Mackay
Die Menschen der Ehe
Mackay

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V.

Während der Neuangekommene seinen Kaffee trank und die Wolken seiner Cigarre in die Luft blies, war die flüchtige Erinnerung schon wieder versunken, und andere, dem heutigen Tage angehörende Gedanken beschäftigten ihn.

Ein Brief hatte ihn wieder in diese Stadt gerufen, die er seit länger als zehn Jahren nicht gesehen hatte. Auf vielen Umwegen hatte er ihn erreicht, und nachdem er ihn gelesen, war sein erstes Gefühl gewesen, ihn in die Ecke zu werfen.

Er lachte erst; dann ärgerte er sich.

Aber zugleich dachte er an mancherlei Freundlichkeit, welche er von der Mutter der Frau – sie war lange tot –, die ihn geschrieben, empfangen hatte vor langen Jahren und an ihre größte Freundlichkeit: daß sie ihn meist unbehelligt gelassen hatte, und er bemaß Zeit und Geld, sah, daß beides reichte, und war kurzentschlossen hierher gereist.

Er stand früh allein und wurde, fast noch ein Kind, von einer entfernten Verwandten aufgenommen, in deren Heim er lange Jahre lebte, nicht abhängig von ihrer Gnade, aber doch oft angewiesen auf ihre Freundlichkeit. Sie hatte eine einzige Tochter, welche ihr Abgott war; er beanspruchte nichts von der sentimentalen Zärtlichkeit, mit welcher das verzogene, launische Kind einer kurzen und sehr unglücklichen Ehe überschüttet wurde.

Fast von dem Augenblick an, in welchem er diese Stadt verlassen, hatte sich sein Leben so von Grund aus geändert, waren Kreise und Beziehungen desselben so andere geworden, daß er selten veranlaßt worden war, zurückzudenken, um so mehr, als ihm die Muße behaglicher, lässiger Einkehr und Umschau fast nie beschieden war und kaum ein Tag gewesen war, der ihm Zeit gelassen hätte, ihn einzuspinnen zwischen die weißen Träume der Vergangenheit und der Zukunft.

Zweimal nur hatte er den Namen dieser Stadt auf die Adresse eines Briefes geschrieben: das erste Mal, als seine Verwandte gestorben war, und er der Tochter freundliche Worte des Beileids sagte, das zweite Mal, als er sie zu ihrer eigenen Verheiratung kurz beglückwünschte.

Dann kam dieser Brief, unerwartet und unerwünscht.

Er lag vor ihm und noch einmal las er ihn, aufmerksam, Wort für Wort.

Von dem blaßrosa Papier stieg der starke Duft eines eigenthümlichen Parfums auf. Die Schrift, mit der seine vier Seiten bedeckt waren, war liegend, sinnlich und weibisch-schwach.

Er las ihn zum vierten Male, und zum vierten Male suchte er hinter den leblosen Worten nach der lebendigen Seele derer, die sie geschrieben: er fand sie nicht.

Das war es, was sie ihm mitteilte.

Erstens: daß sie sehr unglücklich sei; zweitens: daß sie so unglücklich sei, daß sie es nicht mehr »aushalten« könne; drittens: daß ihr Mann der Grund ihres Unglücks sei; viertens: daß sie gehört habe, er, ihr Bruder, der »Freund ihrer Jugend«, habe ein Buch geschrieben, in welchem er sich »freisinnig« über die Ehe geäußert habe; fünftens: daß er sie »retten« möge; sechstens: daß sie sehr unglücklich sei; und siebentens: daß sie so unglücklich sei, daß sie es nicht mehr »aushalten« könne …

Das alles war sehr albern.

Er sagte sich mit Recht, daß das Unglück so nicht nach Hülfe ruft.

Aber er sagte sich auch, und er sagte es sich immer wieder, daß Frauen dieser Art nicht im Stande sind, einen individuellen Ausdruck für ihre Gefühle – und wären es ihre wahrsten – zu finden. Wie sie gelernt wurden zu sprechen, so sprachen sie: immer in denselben Ausdrücken und Redewendungen ihrer spezifischen Kreise, die Männer so und die Frauen so, und waren sich daher so ähnlich, wie immer nur es möglich ist.

Und daher waren sie meistens auch so langweilig.

Wie sie sprachen, so schrieben sie auch.

Es ist, als fürchteten sie sich davor, ein neues Wort zu gebrauchen, und sorgsam verbergen sie, kommt ihnen einmal, nicht ein neuer Gedanke, nein, nur eine eigene Anschauung über irgend Etwas, die verbrecherische Regung hinter der gewohnten Gewöhnlichkeit.

Er wußte, daß das Unglück ein großer Befreier ist. Und er dachte weiter, und seine Augen sahen den gegen die Ketten der Tage ringenden und in diesem Ringen blutenden Menschen vor sich, wie er schreien will, aber seine ungewohnten Lippen finden nur die alten, kleinen Worte für den neuen, großen Schmerz, und das Schreien des selbständigen Herzens, es klingt auf dem Mund nur wie das Stammeln der Unselbständigkeit und Gleichgültigkeit.

Konnte es so nicht hier sein?

Er strengte die Augen an, um hinter die Worte sehen zu können. Was lag da? – Ein zu Boden gestürztes, mit Füßen getretenes Weib? – Oder eine faule, unzufriedene Frau der Welt, welche sich einfach langweilte? –

Fand er denn nicht ein Wort, ein einziges ungefüges, in seiner Hülflosigkeit rührendes, in seiner Einfachheit erschütterndes Wort? –

Er fand keines. Und dennoch folgte er den Rufen dieser platten und nichtssagenden Sprache.

Es gibt Menschen, von denen wir nie glauben können, daß sie unglücklich zu werden im Stande sind.

So ging es ihm mit ihr.

Und dennoch kam er hierher.

Er that es in letzter Linie seiner selbst wegen, um ganz sicher zu sein vor den Vorwürfen des eigenen Herzens.


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