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XIX.
Über Orientierungsempfindungen.

Vortrag, gehalten den 24. Februar 1897 im Wiener Verein zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse.

Durch die Zusammenwirkung einer Reihe von Forschern, unter welchen vor allen Goltz in Straßburg und Breuer in Wien zu nennen sind, hat sich im Laufe des verflossenen Vierteljahrhunderts unsere Kenntnis wesentlich erweitert bezüglich der Mittel, durch welche wir uns über unsere Lage und Bewegung im Räume orientieren. Es ist Ihnen ja schon durch Herrn Prof. Obersteiner die physiologische Seite der Vorgänge dargelegt worden, mit welchen unsere Bewegungsempfindungen oder, allgemeiner gesprochen, unsere Orientierungsempfindungen zusammenhängen. Ich werde mir heute erlauben, vorwiegend die physikalische Seite der Sache zu beleuchten. In der Tat bin ich selbst durch Beachtung ganz einfacher und allgemein bekannter physikalischer Tatsachen, indem ich ohne irgendwelche Gelehrsamkeit auf dem Gebiete der Physiologie nur unbefangen meinen Gedanken nachging, auf dieses Untersuchungsgebiet gelangt, und ich glaube, daß dieser ganz voraussetzungslose Weg, wenn Sie meiner Erzählung folgen wollen, auch für die meisten von Ihnen der gangbarste sein wird.

Für den einfachen Menschen von gesundem Sinn konnte es nie zweifelhaft sein, daß ein Druck, eine Kraft nötig sei, um einen Körper in bestimmter Richtung in Bewegung zu setzen, und ebenso ein entgegengesetzter Druck, um den in Bewegung begriffenen Körper plötzlich aufzuhalten. Wenn auch das Trägheitsgesetz erst durch Galilei schärfer formuliert worden ist, so kannten doch schon lange vorher Männer wie Leonardo da Vinci, Rabelais u. a. die betreffende Tatsache und erläuterten dieselbe gelegentlich durch treffende Beispiele. Leonardo weiß, daß man aus einer Säule von Brettspielsteinen durch einen scharfen Schlag mit einem Lineal einen einzelnen Stein herausschlagen kann, ohne die Säule zu zerstören. Der Versuch mit der Münze auf dem Becherdeckel, welche in den Becher fällt, sobald der Deckel rasch weggezogen wird, ist, so wie ähnliche Versuche, gewiß uralt.

Bei Galilei gewinnt die erwähnte Erfahrung eine größere Kraft und Klarheit. In dem berühmten Dialog über das Kopernikanische System, der ihn die Freiheit gekostet hat, erläutert er die Flutwelle in unglücklicher, aber im Prinzip doch richtiger Weise durch eine mit Wasser gefüllte, hin- und hergeschwungene Schüssel. Den Aristotelikern seiner Zeit, welche die Fallbewegung eines schweren Körpers durch Darauflegen eines anderen zu beschleunigen meinten, hält er vor, daß ein Körper von dem daraufliegenden nur dann beschleunigt werden kann, wenn derselbe ersteren am Fallen hindert. Einen fallenden Körper durch einen daraufliegenden drücken zu wollen, sei so unsinnig, wie einen Mann mit der Lanze treffen wollen, der dieser mit der gleichen Geschwindigkeit entflieht. Schon dies wenige von Physik kann vieles unserem Verständnis näher bringen. Sie kennen die eigentümliche Empfindung, die man im Fallen hat, wenn man etwa vom Sprungbrett aus größerer Höhe ins Wasser springt, die in geringerem Maße auch im Lift bei Beginn der Abwärtsbewegung oder auch in der Schaukel eintritt. Der gegenseitige Gewichtsdruck der Teile unseres Leibes, der ja wohl in irgend einer Weise empfunden wird, verschwindet im freien Fall oder wird doch vermindert bei Beginn des Sinkens im Lift. Eine ähnliche Empfindung müßte auftreten, wenn wir etwa plötzlich auf den Mond mit seiner kleinen Fallbeschleunigung versetzt würden. Indem ich (1866) bei einem physikalischen Anlaß auf diese Betrachtungen geführt wurde, und auch die Veränderungen des Blutdruckes in den erwähnten Fällen ins Auge faßte, traf ich, ohne es zu wissen, in manchen Punkten mit Wollaston und Purkinje zusammen. Ersterer hatte schon 1810 in seiner »Croonian lecture« über die »sea sickness« gesprochen und dieselbe auf Änderungen des Blutdruckes bezogen, letzterer hatte (1820–1826) seiner Erklärung des Drehschwindels ähnliche Betrachtungen zugrunde gelegt. Wollaston, Phil Transact. Royal. Soc. London, 1810. Daselbst beschreibt und erklärt W. auch das Muskelgeräusch. Auf diese Arbeit wurde ich erst kürzlich durch Dr. W. Pauli aufmerksam gemacht. – Purkinje, Prager Medizin. Jahrbücher, Bd. 6, Wien, 1820.

Newton hatte es zuerst in voller Allgemeinheit ausgesprochen, daß ein Körper die Geschwindigkeit und Richtung seiner Bewegung nur durch Einwirkung einer Kraft, also nur durch Mitwirkung eines anderen Körpers zu ändern vermag. Eine erst von Euler ausdrücklich gezogene Folgerung hieraus ist die, daß ein Körper nicht von selbst, sondern wieder nur durch Kräfte und andere Körper in Drehung geraten, oder die vorhandene Drehung aufgeben kann. Drehen Sie z. B. Ihre geöffnete abgelaufene Taschenuhr frei in der Hand hin und her. Die Unruhe bleibt gegen jede raschere Drehung zurück, sogar gegen die elastische Kraft der Unruhefeder, welche sich als zu schwach erweist, die Unruhe ganz mitzunehmen.

