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Richard Wagner

Richard Wagner

Ein lauteres Echo der Klage hat wohl selten eine Trauerbotschaft entfesselt, als die ungeahnte Kunde, die am 13. Februar 1883 durch die Lande klang, und allseitigere Teilnahme umdrängte wohl kaum eines Großen Sarg, als sie Richard Wagner das Geleite gab auf seinem letzten Wege. Der Größten einer unter den Großen, der Deutschesten einer unter den Deutschen, der erste musikalische Genius der Zeit und einer der ersten aller Zeiten, der aus Kampf mit Not und Neid emporstieg auf einen Königsthron im Reiche der Kunst, er ging dahin, da wir ihn noch auf der Höhe der Tatkraft meinten. Ihn, den keine Menschenkraft besiegte, der den härtesten Anfeindungen des Geschickes von je eine eherne Stirn bot, nahm der Überwinder Tod in seine gewaltigen Arme und trug ihn dahin, »wo sein Wähnen Frieden fand«.

Nie ist ein Künstler erbitterter umstritten, feindseliger verspottet, konsequenter bezweifelt und bekämpft worden als er, der jetzt im stillen Garten seines »Wahnfried« den letzten Schlummer schläft, und doch hat keiner wiederum im Leben und im Tode größere Triumphe gefeiert hienieden denn dieser Eine. Ein Triumph des deutschen Idealismus war seine im unverrückbaren Glauben an seine Mission vollbrachte Tat von Bayreuth; ein Triumph des deutschen Idealismus nicht minder die Heimfahrt des Toten von der Lagunenstadt nach seiner letzten Ruhestätte. Zum Bewußtsein dessen gekommen, was es Richard Wagner dankte, reichte ihm sein Volk nun mit verschwenderischer Hand den Liebeszoll, den es ihm lange schuldig geblieben.

Und warum so lange? Das Geschenk eines durch und durch nationalen, aus dem Geist der deutschen Sprache, aus deutschem Wesen und deutscher Poesie herausgeborenen Musikdramas, wie wir es in dieser Weise nie zuvor besessen; das Geschenk eines Festspielhauses und einer von ihm angebahnten nationalen Stilschule, wie kein anderes Volk sie zu eigen hat, ward uns durch Wagner zuteil. War der Wert dieser Gaben so schwer zu erkennen, daß der Dank dafür dem damit beschenkten Volk erst geläufig von den Lippen ging, als die Lebenssonne dessen, deß Besitz es sich jetzt mit gerechtem Stolze rühmt, sich bereits zum Untergange neigte? Bis an seinen Lebensabend wenigstens nahm man den Meister bei seinem eignen Wort, wenn er einst sagte: »Glücklich das Genie, dem nie das Glück lächelte. Es ist sich selbst so ungeheuer viel – was soll ihm das Glück noch sein?« –

Fragmentarisch hat Richard Wagner selber uns vor Jahren durch drei autobiographische Veröffentlichungen Zeitung für die elegante Welt, 1843. »Mitteilung an meine Freunde« 1851. (Sämtl. Schriften, Bd. I u. IV. Leipzig, Siegel) u. »R. Wagners Lebensbericht«, deutsche Orig.-Ausgabe von »The work and mission of my life by R. Wagner«. Leipzig, Schlömp. 1884. in seinen Entwicklungsgang eingeweiht. Eine umfangreiche treffliche Biographie danken wir C. Fr. Glasenapp. »Das Leben R. Wagners«. 2 Bde. Leipzig, Breitkopf & Härtel, 1876 u. 77. 4. Aufl. 6 Bde. 1905-11. Daneben stellt sich Houston St. Chamberlains ausgezeichnetes Werk »Richard Wagner« München, Bruckmann, 1895. 5. Aufl. 1910. die Aufgabe, »Wagner von innen zu erblicken, ihn und die Welt so darzustellen, wie er beide sah«.

Seit dem Mai 1911 liegt auch des Meisters lang erwartete eigene ausführliche Schilderung: »Mein Leben«, die er seiner Freundin und Gattin Frau Cosima in die Feder diktierte, in zwei Bänden vor aller Augen. Ebd. Sie führt uns sein Sein und Werden von seinem Eintritt in die Welt bis zu der großen Wendung vor, die sein Schicksal, dank König Ludwig II. von Bayern, im Jahre 1864 erfuhr. Folgen wir in Kürze, und vielfach mit seinen eigenen Worten, seiner Darstellung!

Zu Leipzig in einem bescheidenen Hause im Brühl, der »rot und weiße Löwe« genannt, wurde Wagner am 22. Mai 1813 geboren. Sein Vater – Polizeiaktuar daselbst und leidenschaftlicher Literatur- und Theaterfreund – starb bereits ein halbes Jahr nach der Geburt seines Sohnes; doch gab die Mutter, Johanna geb. Bertz, Nach Wagner Bertz, nach Glasenapp Bertz oder Berthis, nach Kapp u. a. Beetz. diesem letzteren und ihren übrigen sechs Kindern, denen sich später noch ein achtes gesellte, durch ihre Wiederverheiratung mit dem Schauspieler Ludwig Geyer, einem Freund ihres verstorbenen Gatten, 1815 einen treu sorgenden zweiten Vater. Mit ihm, der zugleich als Porträtmaler Tüchtiges leistete, auch einige Lustspiele geschrieben hatte, deren eines, »Der Bethlehemitische Kindermord«, Glück machte, ja sogar Goethes Beifall fand, siedelte die Familie, als sich ihm ein Engagement als Hofschauspieler bot, nach Dresden über. Sein Wunsch bestimmte den seiner Leitung anvertrauten, zunächst sehr schwächlichen Knaben für den Malerberuf, ohne daß jedoch die begonnenen Zeichenstudien diesem irgend welches Interesse und Zeichen der Begabung abzugewinnen vermochten. »Große Gewalt« dagegen übte auf seine Phantasie die Bekanntschaft mit dem Theater, das er in einer ihm zugänglichen Loge und der Garderobe häufig besuchte. Einige Male mußte er selber mit Komödie spielen. Als zur Bewillkommnung des aus der Gefangenschaft zurückkehrenden Königs von Sachsen ein mit Musik Carl Maria von Webers ausgestattetes Stück: »Der Weinberg an der Elbe« zu festlicher Aufführung gelangte, figurierte der kleine Richard bei einem lebenden Bild als Engel in Trikots mit Flügeln auf dem Rücken. Auch in Kotzebues »Menschenhaß und Reue« erschien er in einer Kinderrolle auf der Bühne.

Nach vollendetem sechsten Jahre ward er vom Vater zu einem Pfarrer in Possendorf bei Dresden aufs Land gebracht, wo er in Gesellschaft anderer Knaben aus guten Familien eine vortreffliche gesunde Erziehung erhalten sollte. Doch die schwere Erkrankung Geyers machte derselben schon nach Verlauf eines Jahres ein Ende. Siebenjährig, sah Richard sich auch dieses väterlichen Führers wiederum beraubt. Kurz vor dem Tode desselben hatte er: »Üb' immer Treu und Redlichkeit« und den damals ganz neuen »Jungfernkranz« auf dem Klavier spielen gelernt. Noch tags zuvor, ehe der Stiefvater starb, mußte er ihm beides im Nebenzimmer vorspielen. Mit schwacher Summe hörte er ihn da zu seiner Mutter sagen: »Sollte er vielleicht Talent zur Musik haben?« – »Aus dir hat er etwas machen wollen!« sagte ihm die Mutter am andern Morgen, nachdem sie den Gatten verloren. »Ich entsinne mich«, schreibt Wagner, »daß ich mir lange Zeit eingebildet habe, es würde etwas aus mir werden.«

Ein Bruder Geyers nahm sich der hilflos gewordenen Familie an. Er führte Richard mit sich nach Eisleben, übergab ihn aber nach seiner Verheiratung binnen Jahresfrist wieder den Seinen in Dresden. Sowohl sein ältester Bruder Albert als zwei seiner Schwestern hatten sich mittlerweile der Theaterlaufbahn zugewandt; auch eine dritte Schwester schien durch eine schöne Stimme für eine solche bestimmt. Ernstlich aber hielt die Mutter darauf, nicht auch bei ihrem Jüngsten ähnliche Neigungen aufkommen zu lassen. Er sollte studieren. Zu diesem Zweck trat er im neunten Jahre als »unterster der untersten Klasse« in die Kreuzschule zu Dresden ein (1823–28). Er war ein aufgeregtes Kind. Eine seltsame Gespensterfurcht beherrschte ihn. »Keine Nacht verging bis in meine spätesten Knabenjahre«, erzählt er, »ohne daß ich aus irgend einem Gespenstertraum mit fürchterlichem Geschrei erwachte, welches nie eher endete, als bis mir eine Menschenstimme Ruhe gebot.« Einen geheimnisvollen, bis zur Berauschung anziehenden Reiz übte alles, was dem theatralischen Treiben diente, auf ihn aus. Er versuchte mit seinen Altersgenossen eine Aufführung des »Freischütz« nachzuahmen und »schwang sich aus der Realität der täglichen Gewohnheit in jenes reizende Dämonium hinüber«.

Solch phantastische Stimmungen wirkten dem Einfluß der Schule entgegen. Rechnen und Mathematik gegenüber versagte sein Interesse. Von alten Sprachen zog ihn nur die griechische um der Mythologie, der Sage und Geschichte willen an. Er beschäftigte sich mit metrischen Übersetzungen, dichtete auch selbst und rezitierte auch einmal vom Katheder herab den Monolog des Hamlet. Als beim Tode eines Mitschülers in der Quarta ihm und seinen Genossen die Aufgabe gestellt ward, denselben in einem Gedicht zu feiern, wurden Wagners Verse, unter Nachhilfe des Lehrers, als die gelungensten befunden und zum Druck bestimmt. Der zwölfjährige Knabe wollte nun Dichter werden. »Der nie zufried'ne Geist, der stets auf Neues sinnt,« war ja seine natürliche Mitgabe; »das Leben, die Kunst und er selbst blieben seine einzigen Erzieher.« Er plante ein großes Epos in Hexametern, entwarf Trauerspiele nach griechischem Muster, übersetzte schon in Tertia die ersten zwölf Bücher der Odyssee und wagte sich selbst an Shakespearesche Übertragungen, nachdem er, nur um des vollkommeneren Verständnisses dieses Dichters willen, die englische Sprache erlernt hatte. Als Fünfzehnjähriger schrieb er ein ungeheuerliches Trauerspiel, in dessen Verlaufe nicht weniger als zweiundvierzig Personen starben, die großenteils während der letzten Akte als Geister wiederkehrten. »Shakespeare hatte durch ›Hamlet‹, ›Macbeth‹ und ›Lear‹, Goethe durch ›Götz von Berlichingen‹ zu dieser Dichtung beigetragen«, die er selbst als »schwülstig bombastisch« bezeichnet. Ungleich unsern andern großen Musikern, begann Wagner demnach mit literarischem Schaffen.

Seine ersten musikalischen Eindrücke empfing er von Weber, dessen Weisen ihn mit schwärmerischem Ernst erfüllten, dessen zarte leidende und geistverklärte Persönlichkeit, die ihm zu verschiedenen Malen nahetrat, ihn enthusiastisch faszinierte. Sein Tod im fernen Lande erfüllte sein kindliches Herz mit Grauen. Um diese Zeit mußte er sich von seiner Familie trennen. »Das ernährende Haupt« derselben, seine älteste Schwester Rosalie, erhielt 1826 ein Theaterengagement in Prag und siedelte mit Mutter und Geschwistern dahin über. Nur Richard blieb, um seine Gymnasialstudien nicht zu unterbrechen, in Dresden zurück und ward daselbst in Pension gegeben, besuchte die Seinen aber wiederholt in der seine Phantasie lebhaft anregenden böhmischen Königsstadt. Zu Ostern 1827 wurde er konfirmiert. »Die Schauer der Empfindung beim Empfang des heiligen Abendmahls blieben ihm in so unvergeßlicher Erinnerung, daß er, um der Möglichkeit einer geringeren Stimmung beim gleichen Akte auszuweichen, nie wieder Veranlassung ergriff, zur Kommunion zu gehen.«

Bald darauf führte er einen Bruch mit der Kreuzschule herbei, um seinen Fortgang nach Leipzig zu erzwingen, dahin sich seine Mutter, zufolge eines Engagements ihrer Tochter Luise an das dortige Theater, mit ihren zwei jüngsten Töchtern gewandt hatte. Zu Neujahr 1828 nahm ihn die Nikolaischule zu Leipzig auf. »Unbeschreiblich aber war sein Mißmut«, als er sich statt in die Sekunda, der er in Dresden angehört hatte, in die Obertertia verwiesen sah. Der Schulzwang erfüllte ihn mit Trotz, die Sehnsucht nach studentischer Freiheit ward in ihm übermächtig. Statt mit Schularbeiten, beschäftigte er sich mit seinem in Dresden konzipierten Trauerspiel »Leubald und Adelaide«. Beschwerden des Lehrerkollegiums liefen ein, und es kam an den Tag, daß er ein halbes Jahr hindurch die Schule nicht besucht hatte. Vergebens gelobte er ernste Wiederaufnahme seiner Studien – er brachte es schließlich dahin, daß er zu Ostern 1830 die Nikolaischule verließ, um nach mehrmonatlicher Pause auf der Thomasschule sein Heil zu versuchen.

