Jean-Baptiste Louvet de Couvray
Leben und Abenteuer des Chevalier Faublas – Zweiter Band
Jean-Baptiste Louvet de Couvray

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Drittes Buch

I. Kapitel.

Jasmin, den ich, als ich nach Hause kam, verhörte, gestand, er habe gestern der Versuchung des Andayer Liqueurs nicht widerstehen können. Er hatte ihn so gut gefunden, dass er zu wiederholten Malen davon getrunken hatte. Die um ein Viertel geleerte Flasche hatte er mit gewöhnlichem Wasser wieder angefüllt und war dann ausgegangen, um meine Aufträge zu besorgen.

Ich wunderte mich nicht mehr, dass er Alles verkehrt gemacht hatte, und verzieh ihm seine Unredlichkeit wegen seines aufrichtigen Geständnisses.

Ich vergaß indes nicht, was ich Sophien versprach, und da es sehr wahrscheinlich war, dass die Marquise, erstaunt darüber, mich nicht gesehen zu haben, zu mir schicken würde, so schärfte ich Jasmin ein, Niemand zu mir einzulassen, als meinen Vater, Rosambert und meinen Hofmeister.

»Gnädiger Herr, wenn aber Fräulein Justine kommt?«

»So wirst Du ihr sagen, dass ich nicht da sei.«

»Wenn Frau Dutour? der Vicomte von Florville? –«

»Ich bin nicht zu Hause.«

»Ah, ah!«

»Bleib in meinem Vorzimmer, damit Niemand hereindringt, und schicke zu meinem Maler, er möchte sogleich zu mir kommen.«

Der Künstler kam Nachmittags und fieng mein Bild an; den andern Morgen gieng er mit mir ins Kloster, um das meiner geliebten Sophie zu entwerfen. Bei diesen Sitzungen kam die Unterhaltung auf die schöne Dorothea. Sophie begriff nicht, wie ein junger Mann in Gegenwart seiner Geliebten eine andere Frau ansehen und schön finden könne; ich glaubte mich vollkommen durch die Antwort zu rechtfertigen, dass eine Nonne in meinen Augen keinem Geschlechte angehöre, und dass ich von Dorothea nichts anderes gesagt habe, als was ich von einer schönen Bildsäule auch hätte sagen können.

Allein Adelheid, die sich entschieden auf die feindliche Partei geschlagen, wendete sogleich ein, dass Diejenige, die unsere traute Unterhaltung gestört, mir nothwendig entsetzlich hässlich hätte erscheinen sollen.

Ich erhielt keine Gnade, als bis ich ernstlich reuevoll erklärte, dass eine unbesonnene Äußerung noch kein Vergehen sei, und dass überdies eine für Dorothea schmeichelhafte Bemerkung auf keine Weise Sophie beunruhigen dürfe, deren Reize, wie die Leidenschaft, die sie mir einflößt, über jede Art von Vergleichung erhaben seien. Jetzt erst war Sophie getröstet und schenkte mir ihre ganze Zärtlichkeit wieder; jetzt sagte auch meine Schwester, um mir das ganze Vertrauen zu beweisen:

»Glauben Sie mir, lieber Bruder, dass man es nicht bemerkt hat, wie Sie meiner Freundin die Hand küssten; denn unsere Klavierlehrerin, die gestern mehrere Male zu Sophie und mir kam und sogar zwei- oder dreimal von Ihnen sprach, hat kein Wort gesagt, woraus man schließen könnte, dass sie das mindeste bemerkt hätte.«

So waren wir alle drei wieder ausgesöhnt und beschäftigten uns mehrere Tage hinter einander mit Sophien's Bildnis.

Man weiß, mit welcher Geduld sich Künstler gegen Liebende waffnen müssen; anfangs zankte ich mit dem Maler, weil das reizende Porträt nicht genug schnell fertig wurde, und bald beklagte ich mich, dass er es zu schnell vollendet hätte.

Mein Porträt war zuerst fertig; am vierten Tage hatte ich das Vergnügen es Sophien anzubieten. Ich bekam das ihre erst fünf Tage nachher.

