Mackay
Die Menschen der Ehe
Mackay

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XI.

Der Zauber war gebrochen.

Sie war ihm nur noch eine Studie, wie sie dort vor ihm saß –: die kleinen Füße in den eleganten Schuhen vorgestreckt, ermüdet durch Nichtsthun, scherzend, liebäugelnd mit der Wohlhabenheit ihrer Umgebung, denn sie fand, daß er es doch wenig weit gebracht hatte, seiner einfachen, fast unmodernen Kleidung nach zu schließen.

Doch sie begann es zu merken, daß auch er sie beobachtete, trotzdem er sie nicht ansah und offenbar nicht hörte, was sie sagte.

Sie wurde unruhig.

»Aber Du hörst mir ja gar nicht zu, und ich sitze hier und erzähle Dir alle Neuigkeiten von Bedeutung, die seit zehn Jahren hier geschehen sind –«

Er sah auf. Und wieder erröthete sie unter seinem Blick.

Wieder suchte sie ihn abzulenken.

»Und nächsten Mittwoch ist Harmonie-Abend im Casino: Musik und Ball, da wirst du alle wieder sehen, die Du kennst, unsere ganze Gesellschaft –«

Zum ersten Mal sprach sie von ihrem Mann:

»Er hat mir zwar verboten, hinzugehen, ersagt, es sei zu viel für mich«, sie stampfte mit dem Fuße auf, »aber jetzt, wo Du hier bist, muß er es mir erlauben, muß es, muß es!«

Sie hielt einen Augenblick inne, etwas erschöpft und erhitzt von dem langen Sprechen, aber schon ging es weiter.

»Oder besser noch, wir geben eine Gesellschaft, eine große Gesellschaft Dir zu Ehren –« sie klatschte in die Hände vor Vergnügen und wartete offenbar auf einen ähnlichen Ausbruch des Entzückens bei ihm.

Aber er erkannte jetzt, daß es die höchste Zeit war, dieser Komödie ein Ende zu machen.

Er rückte seinen Stuhl näher und beugte sich etwas vor, so daß er gerade vor ihr saß.

Sie fühlte, nun kam es.

Fast scherzend begann er.

»Ich glaube, Du langweilst Dich, Clara.«

»Ach ja, ich langweile mich –« seufzte sie.

»Nun, so solltest Du Dir Thätigkeit suchen –«

Sie antwortete nicht. Er lächelte unmerklich und fuhr fort: »Oder aber Zerstreuung –«

Da sah sie auf und richtete ihre schwimmenden Augen auf ihn.

»Zerstreung – aber wie? – Was giebt es hier für Zerstreuung?«

»Reise.«

»Reisen – ich kann ja nicht, er hat ja nie Zeit.«

»Wer?« –

»Nun, er, mein Mann.«

»Daran dachte ich nicht. Ich meinte natürlich, Du solltest allein reisen.«

»Allein?!« wiederholte sie mit dem Ausdruck des Erstaunens, des Erschreckens. »Wie kann eine verheirathete Frau allein, ohne ihren Mann, reisen?«

»Weshalb kann denn eine verheirathete Frau nicht allein, ohne ihren Mann, reisen?« Unwillkürlich brauchte er dieselben Worte wie sie. Aber es geschah ganz ohne spottende Absicht.

Er wartete auf ihre Antwort. Sie wich ihm aus.

»Ja, ich weiß, daß Du so seltsame Ansichten über die Ehe hast. Wie heißt doch dein Buch darüber? – Eine Freundin – die Frau von Redlich, Du kennst sie nicht, sie sind erst drei Jahre hier, der Mann ist Hauptmann – ja, sie hat es mir gesagt. Sie wollte mir auch das Buch leihen, sie hat es mir ganz fest versprochen, aber sie hat es mir immer noch nicht gebracht, denn sie muß erst den Professor Hastrich vom Gymnasium fragen, dem gehört es.«

Grach hatte Mühe, nicht loszulachen.

Daß man ein Buch auch kaufen könne, war dieser Frau offenbar noch nicht bekannt und sie, die gewohnt war, auf Damast zu schlafen und von silbernen Schüsseln zu speisen, scheute sich nicht, die schmutzigsten Leihbibliotheksbände durch ihre weißen Hände gleiten zu lassen. Auf dem Tische vor ihm lagen einige Exemplare dieser Art.

Die Sonne brannte durch die Blätter der Laube. Ihre Glut hatte die höchste Höhe erreicht. Ihn dürstete. Er bat um etwas Wein und Wasser. Während der Diener es brachte, schwiegen sie. Da sie sah, daß er nicht antwortete, sagte sie: »Könntest Du mir nicht sagen, was Du in deinem Buche geschrieben hast über die Ehe, nur ganz kurz – ich komme so selten dazu, ein Buch zu lesen –«

Er beugte sich wieder zu ihr hin.