Inzwischen hatte ihn eine Passion für die Musik ergriffen. Als dem einzigen unter seinen Geschwistern, war ihm, den doch schon »das Einstimmen der Orchesterinstrumente vor den Konzerten in mystische Aufregung versetzte«, der Klavierunterricht bis in sein zwölftes Jahr versagt geblieben. Erst als es ihn verlangte, die »Freischütz«-Ouvertüre zu spielen, erteilte ihm der Hauslehrer die ersten Anweisungen. Dieselben zeitigten jedoch so geringe Ergebnisse, und die Klaviertechnik, mit der der geniale Schüler Zeit seines Lebens auf gespanntem Fuße blieb, flößte ihm eine so entschiedene Abneigung ein, daß der Lehrer ihm das übelste Prognostikon stellte. Richard verzichtete demzufolge auf dessen weitere Führung und setzte seine Studien selbständig fort, dieselben hauptsächlich auf das Einüben von Ouvertüren beschränkend, die er, seinen eigenen Worten zufolge, »mit gräulichstem Fingersatz spielte.«

War ihm Webers »Freischütz« bisher als die herrlichste aller musikalischen Offenbarungen erschienen, so erschloß sich ihm in Beethovens Symphonien eine neue Welt, als er sie in den Gewandhauskonzerten zu Leipzig zum erstenmal hörte. »Beethovens Bild«, hören wir ihn selbst, »floß mit dem Shakespeares in mir zusammen: in ekstatischen Träumen begegnete ich beiden, sah und sprach sie; beim Erwachen schwamm ich in Tränen.« Auch mit Mozart befreundet er sich, zumal mit dem Requiem und der »Zauberflöte«, die immer eine seiner Lieblingsopern blieb. Eine Vorstellung des »Egmont« mit Beethovens Musik lehrt ihm die Gewalt fassen, durch welche die Tonkunst den dramatischen Ausdruck erhöht, und er beschließt nun, sein erwähntes großes Trauerspiel mit einer ähnlichen Musik zu begleiten, sich zugleich als Dichter und Musiker zu betätigen. Ohne alles Bedenken traut er sich die nötige Fähigkeit zu. Um sich auch die erforderlichen Kenntnisse anzueignen, leiht er sich in Wiecks musikalischer Leihanstalt für kurze Zeit Logiers Methode des Generalbasses und studiert dieselbe eifrigst. Die Schwierigkeiten, denen er dabei begegnet, reizen sein Interesse dergestalt, daß er beschließt, Musiker zu werden.

Hatte seine Familie schon seine dichterischen Versuche, als eine Ursache der Vernachlässigung seiner Schulstudien, mißliebig betrachtet, so gab es harte Kämpfe, als der Sechzehnjährige nach längeren geheimen Übungen, als Komponist einer Sonate, eines Quartetts und einer Arie, plötzlich mit seinen musikalischen Wünschen und Bestrebungen hervortrat. Für eine flüchtig vorübergehende Leidenschaft mußten die Seinen auch diese neue Neigung um so mehr halten, als auch ein begonnener Unterricht in der Harmonie bei einem Orchestermusiker Gottlieb Müller die unbefriedigendsten Resultate ergab. Die Trockenheit desselben widerte ihn an. Dafür schrieb er während der Schulstunden Partituren ab, nahm daneben auch Violinstunden. Er verfertigte einen zweihändigen Klavierauszug der neunten Symphonie und sandte ihn an Schott nach Mainz, der dessen Verlag zwar ablehnte, ihm aber die Partitur der Missa solemnis von Beethoven als Gegengabe schickte.

Eine Quelle künstlerischer Freuden hatte die Anstellung seiner Schwester Rosalie am Leipziger Theater durch den ihm eröffneten freien Eintritt in dasselbe für ihn zur Folge. Vor allem empfing er durch Wilhelmine Schröder-Devrients unvergleichliche Darstellung des Fidelio einen Eindruck, der ihn vollkommen aus dem Gleichgewicht brachte. Er selbst bezeugt: »Kaum ein Ereignis meines ganzen Lebens könnte ich diesem einen inbetreff seiner Einwirkung auf mich an die Seite stellen.« Seinem Enthusiasmus gab er in einem Brief an die große Künstlerin Ausdruck, der ihrer Erinnerung noch gegenwärtig war, als ihr der Schreiber als Schöpfer des »Rienzi« 1842 gegenüber trat. Durch die Lektüre E. T. A. Hoffmannscher Schriften phantastisch aufgeregt, aller Lust zum wissenschaftlichen Studium entbehrend, zog er vor, Ouvertüren für großes Orchester zu schreiben, deren eine am 24. Dezember 1830 im Leipziger Theater zur Aufführung kam, ob ihrer Absonderlichkeit aber »das heitere Erstaunen« des Publikums erregte. Wagner selbst bezeichnet sie als »den Kulminationspunkt seiner Unsinnigkeiten.« Beethovens neunte Symphonie sollte eine Pleyelsche Sonate gegen diese wunderbar kombinierte Ouvertüre sein. Nie verließ ihn übrigens bei seinen tonkünstlerischen Versuchen der dichterische Nachahmungstrieb; derselbe ordnete sich jedoch dem musikalischen unter, dessen Befriedigung er allein diente. So schrieb er, durch die Pastoralsymphonie angeregt, ein Schäferspiel, für das ihm in dramatischer Beziehung wieder Goethes »Laune der Verliebten« den Anstoß gegeben hatte. Ohne einen bestimmten dichterischen Entwurf entstand dasselbe gleichzeitig in Wort und Ton.

Eine erste Kunstreise unternahm er als Gymnasialschüler im Sommer 1829 nach Magdeburg, wo seine an den Sänger Wolfram verheiratete Schwester Kläre am Theater angestellt war. Dem dortigen Musikdirektor Kühnlein legte er seine Kompositionen vor. Wenig ermutigend aber lautete dessen Urteil; er fand an denselben »kein gutes Haar«.

Kurze Zeit nach der Julirevolution, die nach Wagners eigenen Worten »heftig und vielfach anregend« auf ihn wirkte, brach der nun siebzehnjährige Jüngling seinen Kursus auf der Leipziger Thomasschule ab. Er bezog 1831 die Universität, nicht um sich einem Fachstudium zu widmen, denn für den Musikerberuf war er entschieden, sondern um daselbst philosophische und ästhetische Kollegia zu hören. Doch profitierte er von denselben nicht viel. Er gab sich vielmehr dem Studentenleben in so wildem Taumel hin, verfiel sogar eine Zeitlang der Leidenschaft des Spiels, daß er sich bald »angewidert« fühlte und zur Besinnung kam. Seiner Mutter zu Liebe unterwarf er sich endlich einem streng geregelten Studium der Musik, und die Vorsehung ließ ihn in Theodor Weinlig, dem Kantor der Leipziger Thomasschule, den rechten Mann finden, der ihm nach anfänglich geringen Erfolgen »neue Liebe zur Sache einflößte und sie durch den gründlichsten Unterricht läuterte«. Nach nur halbjährigen Studien im Kontrapunkt und Ausführung »einer besonders reich ausgestatteten Doppelfuge« erklärte ihn Weinlig für »selbständig« geworden. »Wahrscheinlich«, sagte er, »werden Sie nie in den Fall kommen, Fugen und Kanons zu schreiben; was Sie jedoch sich angeeignet haben, ist Selbständigkeit. Sie stehen jetzt auf Ihren eigenen Füßen und haben das Bewußtsein, das Künstlichste zu können, wenn Sie es nötig haben.«

Die Früchte dieser Studien treten schon in den zu jener Zeit entstandenen Arbeiten zutage. Im Gegensatz zu seiner früheren schwülstigen Schreibweise erscheint jetzt sein Satz einfach-natürlich, wie eine 1831 veröffentlichte Sonate in B-dur, sein op. 1, beweist, dem Weinlig selbst zum Druck verhalf. Eine Klavierphantasie in Fis-moll, Ouvertüren zu Raupachs »König Enzio« (im Leipziger Theater am 16. März 1832 aufgeführt) und zur »Braut von Messina«, so wie Kompositionen zu Goethes »Faust« (letztere beide ungedruckt) entstanden um diese Zeit. Die eigenartig interessante Klavierphantasie, die mit ihren beredten Rezitativen, ihrem poetisch programmatischen Stil, ihrer thematischen Einheit bereits den großen Neuerer ahnen läßt, darf als wertvollstes Musikstück aus Wagners Jugendperiode bezeichnet werden. Im Gewandhauskonzert ernten eine am 23. Februar 1832 aufgeführte Ouvertüre in D-moll und eine Symphonie in C, die nach vorausgegangener Vorführung in Prag und in der Leipziger »Euterpe«, am 10. Januar 1833 daselbst zu Gehör kam, aufmunternden Beifall. Beethoven war dabei des jungen Tondichters »Hauptvorbild«, »Klarheit und Kraft, bei manchen sonderbaren Abirrungen«, sein Bestreben. Die Symphonie, die er später, behufs einer vergebens erhofften Wiederholung, Mendelssohn übergab. ging spurlos verloren. Erst vier Jahrzehnte darnach wurden die Stimmen durch Fürstenau und Tappert wieder aufgefunden und durch Anton Seidl zur Partitur zusammengestellt. Während seines letzten Venetianer Aufenthaltes veranstaltete Wagner zu Weihnachten 1882 im Liceo Marcello eine Aufführung derselben im intimen Kreise, die, nach seinen eignen Worten, »nur die Bedeutung einer freundlichen Familien-Erfahrung haben könne«, da er »sein Werk nur noch einmal als Familiengeheimnis zum Ertönen gebracht habe.« Vier Jahre nach seinem Tode wurde sie aber für alle Welt laut und machte, dank der von seiner Witwe für die Frist eines Jahres gegebenen Erlaubnis, in den Konzertsälen die Runde Part. u. Stimmen erschienen bei Max Brockhaus, Leipzig.. Wagners eigenste Physiognomie blickt nur hin und wieder wie verstohlen aus diesem Jugendwerk, so frisch und natürlich kraftvoll seine Sprache, so erstaunlich seine technische Sicherheit in der Instrumentierung insbesondere ist. Noch steht er ganz im Banne Beethovens; ihm bringt er mit seiner Symphonie eine feurige Huldigung dar. »Ich zweifle«, schrieb Heinrich Dorn (in der Schumannschen Musikzeitung 1837), »daß es zu irgend einer Zeit einen jungen Musiker gegeben hat, der mit Beethovens Werken vertrauter war, als der achtzehnjährige Wagner. Des Meisters Ouvertüren und größere Instrumentalkompositionen besitzt er größtenteils in eigenhändig geschriebenen Partituren; mit den Sonaten geht er schlafen, mit den Quartetten steht er auf, die Lieder singt er, die Konzerte pfeift er, denn mit dem Spielen will es nicht recht vorwärts gehen; kurz es war ein furor teutonicus, der, gepaart mit höherer wissenschaftlicher Bildung und eigentümlich geistvoller Regsamkeit, kraftvolle Schößlinge zu treiben versprach.« Der erwähnten mühevollen Kopistenarbeit opferte er seine nächtliche Ruhe; ihr aber und namentlich dem hierdurch erzielten volleren Verständnis der »Neunten« verdankt er, wie seine eigenen Äußerungen bestätigen, »das, was er bei keinem Lehrer hätte erlernen können: das praktische Verständnis und das gründliche Eindringen in Beethovens heilige Mysterien.«

Mit der fertigen Symphonie machte er sich im Sommer 1832 auf die Reise nach Wien, um die alte Metropole der Tonkunst kennen zu lernen. Was er dort hörte, erbaute ihn jedoch trotz mannigfacher Anregung wenig, und die herrschende »Zampa«-Manie vertrieb ihn nach sechs Wochen. Unvergeßlich blieb ihm »die für jede von ihm vorgegeigte Pièce – auch ein Zampa-Potpourri – an Raserei grenzende Begeisterung des wunderlichen Johann Strauß, dieses Dämons des Wiener musikalischen Volksgeistes.« In Prag ließ Dionys Weber ihm mehrere seiner Kompositionen, darunter die neue Symphonie, im Konservatorium spielen. Hier auch dichtete Wagner einen Operntext tragischen Inhalts: »Die Hochzeit«. Er hatte, in seine Vaterstadt heimgekehrt, bereits zu Weinligs Freude mit Vertonung desselben begonnen, als ein abfälliges Urteil seiner Schwester Rosalie, die, als Versorgerin ihrer Angehörigen, deren besondere Schätzung und Liebe genoß, ihn zur Vernichtung des Textbuches veranlaßte.

Doch entschädigte er sich bald dafür durch eine andere Opernarbeit, die er bei seinem älteren Bruder Albert ausführte. Bei ihm, dem Vater der nachmals gefeierten Sängerin Johanna Jachmann-Wagner, der als Opernsänger und Regisseur in Würzburg lebte, brachte er, inzwischen Chordirektor-Dienste beim dortigen Theater verrichtend, das Jahr 1833 zu. Den Text zu der in dieser Zeit komponierten romantischen Oper »Die Feen« hatte er nach Gozzis Märchen »Die Frau als Schlange« wieder selbst verfaßt. Charakteristisch für Wagner enthält schon dieser, seinem Sinn für das Wunderbare, Zauberhafte entsprechende Stoff die bei ihm immer wiederkehrende Erlösungsidee: das sich aufopfernde, liebende Weib. Auch in der Musik kündigt sich, neben vorwaltenden Einflüssen Webers und Marschners, Beethovens und Mozarts, in zahlreichen Anklängen an »Holländer«, »Tannhäuser«, »Lohengrin« der spätere Wagner an. Einzelne Bruchstücke des Werkes, die er in Würzburger Konzerten zur Aufführung brachte, gefielen; allein die Hoffnung des jungen Komponisten, sie in Leipzig, wohin er sich zu Beginn des Jahres 1834 zurückwandte, in Szene gesetzt zu sehen, blieb trotz ihm eröffneter Aussichten unerfüllt. Erst am 29. Juni 1888, 54 Jahre nach ihrem Entstehen, wurde die Oper auf der Münchner Hofbühne, der sie (außer Prag) bisher ausschließlich angehört, lebendig. Mit außerordentlichem Glanze inszeniert, bildet sie daselbst nicht nur eine »Sehenswürdigkeit ersten Ranges«, die, so oft sie erscheint, die Menge in Scharen herbeilockt, auch für Beurteilung der Entwicklung ihres Autors ist und bleibt sie überaus wichtig.