Indes erschienen Justine und Frau Dutour täglich mehrere Male an meiner Thüre und wurden immer kurz mit der beunruhigenden Antwort abgefertigt:

»Er ist nicht zu Hause.«

Der Graf staunte über meine plötzliche Bekehrung, jedoch behauptete er, dieselbe werde von keiner Dauer sein.

»Rosambert, ich habe mein Ehrenwort gegeben!«

»Ja, aber glauben Sie, die Marquise werde ruhig bleiben? sie hat bis jetzt klug abgemessene und wenig entschiedene Schritte gethan. Trauen Sie dieser scheinbaren Ruhe nicht, sie verbirgt irgend eine geheime Absicht. Die Marquise sinnt im Geheimen auf einen großen Streich, zweifeln Sie nicht daran, es wird das Erwachen des Löwen sein.«

Eines Morgens gieng ich wie gewöhnlich ins Kloster; ich bemerkte, dass man mir nachschlich. Ein ziemlich gut gekleideter Mann hielt sich in einiger Entfernung von mir und richtete seinen Gang nach dem meinigen ein und schien zu fürchten, mich aus den Augen zu verlieren; als ich aus dem Kloster gieng, sah ich ihn noch mir folgen.

Rosambert, dem ich meinen Verdacht mittheilte, schickte mir zwei seiner Leute, um mich zu begleiten.

Ich befahl ihnen, sich jeder an eine Ecke der Straße zu stellen, in der sich das Kloster befand.

Eine geheime Ahnung schien mir das Unglück zu verkünden, das unserer Liebe drohte.

An diesem Tage drang ich mehr als gewöhnlich in Sophie, mir zu sagen, welche so wichtige Angelegenheiten ihren Vater entfernt hielten, auf welche Zeit die Rückkehr des Herrn von Pontis bestimmt sei, und welche Mittel ich zu ergreifen hätte, um von ihm mein hübsches Bäschen zu erhalten.

Nachdem sich Sophie noch einige Augenblicke besonnen hatte, ergriff sie die Hand meiner Schwester und die meinige und sagte:

»Meine liebe Adelheid, Du, in der ich eine Schwester gefunden, eine wahre und zärtliche Freundin; und Sie, theuerer Freund, der mir die Verbannung, in der ich schmachte, lieb gewinnen ließen. Es ist Zeit, dass ich Euch ein wichtiges Geheimnis mittheile, das bloß Frau Münch weiß, und das unter uns bleiben muss. Ich bin keine Französin; der Name, den ich führe, ist ein angenommener. Mein Vater, der Baron von Görlitz, besitzt bedeutende Güter in Deutschland, seinem Vaterlande, wo meine Familie sehr angesehen ist. Ich weiß nicht, warum man mich des Glückes beraubt hat, in ihrem Schoße zu leben; aber es ist bald acht Jahre, seitdem ich in Frankreich bin. Nicht mein Vater hat mich hierher geführt. Ein in seinem Dienste ergrauter französischer Diener hat mit der Zeit die Rolle eines Mannes von Stand spielen gelernt; er lässt sich Herr von Pontis nennen; er sagte, er sei mein Vater, und ließ mich unter der Aufsicht der Frau Münch in diesem Kloster, wo er seitdem regelmäßig jedes halbe Jahr sich nach mir zu erkundigen kommt, um meine Pension zu bezahlen. Seit acht Jahren habe ich zweimal das Glück gehabt, meinen Vater zu umarmen. Wenn ich Frau Münch frage, warum man mich in Frankreich erzogen hat, warum der Baron von Görlitz mir seinen Namen verweigere, warum er so selten seine Tochter zu besuchen kommt, dann antwortet sie ruhig, dass diese Vorsichtsmaßregeln nothwendig seien, und dass ich eines Tages die Weisheit meines Vaters segnen werde, der mich zärtlich liebe.

»Seit einigen Monaten wiederholt sie mir oft, der Augenblick meiner Rückkehr nach Deutschland stehe bevor.

»Ach, ich weiß nicht mehr, ob mein Herz es wünscht! wie süß wäre es mir, mein Vaterland, meine Familie und meinen Vater wiederzusehen! aber Adelheid, Faublas, wie grausam, von Euch getrennt zu werden!«

»Getrennt! nie, Sophie, nie! reisen Sie morgen nach Deutschland, und morgen schon werde ich Ihnen nachfolgen. Ich werde bei dem Baron um Sie anhalten; wenn er seine Tochter liebt, so wird er sich unserem Glück nicht entgegenstellen.«

Wie köstlich verlängerte sich die Unterhaltung, welche auf die vertrauliche Mittheilung Sophiens folgte!