Bedenken wir nun, daß immer, ob wir uns selbst etwa mit Hilfe unserer Beine bewegen, oder ob wir von einem Fuhrwerk, einem Boot mitgeführt werden, zunächst nur ein Teil unseres Leibes unmittelbar, der andere aber durch diesen bewegt wird. Wir erkennen dann, daß hierbei immer Drucke, Züge, Spannungen dieser Körperteile gegeneinander entstehen, die Empfindungen auslösen, durch welche die fortschreitenden oder drehenden Bewegungen, in die wir geraten, sich bemerklich machen. Ebenso wirken manche äußere Kräfte nicht gleich auf alle Teile der Erde, und die inneren Kräfte, welche Deformationen herbeiführen, wirken unmittelbar zunächst nur auf begrenzte Teile. Wäre die Erde ein empfindendes Wesen, so würde ihr die Flutwelle und andere Vorgänge ähnliche Empfindungen verursachen wie uns unsere Bewegung. Vielleicht hängen auch die kleinen Änderungen der Polhöhe, welche man gegenwärtig studiert, mit unausgesetzten kleinen Deformationen des Zentralellipsoids zusammen, welche durch seïsmische Vorgänge bedingt sind. Es ist aber eine natürliche Sache, daß diese uns so geläufigen Empfindungen wenig Beachtung finden, und daß sie die Aufmerksamkeit erst auf sich ziehen, wenn dieselben unter besonderen Umständen, in unerwarteter Weise, oder in ungewöhnlicher Stärke auftreten.

Fig. 57.

So ist auch meine Aufmerksamkeit einmal durch die Empfindung beim Fallen, dann aber noch durch ein anderes eigentümliches Vorkommnis erregt worden. Ich durchfuhr eine Eisenbahnkurve von starker Krümmung und sah nun plötzlich alle Bäume, Häuser, Fabriksschlote an der Bahn nicht mehr lotrecht, sondern auffallend schief stehen. Was mir bis dahin so selbstverständlich erschienen war, daß wir das Lot so gut und scharf von jeder anderen Richtung unterscheiden, war mir mit einemmal rätselhaft. Wieso kann mir dieselbe Richtung einmal lotrecht erscheinen, ein andermal nicht? Wodurch zeichnet sich das Lot für uns aus? (Vgl. Fig. 57.)

Die Schiene wird auf der konvexen (erhabenen) Seite der Bahn höher gelegt, um trotz der Fliehkraft die Standfestigkeit des Wagens zu sichern, so zwar, daß die Zusammenwirkung der Schwerkraft und Fliehkraft wieder eine zur Schienenebene senkrechte Kraft ergibt.

Fig. 58.

Aus Mach, Bewegungsempfindungen. Leipzig, Engelmann, 1875.

Nehmen wir nun an, daß wir die Richtung der gesamten Massenbeschleunigung, woher dieselbe auch rühren mag, unter allen Umständen in irgend einer Weise als Lotrechte empfinden, so werden die gewöhnlichen und die ungewöhnlichen Erscheinungen in gleicher Weise verständlich. Für die beliebte Erklärungsweise durch unbewußte Schlüsse ist die Sache ungemein einfach. Man hält den Wagen für vertikal und schließt daher »unbewußt« auf die Schiefstellung der Bäume. Allerdings würde das Gegenteil, daß man die Bäume für vertikal hält, und auf die Schiefstellung des Wagens schließt, nach dieser Theorie ebenso klar sein.

Ich hatte nun das Bedürfnis, die gewonnene Ansicht in bequemerer Weise und genauer auf die Probe zu stellen, als dies bei einer Eisenbahnfahrt möglich ist, bei welcher man die maßgebenden Umstände nicht in der Hand hat, nicht nach Belieben abändern kann. Zu diesem Zwecke wurde eine einfache Vorrichtung hergestellt, die hier in Fig. 58 dargestellt ist.

In einem an den Zimmerwänden befestigten großen Rahmen B dreht sich um eine lotrechte Achse A A ein zweiter R und in diesem ein dritter r, der in beliebiger Entfernung und Stellung von der Achse fest oder beweglich angebracht ist und einen Stuhl für den Beobachter trägt.

Der Beobachter setzt sich in den Stuhl und wird zur Vermeidung aller Störungen seines Urteils ganz in einen Papierkasten eingeschlossen. Wird derselbe nun mit dem Rahmen r in gleichmäßige Umdrehung versetzt, so fühlt und sieht er den Beginn der Drehung nach Sinn und Ausmaß sehr deutlich, obgleich zur Beurteilung des Vorganges jeder äußere sichtbare oder greifbare Anhaltspunkt fehlt. Bei gleichmäßiger Fortsetzung der Bewegung verschwindet die Empfindung der Drehung allmählich ganb, man meint ruhig zu stehen Befindet sich aber r außer der Drehungsachse, so tritt gleich bei Beginn der Drehung eine auffallende, scheinbare, fühlbare und sichtbare Neigung des ganzen Papierkastens auf, geringer bei langsamer, größer bei rascherer Drehung, welche so lange verbleibt, als die Drehung währt. Diese Schiefstellung nimmt man mit zwingender Gewalt wahr, obgleich wieder alle äußeren Anhaltspunkte für das Urteil fehlen. Sitzt z. B. der Beobachter so, daß er nach der Achse hin blickt, so hält er den Kasten für stark nach hinten übergeneigt, wie es sein muß, wenn die Richtung der Gesamtkraft als Lot empfunden wird. Ähnlich verhält es sich bei anderen Stellungen des Beobachters. Man bemerkt, daß die Denkweise und Versuchsweise, in die ich da geriet, sehr verwandt ist derjenigen, die Knight, Philosoph. Transactions (9. Jänner 1806), zur Erkenntnis und Untersuchung des Geotropismus der Pflanzen führte. Die Beziehungen zwischen pflanzlichem und tierischem Geotropismus sind in neuerer Zeit von J. Loeb eingehend erörtert worden.