Die bezüglich seiner Oper erlebte erste Enttäuschung, in Verbindung mit dem überwältigenden Eindruck, den die 1834 in Leipzig gastierende Schröder-Devrient auf ihn ausübte, die »als Romeo alles mit sich fortriß«, bewirkte eine wunderliche Wandlung in ihm. In der Vereinigung »der glücklicher gewählten und ausgebildeten Mittel« der Italiener und Franzosen glaubte er plötzlich den Schlüssel zum Geheimnis des Opernerfolgs gefunden zu haben, wie er später im »Rienzi« gleicherweise vorübergehend in den Bahnen der Pariser großen Oper steuerte. Italienische und französische Vorbilder drängten seine klassischen Ideale Beethoven, Mozart und Weber eine Zeitlang bei ihm in den Schatten, und der Verkehr mit Heinrich Laube, einem Hauptvertreter des die Berechtigung der Materie proklamierenden »jungen Deutschland«, trug in einer zweiten Oper: »Das Liebesverbot, oder die Novize von Palermo«, die er nach Shakespeares »Maß für Maß« auf einer böhmischen Reise mit seinem Freund Apel Vgl. Wagners Briefe an ihn, Breitkopf & Härtel 1910. Liebesverbot, Feen, Hochzeit, Bärenfamilie usw. Sämtl. Schr. XI. entwarf, seine Früchte.

In eine erste amtliche Tätigkeit trat er im Sommer 1834 als Musikdirektor des Magdeburger Theaters ein. Er hatte dieselbe zuvörderst in dem durch Goethe und Schiller bekannt gewordenen Bad Lauchstedt sowie in Rudolstadt auszuüben, an welch ersterem Orte er in der schönen jungen Schauspielerin Minna Planer seine nachmalige Gattin kennen lernte. »Das Einstudieren und Dirigieren der leichtgelenkigen französischen Modeopern machte mir oft kindische Freude, wenn ich vom Dirigierpult aus links und rechts das Zeug loslassen durfte,« schreibt er selbst über seine damalige Wirksamkeit. Die Berührung mit der pikanten Welt hinter den Kulissen entsprach seiner Stimmung und Zerstreuungslust. Komponiert wurde unter diesen Verhältnissen wenig. Nur ein Symphoniesatz, ein Neujahrsfestspiel und eine Ouvertüre samt Chor und Orchesterstück zu Apels Drama »Columbus« kamen außer der erwähnten Oper: »Das Liebesverbot« in Magdeburg zur Reife. Gegen Neujahr 1836 ward diese beendet und nach nur zehntägiger Vorbereitung, am 29. März, eine Aufführung durchgesetzt, ohne daß das, wegen Fortgang der beliebtesten Opernmitglieder, allzu hastig einstudierte und somit mangelhaft dargestellte Werk irgend welchen Eindruck zu üben vermochte. Eine zweite Vorstellung kam, zufolge »unerhörter Szenen«, die sich unter dem Personal hinter den Kulissen abspielten, nicht zustande. Zahlungsunfähigkeit des Direktors veranlaßte unmittelbar darauf die Auflösung der Magdeburger Gesellschaft. Wagner, der sich inzwischen mit Minna Planer, einem Mitglied derselben, verlobt hatte, folgte ihr nach Königsberg, wohin ein neues Engagement sie rief. »Es fehlte ihr«, nach seinen eigenen Worten, »an aller Idealität. Die eigentümliche Macht, welche sie über mich ausübte, rührte keineswegs von der ursprünglich mächtig auf mich wirkenden idealen Seite der Dinge her, sondern im vollen Gegenteile wirkte sie durch die Nüchternheit und Solidität des Wesens, welches bei meiner großen Zerfahrenheit auf den Irrwegen nach einem idealen Ziele mir nötigen Anhalt und Ergänzung bot. Sehr bald hatte ich mich daran gewöhnt, mein ideales Bedürfnis nie vor Minna in das Spiel zu bringen.« Dennoch schloß er, mit Schulden überlastet, am 24. November 1836 in Königsberg mit ihr in »heftigem Eigensinn eine übereilte Ehe«. »Unter dem widerlichen Eindruck einer besitzlosen Häuslichkeit quälte er sich und andere und geriet so in das Elend, dessen Natur es ist, Tausende und aber Tausende zugrunde zu richten.« Zu der ihm in der preußischen Krönungsstadt versprochenen Stelle als Theatermusikdirektor ließ man ihn erst zu Ostern 1837 gelangen. »Ich mußte mir so durchhelfen. Ich war sehr unglücklich«, schreibt er an Apel. Das Jahr, das Wagner in Königsberg zubrachte, ging unter Sorgen kleinlichster Art, im steten Kampf mit materieller Not für seine Kunst fast verloren. Eine Ouvertüre »Rule Britannia», der eine in Berlin entstandene »Polonia« vorangegangen war, sowie der Entwurf einer komischen Oper »Die glückliche Bärenfamilie« (nach »1001 Nacht«) sind uns als einziges künstlerisches Ergebnis jener Zeit verblieben. Übrigens setzte der Bankerott der Theaterdirektion seiner Tätigkeit schon im Mai ein Ziel.

In der heißempfindenden Seele Wagners entwickelte sich mittlerweile bis zur verzehrenden Sehnsucht der Drang, »aus der Kleinheit und Erbärmlichkeit der ihn beherrschenden Verhältnisse herauszukommen«. Eheliche Zwistigkeiten nahmen überhand, so daß Minna ihn zeitweise verließ. Der Mensch und der Künstler in ihm seufzten nach Erlösung. Voll des brennenden Verlangens, sich dem kleinen deutschen Theaterleben zu entziehen und einen weiteren Wirkungskreis für sein Schaffen zu gewinnen, richtete er sein Auge auf Paris. Ein nach Heinrich Königs Roman »Die hohe Braut« bearbeiteter Entwurf zu einer großen fünfaktigen Oper sollte, an Scribe geschickt, ihm den Weg dahin bahnen; doch blieb die Sendung ohne Erfolg. Da führte ein kurzer Aufenthalt in Dresden im Sommer 1837 ihm eine schon früher gehegte Lieblingsidee zurück, den Helden des Bulwerschen Romans »Rienzi« zu einem Opernhelden umzugestalten, und inmitten des Jammers seines häuslichen Lebens erfüllte ihn die Vorstellung eines großen historisch-politischen Ereignisses mit Begeisterung. Doch erst nachdem er im Herbst 1837 die Stelle eines ersten Musikdirektors bei dem unter Holteis Leitung neueröffneten Theater zu Riga angetreten und für dortige Zwecke einige Operneinlagen geschrieben hatte, ward »Rienzi« ernstlich in Angriff genommen. Wagner bekennt, auch bei Verfertigung dieses Textes im wesentlichen noch an nichts anderes, als an ein »wirkungsvolles Opernbuch« gedacht zu haben. Die Eindrücke der heroischen Oper Spontinis, des glänzenden, von Paris ausgehenden Genres der »Großen Oper« Aubers, Meyerbeers und Halévys forderten ihn zur Nacheiferung auf. »Die ›Große Oper‹, mit all' ihrer szenischen und musikalischen Pracht, ihrer effektreichen, musikalisch-massenhaften Leidenschaftlichkeit«, stand vor ihm, und »sie nicht bloß nachzuahmen, sondern mit rückhaltloser Verschwendung nach allen ihren bisherigen Erscheinungen zu überbieten«, erstrebte sein künstlerischer Ehrgeiz. Auf Sprache und Vers wurde noch keine übergroße Sorgfalt verwandt; »Duette und Terzette, fünf glänzende Finales fanden sich von selbst« im Anschluß an die hergebrachten Formen. »Meine künstlerische Individualität«, sagt er, »war den Eindrücken des Lebens gegenüber noch in der Wirkung rein künstlerischer, oder vielmehr kunstförmlicher, mechanisch bedingender Eindrücke durchaus befangen.« Nichtsdestoweniger erklärte Meyerbeer später das Textbuch des »Rienzi« für die beste aller ihm bekannten Operndichtungen und bestellte sich bei Scribe ein ähnliches, als welches ihm dieser nachmals den »Propheten« lieferte. –

Ohne bestimmte Aussicht, sein Werk auf irgend einer Bühne zur Aufführung zu bringen, hatte Wagner dasselbe im Sommer 1838 begonnen. »Ich verfuhr«, berichtet er selbst, »hierbei nach einem so ausschweifend großen theatralischen Maßstabe, daß ich mit der Konzeption dieser Arbeit mir absichtlich jede Möglichkeit abschnitt, durch die Umstände mich verführen zu lassen, mein Werk anders als auf einer der größten Bühnen Europas aufzuführen.« Mit immer tieferem Ekel erfüllte ihn das ihn umgebende Komödiantentum. Das Bedürfnis, mit seinen bisherigen Verhältnissen vollkommen zu brechen, ward in ihm übermächtig. Seit Jahren schon lockte ihn Paris, das damalige Zentrum aller geistigen Bewegung. Obwohl ganz mittel- und aussichtslos, begab er sich im Juli 1839 von Mitau aus, wo er Opernaufführungen des Rigaer Personales zu leiten hatte, auf eine abenteuerliche Wagenfahrt, die ihn auf der Flucht vor seinen Gläubigern, ohne Paß, glücklich über die russische Grenze brachte. Dann bestieg er in Pillau mit seiner Frau und seinem Neufundländer Hunde – eine ausgesprochene Tier- und Naturliebe charakterisierte Wagner zeitlebens – ein Segelschiff, um über London nach Paris zu reisen.

Vier Wochen fast dauerte die an Unfällen und Abenteuern reiche Seefahrt. Stürme verfolgen sie und verschlagen sie in einen norwegischen Hafen. Bei der Durchfahrt durch die Scheeren taucht ein den Künstler schon früher zur Teilnahme stimmendes Bild: der »fliegende Holländer«, mit erneuter Macht aus seiner aufgeregten Phantasie empor. »An meiner eigenen Lage«, sagt Wagner, »gewann er Seelenkraft, an den Stürmen, den Wasserwogen, dem nordischen Felsenstrande und dem Schiffsgetreibe Physiognomie und Farbe.« Das erste Werk, welches das volle Gepräge seiner künstlerischen Eigenart trägt, wird während jener stürmereichen Fahrt von ihm empfangen.

In London angekommen, gönnt er sich nur acht Tage der Ruhe. Er besucht keins der berühmten Theater, nur die Stadt selbst und die Parlamentshäuser interessieren ihn. Einen längeren Aufenthalt nimmt er in BouIogne sur mer. Dort begegnet er Meyerbeer, dem er seinen »Rienzi« vorlegt, und von dessen Empfehlungen an Duponchel, den Direktor der »Großen Oper«, und Habeneck, den Dirigenten der Conservatoire-Konzerte, begleitet, er im September 1839 in Paris eintrifft.

Einzig auf diese sieht er sich bei seinem Eintritt in die Weltstadt angewiesen; aber sie bezeigen sich als wenig wirksam. Die Bekanntschaft mit seinen übrigen Kunstgenossen, Berlioz, Halévy, selbst mit dem ihm später so innig befreundeten Liszt, bleibt auf der Oberfläche; »denn kein Musiker hat dort für den andern Zeit«. Habeneck läßt ihn seine »Columbus«-Ouvertüre hören, und in einer vollendeten Aufführung der neunten Symphonie unter ihm »strömte ihm wie aus zahllosen Quellen der Strom einer nie versiegenden, das Herz mit namenloser Gewalt dahin reißenden Melodie entgegen«. Gelehrte und Maler, namentlich Heinrich Heine und später Laube, bilden vorzugsweise seinen Umgang. Der Einfluß Meyerbeers bahnt ihm den Weg zum Theater de la Renaissance. Seine Oper »Das Liebesverbot« wird hier zur Aufführung angenommen, eine französische Bearbeitung geschaffen; da macht der plötzliche Bankerott des Theaters alle Hoffnungen Wagners wieder zu nichte. Auch der Versuch, durch Komposition französischer Romanzen (» Mignonne«, » Dors mon enfant«, » Attente«, Heines »beide Grenadiere«) in die Salonwelt einzudringen, mißlingt. Zwar setzt ihn Meyerbeer mit dem nunmehrigen Direktor der Großen Oper, Leon Pillet, in Verbindung, und man spricht schon von einem Auftrag, der ihm für Frankreichs erste Opernbühne anvertraut werden soll. Er reicht das schnell entworfene Textbuch zum »fliegenden Holländer« auch bereits dem Direktor ein; doch dieser zieht vor, es ihm für 500 Francs abzukaufen, die Vertonung dagegen einem unbedeutenden Musiker, Dietsch, zu übertragen, dessen Machwerk erfolglos debütierte und verschwand. In der Verzweiflung bewarb der in all seinem Hoffen Betrogene sich endlich um eine Chordirigentenstelle im Théâtre des Variétés. Aber auch sie blieb ihm versagt – da man aus einer von ihm gelieferten »Probekomposition« den Schluß zog, »daß er nichts von Musik verstehe«.