»Ich glaube, daß es so viel verschiedene Neigungen und Bedürfnisse giebt, als es Menschen giebt, und ich wünschte, daß jeder Menschen diesen seinen Neigungen ungestört nachlebe, aus dem einfachen Grunde, um selbst ungestört den meinen folgen zu können.

Ich maße mir nicht an, die Menschen zu verstehen. Wir verstehen überhaupt wenig von einander. Aber frech greifen wir täglich und stündlich in das Leben unserer Mitmenschen ein, unter dem lügenhaften Vorgeben, ihnen helfen zu wollen.

Ich möchte, daß ein Jeder nach seiner Façon glücklich werde hier auf der Erde.

Sn ungefähr ist der Grundgedanke meines Buches. Du hast es nicht gelesen; ich mußte ihn Dir daher schnell herzeichnen.

Wovon man Dir aber wahrscheinlich erzählt haben wird, das ist das Kapitel, welches ich »Die Menschen der Ehe« betitelt habe. Ohne irgendwie zu klassificiren oder zu schematisieren, habe ich in ihm die Frage gestellt, ob es nicht einen größeren Theil Menschen gäbe in unserer Zeit, auf welche diese Bezeichnung mit Recht sich anwenden ließe; Menschen der Enge im Gegensatz zu den Menschen der Weite; Menschen, die nie in Conflikt kommen mit ihrer Umgebung, da sie alle Geschicke – alle, welche aus der Menschen Hände kommen – als von Gott ihnen auferlegt betrachten; Menschen der kleinen Zufriedenheit, die ihr Glück finden in den Winkeln des Tages, immer an dem einen Tische und immer an derselben Brust; Menschen, die nicht wissen, was es heißt, ein Versprechen auf Lebenszeit zu geben, weil sie nicht wissen, was es heißt: zu leben; Menschen der Stagnation, nicht Menschen der Bewegung; Nummern, aber Nummern, welche zu Zahlen werden, und welche ich deshalb hasse! –

Menschen der Gewöhnlichkeit! – Menschen der Ehe! –«

Er hatte fast langsam, mit Ruhe und ohne äußere Leidenschaft gesprochen.

Aber während er sprach, hatte er vergessen, zu wem er sprach.

Als er geendet hatte und es merkte, verdroß es ihn. Seit so langer Zeit war er gewohnt, zu sprechen, wie er wirklich dachte, so daß er es verlernt hatte, seine Gedanken zu modeln nach dem Ohr seiner Zuhörer.

Es hätte ihn nicht zu verdrießen brauchen. Denn er hatte zu tauben Ohren gesprochen.

»Verzeih,« sagte er – er glaubte, sehr lange gesprochen zu haben – »verzeih, daß ich solange sprach. Ich möchte nicht mißverstanden werden in dem, was ich Dir jetzt sagen muß.«

Wieder zwang er sie, ohne es zu wollen, zu erröthen. Er hatte bis jetzt kaum den Mund aufgethan, sie hatte unaufhörlich geplappert –: er bat sie um Entschuldigung.

Sie begann ihn zu hassen.

Verstanden hatte sie kaum etwas von dem, was er gesagt hatte. Sie hatte ihm fast so wenig zugehört, wie er ihr. Ihre Gedanken waren jetzt damit beschäftigt, wie sie ihn auf die beste Manier los werden könne.

Für sie gab es keine bedeutenden und unbedeutenden Menschen. Für sie gab es nur Menschen, die ihr zuhörten. Und die Männer zumal! Von denen war sie ja garnicht anders gewohnt, als daß sie ihr zu Füßen lagen.

Daher beleidigten sie diese Ruhe und Sicherheit.

»Ach, ich bin sehr unglücklich!« rief sie und deckte mit den Händen die Augen. »Ich weiß nicht, was ich thun soll …«

Es war ihr zweites Mittel, mit diesem Manne fertig zu werden. Ihr letztes waren die Tränen. Aber zu diesem wollte sie erst greifen, wenn alle anderen erschöpft waren.

»Ja, Clara, wenn Du nicht weißt, was Du thun sollst, wer soll es dann wissen?«

Sie sah ihn an mit ihren hellen Augen, wie ein hülfloses Kind.

»Du bist doch hergekommen, um mir zu helfen.«

Er stand auf. Diese Frau verstand nichts, sie konnte und wollte nichts verstehen.