Adelheid wurde es endlich müde, uns schon zwanzigmal wiederholt zu haben, dass es mehr als zehn Uhr sei, dass Frau Münch uns überraschen würde, sie zwang Sophie, mich zu verlassen.

Ich fühlte mein Herz verzagen, als ich meine Schwester umarmte, und fühlte es beklommen schlagen, als ich Sophie »Lebewohl« sagte.

Als ich das Kloster verließ, bemerkte ich meinen Argus von gestern, der in einer nahen Allee als Schildwache stand.

Als er mich in einiger Entfernung sah, verließ er sein Versteck, offenbar, um mich bis zu meiner Wohnung zu beobachten.

Ich ließ ihn auf einige Schritte nahe kommen und wandte mich plötzlich gegen ihn um. Er erwartete mich nicht; aber wenn er schnell lief, so lief ich noch schneller. An der Straßenecke fasste ich ihn beim Bein in demselben Augenblick, wo ihn einer meiner aufgestellten Leute am Kragen packte.

Der Flüchtling verlor das Gleichgewicht und fiel zur Erde, er schrie aus Leibeskräften und suchte die Volksmenge, die sich zusammengerottet hatte, für sich zu interessieren. Schon schickten sich einige, an mir einen schlimmen Handel zu machen, als ich rief:

»Meine Herren, es ist ein Spion.«

Bei diesem Worte wurde mein Gegner von allen Seiten mit Verachtung behandelt und seine Vertheidiger verließen ihn; er sah kein anderes Mittel, sich von den Stockstreichen, womit sie ihm drohten, zu befreien, als indem er mir gestand, wer ihn für sein Aufpassen bezahle; er nannte Frau Dutour.

Ich entließ ihn mit der Ermahnung, sich nicht mehr blicken zu lassen.

Am andern Tage führte mich mein Vater in aller Früh auf ein Landhaus, acht Stunden von Paris, das er erst gekauft hatte und dessen Einrichtung er, wie er sagte, mit mir in Augenschein nehmen wollte. Wir giengen in den Garten, welcher mir sehr hübsch vorkam, und besuchten die Zimmer, die ich sehr bequem und hell fand, deren Fenster aber vergittert waren; dies behagte mir nicht; besonders gefiel mir eines seiner angenehmen Lage wegen und deshalb theilte ich dem Baron meine Verwunderung über diese Sonderbarkeit mit. Er antwortete kalt:

»Diese Fenster sind mit Gitter versehen, weil das Zimmer von nun an Ihre Wohnung sein wird.«

»Die meine, habe ich recht gehört, mein Vater?«

»Ja, mein Sohn, ich hatte dieses Haus gekauft, um die schöne Jahreszeit darin zu verbringen; Sie haben mich gezwungen aus diesem Lusthaus ein Gefängnis zu machen.«

»Ein Gefängnis?«

»Sie haben mich betrogen, mein Sohn. Ich sperre hier nicht den Liebhaber der Marquise oder Coralien's ein, sondern den Verführer Sophiens. Während ich mich über Ihren Gehorsam freute, haben Sie mein Vertrauen missbraucht und sind täglich im Kloster gewesen. Jemand, der sich offenbar um Ihre Aufführung bekümmert, hat mich davon benachrichtigt. Lesen Sie dieses anonyme Schreiben.«

»Der Herr Baron von Faublas wird hiermit benachrichtigt, dass sein Sohn alle Morgen von acht bis zehn Uhr im Kloster zubringt, um Fräulein von Faublas und Fräulein von Pontis zu besuchen.«

»Ich weiß,« fuhr mein Vater fort, »dass ein anonymes Schreiben keine Beachtung verdient. Ich würde Sie auch auf eine so verächtliche Anklage hin nicht verurtheilt haben; allein da man eine Sache dieser Art nicht vernachlässigen darf, so habe ich mich selbst erkundigt und von der Wahrheit dieses Schreibens überzeugt.