Als ich nun bei einem solchen Versuch nach längerer Drehung, die ich nicht mehr wahrnahm, den Apparat plötzlich anhalten ließ, fühlte und sah ich mich samt dem Kasten sofort in lebhafter Gegendrehung begriffen, obgleich ich wußte, daß nun alles in Ruhe sei, und obgleich wieder jeder äußere Anhaltspunkt für eine Bewegungsvorstellung fehlte. Diese Erscheinungen sollte jeder kennen lernen, der die Existenz von Bewegungsempfindungen leugnet. Hätte Newton dieselben gekannt und erfahren, wie man sich im Raume gedreht und verstellt glaubt, ohne doch irgendwelche festliegende Körper als Anhaltspunkte zu haben, so würde ihn dies in seinen unglücklichen Spekulationen über den absoluten Raum sicherlich noch bestärkt haben.

Die Empfindung der Gegendrehung nach dem Anhalten des Rotationsapparates nimmt langsam und allmählich ab. Als ich aber während dieses Vorganges zufällig einmal den Kopf neigte, neigte sich mit diesem zugleich auch in demselben Sinne und Ausmaß die Achse der scheinbaren Drehung. Es war also klar: die Beschleunigung oder Verzögerung der Drehung wird empfunden. Die Beschleunigung wirkt als Reib. Die Empfindung dauert aber, wie fast alle Empfindungen, mit allmählicher Abnahme merklich länger als der Reiz. Daher die lange scheinbare Drehung nach dem Anhalten des Apparates. Das Organ aber, welches diese nachdauernde Empfindung vermittelt, muß im Kopfe seinen Sitz haben, sonst könnte mit dem Kopfe die Achse der scheinbaren Drehung sich nicht mitbewegen.

Wenn ich nun sagen wollte, es sei mir im Augenblick dieser letzteren Beobachtungen ein Licht aufgegangen, so wäre das nicht zutreffend. Ich müßte sagen, eine ganze Illumination sei mir aufgegangen. Mir fielen meine Jugenderfahrungen über den Drehschwindel ein. Ich erinnerte mich der Flourensschen Versuche der Durchschneidung der Bogengänge des Ohrlabyrinthes an Tauben und Kaninchen, wobei dieser Forscher dem Drehschwindel ähnliche Erscheinungen beobachtet hatte, welche er aber, befangen in der akustischen Auffassung des Labyrinthes, lieber als den Ausdruck schmerzhafter Gehörsstörungen deutete. Ich erkannte, daß ein Forscher wie Goltz nicht ganz, aber fast ins Schwarze getroffen hatte mit seiner Auffassung des Bogengangapparates. Goltz, der durch seine glückliche Art, unbekümmert um Herkömmliches, sich nur von seinen Gedanken leiten zu lassen, uns so vielfach aufzuklären wußte, hatte auf Grund von Versuchen schon 1870 den Ausspruch getan: »Ob die Bogengänge Gehörorgane sind, bleibt dahingestellt. Außerdem aber bilden sie eine Vorrichtung, welche der Erhaltung des Gleichgewichtes dient. Sie sind sozusagen Sinnesorgane für das Gleichgewicht des Kopfes und mittelbar des ganzen Körpers.« Ich erinnerte mich des von Ritter und Purkinje beobachteten galvanischen Schwindels bei Durchleitung des Stromes quer durch den Kopf, wobei die Versuchspersonen nach der Kathode umzusinken meinen. Der Versuch wurde sofort wiederholt, und etwas später (1874) konnte ich denselben objektiv an Fischen demonstrieren, welche im Stromfeld wie auf Kommando alle in demselben Sinne sich seitwärts legten. Dieser Versuch ist wohl verwandt mit dem ein Dezennium später von L. Hermann beschriebenen »galvanotropischen« Versuch (an Froschlarven). Vgl. darüber meine Bemerkung im Anzeiger der Wiener Akademie, 1886, Nr. 21. Neuere Versuche über Galvanotropismus rühren von j. Loeb her. Die Müllersche Lehre von den spezifischen Energien schien mir nun alle diese alten und neuen Beobachtungen in einen einfachen Zusammenhang zu bringen.

Fig. 59.
Das Labyrinth der Taube (stereoskopisch) nach R. Ewald, Nervus octavus, Wiesbaden, Bergmann‚ 1892

In der Tat, denken wir uns das Gehörlabyrinth mit seinen drei zu einander senkrechten Bogengangebenen, (vgl. Fig. 59) deren rätselhafte Stellung man ja schon in jeder möglichen und unmöglichen Weise aufzuklären versucht hat. Denken wir uns die Nerven der Ampullen (Erweiterungen) der Bogengänge mit der Eigenschaft ausgestattet, auf jeden beliebigen Reiz mit einer Drehempfndung zu antworten, so wie etwa die Nerven der Netzhaut des Auges auf Druck, elektrischen, chemischen Reiz, immer nur mit Lichtempfindung antworten, stellen wir uns ferner vor, daß der gewöhnliche Reiz der Ampullennerven durch die Trägheit des Bogenganginhaltes ausgeübt wird, welcher bei entsprechenden Drehungen in der Ebene des Bogenganges zurückbleibt, oder doch das Bestreben hat zurückzubleiben, und folglich einen Druck ausübt. Man sieht, daß dann alle die einzelnen Tatsachen, welche ohne diese Auffassung als eben so viele verschiedene Sonderbarkeiten erscheinen, aus diesem einen Gesichtspunkt klar und verständlich werden.