So geriet der Hartbedrängte in so tiefe Not, daß er und seine Frau ihre Trauringe veräußerten, um Brot und Arznei anzuschaffen, ja daß er – wie aus seinen Briefen an Apel hervorgeht – ins Schuldgefängnis ziehen mußte. »Ich habe dem Leben geflucht«, schreibt er dem Freund im September 1840. Als »Erlösung« betrachtet er's, als sich ihm mit der Anfertigung von Melodienarrangements aus beliebten Opern für alle möglichen Instrumente, selbst für Cornet à piston, ein kümmerlicher Verdienst bietet. Die karg zugemessene freie Zeit, die ihm diese musikalische Tagelöhnerarbeit übrig läßt, verwendet er, nachdem er mit der ursprünglich als erster Satz einer Faust-Symphonie intentionierten »Faust-Ouvertüre« das weitaus genialste und eigentümlichste seiner bisherigen Werke geschaffen hat, auf seinen »Rienzi«. Am 19. November 1840 ist derselbe vollendet. Die Idee, ihn in Paris zur Aufführung zu bringen, hat er inzwischen längst aufgegeben. Die Kunstzustände daselbst haben – mit einziger Ausnahme der Conservatoire-Konzerte – seinen Erwartungen nur wenig entsprochen. Aller Glanz der äußeren Erscheinung täuscht ihn nicht über das Seichte, Inhaltlose. Er richtet nunmehr sein Augenmerk auf ein deutsches Hoftheater und entscheidet sich für Dresden, wo er in Tichatschek und der von ihm begeistert verehrten Schröder-Devrient die geeignetsten Kräfte vereint weiß, und dahin er denn auch die Partitur unverzüglich sendet.

Nach Beendigung des »Rienzi« und bei fortwährender Beschäftigung mit »musikhändlerischer Lohnarbeit« verfällt Wagner auf einen neuen Ausweg, seinem gepreßten Innern Luft zu machen. »Mit der Faust-Ouvertüre«, sagt er, »hatte ich es zuvor rein musikalisch versucht; mit der musikalischen Ausführung eines älteren dramatischen Planes, des ›Rienzi‹, suchte ich der Richtung, die mich eigentlich nach Paris geführt hatte und für die ich mir nun alles verschlossen sah, ihr künstlerisches Recht angedeihen zu lassen, indem ich sie für mich abschloß. Mit dieser Vollendung stand ich jetzt gänzlich außerhalb des Bodens meiner bisherigen Vergangenheit. Ich betrat nun eine neue Bahn, die der Revolution gegen die künstlerische Öffentlichkeit der Gegenwart, mit deren Zuständen ich mich bisher zu befreunden gesucht hatte, als ich in Paris deren glänzendste Spitze aufsuchte.« »Das Gefühl der Notwendigkeit seiner Empörung« macht ihn zunächst zum Schriftsteller. »Wagners Schreiben«, sagt Chamberlain, »ist die gewaltsame Reaktion gegen irgend ein Hemmnis, das sich seinem unerschöpflichen Schaffensdrang entgegenstellt.« »Das charakteristische Merkmal in Wagners Denken ist dessen erstaunliche Einheit.« Der Verleger der » Gazette musicale«, Schlesinger, bestellte neben den erwähnten Melodienarrangements auch Journalartikel. Ihm galt beides gleich – dem ausführenden Künstler nicht. Hatte er die eine Arbeit als tiefste Demütigung empfunden, so ergriff er diese andere, um sich für die erlittene Demütigung zu rächen. Auf diese Weise entstanden die Aufsätze: »Über deutsche Musik«, »Virtuosentum«, »Über die Ouvertüre«, »Eine Pilgerfahrt zu Beethoven«, »Das Ende eines Musikers in Paris« (Sämtl. Schriften Bd. 1), welcher letztere seine eigene Leidensgeschichte schilderte. »Die Verzweiflung war die Muse derselben«; – das Publikum amüsierten sie nur; doch trugen sie wenigstens dazu bei, ihren Autor, der auch für deutsche Blätter: für Lewalds »Europa«, Laubes »Zeitung für die elegante Welt« u. a. tätig war, bekannt zu machen. Auch eine Beethoven-Biographie plante er damals vorübergehend, wie ein später bekannt gewordener Brief vom 5. Mai 1841 an Theodor Hell verriet.

Für den bitteren Sarkasmus, der seine Seele erfüllte, hatte Wagner in seinen literarischen Ergüssen Ausfluß gesucht; nun trieb es ihn zu neuen künstlerischen Taten. Und die Tonkunst ward sein »guter Engel«. »Sie bewahrte mich als Künstler«, lautet sein eignes Zeugnis, »ja sie machte mich in Wahrheit erst zum Künstler von einer Zeit an, wo mein empörtes Gefühl mit immer größerer Bestimmtheit gegen unsere ganzen Kunstzustände sich auflehnte. – Ich kann den Geist der Musik nicht anders fassen, als in der Liebe. Nur wer das Bedürfnis der Liebe fühlt, erkennt dasselbe Bedürfnis in anderen: mein von der Musik erfülltes künstlerisches Empfängnisvermögen gab mir die Fähigkeit, dieses Bedürfnis auch in der Kunstwelt überall da zu erkennen, wo ich durch die abstoßende Berührung mit ihrem äußerlichen Formalismus mein eigenes Liebesvermögen verletzt, und aus dieser Verletzung gerade mein eigenes Liebesbedürfnis tätig erwacht fühlte. So empörte ich mich aus Liebe, nicht aus Neid und Ärger; und so ward ich daher Künstler, nicht kritischer Literat.«

Eine Dichtung der Liebe ist der »fliegende Holländer«. Ein uralter Zug des menschlichen Wesens, der uns schon in der »Odyssee«, in der Geschichte vom Ahasver entgegentritt, liegt in diesem mittelalterlichen Mythos mit ergreifender Gewalt ausgesprochen: die Sehnsucht nach Ruhe aus den Stürmen des Lebens. Die Erlösung aber bringt dem Ruhelosen das Weib, das sich aus Liebe opfert. Wagner sagt von sich selbst, daß er höher als je irgend ein Poet oder Künstler die Frauen verherrlicht habe, und Liszt bestätigt: »Wenn man auf die Grundlage der Wagnerschen Fiktionen näher eingeht, so möchte man sie eine Dramatisierung des Kultus jenes ›Ewig-Weiblichen‹ in allen seinen Formen nennen, mit welchem Goethe, wie mit einem Schlußstein, den gigantischen Bau seines Faust endete.« Mit dem »fliegenden Holländer« hatte Wagner die erste Volkssage künstlerisch gestaltet; hier zuerst trat er, die Bahn der historischen, sogenannten »großen Oper« und eines Textverfertigers im herkömmlichen Sinn verlassend, als Dichter auf. Der Glanz des Pariser Ideals war vor ihm erblichen. Von der Zauberoper älteren Stils, wie »Die Feen« sie darstellen, vom bloßen »musikalischen Theaterstück«, wie es der »Rienzi« repräsentiert, war er zur romantischen Oper, zur Ausführung eines wahrhaft deutschen musikalisch-dramatischen Kunstwerks fortgeschritten. Von nun an war er in bezug auf alle seine dramatischen Arbeiten zunächst Dichter und erst in der vollständigen Ausführung des Gedichtes ward er wieder Musiker. In der Vereinigung dieser zwiefachen Fähigkeit liegt die Größe und Eigenart Wagners begründet. Als »Dichterkomponist« hat er keinen Vorgänger. Dabei leitete ihn nicht Reflexion; zwingende, nicht bewußte, aber empfundene Notwendigkeit, so erzählt er, führte ihn auf den neuen Weg.

Im Frühjahr 1841 hatte er sich von Paris nach Meudon auf das Land zurückgezogen. Dort wollte er die musikalische Ausführung seiner Dichtung in Angriff nehmen. Aber nach dreivierteljähriger Unterbrechung alles musikalischen Produzierens fürchtete er in innerster Seelenangst die Entdeckung machen zu müssen, daß seine tonkünstlerische Schöpferkraft versiegt sei. Mit dem Matrosenchor und Spinnerliede begann er zuerst; es ging im Fluge von statten, und laut auf jauchzte er vor Freude bei der Wahrnehmung, »daß er noch Musiker sei.« Binnen sieben Wochen war die ganze Oper beendet. Nach Verlauf dieser Zeit bedrängten ihn wieder die niedrigsten äußeren Sorgen: zwei volle Monate währte es, bevor er die nötige Muße fand, die Ouvertüre, die er fast fertig im Kopfe mit sich herumtrug, aufs Papier zu werfen. Auf das Titelblatt der Original-Partitur der am 13. September 1841 vollendeten Oper schrieb er die bezeichnenden Worte: »In Not und Elend. Per aspera ad astra. Gott gebe es. R. W.«

Eine schnelle Aufführung des neuen Werkes in Deutschland lag ihm nun vor allem am Herzen. Von München und Leipzig erhielt er abschlägigen Bescheid: »die Oper eigne sich nicht für Deutschland«, beschied ihn »Intendanten-Weisheit« an ersterem Ort. »Ich Tor hatte geglaubt, sie eigne sich nur für Deutschland«, rief er aus, »da sie Saiten berührt, die nur bei dem Deutschen zu erklingen imstande sind!« Inzwischen ward ihm die Annahme des »Holländer« am Berliner Hoftheater seitens des Grafen Redern gemeldet. Da ihm auch die Aufführung des »Rienzi« von seiten der Dresdner Bühne, infolge der lebhaften Fürsprache des Chordirektor Fischer, Tichatscheks und der Schröder-Devrient, zugesichert worden war, die Pariser Weltluft ihn aber »mit immer eisigerer Kälte anwehte,« rüstete er sich im Frühjahr 1842 zur Heimkehr. Das Gefühl der Heimatlosigkeit in dem fremden Lande erweckte in ihm die Sehnsucht nach dem Vaterland. Da fiel ihm das Volksbuch vom »Venusberg« in die Hand, das auf das alte Lied vom »Tannhäuser« begründet und darin letzterer mit dem »Sängerkrieg auf Wartburg« in Verbindung gesetzt war. Weiter wurde er durch einen Freund mit einer kritischen Abhandlung über den »Wartburgkrieg« von Lukas und zugleich mit einer solchen über das Gedicht vom »Lohengrin« bekannt. Mit einem Schlage sah er sich eine neue Welt dichterischen Stoffes erschlossen. »Die Sage«, schreibt er selbst, »in welche Zeit und welche Nation sie auch fällt, hat den Vorzug, von dieser Zeit und dieser Nation nur den rein menschlichen Inhalt aufzufassen und diesen Inhalt in einer nur ihm eigentümlichen, äußerst prägnanten und deshalb schnell verständlichen Form zu geben. – Durch den sagenhaften Ton wird der Geist sofort in denjenigen träumerischen Zustand versetzt, in welchem er bald bis zu dem völligen Hellsehen gelangen soll, wo er dann einen neuen Zusammenhang der Phänomene der Welt gewahrt, und zwar einen solchen, den er mit dem Auge des gewöhnlichen Wachens nicht gewahren konnte. – Diesen hellsehend machenden Zauber soll die Musik vollständig ausführen.«

Endlich, nach fast dreijährigem Aufenthalt verließ Wagner, neunundzwanzig Jahre alt, am 7. April 1842 Paris. Zum ersten Mal sah er den Rhein. »Mit hellen Tränen,« sagt er, »schwur ich armer Künstler meinem deutschen Vaterlande ewige Treue.« Er reiste direkt nach Dresden. Der Weg dahin führte ihn an der Wartburg vorüber. Alsbald wurde ihm sein Tannhäuserplan lebendig. »Wie unsäglich heimisch und anregend«, so hören wir ihn, »wirkte auf mich der Anblick dieser mir bereits gefeiten Burg, die ich – wunderlich genug! – nicht eher wirklich besuchen sollte, als sieben Jahre nachher, wo ich, bereits verfolgt, von ihr aus den letzten Blick auf das Deutschland warf, das ich damals mit so warmer Heimatsfreude betrat und nun, als Geächteter, landesflüchtig verlassen mußte!«

In Dresden angekommen, betrieb er sofort die Aufführung seines »Rienzi«. Vor Beginn der Proben noch ward, während eines Sommerausfluges nach Teplitz, der vollständige szenische Entwurf des »Tannhäuser« verfaßt, dem bald auch die Ausarbeitung eines andern, schon in Paris von ihm konzipierten Opernentwurfs: »Die hohe Braut« Sämtl. Schriften XI. Er wurde später von Kittl in Prag komponiert u. unter dem Titel »Die Franzosen vor Nizza« aufgeführt. für Wagners nachmaligen Kollegen Reißiger folgte. Was läßt sich dem Wohlgefühl des Künstlers vergleichen, der nach langem Ringen in kleinlichsten Verhältnissen, nach härtesten Entbehrungen und Kämpfen sich endlich in eine anerkennende fördernde Umgebung versetzt, von Künstlern umringt sah, die ihm und seinem Werke warme Teilnahme, ja Begeisterung entgegenbrachten? Und die Begeisterung der Ausführenden teilte sich dem Publikum mit, als »Rienzi« am 20. Oktober 1842 seine Bühnenlaufbahn begann.

