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7. Kapitel.
Schneeweißchen

Mehrere Tage waren verflossen, Lotte hatte sich von dem ausgestandenen Schrecken erholt.

Eddy und Karlhans liefen täglich nach dem alten Wartturm, an dessen Niederlegung flott mit Spitzhacken, Aexten und Beilen gearbeitet wurde.

Lotte mochte den Schauplatz ihres nächtlichen Abenteuers nicht wieder betreten, ja ein gewisses Gefühl von beklommender Angst bemächtigte sich ihrer stets, sobald nur das Gespräch auf den alten Turm kam.

Lotte stand am Fenster des Wohnzimmers. Sie blickte hinaus in den herabfallenden Regen. So ein rechter, eintöniger Landregen strömte vom grau verhangenen Himmel herab.

Karlhans war in der Stunde, er erhielt Nachhilfe im Latein, denn »das alte, eklige Latein« mit seinen vielen Regeln wollte sich nicht so leicht in seinen sonst offenen Kopf eintrichtern lassen.

So blieb Lotte für einige Stunden allein. Ihre Mutter war ausgegangen, doch bevor sie ihr Haus verließ, hatte sie Lotte recht ernstlich gebeten, ja nicht zu vergessen, die Sonate zu üben.

»Fräulein Zöllner schilt sonst, und du lernst nichts in der teuren Klavierstunde.«

Mit diesen Worten war Lottes Mutting gegangen.

Lotte hegte auch die feste Absicht, Mütterchens Ermahnung zu beherzigen, freilich war ihr der Klavierunterricht genau so unangenehm, wie Karlhans die lateinische Stunde.

»Ich will heute fleißig üben.« Mit diesem Vorsatz schlug Lotte den Deckel des Pianos zurück, doch vorher wünschte sie noch einen Blick aus dem Fenster zu werfen.

Es regnete noch immer in Strömen, die Wege waren überflutet, und in dem Rinnstein stauten sich die Gewässer.

Lotte verzog ihr Gesicht, da war wenig Aussicht für ein lustiges Spiel im Garten, also mußte sie sich schon zum Sonatenüben bequemen.

»Zuerst ein paar Tonleitern,« dachte Lotte.

Ungleich, bald zu schnell, bald stockernd begann Lotte zu spielen. Man konnte merken, ihre Gedanken weilten nicht beim Ueben, sondern flatterten in der weiten Welt herum.

Lotte gähnte, ach, es war doch zu häßlich und langweilig, diese Klimperei, hier still sitzen zu müssen; wenn nur der Regen –

Die Tonleitern waren abgehaspelt, Lotte nahm die Sonate vor; sie blätterte übelgelaunt in dem Hefte.

»Oh – gar ein Kreuz,« flüsterte Lotte. »Ich mag die vielen Kreuze nicht leiden, zu dumm so viele Kreuze vorzuschreiben.«

Lotte spielte die ersten Takte. Im selben Augenblicke, wohl angelockt durch die Musik, kroch ein niedliches schneeweißes Kätzchen unter dem Sofa hervor.

»Ach, Schneeweißchen, liebes Schneeweißchen,« lockte Lotte, auf dem Teppich niederkauernd.

Schweifwedelnd kam das niedliche Kätzchen näher, doch als Lotte die Hand ausstreckte, um es einzufangen, da wich es blitzschnell zurück und versteckte sich unter dem Tisch.

Lotte schlug die Tischdecke zurück. Schneeweißchen saß mit hochgezogenem Buckel zwischen den Tischbeinen. Sie schien nicht übel Lust zu verspüren, auszukneifen, doch dieses Mal waren die Hände Lottes schneller, als die Füßchen des gelenken Tierchens.

Lotte faßte gewaltsam zu, dann aber drückte sie ihr Gesicht zärtlich gegen das weiche Fellchen.

»Bist mein liebes Schneeweißchen,« schmeichelte Lotte, das Kätzchen wiederholt an sich pressend und ihr das seidenweiche Fellchen streichelnd.

Schneeweißchen schnurrte vor Behagen, sie rollte sich zu einem Knäuel und legte ihr Köpfchen in Lottes Hand.

Mit ihren kohlschwarzen Aeuglein blickte sie zu Lotte auf, zog die Lippen etwas zurück, daß Lotte die spitzen Zähnchen bewundern konnte.

Da – ein neuer Gedanke flammte in Lottes Schelmenköpfchen auf, und gewohnt, jeder Regung ihres Innern nachzugeben, sprang sie schnell empor.

»Ich will mein Süßchen schön putzen,« flüsterte sie zärtlich, von ihrer neuen Idee eingenommen.

Vergessen war die Klavierstunde, die Mahnung der Mutter – Lotte trug das Kätzchen nach dem Wohnzimmer.