Ich hatte nun die Freude, daß unmittelbar nach meiner Mitteilung, in welcher ich diesen Gedanken dargelegt hatte, Wiener Akad., 6. November 1873. eine Mitteilung von Breuer erschien, Gesellschaft der Ärzte, 14. November 1874. welcher durch ganz andere Methoden zu Ergebnissen gelangt war, die in allen wesentlichen Punkten mit den meinigen übereinstimmten. Einige Wochen später kam auch Crum Brown in Edinburg, dessen Wege den meinigen näher lagen. Breuers Arbeit war weit reicher an physiologischen Erfahrungen als die meinige, und insbesonders hatte er viel eingehender die Mitwirkung der reflektorischen Bewegungen und Orientierung der Augen bei den fraglichen Erscheinungen untersucht. Ich habe zu letzterer Frage noch in meiner »Analyse der Empfindungen«, 1886, S. 56, einen Beitrag geliefert. Vgl. 3. Aufl. 1902, S. 101 u. f. Außerdem waren Versuche, die ich in meiner Mitteilung als Probe der Richtigkeit der dargelegten Auffassung vorgeschlagen hatte, von Breuer schon ausgeführt. Auch um die weitere Bearbeitung des Gebietes hat sich Breuer die größten Verdienste erworben. In physikalischer Beziehung war natürlich meine Arbeit vollständiger.

Um das Verhalten des Bogengangapparates zu veranschaulichen, habe ich hier eine kleine Vorrichtung (Fig. 60) hergestellt. Die große drehbare Scheibe stellt den knöchernen, mit dem Kopfe fest verbundenen Bogengang, die auf ersterer frei drehbare kleinere Scheibe den beweglichen, teilweise flüssigen Bogenganginhalt vor. Bei jeder Drehung der größeren Scheibe bleibt, wie Sie sehen, zunächst die kleinere Scheibe zurück. Ich muß lange drehen, bevor die letztere durch die Reibung endlich mitgenommen wird. Halte ich aber dann die größere Scheibe an, so sehen Sie, wie die kleinere Scheibe die ursprüngliche Drehung fortsetzt.

Fig. 60.

Nehmen Sie nun an, daß eine Drehung der kleineren Scheibe, etwa im Sinne des Uhrzeigers, die Empfindung einer Drehung im entgegengesetzten Sinne auslösen würde, und umgekehrt, so verstehen Sie schon einen guten Teil der dargelegten Tatsachen. Dieselben bleiben auch verständlich, wenn die kleinere Scheibe sich nicht wirklich ausgibig dreht, sondern etwa durch eine elastische Feder festgehalten wird, deren Spannung eine Empfindung auslöst. Solcher Vorrichtungen denken Sie sich nun drei, mit drei zu einander senkrechten Drehungsebenen zu einem Apparat verbunden. Diesem gesamten Apparat kann dann keine Drehung erteilt werden, ohne daß dieselbe durch die kleinen beweglichen oder an Federn befestigten Scheiben angezeigt wird. Sowohl das rechte wie das linke Ohr denken Sie sich mit einer derartigen Vorrichtung ausgestattet. Dieselbe entspricht dem Bogengangapparat, den Sie in Fig. 59 in einem Stereoskopbild für das Ohr der Taube dargestellt sehen.

Von den vielen Versuchen, die ich an mir selbst angestellt habe, und deren Ausfall nach der dargelegten Auffassung, nach dem Verhalten des Modells, also nach den Regeln der Mechanik vorausgesagt werden konnte, sei nur einer angeführt. Ich bringe in dem Rahmen R meines Rotationsapparates ein wagrechtes Brett an, lege mich auf dasselbe, etwa auf das rechte Ohr hin, und lasse die Vorrichtung gleichmäßig drehen. Sobald ich die Drehung nicht mehr empfinde, wende ich mich auf das linke Ohr um, und sofort tritt die Empfindung der Drehung in aller Lebhaftigkeit wieder auf. Der Versuch kann beliebig oft wiederholt werden. Selbst eine geringe Kopfwendung genügt zur jedesmaligen Auffrischung der Drehempfindung, welche bei vollkommen ruhiger Lage alsbald ganz verschwindet.

Wir wollen den Vorgang am Modell nachahmen. Ich drehe die größere Scheibe. Die kleinere wird schließlich mitgenommen. Wenn ich aber nun bei gleichmäßiger Fortsetzung der Drehung einen Faden abbrenne, so wird die kleinere Scheibe durch eine Feder in ihre eigene Ebene (um 180°) umgeklappt, so daß Ihnen dieselbe nun ihre andere Seite zuwendet, und die Gegendrehung tritt sofort auf.

