölzer nicht eingesteckt, oder vorhin beim Herabsteigen verloren?

»Nun, was zögerst du, es ist ja stockfinster, man sieht die Hand nicht mehr vor Augen,« mahnte Lotte.

Was sollte Karlhans tun, er mußte gestehen, die Hölzer verloren zu haben. Lotte schrie laut auf.

»Verloren! Ach, Karlhans, wie konntest du –«

»Nun mache mir keine Vorwürfe,« grollte Karlhans »Sie sind nun mal fort, und es ist zu finster, um die Zahlen auf dem Zifferblatte zu erkennen,« brummte Karlhans, während Lotte leise vor sich hin weinte. »Ich denke, es ist Zeit zum Abendessen, Vater wird aus der Arbeit kommen. Mutter hat den Tisch gedeckt und die Lampe angezündet.«

Ein leises Schluchzen unterbrach seine Aufzählungen. Lotte hatte beide Hände vor ihr Gesicht geschlagen, sie weinte herzbrechend. Die Schilderung ihres gemütlichen Elternhauses erpreßte ihr heiße Tränen.

»Eddy, hilf mir, mit vereinten Kräften wollen wir versuchen, ob sich der Riegel nicht fortschieben läßt,« begann Karlhans nach einer Weile.

Eddy faßte zu, auch Karlhans strengte sich an, bis ihm die Stirnader anschwoll, doch der eiserne Riegel spottete jeder Kraftanstrengung.

»Das Schloß ist von innen nicht zu öffnen,« erklärte Karlhans. »Wir müssen uns in Geduld fügen, vielleicht sucht man uns und –«

»Wenn aber doch niemand eine Ahnung von unserm Vorhaben hatte?« meinte Lotte, deren Hoffnungen sehr herabgestimmt waren.

»Ja, dann heißt es aushalten. Wie Mäuschen in der Falle sitzen wir hier,« setzte Karlhans grollend hinzu. »Der Wind muß den Stein fortgeschleudert haben, und ich hatte ihn doch so fest eingeklemmt.«

Wieder folgte ein unheimliches Schweigen, das schwer lastend auf den Kinderseelen lag.

Der Regen schien aufgehört zu haben, es klatschte wenigstens nicht mehr gegen die Mauern, und auch die kleinen Rinnsale auf dem Steinboden waren versiecht und versickert.

Lotte hatte ihren Kleiderrock über die Schultern hochgezogen, sie fröstelte. Es war recht kalt in dem Turm, und der Gedanke, bis morgen früh sechs Uhr hier zu sitzen, war zum Verzweifeln.

Lotte lehnte den Kopf gegen Eddys Schultern. Die beiden Kinder saßen eng aneinander gedrückt, während Karlhans noch immer ruhelos hin und her wanderte.

Dumpf und schwer legte sich die im Turm eingeschlossene Luft auf die Brust der Kinder, eine ewig lange Zeit schon glaubten sie hier zu sitzen.

»Wenn ich nur meine Uhr erkennen könnte,« begann nach einer Weile Karlhans. »Es muß doch schon ziemlich spät in der Nacht sein.«

»Eine kleine Ewigkeit sitzen wir freilich schon hier. Sollten wir nicht mal versuchen, um Hilfe zu rufen?« schlug Lotte vor.

»Dummer Schnack, wer sollte uns hören, gesetzt den Fall, wir könnten so laut schreien, daß der Schall aus diesen festen Mauern hervordränge. Nein, daran ist nicht zu denken,« setzte Karlhans, einen Augenblick nahe der Tür stehen bleibend, hinzu. »Vielleicht führt ein Zufall Vater hierher – sonst –«

Er konnte nicht vollenden, Lotte weinte laut auf.

»Heule nicht, damit ist nichts erreicht. Du machst nur dir und uns das Herz noch schwerer. Wir müssen ausessen, was wir uns eingebrockt haben,« schloß Karlhans.

Eddy antwortete nur mit einem Seufzer, und Lotte strich sich die Tränen aus den feuchten Augen. Sie wollte nicht mehr weinen, denn sie sah ja selbst ein, daß sie damit nichts änderte.

Wieder verging den Kindern eine ewig lange Zeit.

»Ob es nicht schon Mitternacht ist?« fragte Lotte mit einem geheimen Gruseln.

»Wer kann das wissen,« erwiderte Eddy. »Wir haben Vollmond, doch scheint sich der Himmel noch nicht aufgeklärt zu haben. Uebrigens, was hilft uns der Mond, hier in das alte Mauerwerk scheint weder Sonne noch Mond.«

»Also wappnet euch mit Geduld,« mahnte Karlhans, sich schwer auf eine Treppenstufe fallen lassend.

So saßen und lauschten die eingeschlossenen Kinder. Ihnen war, als stehe die Zeit still, kein Ton, kein Laut der Außenwelt drang zu ihnen und erlöste sie von ihrer Qual.

Plötzlich sprang Karlhans auf, er tastete sich nach der Tür und legte sein Ohr auf den schmalen Spalt.

»Mir war, als hörte ich Stimmen; hm, sollten wir nicht mal um Hilfe rufen? Vielleicht sind Leute in der Nähe oder –«

Lotte und Eddy ließen ihre Stimmen erschallen, doch nur der schwache Widerhall ihrer hellen Kinderstimmen antwortete ihnen.