Hier hatte sie ihr eigenstes kleines Reich. In der Ecke zwischen Ofen und Schrank stand ihr Puppenwagen; doch heute erhielt selbst der geliebte Porzellanjunge keinen Blick.

In einem Schränkchen standen und lagen Lottes Spielsachen. An einem Nagel hing ein lichtblaues Puppenkleidchen. Lottchen hatte es unter Aufsicht ihrer Mutti und mit Aufwendung von vieler Mühe, Zeit und schwärmerischer Hingabe selbst bestickt und genäht.

Um den untern Rand lief eine schmale Girlande von Gänseblümchen und allerliebsten Röschen. Denselben Schmuck und Zierat zeigte das zierliche Leibchen.

»So, Schneeweißchen, nun schmücken wir unseren Liebling.« Lottes Stimme schmolz ordentlich vor Zärtlichkeit. Das Kätzchen aber schien anderer Meinung zu sein. Es sträubte und wand sich zwischen Lottens Händen und versuchte sich mit aller Gewalt aus den Kinderhänden zu befreien.

»Wenn du nicht fein artig bist, setzt es Schläge,« bemerkte Lotte, ganz im Tone ihrer Mutter, wenn sie selbst nicht folgen wollte.

Mit der einen Hand hielt Lotte die Katze fest, mit der anderen zog sie ihr schnell und geschickt das blaue Kleidchen über den Kopf.

»So, nun ist unser Schneeweißchen ein feines Kind, nun kann es mit Mutti spazieren gehen,« lobte Lotte, doch das Kätzchen wand sich recht ungemütlich in dem seine Behändigkeit raubenden engen Kleidungsstück. Immer wieder nahm es einen Anlauf, sich zu befreien.

Da Lotte im Anschauen ihres Werkes vertieft war, so benutzte plötzlich Miezchen die Gelegenheit und entschlüpfte den Kinderhänden.

Wie ein lichtblaues Bällchen flüchtete die kleine Katze unter einen Schrank.

Auf ihren Knien liegend, kroch Lotte dem Flüchtling nach. Miezchen saß in stiller Ruh in seinem Versteck; während Lotte sich in liebkosenden Worten erschöpfte, schien Schneeweißchen wie mit Taubheit geschlagen.

Sie saß in der weitest entfernten Ecke und versuchte das enge Kleidchen abzustreifen.

Das gelang ihr nicht, und da Lotte eine Eisenstange zu Hilfe geholt hatte und damit unter dem Schrank herumfegte, so gab Schneeweißchen seinen so arg bedrohten Platz auf, huschte zwischen zwei Schrankfüßen hindurch und saß mit einem Sprunge auf dem großen Mitteltisch.

Von hier aus flüchtete das sich immer mehr erregende Tier nach dem Fenster, und als Lotte sich diesem näherte, kroch es blitzschnell in den Falten der Gardinen empor und landete auf einer Gardinenstange.

Dort saß es tief Atem holend still und guckte mit den schwarzen Augen auf Lotte hinab, die ratlos am Fenster stand und dem geliebten Flüchtling nachstarrte.

»Schneeweißchen, geliebtes Schneeweißchen komm herab, ich ziehe dir das Kleidchen aus,« versprach Lotte, doch da das Kätzchen diese Worte natürlich nicht verstand, sondern nur merkte, daß Lotte Anstalten traf es wieder einzufangen, so sprang es in wahrer Todesangst auf einen Schrank und von dort mit einem Satz auf den Ofen.

Eine weiße Tonvase krönte den Ofen, in diese kroch Schneeweißchen und war nun vollständig vor Lottes Blicken geborgen. Nur die äußersten Spitzen der Oehrchen lugten aus der bauchigen Vase hervor.

Lotte weinte fast vor Zorn, sie hatte es sich als schönen Zeitvertreib gedacht, mit dem angekleideten Kätzchen zu spielen, und nun war Schneeweißchen so töricht und saß hoch, unerreichbar für Lottes Händen, auf dem Kachelofen.

Lotte lockte, sie holte ein Schälchen Milch, doch Miezchen ließ sich nicht bewegen, sie saß in aller Behaglichkeit droben und ließ nur von Zeit zu Zeit ein leises Miauen hören.

Ratlos stand Lotte dicht neben dem Ofen.

Ein Gefühl von Zorn und Aerger brannte ihr im Herzen, und noch ein dritter Grund trat hinzu.

Wenn ihre Mutter heimkehrte und erfuhr, was geschehen, dann setzte es Strafe, vielleicht sogar Hausarrest; denn Frau Hildebrandt hatte erst auf langes Bitten den schönen blauen Stoff zu dem Puppenkleide herausgegeben.