Es gibt also ein sehr einfaches Mittel, zu unterscheiden, ob man sich in einer gleichmäßigen, sonst unmerklichen Drehung befindet oder nicht. Würde die Erde viel rascher rotieren, als es wirklich der Fall ist, oder wäre unser Bogengangapparat viel empfindlicher, so würde Nansen, am Nordpol schlafend, bei jeder Umwendung durch eine Drehempfindung geweckt worden sein. Das Foucaultsche Pendel zum Nachweise der Erdrotation wäre unter solchen Verhältnissen unnötig. Es liegt in der Tat nur an der geringen Winkelgeschwindigkeit der Erde und den hieran hängenden großen Versuchsfehlern, daß wir die Erdrotation nicht mit Hilfe unseres Modells nachweisen können. In meinen »Grundlinien der Lehre von den Bewegungsempfindungen«, 1875, ist S. 20, Zeile 4-13 von unten, als auf einem Irrtum beruhend, zu streichen, wie ich dies schon anderwärts bemerkt habe. Über einen anderen dem Foucaultschen verwandten Versuch vgl. meine »Mechanik«, 4. Aufl. 1901 S. 335.

Aristoteles hat behauptet: »Das Süßeste ist die Erkenntnis.« Er hat damit Recht. Wenn Sie aber annehmen wollten, daß auch die Publikation einer neuen Einsicht eine große Süßigkeit im Gefolge habe, so wären Sie in einem gewaltigen Irrtum befangen. Niemand beunruhigt seine Nebenmenschen ungestraft mit einer neuen Einsicht. Und damit soll gegen diese Nebenmenschen gar kein Vorwurf ausgesprochen sein. Die Zumutung, die Denkweise in Bezug auf eine Frage umzubrechen, ist keine angenehme und vor allem keine bequeme. Wer eine neue Einsicht gewonnen hat, weiß am besten, daß derselben immer auch ernste Schwierigkeiten im Wege stehen. Mit lobenswertem, aufrichtigem Eifer wird also nach allem gesucht, was mit der neuen Ansicht nicht im Einklang steht. Man sieht nach, ob man die Tatsachen nach den herkömmlichen Ansichten nicht besser, ebensogut, oder doch annähernd so gut erklären könnte. Und auch das ist ja gerechtfertigt. Aber auch recht ungenierte Einwendungen werden laut, die uns fast verstummen machen. »Wenn es einen sechsten Sinn gäbe, hätte man denselben schon vor Jahrtausenden entdeckt«. Es war ja eine Zeit, da es nur sieben Planeten geben durfte. Ich glaube doch nicht, daß auf die philologische Frage, ob das berührte Erscheinungsgebiet ein Sinn zu nennen sei, irgend jemand besonderen Wert legt. Das Gebiet wird auch nicht verschwinden, wenn der Name verschwindet. Sogar das bekam ich zu hören, daß es Tiere ohne Labyrinth gibt, die sich dennoch orientieren, daß also das Labyrinth mit der Orientierung nichts zu schaffen hat. Gewiß, wir gehen auch nicht mit unseren Beinen, da die Schlangen ohne dieselben vorwärts kommen.

Wenn nun auch die Verkünder einer neuen Einsicht von ihrer Publikation kein großes Vergnügen zu erwarten haben, so ist doch der bezeichnete kritische Prozeß der Sache sehr förderlich. Alle der neuen Ansicht notwendig anhaftenden Mängel werden nach und nach bekannt und allmählich abgestreift. Jede Überschätzung und Übertreibung muß einer nüchternen Auffassung platzmachen. So hat es sich auch herausgestellt, daß man dem Labyrinth nicht alle Funktionen der Orientierung ausschließlich zuweisen darf. Um diese kritische Arbeit haben sich Delage, Aubert, Breuer, Ewald u. a. in hervorragender Weise verdient gemacht. Es kann auch nicht fehlen, daß bei diesem Prozeß neue Tatsachen bekannt werden, welche nach der neuen Auffassung sich hätten voraussagen lassen, die zum Teil auch wirklich vorausgesagt worden sind, welche also für eben diese Auffassung sprechen. Es gelang Breuer und Ewald, das Labyrinth, sogar einzelne Teile des Labyrinthes elektrisch und mechanisch zu reizen und die zugehörigen Bewegungen auszulösen. Man konnte zeigen, daß mit Wegfall der Bogengänge der Drehschwindel, mit Beseitigung des ganzen Labyrinthes auch die Kopforientierung verschwindet, daß ohne Labyrinth kein galvanischer Schwindel besteht. Ich selbst habe schon 1875 einen Apparat zur Beobachtung gedrehter Tiere konstruiert, der mehrmals in mannigfaltigen Formen nacherfunden und später Cyclostat genannt worden ist. Anzeiger der Wiener Akad., 30. Dezember 1875.Bei Versuchen mit den verschiedensten Tieren hat sich nun z. B. gezeigt, daß die Froschlarven erst dann Drehschwindel bekommen, wenn sich bei ihnen der Bogengangapparat entwickelt hat, der anfänglich nicht vorhanden ist (K. Schäfer).

Ein großer Prozentsatz der Taubstummen ist mit schweren Labyrintherkrankungen behaftet. Der amerikanische Psychologe W. James hat nun mit vielen Taubstummen Drehversuche angestellt und hat bei einer großen Zahl derselben den Drehschwindel vermißt. Er hat auch gefunden, daß manche Taubstumme beim Untertauchen unter Wasser, wobei sie ihr Gewicht verlieren, wobei also der Muskelsinn keine verläßliche Anzeige mehr gibt, gänzlich desorientiert werden, nicht mehr wissen, wo oben, wo unten ist, und in die größte Angst geraten, was bei normalen Menschen nicht vorkommt. Solche Tatsachen zeigen schlagend, daß wir nicht durch das Labyrinth allein uns orientieren, so wichtig dasselbe für uns auch ist. Dr. Kreidl hat ähnliche Versuche wie James angestellt, und hat bei gedrehten Taubstummen nicht nur den Drehschwindel, sondern auch die normalerweise durch das Labyrinth ausgelösten reflektorischen Augenbewegungen vermißt. Endlich hat Dr. Pollak bei einem beträchtlichen Prozentsatz der Taubstummen keinen galvanischen Schwindel gefunden. Weder die Ruckbewegungen, noch die Augenbewegungen traten ein, welche normale Menschen beim Ritter-Purkinjeschen Versuch zeigen.