Völlig berauschend wirkte der jugendliche, heroisch gestimmte Enthusiasmus, der denselben durchweht, auf die Hörer; dazu der Reichtum der Ausstattung, die Leistungen Tichatscheks, des Trägers der Hauptrolle, und der Schröder-Devrient als Adriano, genug der Erfolg war, obwohl die Aufführung sechs Stunden währte, ein glänzender. Der Komponist war der Held des Tages in der sächsischen Residenz; wie mit einem Schlag verbreitete sich sein Name durch ganz Deutschland. Er, der Verlassene, Heimatlose, sah sich plötzlich inmitten eines Publikums, das seinem innersten Wesen Verständnis entgegenzutragen schien, sah sich geliebt und bewundert und – er selber kaum wußte wie ihm geschah – zum Kapellmeister der königlich sächsischen Hofkapelle ernannt.

Nichtsdestoweniger zauderte er mit Annahme der ehrenvollen Stellung. Seine Abneigung gegen das Bühnenleben mit seiner oberflächlichen Scheinkunst, der gebieterische Drang in ihm, ungehindert dem Schaffen zu leben, sträubten sich gegen die neue Fessel. Dagegen lockte ihn die Sicherheit der Stellung, die Gelegenheit, für die Kunst Ersprießliches zu wirken – kurz, er ward am 2. Februar 1843 »froh und freudig« Kapellmeister des Königs von Sachsen, der Nachfolger seines schwärmerisch von ihm verehrten Vorbildes Carl Maria von Weber, dessen Witwe ihn beschwor, das Werk ihres Gatten fortzusetzen.

Leider nur währte sein Wohlgefühl nicht lange.

Unmittelbar nach dem sensationellen Erfolge des »Rienzi« begann man am Hoftheater mit Einstudieren des »fliegenden Holländer«, und bereits am 2. Januar 1843 ging derselbe, obgleich ein wenig eilfertig und mit nicht genügender Sorgfalt vorbereitet, auch nicht in einem Akte, wie Wagner ihn ursprünglich aufgeführt wissen wollte, in Szene. »Der Erfolg«, sagt dieser, »war für mich äußerst lehrreich und leitete die entscheidende Wendung meines späteren Schicksals ein.« Die Aufführung mißglückte in der Hauptsache. Nur die Schröder-Devrient – »meine große Meisterin« nennt sie Wagner – riß mit ihrer genialen Wiedergabe der Senta zu lebhafter Begeisterung hin und rettete die Oper vor völligem Unverständnisse der Zuhörerschaft. Noch kam es nur zu vier Vorstellungen, da die Schröder Dresden für längere Zeit verließ. Im übrigen fühlte man sich in seinen Voraussetzungen getäuscht. Etwas dem »Rienzi« Ähnliches hatte man erwartet und fand nun etwas demselben geradewegs Entgegengesetztes. Statt der Bewegtheit szenischer Vorgänge fand man ein ergreifendes Seelengemälde, ein düsteres nordisches Stimmungsbild, statt der dort geschauten Ballette und Massenwirkungen, einige wenige ernste Gestalten, die sich, zu Charakteren verdichtet, aus dem Halbdunkel einer mysteriösen Beleuchtung abhoben. Statt der üblichen Reihe im bunten Wechsel aufeinander folgender Gesangstücke, gewahrte man in engem Zusammenhang mit dem Inhalt stehende Formen. Statt an die Sinne wandte sich dies poetische Werk an das Gemüt; es wollte empfunden und – wie alle nachfolgenden Schöpfungen Wagners – mit Hingebung empfangen, nicht nur gehört und gesehen sein.

In all diesen Beziehungen steht der »fliegende Holländer« dem »Rienzi« und den Erscheinungen der großen Oper überhaupt als etwas Neues, Ungewohntes gegenüber. Dennoch erhebt er sich noch nicht auf völlig neuem Boden, bezeichnet er erst den Beginn der von Wagner eingeschlagenen neuen Bahn. Noch ist der in seiner Entwicklung begriffene Stil des Meisters nicht durchaus frei geworden vom Bann der überlieferten Formen; nur allmählich beginnt der Komponist sich denselben zu entziehen, sie noch nicht systematisch verwerfend, wie er später getan. Wohl kommt die ihm eigentümliche charakterisierende Kraft in Stimmung und Tonmalerei schon hier zu voller Geltung; mit unerhört naturalistischer Gewalt reden die Instrumente, und in harmonischer Beziehung zeigt er sich schon als der kühne Chromatiker von später. Auch bedient er sich hier bereits zur Charakterisierung hervortretender Personen und Situationen der sogenannten Leitmotive, kurzer melodischer Phrasen, welche wiederkehren so oft die betreffenden Personen oder Vorgänge vorgeführt oder berührt werden. Die musikalische Konzeption aber ist noch nicht so markig, der Faden der dramatischen Handlung weniger fest geknüpft, als in seinen späteren Werken. Viel stärker findet sich schon im »Tannhäuser« die Handlung aus ihren inneren Motiven entwickelt. Der Verlauf des Ganzen ist im »Holländer« mehr balladenmäßig als eigentlich dramatisch; szenisch wirksame Situationen, dramatische Motive erscheinen nur sparsam in Anwendung gebracht. Wir sehen Wagner erst instinktiv die Form ergreifen, die er später bewußt gestaltet und die er theoretisch und praktisch mit der ihm eigenen Überzeugungsgewalt festgestellt hat. Denn nicht willkürlich, nicht mit bewußter Absichtlichkeit ward er zum Reformator. Er folgte nur der inneren Nötigung. Schritt für Schritt ging er weiter auf dem Weg, den sein Genius ihn gehen hieß. Ein eminenter Scharfblick für das dramatisch Wirksame und Gesetzmäßige, eine geniale Hand im Erfassen und Anordnen des Stoffes bei hervorragendem dichterischen Talent kamen dem Musiker in ihm als mächtige Bundesgenossen zu Hilfe und führten ihn naturgemäß und mit geschichtlicher Notwendigkeit dahin, der in der ganzen Nach-Beethovenschen Musikepoche sich aussprechenden poetisierenden Richtung auf dramatischem Gebiet energischsten Ausdruck zu geben und das seit Entstehung der Oper angestrebte Ideal der modernen Wiedergeburt der klassischen Tragödie im Geiste unsrer Musik zu verwirklichen.

»Meine Richtung« – sprach er sich 1849 brieflich zu Freiherr von Biedenfeld in Weimar aus – »habe ich eingeschlagen als Musiker, der, von der Überzeugung des unerschöpflichsten Reichtums der Musik ausgehend, das höchste Kunstwerk, nämlich: das Drama will. Ich sage will, um mein Streben zugleich mit anzudeuten; ob ich es kann, das vermag ich allerdings nicht zu beurteilen, und wenn ich mich irre, kann dies nur infolge meiner schwachen Befähigung, nicht aber meines richtigen Willens sein.«

Im »Holländer« zuerst sehen wir Wagner, wie erwähnt, seine Doppelbegabung als Dichterkomponist bezeugen. Der musikalische Geist vermählt sich nicht allein in ebenbürtiger Ehe dem dichterischen, eine leidige Mesalliance zwischen Wort- und Tondichtung vermeidend, wie sie die meisten älteren Opern darbieten; die Musik geht, wie Louis Köhler sagt, bei Wagner »aus dem tiefen Naturgrund selbst hervor, wo Poesie- und Musik-Stoff Eins sind.« Eben hierin, in der Verbindung einer enormen elementaren Naturkraft mit der entsprechenden künstlerischen Gestaltungskraft, beruht die unwiderstehliche Macht seiner Schöpfungen und ihre über alle musikalisch-dramatischen Hervorbringungen seit Beethoven und Weber riesengroß hervorragende Bedeutung. Wagner selbst legt auf die Dichtung seiner Werke nicht minderen Wert als auf die Partitur und umgekehrt. Nur als Ganzes und zwar von der Bühne herab wirksam, will er dieselben beurteilt wissen. Ein Anspruch, dem nachzukommen sich freilich selbst seine Freunde nur allmählich gewöhnten, den aber die ihm feindliche Kritik dreist ignorierte, indem sie aus mancherlei, namentlich sprachlichen Eigentümlichkeiten seiner Operngedichte begierig Angriffswaffen gegen ihn schmiedete.

Noch ein neues größeres Werk brachte der Meister, der eine Zeitlang auch die Leitung der Dresdner »Liedertafel« übernommen hatte, 1843, gelegentlich des sächsischen Männergesangfestes im Juli zur Aufführung: die für Männerstimmen und Orchester geschriebene biblische Szene »Das Liebesmahl der Apostel«. Auch dies Wagnersche Unikum in der Männergesang-Literatur,, das das Prinzip der Sprachmelodie schon deutlich hervortreten läßt und in dem »Liebesmahl« und den »Stimmen aus der Höhe« die eisten Keime zu dem vierzig Jahre später vollendeten »Parsifal« aufweist, mußte lange auf Beachtung warten, obwohl es bei seiner ersten Vorführung in der Frauenkirche mit einem Chor von 1200 Sängern und einem Orchester von 100 Instrumenten, nach des Komponisten Worten »alles hinriß«. Nebenher entstanden um diese Zeit noch mehrere Gelegenheitswerte, die des Künstlers Amt als sächsischer Hofkapellmeister ihm abforderte. Zwei andere: einen Trauermarsch über Motive aus »Euryanthe« und einen Grabgesang, widmete er dem Gedächtnis Carl Maria von Webers, als dessen Asche, nach ihrer von Wagner eifrig betriebenen Überführung von London nach Dresden, daselbst im Dezember 1844 feierlich empfangen und beigesetzt wurde.

Auf rasche Verbreitung seiner Opern auf den deutschen Bühnen hoffte Wagner inzwischen vergebens. Von allen Seiten wurden ihm seine Partituren, oft sogar uneröffnet, zurückgesandt. Nur in Hamburg erlebte der »Rienzi« eine ziemlich resultatlose Aufführung. Nur in Kassel und Berlin ging endlich auch der »fliegende Holländer« in Szene, und zwar an ersterem Orte dank der Bemühung Spohrs, des einzigen deutschen Kapellmeisters, der den jungen Tondichter mit Liebe aufnahm und ihm in einem Briefe seine volle Sympathie kundtat, diese einfach durch die Freude erklärend, einem Künstler zu begegnen, dem man es in allem ansähe, daß es ihm um die Kunst Ernst sei. In Berlin war die Aufnahme der Oper eine günstige; dennoch verschwand sie sehr bald wieder vom Repertoire; vielleicht weil sie, wie der Komponist meint, von zu bestimmter individueller Stimmung war, um dem großen Publikum bequem und sympathisch zu sein. Hohe Genugtuung gewährte ihm dagegen wenigstens die Wahrnehmung, welch tiefen Eindruck sein Werk auf einzelne ausgeübt hatte; in ihr erkannte er eine Aufforderung zum Weiterverfolgen der von ihm eingeschlagenen Richtung. Von der unmittelbaren Wirkung auf das Publikum, mit dem er bereits in seiner ersten eigensten Tat, dem »Holländer«, den Zusammenhang verloren hatte, sah er fortan völlig ab, einzig nur die Gestaltung eines Kunstwerks nach dem ihm aufgegangenen Ideal erstrebend. Indem er sich der Rücksichten auf die traditionelle Oper mehr und mehr entschlug, ergab sich ihm von selbst der neue Stil, und so gelangte denn zuerst in dem im Winter von 1844 – 45 vollendeten »Tannhäuser« seine ureigene Künstlernatur zum Durchbruch. »Mit diesem Werk schrieb ich mir mein Todesurteil«, sagt er selbst; »vor der modernen Kunstwelt konnte ich nun nicht mehr auf Leben hoffen.« In so verzehrender Weise war sein ganzes Wesen bei dieser neuen Schöpfung tätig, daß er sich häufig von der quälenden Angst befallen fühlte, ein schneller Tod könne ihn an der Vollendung hindern. Bei Aufzeichnung der letzten Note fühlte er sich froh, als ob er einer Lebensgefahr entronnen wäre.

Nach beendigter Arbeit suchte er in Marienbad Erholung. Hier nahm er die dramatische Gestaltung des Lohengrinstoffes vor, dessen früheste Konzeption noch in seine letzte Pariser Zeit fällt. Gleichzeitig faßte er die Idee zu einer komischen Oper, die, wie das Satirspiel bei den Athenern an die Tragödie, sich als beziehungsvolles Satirspiel an den »Sängerkrieg auf der Wartburg« anschließen konnte. Der Entwurf zu den »Meistersingern von Nürnberg« entstand. So reiften zwei Pläne nebeneinander in dem rastlos tätigen Geiste. Mitte August reiste er mit seiner Gattin nach Dresden zurück. »Mir war«, schreibt er, »als ob ich Flügel hätte.«

Am 19. Oktober 1845 hörte Dresden den »Tannhäuser« zum ersten Male. Er ging mit der Schröder-Devrient (Venus), Johanna Wagner (Elisabeth), Tichatschek (Tannhäuser), Mitterwurzer (Wolfram) glanzvoll über die Bretter. Nichtsdestoweniger verließ das Publikum »verwirrt und unbefriedigt« die erste Vorstellung.

