Jean-Baptiste Louvet de Couvray
Leben und Abenteuer des Chevalier Faublas – Zweiter Band
Jean-Baptiste Louvet de Couvray

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III. Kapitel

Noch an demselben Abend kam Justine zu mir.

»Guten Abend, liebes Justinchen; wir haben uns schon lange nicht mehr allein gesehen!«

»Oh, gnädiger Herr, und wenn es fünfzig Jahre wären, so bitte ich Sie mich anzuhören. Die Frau Marquise –«

»Du bist noch immer sehr hübsch, mein Kind.«

»Gnädiger Herr, meine Gebieterin schickt mich –«

»Weiß sie schon, dass ich hier bin?«

»Ja, heute früh sind Sie zu dem großen Thor hereingekommen, man hat es ihr sogleich gemeldet. – Aber lassen Sie mich doch, mein Herr! erinnern Sie sich an unsern Vertrag.«

»Was für einen Vertrag meinst Du?«

»Sie vergessen doch alles! vor einiger Zeit haben wir mit einander ausgemacht, dass ich, wenn ich auf Befehl meiner Gebieterin käme, immer mit meinem Auftrag anfangen dürfe.«

»Nun denn, so sag' ihn schnell, mein Justinchen!«

»Gnädiger Herr, meine Gebieterin war sehr erstaunt, sehr betrübt über Ihre Flucht ... so hören Sie doch auf!«

»Hör Du selbst auf! Du machst Vorreden wie ein ausgepfiffener Autor. Deine Gebieterin war sehr erstaunt! – meinst Du, ich hätte dies nicht errathen?«

»Noch einen Augenblick, gnädiger Herr.«

»Hör einmal, die Vorreden langweilen mich immer, besonders aber in diesem Augenblicke. Zur Sache, Justinchen!«

»Meine Gebieterin hat mir aufgetragen, Ihnen zu melden, dass Ihre geheime Liebe –«

»Meine geheime Liebe! was will sie damit sagen?«

»Ihr Liebesverhältnis mit ihr ist doch nicht öffentlich, wie ich hoffe.«

»Du hast Recht; ja, ja!«

»Sie sagt, dass Ihre Liebe von einem großen Unglück bedroht sei; sie sieht ein trauriges Ereignis voraus, das dem Marquis das Geheimnis Ihrer Verkleidung entdecken könnte.«

»Meiner Verkleidung! aber meine schöne Freundin wäre ja dann verloren.«

»Deswegen ist sie auch trostlos, sie weint und seufzt.

»Wenn ich ihn doch wenigstens sehen könnte!« ruft sie jeden Augenblick.«

»Gut! wie finde ich sie?«

»Wie Sie doch so schnell mich verlassen wollen!«

»Ach, Justinchen, entschuldige! aber Du sagst. Deine Gebieterin sei trostlos? was für ein Geheimnis fürchtet sie denn?«

»Gnädiger Herr, ich weiß nichts.

»Morgen früh um zehn Uhr wird sie es Ihnen bei ihrer Modehändlerin sagen. Sie kommen hin, nicht wahr?«

»Ganz gewiss, ich werde die Marquise in einer so kritischen Lage nicht im Stiche lassen.«

Schon lange hatte ich das Vergnügen entbehren müssen, das hübsche Kammermädchen zu sehen, dass man sich nicht wundern wird, wenn ich sie ein Viertelstündchen bei mir behielt.

Nach ihrer Erzählung befand sich die Marquise in einer so traurigen Lage, deshalb beeilte ich mich, am anderen Morgen pünktlich schlag zehn Uhr mich zu dem Rendezvous einzustellen.

Ich trat in das Boudoir und bemerkte sogleich, dass die Marquise das Taschentuch zu verbergen suchte, womit sie sich die Augen trocknete.

»Mein Herr,« sagte sie zu mir, »ich bitte Sie, meine Zudringlichkeit zu entschuldigen; ich werde Sie nicht lange Ihrem Vergnügen entziehen, ich ersuche Sie nur um einen Augenblick Aufmerksamkeit.

»Ich will Sie nicht an den wichtigen Dienst erinnern, mein Herr, den ich Ihnen vor einigen Tagen erwiesen habe; ich will nicht von der großen Undankbarkeit sprechen, womit Sie ihn erwidert haben; ich will Sie nicht fragen, wo Sie die Zeit von Ihrer Flucht bis zur Rückkehr in Ihr väterliches Haus zugebracht haben, ich sehe wohl, dass Sie mir nicht mehr das Recht einräumen, mich nach Ihrem Betragen zu erkundigen, ich sehe wohl, dass meine Klagen, meine Vorwürfe und meine Fragen gleich unnütz wären.

»Ich habe alle Rechte auf ihr Herz verloren, ich will mir wenigstens Ihre Achtung erhalten.

»Eine gemeinschaftliche Gefahr bedroht uns; ich will sie Ihnen zeigen, damit Sie sich davor hüten können.

»Blicken wir auf die vergangene Zeit zurück.

»Ich nehme es auf mich, meine Zärtlichkeit für Sie gegen Sie selbst zu rechtfertigen; und wenn nur Ihre Freundschaft mir bleibt –

»Ich bitte Sie, Faublas, unterbrechen Sie mich nicht.

»Ich will dafür sorgen, dass nur Sie in Sicherheit sind; ich aber will ruhig der Gefahr ins Auge sehen, es ist eine drohende Gefahr, der meine Ehre, ja vielleicht mein Leben ausgesetzt ist.

»Sie erinnern sich ohne Zweifel, wie der Zufall, der Ihrer Gewandtheit so trefflich zu Hilfe kam, Sie zu mir brachte?

»Gewiss, mein Herr! Sie haben es nicht vergessen, welcher Lohn Ihrer Kühnheit zu Theil wurde! aber wenn Sie, wie ich hoffe, meine näheren Verhältnisse prüfen, so werden Sie meine Schwachheit entschuldigen, wenn Sie bedenken, dass an meiner Stelle keine Frau mehr Stärke gezeigt haben würde, als ich.