Hat ein Physiker einmal die Ansicht gewonnen, daß die Bogengänge die Empfindung der Drehung, beziehungsweise der Winkelbeschleunigung vermitteln, so fragt derselbe fast notwendig nach den Organen für die Empfindung der Beschleunigung fortschreitender Bewegungen. Selbstredend sucht er für diese Funktion nicht nach einem Organ, welches in gar keiner verwandtschaftlichen und räumlichen Beziehung zu den Bogengängen steht. Hierzu kommen noch physiologische Momente. Ist einmal die vorgefaßte Meinung durchbrochen, dergemäß das ganze Labyrinth Gehörorgan ist, so bleibt, nachdem der Schnecke die Tonempfindung, den Bogengängen die Empfindung der Winkelbeschleunigung zugewiesen ist, noch der Vorhof für weitere Funktionen verfügbar. Dieser schien mir nun (insbesondere der Sacculus) vermöge seines Gehaltes an sogenannten Hörsteinen wohl geeignet, um die Empfindung der Progressivbeschleunigung, beziehungsweise der Kopfstellung zu vermitteln. Auch in dieser Vermutung traf ich wieder mit Breuer sehr nahe zusammen.

Daß eine Empfindung der Lage, der Richtung und Größe der Massenbeschleunigung existiert, lehren die Erfahrungen im Lift, und lehrt die Bewegung in krummer Bahn. Ich habe auch versucht, große Geschwindigkeiten der Fortschreitung rasch herzustellen, und zu vernichten, mit Hilfe verschiedener Vorkehrungen, von welchen nur eine erwähnt werden mag. Wenn ich in dem großen Rotationsapparat außerhalb der Achse im Papierkasten eingeschlossen in gleichmäßiger Rotation bin, die ich nicht mehr empfinde, wenn ich dann den Rahmen r beweglich mache und Halt kommandiere, so wird meine fortschreitende Bewegung plötzlich gehemmt, während der Rahmen r fortrotiert. Da glaube ich nun entgegen der gehemmten Bewegung in gerader Bahn fortzufliegen. Leider kann hier mannigfaltiger Umstände wegen der Nachweis, daß das betreffende Organ im Kopfe sitzt, nicht in überzeugender Weise geführt werden. Nach der Meinung von Delage hat das Labyrinth auch mit dieser Bewegungsempfindung nichts zu tun. Breuer hingegen ist der Ansicht, daß das Organ für fortschreitende Bewegungen beim Menschen verkümmert und die Nachdauer der betreffenden Empfindung zu kurz ist, um ebenso deutliche Experimente zu ergeben wie für die Drehung. In der Tat hat Crum Brown einmal in einem Reizungszustand an sich selbst eigentümliche Schwindelerscheinungen beobachtet, die sich sämtlich durch eine abnorm lange Nachdauer der Drehempfindung erklären ließen, und ich selbst habe in einem analogen Fall beim Anhalten eines Eisenbahnzuges die scheinbare Rückwärtsbewegung auffallend stark und lange empfunden.

Daß wir Änderungen der Vertikalbeschleunigung empfinden, ist nicht zweifelhaft. Daß die Otolithenorgane des Vorhofes die Empfindung der Richtung der Massenbeschleunigung vermitteln, wird nach dem Folgenden höchst wahrscheinlich. Dann ist es aber mit einer konsequenten Auffassung unvereinbar, letztere Organe für die Empfindung horizontaler Beschleunigungen für unfähig zu halten.

