Mackay
Die Menschen der Ehe
Mackay

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XVII.

»Menschen der Ehe!« sagte sie, als er geendet hatte. Er sah auf. Sie hatte also sein Werk gelesen. Er wußte nicht, daß es seit Jahren keinen Mann gab, den sie im Stillen seines Muthes und seiner unerschütterlichen Energie wegen so bewunderte wie ihn.

»Menschen der Ehe!« wiederholte sie, ohne Geringschätzung oder Verachtung, sondern mit der Ruhe, mit welcher der Forscher das Objekt seines Studiums benennt. Aber lachen schien sie doch nicht zu können über Grach’s hastige Erzählung. Dazu war sie diesen Menschen doch zu nah.

Mehr und mehr überzeugte sich Grach während des Gespräches der nächsten Stunde, wie sehr sie es verstanden hatte, sich Allem, was die Zeit an Gutem, Bedeutendem und Großem leistete, nah zu halten. Fast nichts war ihr unbekannt geblieben: jedes Buch hatte sie gelesen, jedes Ereigniß mit dem ihr eigenen Scharfblick betrachtet und beurteilt, jede neue Erscheinung in den Kreis ihres Verstehens gezogen.

Sie sprachen von Allem, wie es ihnen kam. Ueber vieles gingen ihre Ansichten auseinander, aber über Jedes hörten sie des Anderen Meinung, und über Nichts verschwiegen sie ihm die eigene.

Er forschte sie aus. Aber es war so, wie er dachte: sie stand hier ganz allein, ohne Freunde, ohne Verkehr, ohne Verständniß bei irgend einem Menschen. Sie las viel. Aber sie war die einzige vielleicht in der ganzen Stadt, welche Anderes las als Zeitungen und die Romane der Leihbibliotheken.

Kein Mensch auch wußte hier, wer sie war. Eine fremde Erscheinung, war sie hierhergekommen, und mit scheuer Achtung ging man ihr aus dem Wege, während man ihr nach den ganzen Klatsch der Verständnißlosigkeit und des Hasses, weil sie »anders war«, schüttete.

Wer sollte hier auch ihren Namen kennen? Hier waren nur die Namen berühmt, welche die Schilder der Straßen und die Zeitungen des Tages nannten.

Sie war plötzlich verschollen, und der Laut ihres Namens war schon fast verhallt. War sie hier untergetaucht in diesem Sumpf, um hier zu sterben? – Der Gedanke machte Grach schaudern.

Und wieder betrachtete er sie mit den Blicken der Liebe, während er auf den Klang dieser tiefen, schönen Altstimme lauschte. Sie sprach langsam das Ernste, welches sich in ihrem Gehirn bildete, und mit Nachdruck in jedem Wort. Leicht jedoch und ungezwungen beantwortete sie seine Fragen nach ihrem persönlichen Leben, mit einem ganz kleinen Anflug von Spott und Wehmut in ihrer Stimme.

Sie war wohltuend, diese Stimme. Unwillkürlich mußte er einmal diese einfache und schöne Sprache mit dem Geplapper vergleichen, das ihn den ganzen Nachmittag gefoltert. Auch in allen Nebensächlichkeiten war keine größere Verschiedenheit denkbar, als zwischen diesen beiden Frauen.

Welche wunderbare Frau! Welche wunderbare Frau! dachte er immer wieder und ließ keinen Blick von ihr. Immer mehr begann er sie zu verstehen. Täuschte er sich dennoch? – War sie glücklicher hier, als sie es früher gewesen? Oder war diese Resignation nur die Folge eines äußeren Zwanges?

Nein, er konnte sich nicht täuschen!

Sie litt.

Eine herrliche und fast unerschöpfliche Fülle von Lebenskraft hatte sie bisher aufrecht erhalten. Noch war nichts in ihr angegriffen, geschweige denn gestört.

Aber der äußere Dunst begann sie zu bleichen. Sie verlangte nach Leben, wie die Pflanze nach Wasser verlangt.

Drei Jahre schon hatte sie keinen Tropfen vielleicht äußeren Glücks genossen – jenes Glückes, welches ein tägliches Bedürfniß ist: für Körper und Geist eine Befriedigung.