»Am anderen Tage aber, als ich darüber nachdachte, dass ein junger Mensch, den ich kaum kannte, mein Herz und meine Person besitze, erschrak ich gewaltig.

»Allein in diesem jungen Manne vereinigten sich tausend glänzende Eigenschaften; seine Schönheit hatte mich in Verwunderung gesetzt, sein Geist entzückte mich, er schien Gefühl zu haben, er war noch nicht achtzehn Jahre alt! ich schmeichelte mir, seine zarte Jugend gefangen zu nehmen, sein empfängliches Herz zu bilden; ich fasste den kühnen Gedanken, ihn auf immer an mich zu fesseln.

»Ich ließ nichts unversucht, um die allzuschnell geknüpften Bande fester zu ziehen und unauflöslich zu machen.

»Alle meine Hoffnungen wurden grausam getäuscht; ich hatte eine Nebenbuhlerin und unglücklicherweise entdeckte ich es zu spät.

»Meine Unbesonnenheit, wie ich selbst eingestehen muss, war grenzenlos; sie hatte meine grenzenlose Liebe zu Grunde; aber sie konnte mir vielleicht meinen Geliebten wieder schenken.

»Ohne nach etwas zu fragen, führte ich das kühnste Unternehmen aus, das eine Frau je erdacht hat.

»Meine Nebenbuhlerin hatte aber den Nutzen davon, denn ohne Zweifel hatte der Treulose sie gesehen, und für sie hat der Undankbare mich verrathen.

»Entschuldigen Sie, Faublas, ich gehe zu weit! dies sind nicht die Ausdrücke, deren ich mich bedienen wollte, nicht dies wollte ich sagen.

»Sie haben mich treulos verlassen, eine andere Frau würde Sie vielleicht hassen; ich bitte Sie, um Ihre Achtung und um Ihre Freundschaft.«

»Oh, meine Freundin!« Ich warf mich zu ihren Füßen, ich wollte ihre Hand ergreifen; sie zog sie zurück.

»Ihre Freundschaft, mein Herr, ist mir höchst nothwendig.

»Stehen Sie auf und haben Sie die Güte, mich vollends anzuhören. Ihre erste Verkleidung hat andere neue nothwendig gemacht; wie viele unbesonnene Streiche sind aus diesen Verkleidungen gefolgt.

»Bis jetzt haben uns meine Vorsichtsmaßregeln gerettet; allein man wird das neugierige und böswillige Publikum nicht mehr lange hintergehen können.

»Der Zufall, der uns begünstigt hat, kann uns verderben; eine einzige vorlaute Äußerung unserer Leute, ein unvorhergesehenes Zusammentreffen, ein unüberlegtes Wort kann Alles machen.

»Ich hätte dies Alles wohl schon früher bedenken sollen, allein ich habe die Regeln der Klugheit ganz vergessen, denn ich glaubte mich glücklich. So lange eine süße Hoffnung mich täuschen konnte, habe ich vor der Gefahr meine Augen geschlossen; sie giengen mir erst auf, als die sonderbare Flucht der Frau du Cange mein Herz mit der schrecklichen Wahrheit erfüllte, dass ich nicht geliebt werde.

»Wäre ich doch nur in meinem Irrthum geblieben, ich stünde jetzt noch vor dem offenen Abgrunde, ohne denselben zu bemerken.«

Ich sah, dass die Marquise in einer wahrhaft trostlosen, schon an die Verzweiflung grenzenden Verfassung war. Sie vergoss einen Strom von Thränen. Ich warf mich ihr abermals zu Füßen.

»O, meine zärtliche Freundin, ich liebe Sie! ich liebe Sie!«

Sie erhob sich ungestüm und sagte mit von Thränen erstickter Stimme:

»Nein, nein! ich glaube es nicht mehr, ich kann es nicht mehr glauben. Warum wären Sie dann geflohen aus dem sicheren Asyl, den meine Liebe für Sie gefunden, wo ich dachte an Ihrer Seite manch' glückliche Stunde zu verleben.

»Stehen Sie auf, mein Herr, ich bitte Sie, stehen Sie auf und hören Sie mich an! früher oder später, ich sehe es voraus, wird unsere Verbindung ans Tageslicht kommen, die Menge wird meine Liebe ein galantes Abenteuer nennen, und dieses Abenteuer wird, wenn man einmal seine Einzelnheiten pikant findet, ein schreckliches Aufsehen erregen; es wird die Tagesgeschichte werden! der Marquis wird seine Schmach erfahren, er wird sie erfahren!

»Chevalier, ich bitte Sie nur um einen einzigen Freundschaftsdienst. Bieten Sie Alles auf, lassen Sie sich angelegen sein, der Rache des Herrn von B... zu entgehen; ich werde ihn ruhig erwarten, wenn ich es allein mit ihm zu thun habe.

»Faublas, verlassen Sie Paris, nehmen Sie meine Rivalin mit und seien sie ebenso glücklich, als Sie mir theuer sind, als ich unglücklich bin.«

»Wie? theuerste, verehrungswürdigste Freundin, ich sollte eine doppelte Abscheulichkeit begehen? ich sollte vor dem Marquis fliehen und die großherzigste aller Frauen seiner Wuth bloßstellen? Niemals! aber liebste Freundin, woher diese grausamen Besorgnisse?«

»Sie sind nur zu begründet, mein Herr; hören Sie, in welcher Verlegenheit ich bin! eine ganz einfache Begebenheit wird bald den Verdacht des Marquis erwecken und ihn auf Nachforschungen führen, deren Ergebnis für mich nur unheilvoll sein kann.