»Mein Herr, wenn Sie Sophie nicht lieben, so sind Sie ein feiger, ein abscheulicher Verführer; diese häusliche Gefangenschaft ist für Sie eine zu leichte Strafe; wenn Sie Fräulein Pontis aber lieben, so muss ich darauf bedacht sein, Sie von dieser Leidenschaft zu heilen, denn ich billige dieselbe nicht. Sie werden dieses Zimmer nicht verlassen. Drei Männer, welche ich hier als Ihre Bedienten zurücklasse, werden zugleich Ihre Wächter sein; sie wissen, welche Besuche ich Ihnen anzunehmen erlaube.«

Das Erstaunen, welches mir diese Erklärung verursachte, lässt sich nur mit dem Schmerz vergleichen, der sich meiner bemächtigte.

Ich hatte anfangs, ohne ein Wort zu sagen, zugehört; jetzt gab ich mir vergebliche Mühe, um gemäßigt zu antworten.

»Dürfte ich Sie wohl fragen, mein Vater, warum Sie meine Liebe zu Sophie nicht billigen?«

»Weil der Vater dieser jungen Dame nichts davon weiß, weil er Ihnen vielleicht seine Tochter nicht geben würde, und endlich, weil ich Ihnen eine andere Frau bestimmt habe.«

»Und wer ist denn diese Unglückliche, die Sie für mich gewählt haben, mein Vater?«

»Herr Duportail ist mein treuester, mein liebster Freund, er schätzt Sie.«

»Ah! also Dorliska soll ich heiraten, eine verlorene Tochter; vielleicht ist sie schon todt.«

»Warum todt? Ich hoffe, dass mein Freund seine Tochter wiederfinden wird; der Himmel ist diesem unglücklichen Vater diesen Trost schuldig. Lowzinski stellt neue Nachforschungen an, und Sie, mein Sohn, wenn die Abwesenheit und die Zeit, die alle thörichten Leidenschaften heilen, auch der Ihrigen ein Ende gemacht haben werden, dann sollen Sie Ihre Reisen antreten und nach Polen gehen.«

»Ja! und dort werde ich wie ein irrender Ritter an allen Thüren anklopfen, um ein Mädchen zu suchen, das ich heiraten soll!«

»Mein Sohn, Ihre Antworten werden unhöflich.«

»Verzeihen Sie, mein Vater, ich bitte tausendmal um Verzeihung. Das Übermaß meines Schmerzes –«

»Mein Sohn, ich habe Ihnen bloß ein Wort noch zu sagen. Bereiten Sie sich vor, das lange Unglück eines Edelmannes wieder gut zu machen, für den meine Freundschaft keine leere Phrase sein darf.«

»Mein Vater, ich werde Lowzinski mein Wort halten, ich will nöthigenfalls bis ans Ende der Welt gehen, seine Dorliska aufzusuchen.«

»Und Sie entsagen dem Fräulein von Pontis?«

»Lieber tausendmal sterben!«

»Junger Mensch!«

»Mein Vater, ich werde nicht eher nach Polen reisen, als bis ich Sophiens Hand erhalten haben werde. Ich schwöre es bei Ihnen, bei ihr, bei allen Heiligen.«

»Haben Sie Achtung vor mir, mein Sohn, oder fürchten Sie –«

»Was habe ich zu fürchten, ich werde von Sophie getrennt, was kann mir Schlimmeres begegnen? tödten Sie mich, Sie werden mir einen Gefallen erweisen.«

Der Baron gieng wüthend hinaus, oder wollte er mich vielleicht nicht seine Bewegung sehen lassen, kurz, er schloss heftig die Thür und ließ mich in meinem Gefängnis.

Welch' peinliche Gedanken bestürmten mich in diesem schrecklichen Augenblicke! Die Freiheit zu verlieren, würde mir wenig dagegen erschienen sein; meine Sophie zu verlieren, das brächte mich zur Verzweiflung. Meine Abwesenheit möchte ihre Eifersucht erwecken. Sie wird mich treulos und meineidig finden, wenn ihr Vater sie abzuholen käme, und sie sich dann beeilen wird, ein Land zu verlassen, das meine Treulosigkeit ihr verabscheuungswert erscheinen ließe!