Bei den niederen Tieren schrumpft das Analogon des Labyrinthes zu einem mit Flüssigkeit gefüllten Hörbläschen mit auf Härchen ruhenden, spezifisch schwereren Krystallen, Hörsteinen oder Otolithen zusammen. Dieselben scheinen physikalisch sehr geeignet sowohl die Richtung der Schwere, als auch die Richtung einer beginnenden Bewegung anzuzeigen. Daß sie erstere Funktion wirklich haben, davon hat sich zuerst Delage durch Versuche an niederen Tieren überzeugt, welche nach Entfernung des Otolithenorganes gänzlich desorientiert waren und ihre normale Lage nicht mehr zu finden wußten. Ebenso hat Loeb gefunden, daß Fische ohne Labyrinth bald auf dem Bauche, bald auf dem Rücken schwimmen. Der merkwürdigste, schönste und überzeugendste Versuch ist aber der von Dr. Kreidl mit Krebsen angestellte. Nach Hensen führen gewisse Krebse nach der Häutung selbst feine Sandkörner als Hörsteine in die Otolithenblase ein. Dr. Kreidl nötigte solche Krebse nach dem sinnreichen Vorschlage von S. Exner mit Eisenpulver ( ferrum limatum) vorlieb zu nehmen. Wird nun dem Krebs der Pol eines Elektromagneten genähert, so wendet derselbe unter entsprechenden reflektorischen Augenbewegungen sofort den Rücken von dem Pol ab, so wie der Strom geschlossen wird, gerade so, als ob sich die Schwere nach Richtung und Sinn der magnetischen Kraft genähert hätte. Der Versuch war für mich besonders interessant, da ich schon 1874, allerdings mit sehr geringer Hoffnung, und ohne Erfolg versucht hatte, mein eigenes durchströmtes Labyrinth elektromagnetisch zu erregen. Dies muß man in der Tat nach der den Otolithen zugemuteten Funktion erwarten. Werden die Augen mit Asphaltlack bedeckt und die Gehörbläschen entfernt, so sind die Krebse gänzlich desorientiert, überkugeln sich, liegen auf der Seite oder auf dem Rücken. Dies erfolgt nicht, wenn nur die Augen gedeckt werden. Für die Wirbeltiere hat Breuer durch eine eingehende Untersuchung nachgewiesen, daß die Otolithen (oder besser Statolithen) in drei den Bogengangebenen parallelen Ebenen gleiten, also wohl geeignet sind, sowohl Größen- als Richtungsänderungen der Massenbeschleunigung anzuzeigen. Man erinnert sich hier vielleicht der Diskussion über die stets auf die Füße fallende Katze, welche vor einigen Jahren die Pariser Akademie und mit dieser die Pariser Gesellschaft beschäftigt hat. Ich bin der Meinung, daß diese Fragen durch das in meinen »Bewegungsempfindungen« (1875) Gesagte mit erledigt sind. Auch die von den Pariser Gelehrten zur Erläuterung erdachten Apparate habe ich zum Teil schon 1868 in Carls Repertorium IV. 359 angegeben. Eine Schwierigkeit ist bei der Pariser Diskussion nicht berührt worden. Der Katze im freien Fall kann der Otolithenapparat nichts nützen. Sie kennt wohl, so lange sie in Ruhe ist, ihre Orientierung und kennt wohl instinktiv das Ausmaß der Bewegung, welches sie auf die Füße stellt.

Ich habe schon erwähnt, daß nicht jede Orientierungsfunktion dem Labyrinth allein zugeschrieben werden darf. Die Taubstummen, welche auch noch untergetaucht, und die Krebse, welchen auch noch die Augen gedeckt werden müssen, wenn sie bei funktionslosem Gleichgewichtsorgan vollkommen desorientiert sein sollen, sind ein Beleg hiefür. Ich sah bei Hering eine junge geblendete Katze, die sich aber für den nicht sehr genauen Beobachter ganz wie eine sehende Katze verhielt. Dieselbe spielte ganz flink mit auf dem Boden rollenden Gegenständen, steckte den Kopf neugierig in offene Laden hinein, sprang geschickt auf den Stuhl, lief mit voller Sicherheit durch offene Türen hindurch, ohne jemals gegen eine geschlossene Türe anzurennen. Der Gesichtssinn war hier sehr rasch durch den Tast- und Gehörssinn ersetzt worden. So zeigt es sich nach Ewald, daß die Tiere auch nach entferntem Labyrinthe allmählich lernen, sich scheinbar wieder ganz normal zu bewegen, indem ein Teil des Hirnes die ausgefallene Funktion des Labyrinthes ersetzt. Nur eine gewisse, eigentümliche Muskelschwäche bleibt zurück, die Ewald dem Fehlen des sonst vom Labyrinth beständig ausgehenden Reizes (Labyrinthtonus) zuschreibt. Wird aber jene die Ertsatzfunktion ausübende Hirnpartie abgetragen, so sind die Tiere nun ganz desorientiert und hilflos.

Man kann sagen, daß die 1873 und 1874 von Breuer, Crum Brown und mir ausgesprochenen Ansichten, welche eine weitere und reichere Entwicklung der Goltzschen Auffassung darstellen, sich im ganzen bewährt haben. Mindestens aber haben dieselben fördernd und anregend gewirkt. Selbstredend sind im Verlaufe der Untersuchung wieder neue Probleme aufgetreten, die ihrer Erledigung harren, und viel Arbeit bleibt übrig. Zugleich sehen wir aber, wie fruchtbar nach zeitweiliger Isolierung und Kräftigung der naturwissenschaftlichen Spezialfächer gelegentlich deren Zusammenwirkung ist.

Es sei deshalb gestattet, die Beziehung zwischen Hören und Orientierung noch unter einem allgemeinern Gesichtspunkt zu betrachten. Was wir Gehörorgan nennen, ist bei den niederen Tieren ein Bläschen mit Hörsteinen. Bei höherer Entwicklung wachsen aus demselben nach und nach 1, 2, 3 Bogengänge heraus, während der Bau des Otolithenorganes selbst zugleich komplizierter wird. Aus einem Teil des letzteren ( lagena) wird endlich bei den höheren Wirbeltieren, insbesonders bei den Säugetieren die Schnecke, die Helmholtz als das Organ der Tonempfindung gedeutet hat. Noch befangen in der Ansicht, daß das ganze Labyrinth Gehörorgan sei, suchte Helmholtz anfänglich, ungetreu den Ergebnissen seiner eigenen musterhaften Analyse, einen anderen Teil des Labyrinthes als Organ für Geräusche zu deuten. Ich habe vor langer Zeit (1873) gezeigt, daß jeder Tonreiz durch Abkürzung der Reizdauer auf eine geringe Anzahl Schwingungen den Charakter der Tonhöhe allmählich einbüßt, und jenen eines trockenen Schlages, eines Geräusches annimmt. Alle Zwischenglieder zwischen Ton und Geräusch lassen sich so aufweisen. Man wird nicht geneigt sein, anzunehmen, daß da an die Stelle eines Organes auf einmal ein ganz anderes in Funktion tritt. Auf Grund anderer Versuche und Erwägungen hält S. Exner die Annahme eines besonderen Organs zur Empfindung der Geräusche ebenfalls für unnötig.