»Sie werden eben so wenig als ich, das fatale Abenteuer auf der Ottomane vergessen, jene sonderbare Scene, die uns beide so sehr geärgert hat. Von nun an wich ich jeder Annäherung meines Gemahls aus. Um diese Zeit wurden unsere Rendezvous immer häufiger und ich bin – ach, nicht mehr allein, ich fühle, dass – –«

Die Marquise sprach dies in einem so traurigen Tone, dass es mich in tiefster Seele erschütterte.

»Unglückliche Mutter! unglückseliges Kind!«

Mit diesen Worten sank sie auf das Canapee, auf dem ich neben ihr saß. Ihre Augen schlossen sich, ihr Kopf sank auf ihren Busen; aber die gleichförmige Bewegung ihres Busens, ihre rothen Lippen, ihr blühender, mit sanftem Glanze übergossener Teint, den ich durch das reizende Morgenkleid erblickte, dies Alles verkündigte mir, dass der Zustand der Schwäche, in dem sie sich befand, nicht gefährlich war.

Ich bemühte mich um sie und es gelang mir endlich, sie wieder ganz zum Leben zu bringen.

Mit den heiligsten Versicherungen meiner Liebe verließ ich das Boudoir, nicht ohne das Versprechen, mich am nächsten Tage zur bestimmten Zeit wieder daselbst einzufinden.

Seit zwei Stunden erschien ich mir übrigens als ein ganz anderer Mensch.

Welch' wichtige Neuigkeit hatte mir die Marquise eben mitgetheilt? wie schmeichelhaft ist dieselbe für die Eigenliebe eines Jünglings! bereits ist Faublas nicht mehr der Tollkopf, der den Damen unverschämt in's Gesicht sieht, einem leichten Wagen vorspringt, wie ein Blitz mitten zwei alten Basen hindurchspringt, die an einer Straßenecke plaudern, bald da einem Gaffer, der einem Taschenspieler zusieht, auf den Fuß tritt, bald dort einem Tölpel, der einen Maueranschlag liest, über den Haufen wirft und jedesmal wie toll über die possierlichen Folgen seiner Lebhaftigkeit lacht.

Des Chevaliers Betragen ist jetzt ernsthaft und gesetzt, und kündigt einen vernünftigen Mann an.

Aber hier wollen wir stehen bleiben und mit ernsthafter Miene fragen: kann er es mit seiner Liebe für Fräulein von Pontis wohl gar ernstlich gemeint haben?

Ich wünschte sehr, Rosambert bei mir anzutreffen, da ich vor Begierde brannte, ihm mein Glück mitzutheilen.

Jasmin sagte mir, der Graf sei wirklich da gewesen, habe aber nicht lange warten können. Eine plötzliche und sehr gefährliche Krankheit eines seiner Oheime, dessen einziger Erbe er war, nöthigte ihn, sich unverzüglich mitten in der Normandie auf einem Gute dieses Oheims zu vergraben.

Die Zeit seiner Rückkehr hatte er Jasmin nicht bestimmt voraussagen können; aber für den Fall, dass sein Exil längere Zeit dauern sollte, ließ er mich bitten einige Tage bei ihm zuzubringen, wenn ich den Muth dazu hatte und meine Liebesangelegenheiten es mir gestatteten.

Ach, meine Sophie, der Gedanke an Dich beschäftigte mich vollends den Rest dieses und den ganzen folgenden Tag, an dem ein nebliger Himmel mir anzeigte, dass ich die nächste Nacht das Glück haben werde. Dich zu sehen.

Ich speiste mit dem Baron zu Abend und gleich nachher, anstatt wieder auf mein Zimmer zu gehen, stieg ich hinunter und gieng zum Thore hinaus.

Der Schweizer, den ich endlich durch meine Geschenke gewonnen hatte, sah mich nicht fortgehen.

Ich begab mich hinter das Kloster in eine abgelegene Straße, wo Derneval mit zwei getreuen Bedienten bereits auf mich wartete. Die Strickleitern waren bald befestigt und bald umarmte ich die, welche ich anbetete.

Sophiens Tugend wusste das Gefühl der Ungeduld und der Sehnsucht, sie endlich aus diesem Orte zu befreien und als meine angebetete Gattin frei vor aller Welt die meine zu nennen, mit edler Sanftmuth zu unterdrücken.

Um vier Uhr morgens nahmen wir von einander Abschied. Jasmin erwartete mich mit einem Hausschlüssel und öffnete leise das Thor, sobald er das verabredete Signal hörte.

Auf diese Weise täuschte ich drei Monate lang die Wachsamkeit des Barons, der ruhig schlief.

Ebenso täuschte ich drei Monate lang auch die Eifersucht der Marquise von B..., welcher meine Tage gewidmet waren. Ich besuchte die Marquise oft bei ihrer Modehändlerin, einigemal in ihrem Hause zu Saint-Cloud, und zuweilen auch in ihrer Wohnung in Paris.

Ich kam zuletzt zum Stelldichein.

Meine schöne Freundin war sehr entzückt über meine Beständigkeit und lobte mein bescheidenes Betragen.

»Lieber Faublas, warum sind Sie nicht stets so ernst gewesen?«

»Haben Sie mich nicht zu diesem Verhalten selbst verwiesen?«

»Hätten Sie vielleicht meine Rivalin aufgegeben?«

Ich schwieg mehr verlegen als erschrocken.

Sie schien meine Verwirrung als Beleidigung anzusehen und ließ diesen Gegenstand fallen.

Ich verabschiedete mich, indem ich eine Verstimmung zur Schau trug.

Rosambert kam in den ersten Tagen des Oktobers zurück. Sein Oheim hatte ihm durch seinen Tod einen Überfluss von Reichthümern verschafft; die Bewohner der Normandie, ein von Natur streitsüchtiges Volk, hatten ihm allerhand Widerwärtigkeiten bereitet.

Als ich ihm von dem Zustande der Marquise erzählte, schien er überrascht, dann lächelte er und schüttelte mit ungläubiger Miene den Kopf.