»Die philisterhafte Dresdener Kritik« – berichtet Richard Pohl, einer der ältesten und treuesten Anhänger Wagners, in seiner nach des Meisters Tode veröffentlichten, hier mannigfach benutzten Broschüre R. Wagner. Leipzig, Breitkopf & Härtel. 1883. – »leistete ihr Möglichstes, um das Publikum, anstatt zu orientieren, noch mehr zu verwirren; auch der Chef des Theaters, Geheimrat von Lüttichau, ermangelte nicht, seinen Kapellmeister zu bedeuten, daß Weber es doch viel besser verstanden habe, seine Opern ›befriedigend‹ zu schließen, während hier das Publikum unbefriedigt entlassen werde. Vom Verständnis des dichterischen Wertes, des ethischen Gehaltes keine Spur; vom Verständnis des neuen musikalischen Stils natürlich noch weniger. Selbst die von Wagner so hoch verehrte Schröder-Devrient soll nach der ersten Aufführung gesagt haben: ›Sie sind ein Genie, aber Sie schreiben doch zu tolles Zeug. Man kann's ja kaum singen!‹ Die Kritik fand, daß Wagner keine Melodie und keine Form habe; an der Handlung fand sie ebensoviel zu tadeln wie an der Musik.« An die hervorragendsten Momente: den Sängerkrieg mit dem großen zweiten Finale und die als »das nichtssagende Rezitativ Tannhäusers« abgefertigte große Erzählung im dritten Akt, die beide auf Wagners ganze weitere Entwicklung schon deutlich hinweisen, heftete sich der lebendigste Widerspruch. Mit dem über die Oper hinaus zum Drama strebenden Ganzen, das statt des Sängers den Darsteller, statt des spezifisch musikalischen das dramatische Element in den Vordergrund stellte und mit dem leidenschaftlichen Charakter seiner Tonsprache zur in sich beruhigten Schönheit, die man bisher in der Oper zu finden gewöhnt war, in scharfen Gegensatz trat, wußte keiner etwas anzufangen. Dies galt keineswegs nur von der Dresdner Kritik, anderwärts wiederholte sich nachmals überall dasselbe Lied. »Schöpferisches Genie muß man ihm absprechen«, schrieb der Mozart-Biograph Otto Jahn nach der dritten Leipziger Aufführung des »Tannhäuser« in den »Grenzboten«, und Moritz Hauptmanns gewichtige Stimme nannte die Ouvertüre »ein ganz verunglücktes, ungeschickt konzipiertes Werk«. In Wien lehnte eine Musikzeitung den »Tannhäuser« 1858 mit den Worten ab: »Die Musik ist nicht geeignet, ein Wiener Publikum zu begeistern.«

Das war das erste, sich gleicherweise bei allen späteren Schöpfungen des Meisters erneuende Debüt des »Tannhäuser«, der heute auf allen deutschen und ungezählten außerdeutschen Bühnen längst zum eisernen Repertoire-Bestand und zu den geliebtesten Opern gehört.

»Das Gefühl der vollkommensten Einsamkeit übermannte mich«, bekennt Wagner nach der ersten Aufführung dieses seines Werkes. »Nicht verletzte Eitelkeit, sondern der Schlag einer gründlich vernichteten Täuschung betäubte mich nach innen. Nur eine Möglichkeit schien mir vorhanden zu sein, auch das Publikum mir zur Teilnahme zu gewinnen – wenn ihm das Verständnis meiner künstlerischen Absichten erschlossen würde. Bis dahin mußte ich mir wie ein Wahnsinniger erscheinen, der in die Luft hinein redet und von dieser verstanden zu werden vermeint.«

Der, dank der Bemühung der Direktion und der Darsteller, sich allmählich steigernde Erfolg des »Tannhäuser« täuschte ihn nicht mehr. Die Unmöglichkeit, dem letzteren einen populären Erfolg, oder überhaupt nur Verbreitung auf den deutschen Theatern zu verschaffen, trat ihm hell entgegen, und hiermit erkannte er zugleich den gänzlichen Verfall seiner äußeren Lage. Fast nur um sich vor diesem Verfall zu retten, tat er noch Schritte für die Aufführung dieser Oper und richtete sein Augenmerk namentlich auf Berlin. Der Intendant des Hoftheaters aber wies dieselbe als zu »episch« gehalten zurück, und auf die Bitte, dem König sein Werk widmen zu dürfen, erhielt er vom Intendanten der Hofmusik, Graf Redern, den Bescheid, er möchte, da der König nur Werke annähme, die er kenne, die Oper aber in der Hauptstadt nicht aufführbar sei, einiges daraus für Militärmusik arrangieren, damit es »dem König etwa bei einer Parade zu Gehör zu bringen sei.«

»Tiefer«, bekennt Wagner, »konnte ich wohl nicht gedemütigt und bestimmter zur Erkenntnis meiner Stellung gebracht werden! Von nun an hörte unsere ganze moderne Kunstöffentlichkeit immer grundsätzlicher auf für mich zu existieren.« Sogar von seinen nächsten Kollegen Reißiger und Lipinski ebenso mißkannt als beeifersüchtelt, nur bei wenigen, wie der Gattin seines Intendanten, der edlen geistvollen Frau von Lüttichau, dem Schriftsteller Hermann Franck, dem Musikdirektor August Röckel, dem Kammermusikus Uhlig, Teilnahme und Verständnis findend, während er doch mit Schumann, Hiller, Bendemann, Hübner, Julius Schnorr von Carolsfeld, Hähnel, Rietschel, Semper, Gutzkow, Auerbach, Eduard Devrient in Verkehr stand, drängte ihn inmitten seines künstlerischen Einsamkeitsbewußtseins gleichwohl ein leidenschaftliches Bedürfnis zur Mitteilung, selbst ohne alle Aussicht auf wirkliche Ermöglichung derselben. Er griff zu »Lohengrin«, in innerster Wahlverwandtschaft mit dem Stoffe. Als »das unabwendbare natürliche Produkt seines Daseins, seiner Leidenschaften, Freuden und Schmerzen«, drängte sich derselbe, wie früher der »Holländer« und »Tannhäuser«, seinem Geiste auf.

»Das Tragische in der Situation des wahren Künstlers zum Leben der Gegenwart«, schreibt er, »gleicht der Situation, die im Stoffe des ›Lohengrin‹ von mir ihre künstlerische Gestalt erhielt. Das notwendigste und natürlichste Verlangen dieses Künstlers ist, durch das Gefühl rückhaltslos aufgenommen und verstanden zu werden, und die durch das moderne Kunstleben bedingte Unmöglichkeit, dieses Gefühl in der Unbefangenheit und zweifellosen Bestimmtheit anzutreffen, als er es für sein Verstandenwerden bedarf, der Zwang, statt an das Gefühl sich fast einzig nur an den kritischen Verstand mitteilen zu dürfen: dies eben ist zunächst das Tragische seiner Situation, das ich als künstlerischer Mensch empfinden mußte und das mir auf dem Wege meiner weiteren Entwickelung so zum Bewußtsein kommen sollte, daß ich endlich in offene Empörung gegen den Druck dieser Situation ausbrach.«

So schrieb Wagner seinen »Lohengrin« mit seinem Herzblut, unter heiß ihm entströmenden Tränen. Und er gab der Welt mit ihm nicht nur eins ihrer weihevollsten Tongedichte, sondern zugleich das populärste seiner Werke. Seinem Ideal schritt er damit um wesentliche Schritte weiter entgegen. Nur nach treuester Aussprache des Darzustellenden, nach höchster Deutlichkeit des Ausdrucks ringend, gab er die geschlossenen Formen im Einzelgesang hier bereits vollständig auf. Konsequent führt er das Prinzip der Leitmotive durch, und ein blühendes instrumentales Leben macht er zum Träger des deklamatorischen Stils. Liszt bezeichnet in seiner epochemachenden Schrift »Lohengrin und Tannhäuser« Liszt, Ges. Schriften. Bd. III. 2. Leipzig, Breitkopf & Härtel. 1881. als Hauptcharakter der Musik dieser Oper die hohe Einheit der Konzeption und des Stils. »Alles verbindet, verkettet und steigert sich; alles ist mit dem Sujet aufs engste verwachsen und könnte nicht von demselben getrennt werden. Jeder Progression der Harmonie geht ein entsprechender Gedanke vorher oder folgt ihr. Man kann von diesem großen Werke sagen, daß es die durchdachteste aller Inspirationen ist.«

Während Wagner an der Ausführung des »Lohengrin« arbeitete, dessen Dichtung er im Winter 1845-46, dessen Musik er bis März 1848 vollendete, mehrte er auch seine Verdienste um das durch mustergültige Opern- und Konzertaufführungen durch ihn geförderte Dresdner Musikleben weiterhin durch eine jetzt allgemein benutzte Bearbeitung von Glucks »Iphigenie in Aulis«, wie eine solche von Palestrinas »Stabat mater«. Ihnen schickte er die Auffühlung von Beethovens neunter Symphonie voran, welche letztere er mit einem genial geschriebenen Programm Sämtl. Schriften. Bd. II. Weiteres über die Neunte Bd. XII. begleitete. Bevor es dazu kam, hatten die Orchestervorsteher den Intendanten Lüttichau ersucht, Wagner von Wahl dieser Symphonie abzubringen, da sie hierorts in Verruf stehe und das Publikum vom Besuch des Konzerts abhalten werde. Doch der Erfolg gab dem Dirigenten Recht.

Indessen trat seine von einem finanziellen Zusammenbruch bedrohte äußere Lebensstellung in immer lebhafteren Zwiespalt zu seiner inneren Stimmung. In immer größere Einsamkeit zog er sich zurück und lebte fast nur noch mit Röckel in engem Umgang. »Ein widerliches Band« nur fesselte ihn noch an die bestehenden öffentlichen Kunstzustände: die Verpflichtung, auf möglichsten Gewinn aus seinen Arbeiten bedacht zu sein, um der bedrängten materiellen Lage aufzuhelfen, in die ihn die Herausgabe seiner Opernpartituren auf eigene Kosten gestürzt hatte. Es gelang ihm endlich seinen »Rienzi« in Berlin zur Aufführung zu bringen. Doch der geringe Erfolg bedeutete für ihn eine neue Enttäuschung. Gerade das augenscheinlich am meisten auf Popularität angelegte und in Dresden in der Tat im Umsehen populär gewordene Werk machte seltsamer Weise erst später als »Tannhäuser« und »Lohengrin«, ja erst mit deren Hilfe, seinen Bühnenweg. Tief deprimiert kehrte Wagner nach dem mißlungenen Versuch von Berlin zurück. Da traf ihn im Januar 1848 der ihn tief erschütternde Verlust seiner Mutter, der er sich, so herzliche Beziehungen er auch zu seinen Schwestern pflegte, Siehe »Familienbriefe«. Berlin, Alex. Duncker. 1907. unter seinen Verwandten am innigsten verbunden fühlte. »Im Gefühl seiner vollkommenen Vereinsamung« kehrte er von ihrem Begräbnis in Leipzig nach Dresden zurück.

Nur Eins noch hielt ihn aufrecht: seine Kunst, die »für ihn eben nicht ein Mittel zum Ruhm- und Gelderwerb, sondern zur Kundgebung seiner Anschauungen an fühlende Herzen war.« Es ward ihm klar, daß er für die Bildung des künstlerischen Organs sorgen müsse, durch das er sich in seinem Sinne mitteilen konnte. Dies Organ war das Theater. Seine künstlerischen Absichten durch dasselbe in Dresden, wo er lebte und wirkte, verwirklicht zu sehen, erschien ihm von jetzt an das zunächst Erzielenswerte. Hatten ihn allerlei trübe Erfahrungen während seiner sechsjährigen Tätigkeit am Dresdner Hoftheater bereits mit einer »hoffnungslosen Gleichgültigkeit« gegen dasselbe erfüllt, so wandte er sich ihm nun in der Absicht wieder zu, eine völlige Umgestaltung desselben herbeizuführen. Während er aber über die Möglichkeit einer gänzlichen Reform der Theaterverhältnisse nachsann, ergab sich ihm die Erkenntnis, »daß die herrschenden politischen und sozialen Zustände keine anderen öffentlichen Kunstzustande aus sich bedingen konnten, als eben die von ihm angegriffenen.« Diese Erkenntnis war für seine ganze weitere Lebensentwicklung entscheidend: sie führte ihn der Revolution zu.

Nie hatte sich Wagner bisher mit Politik beschäftigt. Vom rein künstlerischen Standpunkte aus gelangte er zu der Überzeugung, daß eine Revolution notwendig, daß eine Reform der Kunst nicht ohne eine Reform der Gesellschaft möglich sei. »Die Menschheit muß sich, um wieder imstande zu sein, von den Quellen der Schönheit zu trinken, von dem drückenden Joche, unter dem sie seufzt, befreien und eine neue Seele bekommen. Der Mensch ist degeneriert; er muß sich also wieder regenerieren.« »Als Vorkämpfer der Natur, stellt Wagner sich einer raffinierten und verdorbenen Kultur entgegen«. Vgl. H. Lichtenberger, »R. Wagner, der Dichter und Denker«, übersetzt von F. v. Oppeln-Bronikowski. Dresden u. Leipzig, Reißner. 1899.