Wenn Fräulein von Görlitz am Wiener Hofe erscheinen wird, in ihrer Anmuth und im Glanze ihrer ganzen Schönheit, unter all' den jungen Kavalieren einen Gemahl wählen wird, wenn sie mich verriethe, indem sie sich zu rächen meinte, Fräulein von Pontis in den Armen eines Anderen!

Oh! nein, niemals. Sophie wird verzweifeln, aber mir treu bleiben! Wenn aber ihr grausamer Vater sie zwingen möchte, eine ihr verhasste Verbindung einzugehen, während der meine, der nicht weniger unerbittlich ist, mich gefangen hält, in einem ganz unbekannten Dorfe seinen Sohn vor Schmerz und Ungewissheit sterben lässt!

Grausame Marquise, durch Dich hat mein Vater wahrscheinlich meine unselige Liebe erfahren! es ist die eifersüchtige Wuth, die dieses abscheuliche Schreiben diktiert hat! Wie theuer lässt Du mich die Vergnügungen bezahlen, die Du mir gewährt! Wenn Deine Rache zum mindesten nur mich allein getroffen hätte.

Es ist wahr, ich habe Frau von B... aufgeopfert, und wenn meine Vergehungen gegen sie ihren Hass auch nicht vollkommen rechtfertigen, so machen sie ihn doch erklärlich. Aber die Ungerechtigkeit des Barons kann ich nicht begreifen! er verlangt, ich soll mein Glück seiner Freundschaft für Herrn Duportail aufopfern.

Er bestraft eine erlaubte Neigung wie ein unlauteres Verbrechen, er trennt mich von Allem, was mir theuer ist! er entreißt mir Sophie! er sperrt mich wie einen Verbrecher ein! er will meinen Tod.

Nun wohl, es wird nicht lange dauern und ich werde ihn befriedigen. Sie haben Alles beseitigt, womit ich mich der Last meines Lebens entledigen könnte; aber wenn sie mich auch hindern können, einen Angriff auf mein Leben zu machen, so können sie mich doch nicht zwingen, für die Erhaltung desselben zu sorgen. Sie sollen mir nur etwas zu essen bringen! ich werfe die Schüsseln zum Fenster hinaus, alles muss durch die verfluchten Gitter hindurch in den Garten fliegen.

Ich beharrte auf diesem rasenden Entschluss, bis nach mehrstündigem Fasten ein lebhafter Appetit mich die Sache vernünftiger betrachten ließ. Ein Unglücklicher, der nüchtern ist, denkt ganz anders, als ein Unglücklicher, der eine gute Mahlzeit gehalten hat.

Ich bemächtigte mich daher der Speisen, die man mir zum Mittagmahle gebracht hatte, und sagte zu mir selbst, während ich mit wahrem Heißhunger aß: »Wahrlich! da hätte ich eine schöne Dummheit begangen! und wer würde Sophie nach meinem Tode trösten? wer würde ihr sagen, dass der letzte Schlag meines Herzens ein Seufzer der Liebe für sie war? nein, ich muss essen, um zu leben! um Sophie wiederzusehen, anzubeten und zu heiraten.«

Am dritten Tage meiner Haft schickte mir der Baron meine Bücher, meine mathematischen Instrumente und mein Klavier.

Ich dankte zuerst für die väterliche Güte, die mir in meiner Zurückgezogenheit einige Zerstreuung verschaffte; allein der Gedanke, dass diese Anstalten zur Erleichterung meiner Gefangenschaft auf eine Dauer derselben deuteten, erregte in mir das lebhafte Verlangen, ihr schnell ein Ende zu machen.

Während man diese neuen Möbel in mein Zimmer schaffte, machte ich einen Versuch, zu entfliehen, der aber an der Wachsamkeit meiner Hüter scheiterte.

Nachdem ich mein Gefängnis einer genauen Untersuchung unterzogen und die zu seiner Sicherheit getroffenen Vorkehrungen prüfte, überzeugte ich mich bald, dass nicht nur die nothwendigsten, sondern auch sehr unnöthige Maßregeln in Anwendung gebracht wurden.

