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VIII.
Bemerkungen zur Lehre vom räumlichen Sehen.

Dieser Artikel, welcher zur historischen Erläuterung des vorigen dient, erschien in Fichtes »Zeitschrift für Philosophie« i. J. 1865.

Nach Herbart beruht das räumliche Sehen auf Reproduktionsreihen. Natürlich sind hierbei, wenn dies richtig ist, die Größen der Reste, mit welchen die Vorstellungen verschmolzen sind (die Verschmelzungshülfen) von wesentlichem Einfluß. Da ferner die Verschmelzungen erst zu stande kommen müssen, bevor sie da sind, und da bei ihrem Entstehen die Hemmungsverhältnisse ins Spiel kommen, so hängt schließlich, die zufällige Zeitfolge, in welcher die Vorstellungen gegeben werden, abgerechnet, bei der räumlichen Wahrnehmung alles von den Gegensätzen und Verwandtschaften, kurz von den Qualitäten der Vorstellungen ab, welche in Reihen eingehen.

Sehen wir zu, wie sich diese Theorie den speziellen Tatsachen gegenüber verhält.

1. Wenn nur sich durchkreuzende Reihen, vor- und rückwärts durchlaufend, zum Entstehen der räumlichen Wahrnehmung nötig sind, warum finden sich nicht Analoga derselben bei allen Sinnen?

2. Warum messen wir Verschiedenfarbiges, Buntes, mit Einem Raummaße? Wie erkennen wir Verschiedenfarbiges als gleich groß? Woher nehmen wir überhaupt das Raummaß und was ist dieses?

3. Woher kommt es, daß gleiche verschiedenfarbige Gestalten sich gegenseitig reproduzieren und als gleich erkannt werden?

An diesen Schwierigkeiten sei es genug! Herbart vermag sie nach seiner Theorie nicht zu lösen. Der Unbefangene wird sofort einsehen, daß dessen »Hemmung wegen der Gestalt« und »Begünstigung wegen der Gestalt« einfach unmöglich ist. Man überlege das Herbartsche Beispiel von den roten und schwarzen Buchstaben.

Die Verschmelzungshülfe ist sozusagen ein Paß, der auf den Namen und die Person der Vorstellung lautet. Eine Vorstellung, welche mit einer andern verschmolzen ist, kann nicht alle andern qualitativ verschiedenen reproduzieren, bloß weil diese untereinander in gleicher Weise verschmolzen sind. Zwei qualitativ verschiedene Reihen reproduzieren sich gewiß nicht deshalb, weil sie dieselbe Folge der Verschmelzungsgrade darbieten.

Wenn es feststeht, daß nur Gleichzeitiges und Gleiches sich reproduziert, ein Prinzip der Herbartschen Psychologie, welches selbst der genaueste Empirist nicht bezweifeln wird, so bleibt nichts übrig, als die Theorie der räumlichen Wahrnehmung zu modifizieren, oder für sie ein neues Prinzip in der eben angedeuteten Weise zu erfinden, wozu sich schwerlich jemand entschließen wird. Das neue Prinzip würde nämlich nebenbei die ganze Psychologie in die gräulichste Verwirrung stürzen.

Was nun die Modifikation betrifft, so kann man darüber nicht leicht in Zweifel sein, wie dieselbe in Anbetracht der Tatsachen nach Herbarts eigenen Prinzipien durchzuführen sei. Wenn zwei verschiedenfarbige gleiche Gestalten sich reproduzieren und als gleich erkannt werden, so ist dies nur durch in beiden Vorstellungsreihen enthaltene qualitativ gleiche Vorstellungen möglich. Die Farben sind verschieden. Es müssen also an die Farben von diesen unabhängige gleiche Vorstellungen geknüpft sein. Wir brauchen nicht lange nach ihnen zu suchen, es sind die gleichen Folgen von Muskelgefühlen des Auges bei beiden Gestalten. Man könnte sagen, wir gelangen zum räumlichen Sehen, indem sich die Lichtempfindungen in ein Register von abgestuften Muskelempfindungen einordnen. Vgl. Cornelius, über das Sehen – Wundt, Theorie der Sinneswahrnehmung.

Nur einige Betrachtungen, welche die Rolle der Muskelempfindungen wahrscheinlich machen. Der Muskelapparat eines Auges ist unsymmetrisch. Beide Augen zusammen bilden ein System von vertikaler Symmetrie. Hieraus erklärt sich schon manches.

1. Die Lage einer Gestalt hat Einfluß auf ihre Betrachtung. Es kommen je nach der Lage bei der Betrachtung verschiedene Muskelempfindungen ins Spiel, der Eindruck wird ein anderer. Um verkehrte Buchstaben als solche zu erkennen, dazu gehört lange Erfahrung. Der beste Beweis hierfür sind die Buchstaben d, b, p, q, welche durch dieselbe Figur in verschiedenen Lagen dargestellt und dennoch als verschieden festgehalten werden. Vgl. Mach, über das Sehen von Lagen und Winkeln, Sitzungsb. der Wiener Akademie 1861.