Bedenken wir nur, ein wie geringer Teil des Labyrinthes der höheren Tiere dem Hören zu dienen scheint, wie beträchtlich dagegen der Teil noch ist, welcher wahrscheinlich der Orientierung dient, wie gerade die erste Anlage des Hörbläschens der niederen Tiere dem Teile des ausgebildeten Labyrinthes gleicht, welcher nicht hört, so drängt sich wohl die Ansicht auf, die Breuer und ich (1873, 1874) ausgesprochen haben, daß das Gehörorgan sich aus einem Organ für Empfindung von Bewegungen entwickelt hat, durch Anpassung an schwache periodische Bewegungsreize, und daß viele bei niederen Tieren für Gehörorgane gehaltenen Apparate gar keine eigentlichen Gehörorgane sind. Vgl. über die hier berührten Punkte: »Physik. Versuche über den Gleichgewichtssinn.« Sitzgsber. d. Wiener Akad. III Abt. 1873 S. 133, 136, – »Bewegungsempfindungen« 1875, S. 110 – Analyse d. Empfindungen. 1886, S. 117, 133, 3. Aufl. 1902, S. 202, 221. – Obwohl mir schon durch die erwähnte Erfahrung bei der Eisenbahnfahrt klar geworden war, daß Menschen und Tiere in ihrer Art ebenso geotropisch sind wie die Pflanzen, obwohl ich vielleicht einer der ersten war, der die Otolithen in ihrer eigentlichen Bedeutung als Statolithen erkannte, so blieb mir doch gerade der Geotropismus der Pflanzen ein unerklärtes Rätsel. Ich war daher sehr angenehm überrascht, als es sich durch die Studien von G. Haberlandt und B. Němec herausstellte, daß wahrscheinlich die Stärkekörner in ähnlicher Weise als Wachstumsreize wirken, wie die Otolithen als Empfindungsreize. Vgl Haberlandt, »Sinnesorgane im Pflanzenreich«, 1900

Diese Ansicht scheint zusehends mehr Boden zu gewinnen. Dr. Kreidl ist durch gut angelegte Versuche zu dem Schlusse gelangt, daß selbst die Fische noch nicht hören, während seinerzeit E. H. Weber die Knöchelchen, welche die Schwimmblase der Fische mit dem Labyrinth in Verbindung setzten, geradezu als Schalleitungsapparate von ersterer zu letzterem betrachtet. E. H. Weber, De aure et auditu hominis et animalium, Lipsiae 1820. Störensen hat die Erregung von Tönen durch die Schwimmblase, sowie die Fortleitung von Erschütterungen durch die Weberschen Knöchelchen beobachtet. Er hält die Schwimmblase für besonders geeignet, die von anderen Fischen erregten Geräusche aufzunehmen und zum Labyrinth zu leiten. Er hat in dem Wasser südamerikanischer Flüsse die lauten grunzenden Töne gewisser Fische gehört und meint, daß sich dieselben auf diese Weise locken und finden. Hiernach wären wieder manche Fische weder taub noch stumm. Störensen, Journ. Anat. Phys. London, vol. 29 (1895). Ich verdanke die Kenntnis dieser Arbeit meinem Kollegen K. Grobben Die Frage, welche hier liegt, dürfte sich lösen durch eine scharfe Unterscheidung zwischen Tonempfindung (eigentlichem Hören) und Wahrnehmen von Erschütterungen. Erstere mag ja selbst bei manchen Wirbeltieren sehr eingeengt sein, vielleicht auch ganz fehlen. Neben der Hörfunktion könnten aber die Weberschen Knöchelchen ganz wohl noch eine andere Funktion haben. Wenn auch die Schwimmblase nicht in dem einfachen physikalischen Sinn Borellis ein Gleichgewichtsorgan ist, wie Moreau gezeigt hat, so bleibt für sie wahrscheinlich doch noch irgend eine derartige Funktion übrig. Die Verbindung mit dem Labyrinth begünstigt diese Auffassung. Und so liegt hier noch eine Fülle von Problemen.

Eine Reminiscenz aus dem Jahre 1863 ist es, mit welcher ich schließen möchte. Helmholtz' »Tonempfindungen« waren eben erschienen, und die Funktion der Schnecke schien nun aller Welt klar. In einem Zwiegespräch, welches ich mit einem Doktor der Medizin hatte, erklärte es dieser als ein fast hoffnungsloses Unternehmen, auch die Funktion der anderen Labyrinthteile ergründen zu wollen, während ich in jugendlichem Übermut behauptete, diese Frage müßte gelöst werden, und zwar bald, ohne natürlich eine Ahnung zu haben, wie. Zehn Jahre später war die Frage im wesentlichen gelöst.

Ich glaube heute, nachdem ich mich an mancher Frage oft und vergebens versucht habe, nicht mehr, daß man die Probleme nur so übers Knie brechen kann. Allein ein »Ignorabimus« würde ich doch nicht für den Ausdruck der Bescheidenheit halten, sondern eher für das Gegenteil. Richtig angebracht ist dasselbe nur gegenüber verkehrt gestellten Problemen, die also eigentlich keine Probleme sind. Jedes wirkliche Problem kann und wird bei genügender Zeit gelöst werden, ohne alle übernatürliche Divination, ganz allein durch scharfe Beobachtung und umsichtige, denkende Erwägung.


Verbesserung: Eingepflegt. Re.

 

Lippert & Co (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a/S.


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