»Mein Freund,« sagte er zu mir, »dies ist nicht ganz in Richtigkeit, die Angst der Marquise darf Sie, glaube ich, nicht sehr beunruhigen; ihr Zustand scheint mir zum wenigsten problematisch zu sein.

»Lieber Faublas, dieser erdichtete Zustand sollte Sie der Marquise wieder zuführen. Sie ihr erhalten und in Ihr Interesse ziehen. Im Ganzen ist aber der Kunstgriff nicht übel, wie der Erfolg zur Genüge zeigt.«

Rosambert's Gründe machten tiefen Eindruck auf mich, allein dennoch that es meinem Herzen weh, dass die süße Hoffnung, die ich seit mehreren Monaten gehegt, zu nichten werden sollte. Ich beschloss, mir Sicherheit zu verschaffen.

Justine kam zu mir, um mir zu sagen, ich solle mit Einbruch der Nacht zu ihrer Gebieterin kommen.

Ich begab mich hin.

Ich hatte nicht nöthig, am Thore zu klopfen, es war offen; allein der Schweizer sah mich, ich nannte Justine und gelangte, indem ich mich hinter einem Wagen, der vermuthlich gerade erst hereingekommen war, herumschlich, glücklich auf die verborgene Treppe.

Vor dem Boudoir angelangt, öffnete ich schnell die Thüre und trat hastig ein, war aber nicht wenig erstaunt, Herrn von B... laut im Schlafzimmer der Marquise sprechen zu hören. Im gleichen Augenblicke kam Justine, ohne Zweifel durch das Geräusch, das ich durch das Oeffnen der Thüre gemacht, erschreckt, schnell aus dem Schlafzimmer in das Boudoir.

Sie zog mich hastig hinaus, indem sie mir zuflüsterte:

»Im Augenblick kommt er herein!«

»Seht doch die Närrin!« rief Herr von B... hinten nach. »Sie läuft weg, wenn ich mit ihr rede.«

In diesem Augenblicke trat er in das Boudoir, während Justine in der einen Hand das Licht, womit sie mir leuchtete, in der anderen die halboffene Thüre hielt.

Das listige Kammermädchen schlug diese vollends zu, ohne eine Silbe zu antworten, schloss ab und gab mir ein Zeichen, dass ich auf sie warten solle.

»Haben Sie keine Furcht,« flüsterte sie mir zu, sobald sie bei mir nahe genug war, »Hieher kann er uns nicht verfolgen. Aber, mein Herr, dies Boudoir ist für Sie unglücklich!«

Hier lacht Justine laut auf, so dass es der Marquis hörte.

»Die Freche,« schrie er, »lacht noch über ihre Thorheit und schließt mir die Thüre vor der Nase zu.«

Mehr hörte ich nicht, denn Justine lachte noch viel lauter, als vorher, und war nicht im Stande, ihre tolle Fröhlichkeit zu bemeistern.

»Warte. Du kleine Schelmin, Du sollst mir für Deine Gebieterin bezahlen.«

Nun beginnt eine wahre Jagd, ich laufe hinter ihr her, und Justine, ein wenig lebhaft, machte eine schnelle, aber so linkische Bewegung, dass der neben ihr stehende Leuchter die ganze Treppe mit großem Geräusch hinunter stürzte.

»Was ist denn das?« rief der Marquis hinter der Thür.

»Hast Du einen Fehltritt gethan Justine?«

»Es ist nichts, gar nichts!« antwortete Justine mit zitternder Stimme.

Der Marquis klingelte seinen Leuten, und wir hörten, wie er ihnen befahl, sie sollten Justine zu Hilfe kommen, welche auf der verborgenen Treppe einen Fehltritt gethan habe.

Ich habe keinen Augenblick zu verlieren.

Mit Gefahr, den Hals zu brechen, stürzte ich mich die Treppe hinab. Ich bemerke in der Nähe eine Remise, in welcher ich mich, so gut ich konnte, verbarg.

Bereits wollte ich mein Versteck verlassen, um über den Hof zu kommen, als die Bedienten an Fuß der Treppe erschienen. Sie liefen mit Lichtern herbei, und ich hatte kaum noch Zeit, einen Kutschenschlag zu öffnen und hinein zu schlüpfen.

Von da aus sah ich, dass Justine denen, die ihr zu Hilfe eilten, den halben Weg ersparte.

Sie wurde wie im Triumphe von den Bedienten davongeführt, die voll Vergnügen, sie nach einem so schrecklichen Fall wohl und gesund zu finden, mit lauten Freuderufen die Haupttreppe hinaufgiengen.

Jetzt wollte ich den günstigen Augenblick benutzen, um zu entkommen; allein mein unglückliches Schicksal hatte mir für diesen Abend noch andere Unfälle bestimmt.

Ein Reitknecht, ein junger hübscher Mann, trennte sich auf einmal von der Truppe ab und nahte sich der Remise mit einem Lichte, das er auf den Tritt der Kutsche stellte, in der ich in der schrecklichsten Angst saß.

Er untersuchte nun einen Wagen, der neben dem meinigen stand, lief einigemal in der Remise auf und ab und setzte sich sodann auf den Kutschentritt, nachdem er sein Licht weggenommen und ausgelöscht hatte.

»Sie kann nicht mehr lange ausbleiben,« flüsterte er, »hier will ich warten.«

Als das Licht, welches mich sehr inkommodiert hatte, ausgelöscht war, wurde ich ruhiger.

Die Nacht war so dunkel, und es war ein so dichter Nebel, dass man kaum vier Schritte weit sehen konnte. Nach einer langen Viertelstunde kam die erwartete Person immer noch nicht, und ich wurde in meinem Versteck eben so ungeduldig, als der junge Mann, welcher auf seinem Kutschentritt leise vor sich hin fluchte. Endlich hörte ich ein leises Geräusch im Hofe, der Reitknecht hörte es auch, denn er stand auf und hustete leise.