2. Dem aufmerksamen Beobachter entgeht es nicht, daß aus denselben Gründen, sogar bei derselben Figur und Lage noch der Fixationspunkt von Einfluß ist. Die Figur scheint sich während der Betrachtung zu ändern. Ein achteckiger Stern z. B., den man konstruiert, indem man konsequent in einem regulären Achteck die 1. Ecke mit der 4., die 4. mit der 7. u. s. f., immer zwei Ecken übergehend verbindet, hat, je nachdem man ihn fixiert, abwechselnd bald einen mehr architektonischen, bald einen freieren Charakter. Vertikale und horizontale Linien werden stets anders aufgefaßt als schiefe.

Fig. 26.

3. Daß wir die vertikale Symmetrie als etwas Besonderes bevorzugen, während wir die horizontale Symmetrie unmittelbar gar nicht erkennen, hat in der vertikalen Symmetrie des Augenmuskelapparates seinen Grund. Die linke Hälfte a einer vertikal symmetrischen Figur löst in dem linken Auge dieselben Muskelgefühle aus, wie die rechte Hälfte b in dem rechten. Das Angenehme der Symmetrie hat zunächst in der Wiederholung der Muskelgefühle seinen Grund. Daß hier eine Wiederholung stattfindet, welche sogar zur Verwechslung führen kann, beweist nächst der Theorie die Tatsache, welche jedem, quem dii oderunt, bekannt ist, daß Kinder häufig Figuren von rechts nach links (nie von oben nach unten) verkehren, z. B. ε statt 3 schreiben, bis sie endlich den geringen Unterschied doch merken. Daß aber die Wiederholung von Muskelgefühlen angenehm sein kann, lehrt c in Figur 27. Wie man sich leicht klar machen kann, bieten vertikale und horizontale Gerade den symmetrischen Figuren ähnliche Verhältnisse, die sofort gestört werden wenn man die Lage der Linie schief wählt. Man vergleiche, was Helmholtz über die Wiederholung und das Zusammenfallen der Partialtöne sagt.

Fig. 27.

Es sei erlaubt, hier eine allgemeinere Bemerkung anzuknüpfen. Es ist eine ganz allgemeine Erscheinung in der Psychologie, daß gewisse qualitativ ganz verschiedene Reihen von Vorstellungen sich gegenseitig wach rufen, gegenseitig reproduzieren, in gewisser Beziehung doch als gleich oder ähnlich erscheinen. Wir sagen von solchen Reihen, sie seien von gleicher oder ähnlicher Form, indem wir die abstrahierte Gleichheit Form nennen.

  1. Von räumlichen Gestalten haben wir bereits gesprochen.
  2. Wir nennen 2 Melodien gleich, wenn sie dieselbe Folge von Tonhöhen verhältnissen darbieten, die absolute Tonhöhe (die Tonart) mag noch so verschieden sein. Wir können die Melodien so wählen, daß nicht einmal zwei Partialtöne von Klängen in beiden gemeinschaftlich sind. Doch erkennen wir die Melodien als gleich. Ja wir merken uns die Melodieform sogar leichter und erkennen sie leichter wieder, als die Tonart (die absolute Tonhöhe), in der sie gespielt wurde.
  3. Wir erkennen an zwei Melodien den gleichen Rhythmus, die Melodien mögen sonst noch so verschieden sein. Wir merken und erkennen den Rhythmus sogar leichter als die absolute Zeitdauer (das Tempo).

Diese Beispiele mögen genügen. In allen diesen und allen ähnlichen Fällen kann das Wiedererkennen und die Gleichheit nicht auf den Qualitäten der Vorstellungen beruhen, denn diese sind verschieden. Anderseits ist das Wiedererkennen, den Prinzipien der Psychologie zufolge, doch nur nach Vorstellungen gleicher Qualität möglich. Also gibt es keinen andern Ausweg, als wir denken uns die qualitativ ungleichen Vorstellungen zweier Reihen notwendig mit irgend welchen qualitativ gleichen verbunden.

Wie in gleichen verschiedenfarbigen Gestalten gleiche Muskelgefühle auftreten müssen, damit die Gestalten als gleich erkannt werden, so müssen auch allen Formen überhaupt, man könnte auch sagen, allen Abstraktionen, Vorstellungen von eigentümlicher Qualität zu Grunde liegen. Dies gilt für den Raum und die Gestalt so gut wie für die Zeit, den Rhythmus, die Tonhöhe, die Melodieform, die Intensität u. s. w. Aber woher soll die Psychologie alle diese Qualitäten nehmen? Keine Sorge darum! Sie werden sich alle so gut finden wie die Muskelempfindungen für die Raumtheorie. Der Organismus ist vorläufig noch reich genug, um nach dieser Richtung die Auslagen der Psychologie zu decken, und es wäre Zeit, mit der »körperlichen Resonnanz«, welche die Psychologie so gern im Munde führt, einmal Ernst zu machen.

Verschiedene psychische Qualitäten scheinen untereinander in einem sehr engen Zusammenhange zu stehen. Spezielle Untersuchungen hierüber, sowie der Nachweis, daß diese Bemerkung sich für die Physik verwerten läßt, sollen später folgen. Vgl. Mach, zur Theorie des Gehörorgans. Sitzungsber. der Wiener Akad. 1863. – Über einige Erscheinungen der physiolog. Akustik. Ebendaselbst 1864.


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