Ich hatte in meiner Börse drei Stücke von diesem allmächtigen Metalle, welches die Thore öffnet und alle Gitter sprengt. Ich bot meinen Gefangenwärtern meine zweiundsiebenzig Livres, ich bemühte mich, sie durch die schönsten Worte zu gewinnen: man schlug mein Geld aus, man verwarf meine Versprechungen. Ich weiß es nicht, wie mein Vater es angestellt hat, aber er hatte drei unbestechliche Bediente gefunden.

Ich wurde bald von den Besuchen derer beehrt, die mir mein Vater zu empfangen erlaubte. Soll ich von einem zurückgezogenen Kaufmanne sprechen, der jeden Augenblick sein Gewissen zitierte; von einem Edelmann dieses kleinen Ortes, der mir hundertmal den Namen seiner Hunde und das Alter seiner Stute wiederholte, ehe er mir sagte, dass er eine Frau und Kinder habe; von einem Mönche mit kupferrothen Wangen, der gern einen mittelmäßigen Wein trank, obschon er den besseren vorzog; von seinem Kameraden, der in der ganzen Gegend durch seine Geschicklichkeit, ein Huhn zu zerlegen, berühmt war, und es immer so einzurichten wusste, dass das beste Stück in einem Winkel der Platte übersehen und ihm gelassen wurde! lassen wir diese Leute, deren sich in jedem Winkel welche finden, und erwähnen wir nur vier sehr außergewöhnliche Männer, die ein eigenthümlicher Zufall in diesem kleinen Dorfe von B... zusammenführte.

Es waren ein Pfarrer, der Geist hatte; ein Professor, der nur aus Zerstreuung pedantisch war und der sehr oft aus bloßer Laune grob war! Ein alter Militär, der nicht immer fluchte, und endlich ein alter Advokat, der zuweilen die Wahrheit sagte.

Welche Gesellschaft für den Freund Rosambert's, für den Zögling der Marquise! welche Gesellschaft für den Geliebten Sophien's! ich fühlte mich weniger unglücklich, wenn ich allein war; dann, meine angebetete Sophie, unterhielt ich mich im Geiste mit Dir.

Die Augen auf Dein Bild gerichtet, glaubte ich mit Dir zu sprechen, indem ich Dein Bild bewunderte. Angebetetes Bild, wie viele Küsse hast Du erhalten! wie oft lagst Du auf meinem Herzen und hörtest sein stürmisches Pochen der Liebe!

Ich muss jedoch gestehen, dass auch die schönen Wissenschaften viel dazu beitragen, meine langweilige Einsamkeit zu erheitern.

Um mich aber hie und da der schmerzlichen und zugleich so süßen Erinnerung an meine theuere Sophie zu entreißen, musste ich mich in das Studium unser gefeiertesten Talente und der glänzendsten Geister vertiefen, auf die unsere Literatur stolz sein kann.

Ich las Voltaire, Gesner und Delisle, Crébillon Sohn und La-Clos, Duclos und Marmontel, Moncrif und Florian. Aber wenn am Ende eines auf diese Art glücklich verkürzten Tages mein Geist und mein Herz gleicher Ruhe bedurften; wenn ich einmal den süßen Zauber brechen, auf einmal und zu gleicher Zeit Wissenschaften und Liebe vergessen musste; dann, liebe Sophie, dann diente unsere Literatur, die das Übel angestiftet hatte, auch dazu, es wieder gut zu machen.

Ich schmachtete seit acht Tagen in meinem Gefängnisse.

Jede Verbindung nach außen war mir abgeschlossen. Ich bekam gar keinen Brief; man erlaubte mir auch niemandem zu schreiben.

Der Baron kam mich zu besuchen; ich versuchte ihn zu erweichen; er blieb unerbittlich.

Vier Tage verflossen seit dem Besuche meines Vaters.

Mitten in der Nacht auf den fünften wurde ich durch ein dumpfes Geräusch geweckt, welches aus dem Garten zu kommen schien.

Ich eilte mein Fenster zu öffnen, unter welchem ich eine Leiter angelehnt sah. Vier Männer, welche unten standen, schienen sich zu berathen. Einer von ihnen stieg kühn hinauf, er hielt eine Feile in der Hand.