Als die Revolution im Jahre 1848 wirklich ausbrach, hielt er sich anfangs von jeder Beteiligung an derselben fern. Er arbeitete einen umfassenden Plan zur Reorganisation des Theaters aus, Entwurf zur Organisation eines deutschen Nationaltheaters. Sämtl. Schriften, Bd. II. um, sobald die revolutionäre Frage an dieses Institut gelangen würde, gut gerüstet hervortreten zu können. »Es geschah dies jedoch in der Voraussetzung einer friedlichen Lösung der obschwebenden, mehr reformatorischen als revolutionären Fragen, und des ernstlichen Willens von Oben herab, die wirkliche Reform selbst zu bewerkstelligen.« Der Gang der politischen Ereignisse sollte ihn bald eines anderen belehren. Von Unwillen erfüllt über die Unklarheit der streitenden Parteien, trat er selbst in einer Flugschrift gegen die politisch formelle Auffassung der Revolution und für die Notwendigkeit auf, daß der rein menschliche Kern derselben deutlich ins Auge gefaßt werde. Bei einer Versammlung des »Vaterlandsvereins« las er, durch Röckel angefeuert, im Juni 1848 seinen Aufsatz vor. Bd. XII. Aus der Revolutionszeit. An dem Erfolge dieses Schrittes inzwischen gewahrte er, daß den Politikern das Verständnis seines Standpunktes völlig abging, daß man an die Verwirklichung der Ideale des Künstlers nicht dachte. Enttäuscht kehrte er, »von einem wahren Hagel von Verwünschungen und Verspottungen getroffen«, in seine frühere Einsamkeit zurück. Doch eine neue Enttäuschung harrte seiner: die von der Intendanz schon erfolgte Annahme seines »Lohengrin« wurde plötzlich zurückgezogen, nachdem ihm die Konzertaufführung eines Teils des ersten Aktes der Oper im September eine Niederlage gebracht hatte.

Gleichgültig geworden gegen seine Dresdner Stellung, gab er sich nun ausschließlich wieder dichterischen Entwürfen hin, und wahrend die Welt um ihn in Gärung lag, kam er, sich in sich selbst versenkend, zum vollen Bewußtsein seiner künstlerischen Richtung. Zwei Stoffe bemächtigten sich gleichzeitig seiner Phantasie: »Siegfried«, der Drachentöter, und »Friedrich der Rotbart«. Sämtl. Schriften XI. Wie schon zur Zeit, als er seinen »Tannhäuser« schrieb, ihn der Gedanke beschäftigt hatte, Manfred, den Hohenstaufensohn, zum Helden einer beabsichtigten, aber wieder aufgegebenen Oper: »Die Sarazenin« Sämtl. Schriften XI. zu machen, so stellten sich ihm auch jetzt noch einmal und zum letzten Male Mythos und Geschichte gegenüber und drängten ihn zur Entscheidung, ob er ein musikalisches Drama oder ein rezitierendes Schauspiel schreiben solle. Seit seiner Rückkehr von Paris war das deutsche Altertum sein Lieblingsstudium gewesen. Sich in den heimatlichen Sagenquell vertiefend, fand er den »jugendlich schönen Menschen in der üppigsten Frische seiner Kraft, als den der Deutsche seinen Siegfried kennt. Gleichzeitig aber auch suchte ei diesen wahren Menschen in der Geschichte; traf jedoch hier nur Verhältnisse, die den Menschen bestimmen, anstatt von ihm bestimmt zu werden.« Friedrich der Rotbart erschien ihm allerdings als eine geschichtliche Wiedergeburt des altheidnischen Siegfried, und in den Tagen der Bewegung mußte es ihm dünken, als ob dieser Stoff dem Verständnis des Volkes näher liege als jener. Schon war der Plan zu einem Drama entworfen, das in fünf Akten Friedrich vom ronkalischen Reichstage bis zum Antritt seines Kreuzzuges darstellen sollte; doch wandte sich der Dichter unbefriedigt wieder von ihm ab. Von der Masse des geschichtlichen Stoffes erdrückt, glaubte er daraus nicht nur das Ungeeignete desselben für das Drama, sondern die Untauglichkeit der Geschichte für die Kunst überhaupt – als mit dem Reichtum äußerer Ereignisse den Menschen nicht zur Erscheinung kommen lassend – folgern zu müssen. Die Konsequenz dieser Ansicht führte ihn endlich weiter zu der Überzeugung, daß das gesprochene Schauspiel, das bisherige reine Literatur-Drama, als eine den Bedürfnissen der Zukunft ungenügende Form verschwinden, an seiner Stelle aber das »musikalische Drama« mit seinem universell menschlichen Gehalt erstehen werde.

Mit dieser neugewonnenen Anschauung – die, Wagners eigenem Bekenntnis zufolge, unter dem Einfluß des Geistes der Musik in ihm entstand – kehrte er nun zu »Siegfried«, zur Sagenwelt zurück. »Und damit«, ruft er aus, »hatte ich eine neue, die entscheidendste Periode meiner künstlerischen und menschlichen Entwicklung angetreten, die Periode des bewußten künstlerischen Wollens auf einer vollkommen neuen, mit unbewußter Notwendigkeit von mir eingeschlagenen Bahn, auf der ich nun als Künstler und Mensch einer neuen Welt entgegenschreite.«

Erscheint auf diese Weise die Wahl des dichterischen Stoffes bei Wagner durch den Musiker in ihm beeinflußt, so wirkt hier wiederum auch der Dichter in ihm auf den musikalischen Ausdruck, und zwar, wie er selbst bezeugt, in einem zweifachen Moment: in der dramatisch-musikalischen Form überhaupt und in der Melodie insbesondere. Indem Wagner den Stoff allein zu dem die Form bestimmenden Faktor erhob, schritt er allmählich in der Gestaltung desselben bis zur Aufhebung der überlieferten Opernform fort. Einzig die gefühlsverständliche Darstellung dieses Stoffes erstrebend, sucht er denselben dramatisch zu gestalten, befreit ihn von den herkömmlichen Zieraten, gliedert ihn, statt wie bisher in einzelne Arien, Duette, Ensembles usw., nur in die natürlich sich ergebenden Abschnitte der Szenen und Akte, die er wiederum in engen Zusammenhang untereinander stellt, und unterwirft mit einem Wort die musikalisch-dramatische Form den allgemeinen dramatischen Gesetzen. Sein Bühnenwerk ist ein in sich geschlossener Organismus, ein Ganzes, im Gegensatz zu dem Vielteiligen der früheren Oper. Soll es sich doch über diese, wie über das rezitierende Drama dadurch erheben, daß es, nach Wagners eigenen Worten, die vorzüglichsten Tendenzen beider »einzig zum Ziele führt und in eine idealisch freie Einheit verbindet«. Die Einführung bestimmter, die verschiedenen Personen und Situationen charakterisierender thematischer Motive wurde bereits erwähnt, und zwar verbreiten sich dieselben nicht (wie früher im einzelnen Operngesangstücke) nur über eine Szene, sondern in eigentümlicher Verbindung und Verzweigung über das ganze Drama, »in innigster Beziehung zur dichterischen Absicht«, dabei zugleich eine formelle Einheit des Ganzen erzielend. Ähnliches hatte schon Carl Maria von Weber versucht, nicht aber eine derartig beziehungsvolle Ausdehnung dieses Verfahrens über das ganze Drama angewandt; wie er ja überhaupt an der gewohnten Gliederung der Oper durchaus festhielt, mochte er immer durch Einführung der sogenannten Szenenform – die, aus der geschlossenen Gestalt der Arie heraustretend, dem Rezitativ vermehrte Freiheit gestattet und auf dem Grenzgebiet zwischen Kantilene und Deklamation ihre Heimat hat – einen Schritt nach vorwärts getan haben, der Wagner zu immer weiteren Konsequenzen führte. Wagner erzählt, wie er auch zu dem erwähnten Motivenprinzip nicht durch Reflexion, sondern durch praktische Erfahrung gelangt sei, indem er in der Ballade der Senta im »fliegenden Holländer« unbewußt den thematischen Keim zur ganzen Musik der Oper niederlegte.

Er bezeichnet uns auch noch den Einfluß seines dichterischen Verfahrens auf die Bildung seiner Themen selbst, auf die Melodie. Er erzählt uns, daß er in seiner Jugend oft nachgedacht habe, wie er es wohl anzufangen hätte, um recht originelle Melodien zu erfinden. Je mehr sich aber sein musikalisches Gestalten auf den dichterischen Stoff bezog, schwand diese Sorge um die Besonderheit derselben. Es war ihm nun nicht mehr um Opernmelodien zu tun, sondern um den entsprechendsten Ausdruck für seinen darzustellenden Gegenstand. Die Melodie an sich sollte nirgends Aufmerksamkeit erregen, sondern nur die in ihr sich aussprechende Empfindung; sie ist bei Wagner nicht Zweck, sondern Mittel. Er läßt sie nicht um ihrer selbst willen, sondern allein aus der gefühlvoll vorgetragenen Rede, »als den in der Dichtung wurzelnden treuesten Ausdruck«, entstehen, und geht damit vollständig von dem üblichen Opernkompositionsverfahren ab. Doch entzog er sich dem Einflüsse dieses letzteren nur allmählich und zwar »ganz in dem Maße, als die im Sprachverse ausgedrückte Empfindung für ihren gesteigerten musikalischen Ausdruck ihn bestimmte«. Wagners Melodie steht in innigster Verwandtschaft mit der Sprache. Sie geht aus dieser hervor und verbindet sich unauflöslich mit ihr. Sie schmiegt sich ihr nach Sinn, Tonfall und Akzenten so selbstlos an, daß man gerade in bezug hierauf gesagt hat, Wagners Musikdrama sei im Grunde mehr ein erweitertes Melodrama, als eine Neugestaltung der Oper; nur daß er statt des gesprochenen Wortes das gesungene, durch bestimmte Töne präzisierte Wort setze. So wird sein Gesang, dem dramatischen Ausdruck zu Liebe, zur idealen Deklamation. Der alte Gegensatz zwischen Rezitativ und Kantilene – welches erstere bisher ausschließlich die Handlung begleitete, während die letztere innerhalb geschlossener Nummern dem Ausleben der Empfindung Raum gewährte – besteht bei ihm nicht mehr. Das musikalische Zuwenig des einen, wie das Zuviel der andern glich er aus. Die geschlossene Form der Arie ist ihm flüssig geworden. Der im alten Stile ausgestalteten Melodie entsagt er demgemäß. An ihrer Stelle gibt er uns die sogenannte »unendliche«. Sein Drama ist ein Strom ununterbrochener, unendlicher Melodie, die teils den Sängern, teils dem Orchester in den Mund gelegt wird. Als ein in sich geschlossenes Ganzes läßt sich seine Melodie, oder irgend ein Einzelstück nur in seltenen Fällen loslösen; hier flutet alles in Einem, und nur in seiner Beziehung zum Gesamtwerk beruht die Schönheit und Bedeutung jedes Einzelnen. Als notwendige Konsequenz seiner dramatischen Prinzipien auch dominiert in seinen nun folgenden Schöpfungen, mit Ausnahme der »Meistersinger« und des »Parsifal«, der Einzelgesang. Nur mit äußerster Enthaltsamkeit verwendet er, so wunderbar er im Orchester die Kunst des Polyphonikers übt, einen vokalen Vollklang; nur wo es sich streng in den Rahmen des Dramas fügt, wo die Situation es nicht allein erlaubt, sondern bedingt, vernehmen wir ein Ensemble, einen Chor. Gleichzeitig mit der melodischen Neubildung erstrebt Wagner eine harmonische charakteristische Belebung des dramatischen Ausdruckes und eine immer bezeichnendere Begleitung des Orchesters, dem er in symphonischer Weise die Ausarbeitung der musikalischen Motive, die kunstvolle Detailmalerei überträgt, die uns das Stimmungsleben der Dichtung bis ins Einzelnste veranschaulicht. Dazu endlich noch eine rhythmische Reform, indem er an Stelle des von ihm als unvollkommen erkannten modernen Reimverses die älteste deutsche dichterische Form: den Stabreim setzt.

»Wagner«, sagt Liszt, »fühlt, und mit Recht, daß er in der dramatischen Musik an dem Entwicklungsmomente angelangt ist, den Gluck und Weber vorbereiteten. Im Besitze unendlich mannigfaltigerer Mittel wie der erste, als denkender und kombinatorischer Kopf bedeutender wie der letzte, Poet und Musiker zugleich, verfügt er noch dazu über die ganze Masse von Hilfsquellen, vermöge welcher der große deklamatorische Stil in seiner höchsten Vollendung sich manifestieren kann. Aller Instrumentaleffekte, Stimmengruppierungen und Dekorationspracht usw. seiner Vorgänger hat er sich bemächtigt und alles dies auf tiefgehende Stoffe verwandt, deren Ausgiebigkeit er vollständig entwickelte. Wir glauben (Liszt schrieb dies vor 60 Jahren!), daß Wagners Werke das typische Monument des musikalischen Dramas unserer Epoche bleiben werden.«

Nachdem Richard Wagner im Herbst 1848 die Dichtung »Siegfrieds Tod« vollendet hatte, faßte er die Idee, »Jesus von Nazareth« zum Mittelpunkte eines Dramas zu machen; den menschlichen, nicht den symbolischen Christus, wie er sagte; aber darum nicht minder den Gottessohn und Erlöser. Die Idee des Stücks sprechen die vom Dichter Christus auf die Lippen gelegten Worte aus: »Ich erlöse euch von der Sünde, indem ich euch das ewige Gesetz des Geistes verkünde; dieses Gesetz aber ist die Liebe, und was ihr in der Liebe tut, kann nie sündig werden.« Wagner war ein gläubiger Christ. »Zu wissen, daß ein Erlöser einst dagewesen ist, bleibt das höchste Gut des Menschen. Der Weg zur Erlösung geht in den Tod und Christus hat uns das Vorbild gegeben, schön zu sterben, wozu nur ein schönes Leben gehört«, schrieb er nach Vollendung des »Parsifal. H. v. Wolzogen, »Erinnerungen an Wagner«. Leipzig, Reclam. Daß sein »Jesus von Nazareth« ein erhabenes, erschütterndes Drama geworden wäre, zeigt der dichterische Entwurf. Breitkopf & Härtel. 1887. Desgl. Sämtl. Schriften XI. Ebd. auch der Entwurf zu »Die Sieger«. Doch er gab den Plan wieder auf, wie er überhaupt in jenen Tagen alles aufgab, was ihn mit Hoffnung erfüllt und so über die wahre Lage der Dinge um ihn her getäuscht hatte. Im Vorgefühl der unvermeidlichen Entscheidung, die auch ihn treffen mußte, sobald er seinem Wesen und seinen Gesinnungen treu blieb, floh er jetzt sein Zimmer und wanderte einsam hinaus ins Freie, »um sich im erwachenden Frühling zu sonnen und alle eigensüchtigen Wünsche von sich zu werfen, die ihn noch mit täuschenden Bildern an eine Welt Von Zuständen fesseln konnten, aus der all sein Verlangen mit Ungestüm ihn hinauftrieb.«