Man antwortete ihm auf dieselbe Art, und es entstand ein leises Geflüster. »Gut,« antwortete er laut genug, dass ich es verstehen konnte. Bei diesen Worten verließ die Gestalt den Mann, der auf meinen Kutschenschlag zukam, ihn verschloss und das gleiche an dem andern Wagen that, der hinter dem meinigen stand.

»Jetzt,« sagte er vor sich hin, »kann ich Licht machen,« und gleich als hätte er es darauf abgesehen, mich zur Verzweiflung zu bringen, zündete er gerade vor der Remise eine große Laterne an, die den weniger breiten als tiefen Hof trotz des dichten Nebels stark genug beleuchtete, dass man Alles, was darin vorgieng, deutlich sehen konnte.

Jetzt konnte ich über meine mehr als traurige Lage nachdenken.

Aus einem Boudoir vertrieben, über eine geheime Treppe flüchtend, in einer Remise eingesperrt, wo ich mich in einem der Wagen verstecken musste.

Ich fror, und zum Unglück hatte ich noch nicht zu Nacht gespeist.

Der Geruch der Speisen, der sich aus der Küche bis zu mir verbreitete, ließ mich nur zu deutlich empfinden, welches Unglück es zuweilen sein kann, einen guten Appetit zu haben.

Doch schien mir meine Lage so traurig, dass der Hunger mich nicht am meisten beunruhigte.

Hätte man mich entdeckt, würde dem Marquis endlich ein Licht aufgegangen sein, und dann wäre ich seiner Rache preisgegeben.

O, mein Schutzengel! o, meine Sophie! Dich rief ich in diesem kritischen Augenblicke an.

Es ist wahr, dass ich, durch die Umstände verleitet, Dich seit einigen Stunden vergessen hatte, es ist wahr, dass ich erst im Unglück Dir meine Huldigung dargebracht habe; aber ehrt man den Gott weniger in seinem Herzen, dessen Verehrung man zuweilen vernachlässigt? und liegt es nicht in der Natur des Menschen, dass er hauptsächlich, wenn er in der Noth ist, die Gottheit anruft?

Ich hatte Zeit genug, an meine Sophie zu denken.

Ich hätte vielleicht entfliehen können, aber ich wagte keinen Versuch zu machen, weil die Bedienten unaufhörlich im Hofe auf und ab giengen, und die fatale Laterne alle meine Bewegungen beleuchtet hätte, und weil ich endlich in der trostlosen Voraussetzung, man habe mich entdeckt und lauere mir unterwegs auf, den Feind lieber erwarten, als aufsuchen wollte.

Der Feind zeigte sich nicht, und ich schlief endlich auf meinem Posten ein.

Um Mitternacht weckte mich das Geräusch des Hofthors, das in seinen Angeln knarrte.

Der Schweizer gieng mit seinem Schlüsselbund in der Hand an allen Schlössern herum und verriegelte alle Thüren.

Dies war der Augenblick, den ich fürchtete. Ich kam mit der bloßen Angst davon.

Der Schweizer gieng friedlich in seine Stube, ein Bedienter löschte die Laterne aus und Alles gieng zu Bette.

Die tiefe Stille, die bald darauf im ganzen Hotel herrschte, beruhigte mich vollkommen.

Es war ganz sicher, dass man nicht an mich dachte.

Ich musste mich daher beeilen, aus dem Wagen zu kommen. In den Zimmern war noch Licht, aber keines mehr in dem Hof, und der Nebel hatte sich noch nicht zerstreut.

Ich konnte endlich, ohne Furcht bemerkt zu werden, heraus zu steigen wagen, und es gelang mir vollkommen.

Wie groß war meine Freude, als ich das Pflaster des Hofes unter meinen Füßen spürte.

Einem jungen Pariser, der zum ersten Mal in seinem Leben eine Seereise macht, kann es nicht besser zu Muthe sein, wenn er in den Hafen einläuft. Ein kurzer Blick auf meine Lage kühlte indes meine Freude ab.

Alle Thüren waren verschlossen, und so hatte ich mir nur ein unbequemeres Gefängnis verschafft; ich hatte Hunger, ich fror und zu meinem größten Verdruss musste ich noch eine langweilige Uhr hören, die alle Viertelstunden schlug und mir mit ihrem eintönigen Gebrumm eine entsetzlich lange Nacht verkündigte.

Nach und nach erloschen die Kerzen in den Zimmern und überall herrschte eine tiefe Dunkelheit.

Endlich ist es drei Uhr morgens, ich höre eine Bewegung in dem Hofe, ein Mann, dessen Züge ich nicht erkennen kann, nähert sich sachte; ich ziehe mich eilends zurück.

Er öffnet den Schlag und steigt in den Wagen in demselben Augenblick, wo ich, von Neugierde übermannt, mich bescheiden hintenauf setze.

Nun war es eine Viertelstunde still, dann aber stampft der Unbekannte mit den Füßen, brach auf einmal in ein Schimpfen aus, dem ich mit Herzenslust beigestimmt hätte, über die Nacht, die Kälte, den Nebel und eine Person, die er saumselig nannte.

Er stieg vom Wagen herunter, gieng einigemal in der Remise auf und ab, kommt bis auf ein paar Schritte zu mir her, ich sehe von meinem erhabenen Sitze die Ungeduld und den Verdruss des armen Menschen und wäre meine Lage nicht so gefährlich gewesen, so würde mich dieselbe höchst belustigt haben.

Endlich ließ sich ein leises Geräusch vernehmen, das seine Aufmerksamkeit so wie die meinige fesselte.

Er stand auf und gieng dem Gegenstand seiner Liebe einige Schritte entgegen, sich bitter über das lange Warten in dieser kalten und nebligen Nacht beklagend.

Sie entschuldigte sich durch vielfache Einwendungen, und hauptsächlich durch den Beistand, der sie während der Nachttoilette ihrer Gebieterin beschäftigte und so ungewöhnlich lange aufhielt. Ich wusste nun, dass es Justinchen war, die leichtfertige Schöne, deren Sprache so anziehend und energisch war.