Er mußte sie zwingen, den Thatsachen in’s Gesicht zu sehen, vor denen sie floh, feig, jammernd und haltlos.

Er blieb vor ihr stehen.

»Nach Deinem Briefe mußte ich annehmen, daß Du den unwiderruflichen Entschluß gefaßt hattest, Dich von Deinem Manne auf immer zu trennen, da Du ein Weiterleben mit ihm als unmöglich erkannt hast. In der Ausführung dieses Entschlusses, Dir zu helfen, bin ich hergekommen, nicht aber, um Dich in Deinen Entschlüssen zu beeinflussen. Und auch nicht, wie Du Dir vorhin glauben zu machen suchtest, um diese Stadt, die mir ganz uninteressant ist, und alte Bekannte, von denen ich nichts mehr weiß und die nichts mehr von mir wissen wollen, wiederzusehen, oder auf Eure Bälle und in Eure Gesellschaften zu gehen, denn ich verkehre überhaupt nicht in bürgerlichen Kreisen. – Meine Zeit ist sehr bemessen –«

Er ging hastig umher. Sie fürchtete sich vor ihm.

»Aber Du hast mich gerufen mit dem Schrei nach Hülfe. Läßt man den Sinkenden vor seinen Augen untergehen, wenn man seine verzweifelnde Stimme vernimmt? Und wenn« – so unterbrach er sich unwillkürlich lächelnd – »ich Dich auch nicht auf dem offenen Meere kämpfen sah, so sah ich Dich doch ringen mit der trüben Fluth dieses – Teiches.«

Es wurde wärmer.

»Deine verstorbene Mutter ist sehr gut gegen mich gewesen. Sie hat mir, dem Verwaisten, ein Dach und einen Tisch geboten viele Jahre lang. Und dann haben wir beide unsere beste Jugend nebeneinander verlebt, wenn auch nicht miteinander. Das vergißt sich nicht so leicht. Darum bin ich gekommen, nur darum.«

Er hatte eine Rose vom Strauch gerissen und zerstreute während des Sprechens ihre Blätter achtlos umher.

»Wie er die Blume behandelt!« – dachte sie. Sie hatte nur noch einen Wunsch: diese erbarmuncslos klare und schneidende Stimme nicht mehr zu hören. Aber diese Stimme klang weiter.

»Ich komme hierher in dem festen Glauben, Dich bereit zu finden, den entscheidenden Schritt zu thun. Ich finde Dich völlig schwankend, ohne jeden Entschluß – sage mir doch, weshalb Du mich eigentlich gerufen hast?« –

Sie sah sich bis auf den letzten Punkt gedrängt und verließ ihn, um sich zu retten, indem sie zum Angriff überging.

»Du sprichst so viel«, klagte sie, »von den Mißständen in der Ehe. Willst Du mir nicht sagen, wie Du Dir denn die Ehe denkst? – Wenn Du etwas beseitigen willst, so mußt Du doch etwas Anderes an dessen Stelle setzen können.«

Diesen letzten Satz hatte sie einmal irgendwo gehört und er däuchte ihr gut und passend, um ihn jetzt anzuwenden. Kein Weib ist ganz ohne Schlauheit. Auch sie war es nicht.

Grach antwortete sofort.

»Ich kenne nur ein Verhältniß wie zwischen Mensch und Mensch, so zwischen Mann und Weib, das ich würdig nenne: das auf gegenseitiger Unabhängigkeit beruhende; denn es ist zugleich das einzige, welches die gegenseitige Achtung ermöglicht. Der Herr verachtet den Knecht, und der Knecht haßt den Herrn.«

Mit verständnißlosen Augen sah sie vor sich hin.

»Und in der Ehe?« – fragte sie unsicher.

»Bemitleidet der Mann heimlich die Frau, während die Frau ihn heimlich belächelt.«

Verstohlen blickte sie ihn von der Seite an.

Woher weiß er das? – war ihr erster Gedanke.

»Es giebt doch so viele glückliche Ehen –«

»Wie viele kennst Du?«

»Nein –, aber –«

»Nun, ich leugne es. Es gibt verschwindend wenige. Was Glück genannt wird ist Zufriedenheit. Und was Zufriedenheit scheint, ist nur Gewöhnung – jene Gewöhnung der schwächlichen Ohnmacht, welche davor zurückschaudert, Ketten zu brechen, und in feiger Nachgiebigkeit Schritt für Schritt zurückweicht, Stück um Stück ihrer eigenen Würde, ihrer eigenen Freiheit und – was das Traurigste ist – ihres eigenen Glückes opfert, um das zu werden, was eine alberne Oeffentlichkeit einen guten Ehegatten, ein treues Eheweib nennt.«

»Aber wie denkst Du Dir denn –« begann sie zu wiederholen.