»Oben in der Vase lag gewiß Staub,« – soweit war Lotte in ihren trüben Gedanken gekommen, als Miezchen auf ihrer einsamen Höhe die Zeit lang wurde, sie bewegte sich, und zugleich rieselte eine feine Staubwolke vom Ofen herab.

Aber nicht nur die Katze bewegte sich, auch draußen auf dem Vorflur wurde Geräusch bemerkbar.

Lotte schlich sich nach der Tür und legte das rechte Ohr an den Spalt – alles war still – doch nein, es kam jemand die Treppe herauf. Ein leiser, feiner Tritt, das war weder Vater mit seinen dicksohligen Lederschuhen noch Karlhans mit seinen hohen Stulpenstiefeln.

»Ob ich nicht mal ein Spaltchen öffne?« dachte Lotte; doch viel Zeit zum Ueberlegen blieb ihr nicht, die Tür wurde von außen geöffnet, und die Mutti stand auf der Schwelle.

»Lotte, du hier, ich lauschte schon auf der Treppe – du hast nicht geübt?« klang es argwöhnisch.

Lotte ließ den Kopf hängen, was sollte sie antworten, welche Ausrede schnell ersinnen, um der Strafe zu entgehen.

Während Lotte noch vergeblich nachgrübelte, bewegte sich die Katze in der Vase – Miezchen hatte die fremde Stimme auch vernommen, es bewegte sein Köpfchen, wie um besser zu sehen, dabei hatte es sich wohl zu weit über die Oeffnung der Vase herabgeneigt, es verlor das Gleichgewicht und purzelte Hals über Kopf, in eine graue Staubwolke gehüllt, von seiner einsamen Höhe herab.

Frau Hildebrandt fuhr zurück, als das blaue Etwas fast dicht an ihrer Nase herabsauste – dann wischte sie sich den Staub aus den Augen. »Lotte, was hast du wieder angerichtet, man darf den Rücken kaum wenden, dann geschieht gewiß eine Dummheit,« zankte die Mutter.

.

Die kleine blaue Gestalt lag einen Augenblick zu ihren Füßen, und da Miezchen von dem Fall etwas betäubt war, so konnte sie leicht das Kätzchen aufnehmen.

Lotte erbebte.

Himmel, wie sah die Katze aus! Das schöne lichtblaue Kleidchen war vollkommen beschmutzt und befleckt. Miezchen hatte auf ihrer Flucht über die Gardinenstange, Schrank und auf den Ofen sehr viel Staub aufgewirbelt. Lotte stand mit einer Armensündermiene vor der zürnenden Mutter. Sie wagte kein Wort der Verteidigung, denn die Umstände sprachen gar zu deutlich gegen sie.

»Das schöne, blaue Kleid, das ist nun völlig verdorben. Und die arme Miez! Was fällt dir ein, das arme Tier so zu quälen. Wenn ich dich nun zur Strafe in einen Bock spannen wollte,« setzte sie ärgerlich hinzu. Sie hatte der Katze das blaue Kleid schnell abgestreift. Miezchen war blitzschnell durch die nur angelehnt gebliebene Tür entwischt; während die Mutter das Puppenkleid nach allen Seiten drehte und wendete.

»Mutti – sei nicht böse, ich – ich will es nicht wieder tun!« schluchzte Lotte.

»Wie oft schon hast du es mir versprochen, und wie oft hast du dein Versprechen gebrochen,« schalt die Mutter. »Du wirst bald zwölf Jahre – sag', willst du denn niemals verständig werden?!«

»Nur dieses Mal noch verzeihe mir,« bat Lotte zerknirscht. »Ich will die etlichen Sonaten auch –«

»Etliche Sonaten? Heißt das Besserung geloben? Du übst doch nicht für mich, sondern für dich, damit du einmal, wenn du erwachsen bist, nicht als Dummchen vor den Leuten stehst. Du hast Talent, aber keine Ausdauer, keinen Fleiß. Lotte, was soll aus dir werden?«

Die Gescholtene schluchzte laut auf, wahre Tränenströme rollten über ihre blühenden Wangen, und ihre hübschen Augen verschwanden fast hinter dem Tränenschleier.

»Es soll nicht wieder geschehen,« flehte Lotte.

»Da will ich dir noch einmal glauben, aber jetzt begleite mich in das Nebenzimmer, jetzt heißt es die versäumte Zeit nachholen und den ersten Teil der Sonate üben und –«

»Aber dann darf ich mit Eddy und Karlhans spielen?« warf Lotte schnell getröstet ein.

»Heute nicht mehr, Karlhans ist in der Schmiede, und Eddy darf bei diesem Regen auch nicht nach dem Garten gehen.«

Ihr Töchterchen an der Hand fassend, begab sich Frau Schmiedemeister Hildebrandt in das Nebenzimmer, und bald erklangen von drüben herüber die ersten Takte der Sonate.


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