Sie sagte in versöhnlichem Tone: »Ich hoffe, mein lieber la Jennesse, dass Du nun nicht mehr mit mir grollen wirst.«

Also la Jennesse war der Glückliche!

Nun war meine Neugierde befriedigt. Ich versuchte abermals mich zurückzuziehen, zertrat aber einige Sandkörner, was ein leichtes Geräusch verursachte.

»Mein Gott, was ist das?« rief Justine.

»Ich hörte ein Geräusch, wir sind verrathen, sieh doch im Hofe nach.«

Voll Verwunderung steigt la Jennesse aus, geht an mir vorüber, ohne mich zu sehen, läuft aufs Gerathewohl im Hofe herum und hustet absichtlich.

Justine ist halbtodt vor Schrecken im Wagen geblieben. Ich trete an den Schlag:

»Ich bin's, mein liebes Kind, ich habe Alles gehört; schicke la Jennesse sogleich fort, gib mir etwas zu essen. Ich will Dir dann sagen, wie es mir ergangen ist.«

Mit diesen Worten machte ich mich wieder an meinen Posten. La Jennesse kommt zurück und versichert Justinen, dass sie sich getäuscht habe und niemand da sei.

Justine behauptet, sie habe ein Geräusch gehört, es müsse jemand im Hotel aufgestanden sein.

Sie lässt nicht früher nach, bis la Jennesse nachzusehen gieng. Sobald er uns von seiner Gegenwart befreit hatte, erklärte mir Justine, dass sie nicht wisse, wohin sie mich führen solle.

»Der Herr Marquis,« sagte sie, »ist heute Nacht bei der gnädigen Frau.«

»Wie, der Marquis?«

»Er hat es durchaus verlangt.«

»Ah! ah! aber Du hast doch ein eigenes Zimmer, Justinchen?«

»Ja, gnädiger Herr, aber es ist ganz nahe am Schlafgemach der Frau Marquise.«

»Gut, mein Kind, führe mich in Dein Zimmer.

»Schon sieben Stunden lang muss ich hier Hunger und Kälte ausstehen, willst Du mich denn umkommen lassen?«

»Ach, mein Herr Chevalier! ganz gewiss nicht! aber wenn die gnädige Frau –«

»Sei ohne Sorge, ich werde mich ganz ruhig verhalten.«

Justine nahm mich bei der Hand, und wir schlichen auf den Zehen, jedes Geräusch vermeidend, in ihr Zimmer.

Sie zündete eine Lampe an und machte Feuer. Sie wagte es nicht mich anzusehen, aber ihre niedergeschlagenen Augen schienen mich um Gnade zu bitten, und die Beschämung auf dem trotzigen Gesichtchen der kleinen Schelmin machte sie nur noch pikanter.

Ich war wirklich sehr erschöpft und ausgehungert, jetzt trat das Verlangen nach Speise mit erneuerter Stärke an mich heran.

»Gib mir doch etwas zu essen, Justinchen,« unterbrach ich das Stillschweigen, »ich sterbe ja vor Hunger.«

»Ich habe nichts, Herr von Faublas.«

»Wie, gar nichts?«

»Gar nichts, als zwei Töpfchen mit etwas Eingemachtem, die in meiner Kommode stehen.«

»Bringe sie her!«

»Hier sind sie.«

»Ich danke Dir, mein Kind! aber gib mir doch Brod.«

»Ich habe keines!«

»Nicht einmal einen Mundvoll?«

»Keine Brosame.«

»Und zu trinken?«

»Hier in diesem Krug ist frisches Wasser.«

Zwei Töpfchen mit etwas Eingemachtem und noch dazu das eiskalte Wasser.

»Nein, mein Kind, das ist für meinen gesunden Magen kein Nachtessen.«

Justinchen schien meine Noth sehr zu Herzen zu gehen, sie wurde sehr traurig gestimmt.

»Gnädiger Herr,« sagte endlich das verschmitzte Zöfchen, die zu erfahren wünschte, wie es zugegangen, dass ich sie um drei Uhr morgens belauscht habe; sie sagte deshalb:

»Ich glaube, Sie hätten Zeit gehabt, das Hofthor zu erreichen; ich weiß, dass Sie sehr flink und gewandt sind.« Ich unterbrach sie, um ihr ganz genau zu erzählen, was mir seit meinem Eintritt in's Hotel begegnet sei.

Sie konnte kaum das Lachen unterdrücken, als ich ihr von dem Boudoir erzählte. Ein erkünsteltes Mitleid zeigte sich auf ihrem boshaften Gesichtchen, als ich ihr meine Einkerkerung in der Kutsche erzählte.

Das arme Kind wurde aber plötzlich sehr ernst und sagte:

»Sie wissen nun, Herr von Faublas, dass ich mit la Jennesse einen vertrauten Umgang habe. Sie lachen, aber ich versichere Sie, dass er mich heiraten wird.«

»Ohne Zweifel, Justine.«

»Ich Unglückliche! ich sehe, dass Sie mir böse sind, und vielleicht wird mich meine Gebieterin morgen aus dem Hause schicken.«

»Wie, meinst Du, ich werde es ihr sagen?«

»Nein, gnädiger Herr, nicht dies; aber die Frau Marquise ist erzürnt, sie scheint zu merken, dass ich Sie zu lang begleitete. Als ich wieder in das Zimmer kam, fieng der Herr Marquis mich wegen meinen Sturz von der Treppe zu beklagen, aber die gnädige Frau sah mich finster an und sagte trocken:

»Sie hat dies verdient, sie hätte nur gleich hinabgehen sollen statt sich auf der Treppe zu amüsieren.«

»Seither hat sie nichts mehr zu mir gesagt, weil der Herr Marquis nicht von meiner Seite gewichen ist; aber sie war sehr übel gelaunt, als ich sie auskleiden half, und ich fürchte sehr, morgen...«