Und noch immer stand sie aufrecht! – Aber von heute schon auf morgen konnte sich das erste dieser dunklen Haare bleichen, konnte sich diesem Munde zum ersten Mal ein Schrei der Wildheit: der Wuth und der Klage entlösen und er sich dann auf immer in Schweigen schließen, konnte dieser noch so helle und klare Geist sich trüben in der Nacht dieses Lebens … Und dann war es zu spät!

Nein, nie durfte das sein!

Er lachte plötzlich laut und bitter.

Sie sah erstaunt auf.

»Weshalb lachen Sie so?«

Alles in ihm schäumte auf.

»Dora Syk«, rief er, und lachte wieder, wie eben, »Dora Syk – und zweite Klassenlehrerin in der Schule für höhere Töchter zu Abdera! – Nun, wenn das kein Witz ist, über den man lachen darf, dann weiß ich es nicht!«

Sie erblaßte erst, dann überzog ein tiefer Unmut ihre Stirn. Zum ersten Mal mischte sich ein Klang von Schärfe in ihre Stimme.

»Sie verstehen meine Stellung völlig falsch, Grach.« Sie sah ihn fest an. »Ich bin nicht nur hierhergekommen, um für einige Zeit in sicherer, äußerlich sicherer Situation leben zu können, sondern ich bin auch hierhergekommen, weil ich – ich wiederhole: für einige Zeit – der inneren Ruhe bedurfte. Und das ist genug Entschuldigung für meine Flucht, wenn sie überhaupt einer bedarf.«

Aber Grach war so erregt, daß er nur halb vernahm, was sie sagte.

»Ach was,« rief er ungestüm, »eine Frau wie Sie hat überhaupt keine Entschuldigung! Die einzige, welche es gäbe, wäre die: daß Sie hier Ihr Leben wirklich leben. Aber zwischen diesen Mumien und Geldsäcken, in diesem stagnierenden Haufen müssen sie ja über kurz oder lang ersticken!«

Ihre Antwort erfolgte sofort. Sie war erzürnt.

»Sie gehen immer wieder von der unbegründeten und ganz falschen Voraussetzung aus, daß ich mich auf immer hier vergraben wolle. Ich denke nicht daran.«

Er war aufgesprungen und ging auf und ab.

Sie war wieder völlig ruhig. Auch während der letzten Worte hatte sich keine Linie ihrer ruhigen Haltung verändert.

»Ich weiß, was ich zu thun und zu lassen habe. Und wenn Sie es durchaus wissen wollen, nun ja, ich denke, ich gehe bald zurück in die weite Welt meiner Heimat …«

Er stand ihr zur Seite und sie hörte seinen schweren Athem.

»Thun Sie es noch heute!« rief er leidenschaftlich, und mit bebender Stimme fügte er, kaum hörbar selbst für sie, hinzu: »Und – thun Sie es mit mir!« …

Er sah auf sie nieder. Sie rührte sich nicht. Die leise Dämmerung, die unter den hängenden Zweigen lag, verhinderte ihn zu sehen, wie die Farbe ihres Gesichtes wechselte.

Sie antwortete nicht. Seine Hand lag auf der Lehne ihres Stuhles.

Dann sah sie auf seinen Sitz. Er verstand sie und setzte sich langsam.

Sie nahm das vor ihr stehende Glas und leerte es mit einem Zuge.

Sein Herz klopfte.

Da sah sie ihn an und lächelte. Noch immer entgegnete sie ihm mit keinem Worte. Aber er wußte jetzt, was er begehrte zu wissen.

Er nahm ihre schlaff herabhängende Hand. Er küßte sie nicht. Aber mit beiden Händen umfaßte er sie innig, mit einem zugleich zarten und festen Druck.

»Dora Syk,« sagte er leise und seine Stimme bebte noch immer, »die Erde ist so arm an Glück in unseren Tagen. Sollten wir nicht einmal versuchen, zusammen glücklich zu sein?«

Sie sahen sich an. In seinen Augen glühte die heiße, stumme, begehrende Bitte.

Er hatte gesiegt. Er sah es an dem Ausdruck ihrer Augen, dem Lächeln ihres Mundes und er fühlte es an der Wärme ihrer Hand, die er nicht losließ.

