Mackay
Die Menschen der Ehe
Mackay

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XX.

Da war er wieder, der große, totenstille Platz, jetzt eingehüllt in das Dunkel des Abends, da war sie wieder, die alte Kirche, an der er jetzt vorbeischritt und welche er als Knabe so oft zu betreten gezwungen war, um tötliche Stunden der Langeweile auf ihren Bänken zu verbringen, da waren sie wieder, die alte Brücke von Stein und der alte Fluß.

Er stand lange über das Geländer gebeugt. Ein Gefühl von Versöhnung begann sich in sein Inneres zu schleichen.

Er haßte sie nicht mehr, diese Stadt; er haßte sie nicht mehr, diese Menschen.

Was waren sie ihm denn, daß er sie hassen sollte? Nichts.

Mochten sie leben und sterben, wie sie wollten, ihm war es gleich. Litten sie selbst nicht am meisten darunter, daß sie so dicht aufeinander saßen, einer in dem Genick des anderen, und sich so gegenseitig langsam zu Tode quälten?

Und warum sollte er ihnen nicht das harmlose Vernügen der Selbstgefälligheit gönnen? Mehr als ein Lachen war die Eitelkeit dieser aufgeblähten Kleinheit sicher nicht wert.

Sie hatte hier gelebt und gelitten, drei Jahre lang. Er schämte sich, wenn er seinen eigenen Unmut über den einen heutigen Tag verglich mit ihrer vornehmen, schwermüthigen Ruhe und ihrem milden, starkem Ernst, der diese Menschen nicht ändern wollte, sondern sie gehen ließ, aber sie bei Seite schob, wenn sie ihr lästig wurden.

Arme Stadt! lächelte er vor sich hin. Und er nahm ihr noch ihr kostbarstes Gut… .

Noch zwei Stunden. Immer noch zwei Stunden?

Er überschritt die Brücke und bog in die Hauptstraße ein. Dann betrat er eine große, öffentliche Wirtschaft und setzte sich still in eine Ecke.

Er bestellte sich zu essen. Aber als das Fleisch vor ihm stand, erlosch plötzlich sein Hunger vor dem warmen Geruch, und er schob es wieder von sich.

Innerlich war er dennoch aufs höchste erregt.

Er sah sich um. In seiner Nähe stand ein großer runder Stammtisch, der sich langsam zu besetzen begann. Mehr als ein Gesicht kam Grach bekannt vor, und plötzlich fiel es ihm ein: das waren ja – es war kein Zweifel mehr möglich – die »Schlitzöhrigen«, die größten Männer der Stadt, weise im Rath und vorsichtig in der That, die er da vor sich sah. Weshalb sie die »Schlitzöhrigen« genannt wurden, wußte er nicht mehr und hatte es wohl auch früher nie gewußt, aber der Name tauchte wieder in ihm empor mit ganzer Deutlichkeit.

Und doch hatten sie sich verändert, die Zeiten: denn früher hatten diese Gewaltigen allabendlich im »Nähkörbchen« verkehrt, und jetzt – welcher Unterschied – saßen sie hier im Rachen des »Krokodils«!

Innerlich lachte er heimlich und herzlich. Die Lustigkeit siegte in ihm. Jetzt konnte er essen, während er einzelne Worte auffing, die von dort zu ihm herüberflogen.

Man sprach über städtische Angelegenheiten. Natürlich. Grach wußte, über Politik zu sprechen, war hier verpönt.

Plötzlich hörte er eine Stimme, die er kannte. Er sah schärfer hin. Kannte er dieses Gesicht? – Nein, es war nicht möglich.

Dieser philiströs aussehende Mann, welcher in kleinen, bedächtigen Zügen sein Bier trank und in kleinen, bedächtigen Zügen seine Cigarre rauchte, der so aussah, als ob er kein größeres Glück kenne, als hier zu sitzen und zuzuhören, dieser Mann mit den schweren Bewegungen und der zufriedenen Stimme, der offenbaren Hochachtung vor jedem dieser alten Zöpfe, das war nimmermehr sein alter, lustiger, zu allen Dummheiten stets aufgelegter Fritz, der mit dem Gebrüll seiner Stimme so oft die Gasse erschüttert hatte in der spätesten aller späten Stunden! –

Grach rief die Kellnerin herbei und fragte leise. »I–e,« sagte sie, »das ist der Herr Stadtverordnete Beuer.«

Da trank er schnell sein Bier aus, zahlte und verließ das Lokal. Er hatte plötzlich Angst bekommen, jener möge auch ihn wieder erkennen und anreden. Und das wäre für sie beide doch zu niederdrückend gewesen.


 << zurück weiter >>