»Wenn sie Dich wegschickt, Justinchen, so komm zu mir; ich will Dir einen Platz suchen, aber nur unter einer Bedingung. Seit fünf Monaten behauptet die Marquise, sie befinde sich in einem andern Zustand.«

»Ja, gnädiger Herr, ich versichere Sie –«

»Wie Du mich schon mehrere Male versichert hast; jetzt aber besinne Dich wohl, ehe Du antwortest! Ich werde die Wahrheit früher oder später erfahren, und wenn Du mich hintergangen hast, so nehme ich mich Deiner nicht mehr an.«

»Aber gnädiger Herr, wenn ich es Ihnen sage –«

»Dann hast Du nichts zu fürchten, ich werde Dich nicht verraten. Also, Justine, steht es um Deine Gebieterin wirklich so?«

»Gnädiger Herr, sie hat es Ihnen gesagt, um Sie wieder zu versöhnen; und diese Nachricht hat Ihnen so viele Freude gemacht, dass sie sich unterdessen nicht entschließen konnte –

»Es wäre Unrecht, wenn Sie ihr deshalb zürnen wollten; sie hat es bloß getan, um Ihnen ein Vergnügen zu machen.«

»Wenn sie Dich wegschickt, Justine, so suche ich Dir einen Platz, indes nimm hier!«

Ich zwang sie, die zehn Thaler anzunehmen, die ich ihr bot.

Justine hatte die Gefälligkeit mir ihr Lager zu überlassen und da sie selbst auch müde und geängstigt war, so stieß sie in der Eile das Licht um, und in demselben Augenblick fing ein in der Nähe befindlicher Vorhang Feuer.

Ich stehe auf, reibe mir die Augen und sehe ihn brennen.

Justine war es, die aus voller Kehle schrie. Ihr Geschrei hatte mehrere Personen vor ihr Zimmer gezogen, und bereits erscholl der Ruf, sie solle das Zimmer öffnen.

Ich verlor beinahe den Kopf, als ich die Stimme meiner schönen Freundin und ihres Gemahls erkannte. Wohin sollte ich mich verbergen? Es ist kein Schrank da. Ich sehe nichts als den Kamin, in den ich mich hinaufdränge.

Justine bringt einen Stuhl, um mich hinaufsteigen zu lassen.

»Öffne doch, Justine!« ruft der Marquis.

»Das Feuer ist schon gelöscht,« antwortet diese, indem sie den Stuhl hält.

»Das ist alles eins!« schreit der Marquis; »mach die Tür auf, oder ich lasse sie einschlagen!«

»Ich muss mich doch vorher ankleiden,« stöhnte das Kammerkätzchen, immer noch den Stuhl haltend.

»Du kannst Dich morgen ankleiden,« antwortete der Marquis wütend.

Er gibt seinen Bedienten Befehl, die Türe einzubrechen.

In diesem Augenblick nehme ich einen Schwung und klettere hinauf. Justine zieht den Stuhl weg, springt an die Tür und öffnet sie.

Das Zimmer füllt sich mit Leuten, die alle zugleich fragen, antworten, raten, sich ängstigen, sich beruhigen und sich Glück wünschen, ohne einander zu hören.

Unter diesem Gewirr von Stimmen lässt sich die des Marquis deutlich unterscheiden:

»Die Unvorsichtige! bringt Feuer in mein Haus! setzt uns in solchen Schrecken! stört mich und meine Gemahlin in der Ruhe.«

Während ihr Gemahl so tobt, untersucht die Marquise das Zimmer und überzeugt sich, dass keine Gefahr mehr vorhanden ist.

»Alles gehe hinaus,« sagte sie.

Die Männer gehorchten zuerst; einige Frauen boten, vielleicht mehr aus Neugierde als aus Diensteifer, meiner schönen Freundin ihre Dienste an, die ihnen zum zweiten Mal befiehlt, wegzugehen.

»Wie kam das Feuer aus?« ruft der Marquis, rasend vor Zorn.

»Warten Sie doch einen Augenblick,« sagte die Marquise, »bis die Leute alle draußen sind!«

»Beim Teufel, Madame, wenn sie es auch hören! das ist ein schönes Geheimnis!«

»Aber, mein Herr, sehen Sie denn nicht, wie das Kind zittert? Meinen Sie denn, man zünde das Haus absichtlich über seinem Kopfe an?«

»Da sehen Sie, Madame, sehen Sie Ihr Justinchen! Sie lassen sie alles machen. Nun denn, so behaupte ich, dass sie ein dummes unbesonnenes Ding ist, das noch übel enden wird, das kann ich Ihnen sagen. Sehen Sie, ich habe immer an ihrer Physiognomie gesehen, dass sie nicht ganz bei Troste ist. Betrachten Sie nur dieses Gesicht! ist nicht etwas Verrücktes darin? merkt man nicht deutlich, dass sie heute oder morgen etwas ausführen kann, was uns alle in Gefahr bringen wird?«

»Nun, Justine,« redete die Marquise ein, »erzähle uns, was für ein Zufall –«

»Gnädige Frau, ich las.«

»Die rechte Zeit zum Lesen!« rief der Marquis; »hattest Du denn Deinen Kopf verloren?«

»Gnädige Frau,« versetzte Justine, »ich schlief ein, das Licht, das ich nicht gelöscht hatte und das zu nahe bei dem Bette stand...«

»Hat es angezündet,« fiel der Marquis abermals ein; »Welches Wunder! und was lasen Sie denn so schönes bei Nacht, Justinchen?«

»Gnädiger Herr,« antwortete das verschmitzte Zöfchen, »das Buch heißt: »Der erfüllte Physiognomist.« Dies beruhigte den Marquis, er fing an zu lachen.

»Der vollkommene Physiognomist, willst Du sagen.«

»Ja, gnädiger Herr, ja, der vollkommene Physiognomist.«

»Nicht wahr, Justinchen, das ist ein hübsches Buch?«

»Ja, gnädiger Herr, sehr hübsch, deswegen –«

»Und wo ist denn dies Buch?« fragte die Marquise.