Sie zog sie zurück. Sie wollte nicht, daß die Stimmung sie überwältigte.

»Schenken Sie mir noch einmal ein, Grach. – So. – Und nun lassen Sie uns vernünftig zusammen sprechen, nun, wie Leute, die nicht mehr ganz jung sind, über so etwas sprechen sollten.«

Ihre Stimme hatte nur äußerlich den scherzhaften Klang.

Sie machte noch eine Pause, ehe sie begann.

»Ja«, sagte sie endlich. »Sie haben recht. Ich muß fort von hier. Ich will es selbst. Und auch darin haben Sie recht: es soll bald, es soll sofort sein. – Meine Ferien beginnen erst in acht Tagen. Aber ich kann mich vertreten lassen. Es ist das erste Mal, daß ich eine Hülfe dieser Art in Anspruch nehme, und da es auch das letzte Mal ist, habe ich keine Ursache, eine Zustimmung erst abzuwarten. Es genügt, wenn ich dem Direktor die Anzeige meines Fortgehens mache.

Auch meine Verhältnisse kann ich sofort ordnen. – Aber bevor ich mit Ihnen gehe, müssen Sie die folgenden Bedingungen annehmen:

Ich liebe meine Freiheit über Alles, wie Sie die Ihre. Wir werden also vollständig, in jeder Beziehung, unabhängig von einander sein. Wir werden uns gegenseitig verschonen mit allen läppischen Zudringlichkeiten an Zeit und Stimmung. Wollen wir einen Weg nicht zusammen mit einander gehen, so geht jeder seinen eigenen. Und – was das Wichtigste ist – wir werden uns trennen in der ersten Stunde. in der wir – – anfangen werden, uns miteinander zu langweilen.«

Sie beugte sich vor und sah ihn mit ihren schönen, klugen Augen an.

»Wollen Sie auf diese Bedingungen eingehen, Grach, dann geben Sie mir nochmals die Hand.«

Er griff nach ihren beiden Händen.

»Dora Syk,« rief er in jugendlicher Begeisterung, »weiß der Himmel, aber Sie sind doch die herrlichste Frau, die ich je in meinem Leben kennen gelernt habe!«

Da lachte sie hell auf, und der Bann zwischen ihnen war gebrochen. Frage auf Frage und Antwort auf Antwort folgten nun in buntem Wirbel.

Nach Paris wollten sie gehen. Noch heute Abend. Mit dem Schnellzug um halb elf Uhr. Morgen früh waren sie dort. Er zweifelte, daß sie bis zehn Uhr fertig sein könnte. Gewiß, drei Stunden würden genügen für sie. Hatte sie doch von niemand hier Abschied zu nehmen.

Aber lange hier bleiben durften sie dann nicht mehr. Welche Zeit war es denn? Schon sieben! Ja, es war dunkel schon unter den Bäumen. Einen Abschied aber wollte sie doch noch nehmen: von der Kleinen, die sie so oft hier bedient, und mit der sie so manches freundliche Wort getauscht, in der Einsamkeit ihrer vielen Stunden, die sie hier verbracht.

Sie ging in das Haus und bat ihn, zu warten.

Nach zehn Minuten – zehn Minuten, welche er wie betäubt von seinem neuen Glück dagesessen hatte – kam sie zurück.

»Armes kleines Ding, sie hätte beinahe geweint. Aber ich habe ihr gesagt, sie solle es so machen, wie ich.«

Da hielt er sich nicht mehr und nahm sie in seine Arme. Sie ließ es geschehen, daß er sie küßte.

Ernst, Würde, Fassung – Liebreiz, Güte, Harmonie, der Witz der Feinheit – ein außergewöhnlicher Verstand, ein unergründbares Herz: wie, alles dies besaß er plötzlich, ohne es sich erworben zu haben? ––

Das letzte Glas stand vor ihnen. Der gelbe Wein schimmerte in der Dämmerung.

»Auf unsere Liebe! – Dora!« – rief er.

»Nein, auf die Freiheit unserer Liebe, die sie so schön macht!« sagte sie langsam, bevor sie trank.


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