»Sind Sie der Chevalier von Faublas?«

»Ja, mein Herr!«

»Kleiden Sie sich rasch an, während ich so viel als möglich geräuschlos eine Stange aus dem Gitter herausheben werde. Sollten Ihre Wächter mich hören und auf Sie zukommen, so zeigen Sie ihnen diese zwei Pistolen, die ich Ihnen hier gebe; das wird genügen, um sie zurückzuhalten.

»Beeilen Sie sich. Ihr Freund erwartet Sie in einem Postwagen, bei der kleinen Thüre des Gartens.«

»Mein Freund?«

»Ja, mein Herr, der Graf von Rosambert.«

»Welch' ein Dienst!«

»Still! kleiden Sie sich rasch an!«

Man musste mir dies nicht zum drittenmale wiederholen, obzwar ich gar nichts sah, denn es herrschte eine vollständige Finsternis um mich herum, so suchte ich doch meine Kleider zusammen, und nie war eine Toilette rascher beendet. Indes arbeitete mein Befreier eifrig an dem Gitter.

Ich glaubte den Himmel offen, als eine Stange los war. Ich steckte zuerst ein Bein hinaus, dann das andere, hielt mich an dem Gitter, ich setzte die Fußspitze auf die Leiter; so schmal auch meine Person war so hatte ich doch große Mühe durch die Gitteröffnung hindurchzukommen. Endlich gelang es mir dennoch.

Sobald ich draußen war und mich mitten auf der Leiter sah, zählte ich nicht mehr lange, wie viele Sprossen ich noch unter mir halte, sondern sprang frischweg auf den weichen Boden.

Wir erreichten in raschem Laufe das kleine Gartenthor, das mein Befreier, ich weiß nicht wie, geöffnet hatte. Es blieb nur noch ein kleiner Straßengraben übrig, den ich mit einem Sprunge nahm.

Ich stürzte mich in die Postchaise. Ich glaubte, dem Grafen Rosambert um den Hals zu fallen; es war der Vicomte von Florville, der mich umarmte.

Während ich stumm vor Erstaunen blieb, fuhr der Postillon auf's eiligste davon; meine vier Befreier stiegen schnell wieder zu Pferd und folgten in gestrecktem Galopp dem rasch dahinrollenden Wagen.

Ich antwortete nichts auf die Fragen, womit mich die Marquise überhäufte.

»Chevalier,« sagte sie endlich, »es ist wohl das Übermaß Ihrer Dankbarkeit, der ich dieses Stillschweigen zuschreiben soll.«

»Madame!«

»Ach! ich weiß es wohl, dass ich für Sie nur noch – Madame – bin; und dennoch stelle ich mich bloß, ich setze mich Allem aus, um Ihrer Gefangenschaft ein Ende zu machen.«

»Meine Gefangenschaft! Sie sind es doch, die dieselbe verursacht!«

»Wenn Sie mich noch liebten, Faublas, das, was ich heute gethan, würde für meine Rechtfertigung hinreichen; aber hören Sie mich an, denn ich will auch nicht den kleinsten Vorwand zu Ihrer Undankbarkeit außer Acht lassen. Ich beweinte Ihre Unbeständigkeit, ich wollte meinen Geliebten zu mir zurückführen und ließ seine Schritte auskundschaften; dies ist mein ganzes Verbrechen.

»Frau Dutour, die diesen Auftrag hatte, überschritt meine Befehle.

»Ich habe zu spät erfahren, dass ein anonymer Brief den Baron von Ihrer grausamen Liebe in Kenntnis setzte.

»Bald merkte ich, dass Ihre Abwesenheit nicht mehr bloß vorgegeben war, dass man sie eingesperrt hatte.

»Den Ort konnte ich nicht erfahren. Dieselben Leute, die den Sohn beobachtet hatten, schlichen jetzt dem Vater nach. Vier ganze Tage hatte der Baron keinen Schritt gethan, den ich nicht auf der Stelle erfahren hätte; endlich besuchte er Sie am letzten Montag.

»Die Umgegend, der Garten, das Haus wurden ausgespäht; man bemerkte ihre vergitterten Fenster.

»Ich habe die erste Reise des Marquis benützt. In den Kleidern des Vicomte de Florville, unter dem Namen des Grafen Rosambert habe ich Alles auf's Spiel gesetzt, um Sie zu befreien.