»Das Verhältniß zwischen Mann und Frau in der Freiheit? – Ich verstehe eine solche Frage kaum. Vernünftige Menschen kommen zusammen, wenn sie sich lieben und gehen auseinander, wenn sie sich nicht mehr lieben. Mag sein, daß sie bis an ihr Lebensende zusammen bleiben in Liebe und Einigkeit. Oft wird es nicht der Fall sein.«

Auch sie stand nun auf.

»Aber um Gotteswillen, das ist ja im höchsten Grade unmoralisch, was Du da sagst!« rief sie. »Es ist ja unanständig!«

Er lachte nur, laut und rücksichtslos.

Er hatte ihr so viel Klugheit zugetraut, daß sie ihn fragen würde, was aus den Kindern der freien Verbindung werden würde. Aber er täuschte sich auch diesmal. Sie rief – wie alle Schwachköpfe – die Moral zu Hülfe, wo ihr Verstand nicht mehr ausreichte.

Gleichmütig sagte er:

»Ja, über Anständigkeit und Ehrenhaftigkeit gehen meine Anschauungen und die Deiner Klasse, welche Du teilst, wie ich sehe, weit auseinander. Ich weiß, daß es noch viele, viele Menschen giebt, welche eine Vereinigung erst dann für anständig halten, wenn sie sich dieselbe gegenseitig erlaubt haben: Standesamt – Kirche und Pfaffe – Hochzeitsreise; welche es anständig nennen, wenn zwei Menschen zusammenbleiben, die sich nicht mehr sehen können und die erkannt haben, daß auch das leiseste Gefühl sie nicht mehr zusammenhält, sondern nur noch das gegebene Wort. Ich weiß aber auch, daß es Menschen giebt, welche jede Umarmung, welche aus anderen Gründen erfolgt, als aus gegenseitiger Liebe, gemein nennen, und zu diesen Menschen gehöre auch ich. Und eins möchte ich Dir und Allen, die die Ehe vertheidigen und unsere Anschauungen der freien Liebe so laut und emphatisch beschreien, eins möchte ich Euch Allen, Euch Menschen der Ehe, sagen: Thut, was Ihr wollt, aber zeigt uns durch Eure eigenen glücklichen Ehen, daß wir im Unrecht sind und Ihr im Recht seid mit Eurer Heiligsprechung der Ehe! Dann werden wir Euch vielleicht glauben, eher nicht!«

Er griff nach Hut und Stock.

»Adieu, Clara,« sagte er und gab ihr die Hand, »leb’ wohl! Ich habe gesehen, daß Du nicht unglücklich bist. Du bist unzufrieden, natürlich – Du bist ja nicht frei. Aber wer kann Dir da helfen, wenn Du es nicht selbst tust?«

Sie war vollständig verwirrt. Sie wollte ihm noch etwas entgegnen, sie hatte den glühenden Wunsch, ihn noch zu demüthigen, aber sie fand kein Wort mehr seiner kalten Ueberlegenheit gegenüber.

Nicht einmal ihr letztes Mittel jetzt anzuwenden, schien ihr zweckmäßig. O, wenn sie das vorher gewußt hätte, nie hätte sie ihm geschrieben!

Und sie kämpfte mit ihren Tränen der Wuth und des Zornes, als sie ihm gegen ihren Willen die Hand geben mußte. Er aber ergriff sie und schüttelte sie freundlich. Dann ging er mit seinen schnellen Schritten den Kiesweg entlang, durch den hohen und kühlen Flur an der weißen Treppe vorbei und über den weiten Platz, der verlassen lag wie vor einigen Stunden.

Als er in seiner Mitte angelangt war, kam von der anderen Seite her ein älterer Herr. Er ging schon gebeugt.

Grach sah ihn in die Thüre treten, welche er soeben verlassen. War das ihr Mann?

Wenn er mit den Blicken die Wände hätte durchdringen können, wäre ihm folgendes Bild erschienen: Frau Clara Boehmer hing am Halse dieses älteren Herrn, küßte ihn stürmisch und bettelte ihm die Erlaubnis ab, am nächsten Mittwoch den Ball im »Casino« besuchen zu dürfen (– in einem ganz neuen Kleide ––), während sie in ihrem Innern beschlossen hatte, ihm für’s Erste noch nichts von dem Besuch zu erzählen, den sie so schnell und dazu noch auf eine verhältnißmäßig so gute Art und Weise losgeworden war.


 << zurück weiter >>