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IX.

Der September war zu Ende gegangen. Sie nahm gar keine Nahrung mehr zu sich, sie schlief nicht mehr.

Jetzt blieb sie zu Hause, zusammengekauert, die Hände zwischen den Knieen, den Kopf zurückgeworfen und an die Mauer gelehnt. Wozu aufstehen, wozu sich niederlegen; sie warf sich auf ihr Bett, ohne ihr Kleid auszuziehen, wenn sie zu erschöpft war. Sonst blieb sie immer so sitzen, wie erstarrt; ihre Zähne schlugen vor Kälte auf einander in dieser Unbeweglichkeit; noch immer hatte sie das Gefühl, als ob ein eiserner Ring ihr die Schläfen zusammenschnürte; sie fühlte, wie ihre Wangen sich zogen; ihr Mund war trocken mit einem Fiebergeschmack, und zu gewissen Stunden kam ein heiseres Stöhnen aus ihrer Kehle, das sich in Absätzen wiederholte, lange, lange, während ihr Kopf gegen die Granitmauern schlug.

Oder sie rief ihn bei seinem Namen, sehr zärtlich, mit leiser Stimme, als wenn er schon ganz nahe gewesen wäre, und flüsterte ihm Worte der Liebe zu. Es geschah ihr auch, daß sie an andere Dinge dachte, als an ihn, an ganz kleine unbedeutende Dinge. Zum Beispiel betrachtete sie, wie der Schatten der thönernen Mutter Gottes und des Weihkessels auf der hohen Boiserie ihres Bettes sich langsam hindehnte, indem das Licht niederging. Und dann kamen wieder neue gräßlichere Anfälle von Todesangst, und dann begann sie wieder ihren Jammerschrei, den Kopf an die Mauer schlagend ... Und alle Stunden des Tages vergingen, eine nach der andern, und alle Stunden des Abends und alle der Nacht und alle des Morgens. Wenn sie rechnete, seit wie viel Zeit er hätte wiederkommen sollen, erfaßte sie ein noch größeres Entsetzen; sie wollte die Daten nicht mehr wissen, noch die Namen der Tage.

Für die Schiffbrüche in Island hat man gewöhnlich Anzeichen; die, welche wiederkommen, haben von Weitem das Drama gesehen, oder sie haben Trümmer gefunden oder eine Leiche oder irgend ein Merkmal, an dem man Alles errathen konnte. Aber nein, von der Leopoldine hatte man nichts gesehen, wußte man nichts. Die von der Marie-Jeanne, die Letzten, die sie am zweiten August erblickt hatten, sagten, sie wäre wohl weiter nach Norden gefahren zum Fischen, und hernach kam das undurchdringliche Geheimniß.

Warten, immer warten, ohne etwas zu wissen. Wann würde der Moment kommen, wo sie wirklich nicht mehr warten würde? Sie wußte es nicht, und jetzt hatte sie beinahe Eile, daß es bald wäre. O, wenn er todt wäre, daß man wenigstens das Mitleid hätte, es ihr zu sagen – o, nur ihn sehen, so wie er wäre, in diesem Augenblick, ihn, oder was von ihm übrig war. Wenn nur die so viel angeflehte Jungfrau oder irgend eine andere Macht ihr die Gnade schenken wollte, durch eine Art zweites Gesicht ihn ihr zu zeigen, ihren Yann! – lebend, heimwärtssegelnd – oder seine Leiche, vom Meer dahin gewälzt ... um wenigstens sicher zu sein, zu wissen!

Manchmal kam ihr plötzlich das Gefühl, als wenn ein Segel aus des Horizontes Gründen auftauchte: die Leopoldine, nahend, sich eilend, anzukommen. Dann machte sie eine erste, unbedachte Bewegung, um aufzuspringen, hinzulaufen, auf die hohe See hinauszublicken, zu sehen, ob sie nahe sei. ...» Dann sank sie zurück; ach, wo war sie in diesem Augenblick, diese Leopoldine, wo konnte sie nur sein! Dort wahrscheinlich, in der entsetzlichen Ferne Islands, verlassen, zerstückt, verloren.

Und es endete immer durch folgende quälende Vision, stets dieselbe: ein leeres, ausgenommenes Wrack, auf einem schweigenden, röthlichgrauen Meere geschaukelt; langsam, langsam geschaukelt, ohne Laut, aus Ironie mit äußerster Zartheit, mitten in der großen Stille todter Gewässer.


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