»Es war nichts,« stammelte Karlhans. »Ich muß mich geirrt haben; aber da – da höre ich es wieder! Leute sind in der Nähe, ich höre verschiedene Stimmen! Könnten wir uns ihnen nicht bemerklich machen, aber die Mauern sind zu dick, da dringt kein Ton hervor,« setzte er erregt hinzu.

Die Schießscharten stehen offen,« fiel Eddy ein. »Wer sollte bei dieser Finsternis die Treppe hinaufklettern.« Mutlos klang seine sonst so helle Knabenstimme.

»Ich will es versuchen,« meinte Karlhans. »Vielleicht –«

Er verstummte, Lotte und Eddy lauschten in atemloser Angst.

Sie hörten, wie Karlhans an ihnen vorüber sich die Treppenstufen hinauftastete, wie das Schlürfen seiner Schritte zeigte, daß er hoch und höher mühsam aufstieg.

»Ich habe das Seil gefunden,« rief er hinab. »Nun klimme ich rascher aufwärts.«

Dann blieb es eine Weile still, nur ganz leise rieselten die von Karlhans' Tritten losgelösten Sandkörnchen herab.

Lotte preßte Eddys Hand fester: »Bleibe du bei mir, ich habe solche Angst,« flüsterte sie.

Karlhans mußte hoch steigen, die ersten Schießscharten lagen in Höhe eines Stockwerkes. Ein leiser Schrei hallte durch Finsternis und Stille.

»Ich sehe einen Lichtschein,« rief Karlhans hinab.

Dann wieder vernahmen die Untensitzenden nur das leise Rauschen von Steinbröckchen und Staub.

»Ich bin am Ziel! Der Mond ist aufgegangen, ich kann die Umgebung des Turmes erkennen.«

Hoffnungsfreudig klangen diese Worte. Lotte hatte sich halb aufgerichtet, sie zitterte vor Aufregung und Erwartung.

»Karlhans, siehst du nichts?« fragte Eddy.

»Alles bleibt still, doch nein, ich höre Schritte, aber sehen kann ich nichts. Es müssen mehrere Personen sein. Sie kommen näher, sie müssen eine Laterne mit sich tragen, ich kann einen rötlichen Schein erkennen.«

Ein lauter Schrei, Karlhans hatte ihn ausgestoßen, gellte durch die Stille.

»He! Halloh! Hier her, im alten Wartturm,« schrie der Knabe. »Vater ist dabei, er hat mich gehört, er läuft hin und her – Vater – Vater – Im Turm, wir sind eingeschlossen!«

Karlhans polterte die Stufen herab.

Im selben Augenblick knarrte die alte Tür in den verrosteten Angeln, der Laternenträger stürzte vor, ein Lichtstrahl zitterte durch die Finsternis.

Lotte schlug, von der plötzlichen Helle wie geblendet, beide Hände vor das Gesicht.

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»Vater! Vater!« schrie sie in der Wonne ihres Herzens, der Erlösung aus tiefster Angst auf.

»Lotte, mein geliebtes Mädchen!« Im selben Augenblicke fühlte sich Lotte emporgehoben und an das lautschlagende Herz ihres Vaters gepreßt. »Welche Angst haben wir wegen euch Ausreißer ausgestanden.«

»Und wir erst, Vater!« erwiderte Lotte. Unter Lachen und Weinen hielt sie den Hals des Vaters fest umfangen. Zitternd, wie ein Vöglein, das vorzeitig sein heimisches Nest verlassen hat, schmiegte sie sich in die Arme ihres Vaters. Wie sicher, wie geborgen vor allem Grausen und den Schrecknissen der Nacht fühlte sie sich da, und nun erschütterte ein heftiger Tränenstrom die schlanke Gestalt des Mädchens.

Auch die beiden Knaben atmeten wie befreit auf, und Eddy flüsterte mit seltsam belegter Stimme: »Mein Vater, Schwester Grete –«

»Er ist mit mehreren Leuten nach dem Anger gegangen, um seinen verlorenen Sohn zu suchen.«

»Hat er arg gescholten?« fragte Eddy. Es zitterte und zuckte in seinem hübschen Knabengesicht, doch mannhaft schluckte er seine aufsteigenden Tränen hinab.

Der Laternenträger voran, Lotte am Arm ihres Vaters, während Karlhans mit Eddy folgte, und begleitet von den übrigen Leuten trat man den Heimweg an.

Das Gewitter war vorüber, vom Nachthimmel herab glänzten die Sterne in funkelnder Pracht. Die Luft war herb, doch köstlich, den drei Kindern schien sie noch niemals so belebend und würzig wie eben jetzt, als sie der Haft des alten Wartturmes entronnen waren.

Kein Wort des Tadels wurde laut. Lottes Vater dachte wohl, daß die Todesangst, in der die drei Kinder geschwebt, Strafe genug für ihr Vergehen gewesen sei.

Lotte lehnte ihr Köpfchen an die Schulter ihres Vaters.

»Väterchen, zürnst du mir, wir waren unfolgsam, bist du recht böse, weil wir euch so viel Angst bereiteten. Und Muttchen –«

»Muttchen erwartet die Ausreißer mit klopfendem Herzen. Ich glaube, der Denkzettel, der euch heute nacht geworden ist, wird euch abhalten, euch nochmals unvorsichtig in Gefahr zu begeben.«


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