»Faublas, wenn Sie mich für die Fehler der Leute, welche Sie mich zwingen, in meine Dienste aufzunehmen, verantwortlich machen, so müssen Sie aber doch zugeben, dass die glückliche Kühnheit des Vicomte von Florville die unglückselige Unklugheit der Frau Dutour aufgewogen hat.«

»Glauben Sie, Madame, dass ich diesen Dienst nie vergessen werde.«

»Grausamer, diese höflichen und kalten Gegenreden, beweisen mir zur Genüge, dass ich gänzlich aufgeopfert bin.

»Was ein anderes Weib nicht einmal zu denken gewagt hätte, das habe ich unternommen und ausgeführt, um den liebenswürdigsten und undankbarsten aller Menschen in die Arme meiner Nebenbuhlerin zu führen! Wenn es denn kein anderes Mittel gibt, sich wenigstens seine Freundschaft zu erhalten, so muss man sich darein fügen, man muss sich aufopfern. Faublas, ich habe den Muth dazu, ich entsage Ihnen, ich gebe Sie Ihrer Sophie zurück.

»Beraubt von Allem, was mir theuer war, werde ich vielleicht glücklich sein, Sie glücklich zu sehen; vielleicht wird der Kummer, der die unausbleibliche Folge Ihres Verlustes sein wird, durch den tröstenden Gedanken gelindert werden, dass ich wenigstens zu Ihrer Glückseligkeit beigetragen habe. Mein Herr, wohin wünschen Sie, geführt zu werden?«

Sie erwartete die Antwort auf diese Frage, die mich in nicht geringe Verlegenheit versetzte. Nach einem Augenblicke des Stillschweigens fuhr sie fort:

»Zu Ihrem Herrn Vater zurückzukehren, hieße einer neuen Gefangenschaft entgegenzugehen. Herr Duportail ist noch in Russland.

»Es wäre nur noch Rosambert übrig; aber man sagt, er sei seit einigen Tagen auf eines seiner Landgüter gereist.

»Ich glaube, er sucht Sie!

»Wohin wünschen Sie geführt zu werden, mein Herr?«

Gerührt von der Großmuth der Marquise und ihrer zärtlichen und zugleich edlen Anhänglichkeit, widerstand ich kaum dem Verlangen sie zu trösten. Ich fühlte ihre Hand unter meinen Küssen erbeben, welche ich jedoch sehr zart und leicht darauf gelegt hatte.

»Antworten Sie mir doch,« sagte sie mit fast erstickter Stimme. »Ach! meine zärtliche Sorgfalt hat Ihnen ein eben so sicheres als reizendes Versteck bereitet; aber Sie werden nicht dahin kommen,« sagte sie mit bewegtem Tone. »Ich werde Sie für immer verlieren. Sie werden mit einer andern leben, und ich soll ruhig zusehen!

»Nein, Faublas! mein Schmerz konnte mich verleiten; ja, er hat mich zu weit geführt, als ich dies sagte; nie, nie werde ich es zugeben. Ich Sie einer Nebenbuhlerin abtreten? mein Freund, hoffen Sie das nie. Diese Aufopferung geht über die Kräfte einer Sterblichen.«

Die schwache Strahlen der Dämmerung glitten schon über die Gegenstände dahin und ließen dieselben unterscheiden.

Seit beinahe vierzehn Tagen hatte ich nichts als Bauernmädchen gesehen, deren plumpe von der Sonne verbrannten Reize mich nicht sehr lockten; übrigens hatte ich dieselben bloß durch ein Gitter hindurch und in einer Entfernung von mehr als fünfzig Schritten betrachten können. Jetzt dagegen saß der Vicomte de Florville an meiner Seite! die aufgehende Sonne zeigte ihn mir schöner, als jemals Adonis in den Augen der entzückten Venus erschien! und dann weinte die Marquise; eine weinende Frau ist so interessant! Ich wollte ihre Thränen trocknen, ich weiß nicht, wie ich mich dabei benahm; aber unsere Augen begegneten sich, mein Mund berührte den ihrigen, eine verhängnisvolle Neugierde führte meine Hand. – Oh! meine Sophie, ich wurde meineidig, ohne es zu wollen, und ich muss gestehen, dass Dein schuldiger Geliebter in diesem Augenblick eine Untreue begieng.


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