Justine schwieg einen Augenblick und rief dann: »Ich finde es nicht, es ist offenbar verbrannt.«

»Was verbrannt!« rief der Marquis; »mein Buch verbrannt! Du hast mein Buch verbrannt!«

»Gnädiger Herr ...«

»Und wer erlaubt Dir, meine Bücher zu nehmen?«

»Aber, mein Herr!« sagte die Marquise, »Sie machen mich taub mit Ihrem Geschrei!«

»Wie! Madame, hören Sie denn nicht, die Nichtsnutzige verbrennt mein Buch!«

»Sie können ja ein anderes kaufen.«

»Ja, kaufen! kaufen! meinen Sie denn, man finde es, wie einen Roman? dies war vielleicht das einzige Exemplar auf der ganzen Welt, und das dumme Ding verbrennt es.«

»Nun, dann, mein Herr,« versetzte die Marquise lebhaft, »wenn Ihr Buch verbrannt ist und sich kein Exemplar mehr vorfindet, so können Sie es auch entbehren. Ich sehe hier kein großes Unglück.«

»Wahrhaftig, Madame, die Unwissenheit – hören Sie – ich gehe! ich müsste Ihnen sonst sagen – und Du, Mädchen, ich wiederhole Dir, dass Du ein dummes, närrisches, unbesonnenes Ding bist; ich habe es schon lange an Deiner Physiognomie gesehen!« So schimpfend, ging er hinaus.

In einem engen, schmutzigen Kamin hängend, wo ich mich auf der einen Seite mit Kopf und Schultern, auf der anderen mit den Beinen anlehnte und zur größeren Sicherheit auch die Arme ausgestreckt halten musste, befand ich mich in der unbequemsten Lage und fing an, müde zu werden. Dennoch musste ich mich gedulden und den Ausgang abwarten; ich strengte meine Kräfte aufs neue an und lauschte begierig.

»Endlich ist er fort!« begann die Marquise. »Wir sind allein; ich hoffe, Mädchen, dass Du jetzt die Güte haben wirst, mir Deinen Fall von gestern Abend und das Geräusch, das ich seit mehr als zwei Stunden bei Dir höre, zu erklären; Du siehst ein, dass ich an Deine feinen Geschichten mit dem verbrannten Buch nicht glaube, und ich schmeichle mir, dass Du jetzt gestehst, wie das Feuer eigentlich ausgebrochen ist.

»Gnädige Frau –«

»Antworte, Mädchen! es war jemand bei Dir?«

»Gnädige Frau, ich schwöre!«

»Justine, Du bist im Begriffe, eine Lüge zu sagen.«

»Gnädigste Frau Marquise, ich las, wie ich schon die Ehre hatte, zu sagen.«

»Du lügst, Mädchen! das Buch, von dem Du sprachst, ist in meinem Kabinett.«

»Sie husten, gnädige Frau, sie werden sich verkühlen.«

»Ja, ich werde mich verkühlen, es ist wahr. Ich sehe, dass ich heute die Wahrheit nicht erfahren kann. Ich gehe jetzt; morgen werde ich ohne Zweifel glücklicher sein, oder doch (hier kehrte sie wieder um) ich muss vorher das Feuer auslöschen, damit kein Unglück geschieht.«

Mit diesen Worten nahm sie ein Geschirr mit Wasser, das sie eben vorfand, und schüttete es über die brennenden Kohlen aus. Sogleich erhob sich ein dicker Rauch, der mir durch Mund, Nase und in die Augen ging, so dass ich fast erstickte. Meine Kräfte verließen mich, ich stürzte herunter. Die Marquise schauderte zurück und war höchlich erstaunt, als ich unter dem Kamin hervorkam. Wir sehen uns alle drei schweigend an.

»Mädchen,« sagte endlich die Marquise zu Justine, ihr einen zornigen Blick zuwerfend, »es war also niemand bei Dir!« dann wandte sie sich mit sanfter, vorwurfsvoller Stimme an mich:

»Faublas! Faublas!«

Justine warf sich ihrer Gebieterin zu Füßen.

»Gnädige Frau, ich versichere, bei meinem Leben –«

»Wie, Mädchen, Du wagst es noch?«

Während die arme Justine ihre Gebieterin zu erweichen und zu überzeugen suchte, zog mich der reizende Anzug der letzteren an. Ein leichter, unordentlich umgeworfener Mantel bedeckte nachlässig einen wunderbar geformten Körper. Ihre langen schwarzen Haare flossen ungebunden über ihre alabasterweißen Schultern herab und hoben die blendende Weiße ihres Halses noch mehr hervor. Wie schön war meine Freundin in diesem Augenblick! ich ergriff ihre Hände und küsste sie.

»Liebste Mama, der Schein trügt sehr oft.«

»Ach, Faublas! wem haben Sie mich aufgeopfert?«

»Niemanden; nur ein Wort und meine Rechtfertigung wird Ihnen klar werden.«

Justine wollte mich mit ihrem Zeugnis unterstützen.

»Du bist sehr verwegen!« sagte die Marquise.

»Ja, Sie haben Recht, sehr verwegen!« schrie der Marquis, der des langen Wartens müde, seine Gemahlin abzuholen kam.

Schnell entschlossen, bläst die Marquise das Licht aus, küsst mich auf die Stirne und sagt ganz leise:

»Einen Augenblick Geduld, Faublas, ich bin gleich wieder bei Ihnen.« Dann mit lauter Stimme zu Justine:

»Hinaus, Mädchen, du gehst mit mir.«

Justine, die ihre Leute kennt, ist mit einem Sprung vor der Tür des Zimmers. Die Marquise geht hinaus, treibt ihren Gemahl, der eben eintreten will, zurück, schlägt die Türe zu, verschließt sie doppelt, zieht den Schlüssel ab, und ich bin aufs neue im Gefängnis.


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