So traf ihn der Dresdner Aufstand im Mai 1849, den er mit vielen für den Beginn einer allgemeinen Erhebung in Deutschland hielt. Er beteiligte sich an demselben mit aufreizenden Reden und mußte, steckbrieflich verfolgt, gleich seinem Freund, dem großen Architekten Semper, die Flucht ergreifen. Mit Entschiedenheit kehrte er einer Welt den Rücken, der er seinem Wesen nach längst nicht mehr angehörte. Und er, der Geächtete und Verfolgte, »fühlte sich zum ersten Mal in seinem Leben durch und durch frei, als er der so scheinheilig um Kunst und Kultur besorgten Welt offen zurufen konnte, daß er sie aus tiefstem Grunde des Herzens verachte; er fühlte sich frei, heil und heiter, mochte er auch nicht wissen, wo er den nächsten Tag sich bergen sollte, um des Himmels Luft atmen zu dürfen.« »Ich kam mir wie der Vogel in der Luft vor, der nicht bestimmt sei in einem Sumpfe zu Grunde zu gehen«, heißt es in der Autobiographie. Aus allem Mißgeschick heraus aber entfaltet er sich nun zu voller Größe.

Sein ganzer Reichtum war die Partitur des »Lohengrin«. Sie schützte ihn, da er sie in Leipzig für einige hundert Taler verkaufte, wenigstens vor der ersten Not. Eine gütige Fügung der Vorsehung wollte es indessen, daß, gerade als er flüchtigen Fußes die Heimat verlassen mußte, seine Kunst die langersehnte Heimat im deutschen Vaterlande fand. Auf der Durchreise nach der Schweiz in Weimar verweilend, sah er Franz Liszt eine Probe seines »Tannhäuser« dirigieren und erkannte durch diese Leistung in ihm, der sich als sein treuester Freund bewahren sollte, »sein zweites Ich«. »Was ich fühlte, als ich diese Musik erfand, fühlte er, als er sie aufführte; was ich sagen wollte, als ich sie niederschrieb, sagte er, als er sie ertönen ließ«, bezeugt er selbst. So durfte er leichteren Herzens hinaus in die Fremde wandern – er wußte, daß seiner Kunst daheim ein großherziger Beschützer lebte. Und was ihm selber nicht gelungen, den energischen Bestrebungen Liszts war es vorbehalten: die deutsche, die musikalische Welt erschloß sich allmählich den Werken dieses urdeutschen Meisters, für die alsbald auch die beste und einflußreichste Musikzeitung damaliger Zeit, die von Robert Schumann gegründete und von Franz Brendel fortgeführte »Neue Zeitschrift für Musik« energisch Partei ergriff.

Die ganze Fülle der Liebestaten Liszts für Wagner ist erst durch den Briefwechsel beider, 2 Bde, Leipzig, Breitkopf & Härtel. 1887. 3. Auflage als erweiterte Volksausgabe in 1 Bd. von E. Kloß herausgegeben 1910., eines der herrlichsten Bücher unserer Literatur, kund geworden. Was den Verbannten, vom klingenden Kunstleben Losgelösten viele Jahre lang allein trug und stützte, ihn mit unermüdlichem, zartestem Opfermut aus äußerer und innerer Bedrängnis rettete, ihm allerwege besonnenen Rat, unerschütterlichen Glauben, tiefinnerstes Verständnis entgegenbrachte und zu neuen Taten ermutigte, war die Freundschaft Liszts, von der Wagner selbst sagt: »Deine Freundschaft ist das wichtigste und bedeutsamste Ereignis meines Lebens.« »Wo hat je ein Künstler, ein Freund für den andern getan, was Du für mich tatest!! Wahrlich, wenn ich an der ganzen Welt verzweifeln möchte, hält mich ein einziger Blick auf Dich wieder hoch, hoch empor, erfüllt mich mit Glauben und Hoffnung. Ich begreife nicht, was ich seit vier Jahren ohne Dich geworden wäre: und was hast Du aus mir gemacht! Es ist hinreißend schön, Dir in diesem Zeitraume von mir aus zuzusehen!«

Wagner hatte sich inzwischen von Weimar und Eisenach aus, wo ihn die Großherzogin Maria Paulowna empfing, nach nur kurzem Aufenthalte in Zürich nach Paris, und da dieses seiner Stimmung wenig zusagte, wieder nach der Schweiz gewandt. In Zürich ließ er sich Anfang Juli 1849 nieder. Bald erwarb er sich in dem Staatsschreiber Sulzer, in Gottfried Keller, Georg Herwegh Freunde. Auch Semper, seinen Dresdner Gesinnungsgenossen, fand er hier wieder. Zu künstlerischer Produktion nicht aufgelegt, vertiefte er sich in philosophische Studien und Systematisierung der Kunsttheorie, und wie vor Jahren während seines ersten Pariser Aufenthaltes, griff er auch jetzt wieder zur Feder des Schriftstellers, um seinem Herzen Luft zu machen. Schon wenige Monate nachdem er ins Exil gegangen, veröffentlichte er eine kleine Schrift: »Die Kunst und die Revolution«, Sämtl. Schriften. Bd. III., darin er eine Parallele zieht zwischen dem Kunstleben der Griechen und unserm heutigen, und die moderne Kunst, im Zusammenhang mit dem ganzen politisch-sozialen Zustande der modernen Welt, als der Industrie verfallen und zum Handwerk herabgesunken bezeichnet. »Nur die große Menschheitsrevolution«, meint er, »deren Beginn die griechische Tragödie (die Blüte einer konservativen Kunst) einst zertrümmerte, kann auch dies Kunstwerk (das wirkliche Drama, dieses eine unteilbare, größte Kunstwerk des menschlichen Geistes) uns gewinnen; denn nur die Revolution kann aus ihrem tiefsten Grunde das von neuem und schöner, edler, allgemeiner gebären, was sie dem konservativen Geiste einer früheren Periode schöner, aber beschränkter Bildung entriß und verschlang.«

Bereits zu Beginn des nächsten Jahres (1850) ließ Wagner jener ersten Schrift eine umfangreichere: »Das Kunstwerk der Zukunft« Sämtl. Schriften. Bd. III. folgen, die er dem Philosophen Ludwig Feuerbach Die Philosophie Feuerbachs trat für ihn später hinter der Schopenhauers zurück, die ihm 1854 durch Herwegh bekannt wurde. Siehe auch Wagners »Briefe an August Röckel«. Leipzig, Breitkopf & Härtel. 1894. 2. Aufl. 1903. widmete. An philosophische und kunsthistorisch-kritische Betrachtungen anknüpfend, gibt der Künstler hier das ihn erfüllende Ideal kund: »das Kunstwerk der Zukunft«, wie er es nennt; denn nicht von der Gegenwart, sondern von einer ferneren Zeit erst hofft er seine Gestaltung. Hier legt er seine eigentliche Theorie, sein künstlerisches Glaubensbekenntnis nieder. Wiederum von der Kunst des alten Griechenlands, von der einstmaligen Vereinigung der Künste im Drama ausgehend, begehrt er eine Wiedergeburt derselben, nur auf höherer Stufe und mit unendlich reicheren Mitteln. Die Einzelkünste – Und zwar ebensowohl die »reinmenschlichen« Kunstarten: Tanzkunst, Tonkunst und Dichtkunst, als die aus der »Nachbildung der Natur hervorgegangenen«: Architektur, Skulptur und Malerei – deren bisherige Entwicklung ihm nur als Durchgangsmoment erscheint, sollen ihr »egoistisches« Sonderleben dahingehen und sich gemeinsam zu höchster, vollkommenster Leistung verbinden. »Das höchste gemeinsame Kunstwerk ist das Drama: nach seiner möglichen Fülle kann es nur vorhanden sein, wenn in ihm jede Kunstart in ihrer höchsten Fülle vorhanden ist. Nur aus gleichem gemeinschaftlichen Drange aller drei Kunstarten kann aber ihre Erlösung in das wahre Kunstwerk, somit dies Kunstwerk selbst ermöglicht werden. Erst wenn der Trotz aller auf ihre Selbständigkeit sich bricht, um in der Liebe zu den andern aufzugehen; erst wenn jede sich selbst nur in der andern zu lieben vermag, erst wenn sie selbst als einzelne Künste aufhören, werden sie alle fähig, das vollendete Kunstwerk zu schaffen. Somit wird das Drama der Zukunft genau dann von selbst dastehen, wenn nicht Schauspiel, nicht Oper, nicht Pantomime mehr zu leben vermögen, wenn der Architekt, der Bildhauer und der Maler ihren höchsten und wahren Beruf darin erkennen, dem Gesamtkunstwerk zu dienen.«

Dies ungefähr der Gedankengang des in poetisch-philosophischem Stile geschriebenen Werkes. Er war zu neu, zu herausfordernd kühn, um nicht noch viel entschiedenerer Opposition zu begegnen, als sie schon Wagner, der kühne Dramatiker und rücksichtslose Harmoniker, hervorrief. Hatte man sich der vollen Erkenntnis seines Reformatorentums auf praktischem Gebiete bisher noch verschließen können – seinen Theorien gegenüber war dies nicht möglich. Mit unerbittlicher Klarheit sprachen seine literarischen Werke seine Ideen und Forderungen aus. In der Natur der Sache gleichwohl lag es, daß das große Publikum der rein ästhetischen Frage ferner blieb, als der praktisch musikalischen. Auf beschränkterem Terrain wurde demnach dieser Kampf ausgefochten. Ein dramatisches Kunstwerk unter Beteiligung aller Schwesterkünste zwar hatte schon Carl Maria von Weber erstrebt. Auch Goethe mochte etwas dem Ähnliches im Sinn haben, als er zu Eckermann sagte: »Da ist Poesie, da ist Malerei, da ist Gesang und Musik, da ist Schauspielkunst, wenn alle diese Reize von Jugend und Schönheit an einem einzigem Abende und zwar auf bedeutender Stufe zusammenwirken, es gibt dann ein Fest, das mit keinem andern zu vergleichen ist.« Und Herder redet von »einem aufzurichtenden Odeum, einem zusammenhängenden lyrischen Gebäude, in welchem mit Umwerfung der ganzen Bude des zerschnittenen und zerfetzten Opernklingklangs Musik, Poesie, Aktion und Dekoration Eins sind.« Das Ideal eines Gesamtkunstwerkes in ausgebildetster Form war indessen eine ureigene Schöpfung Wagnerschen Geistes.

Der vielfach verbreiteten Annahme gegenüber, als glaube er in seinen eigenen bis dahin veröffentlichten Opern dies »Kunstwerk der Zukunft« bereits erreicht zu haben, verwahrt er sich auf das entschiedenste in seinem umfangreichsten schriftstellerischen (1852 erschienenen und 1869 neu aufgelegten) Werke: »Oper und Drama«. Sämtl. Schriften. Bd. III und IV. Hier arbeitet er auf ein noch bestimmteres Erfassen des durch die zuvorgenannte Schrift erlangten Resultates hin. Er behandelt im ersten Teil »die Oper und das Wesen der Musik«, im zweiten »das Schauspiel und das Wesen der dramatischen Dichtkunst«; im dritten »Dichtkunst und Tonkunst im Drama der Zukunft«. Diesem ernsten kunstwissenschaftlichen, seine Theorie am eingehendsten wiedergebenden Werke schickte er neben einigen kleineren Arbeiten seine »Drei Operndichtungen« (1851) voran, in deren Vorwort, als »Mitteilung an seine Freunde« er uns jene Eingangs erwähnten für sein Verständnis höchstbedeutsamen Aufzeichnungen über sein Leben schenkte, mit denen er »der Aufführung eines neuen Werkes eine Grundlage zu verschaffen« strebte.

Sein Versuch, sich auf Anraten Liszts und anderer Freunde, im Februar 1850 durch einen möglichen Erfolg als Opernkomponist in Paris seine Existenz dauernd zu sichern, scheiterte leider an seiner physischen und psychischen Unfähigkeit, seinen Widerwillen gegen jede Berührung mit dem Pariser Opernwesen zu überwinden. Ein nervöses Leiden befiel ihn bei seiner Ankunft in der Seinestadt und zwang ihn, von jedem für sein Vorhaben nötigen Schritte abzusehen. Der für Paris geplante Entwurf: »Wieland der Schmied« blieb nun unausgeführt. Er bot ihn Liszt an. Über Bordeaux, wohin ihn Frau Jessie Laussot – die nachmalige Gattin des Kulturhistorikers Carl Hillebrand – eingeladen hatte, kehrte Wagner im Juli nach Zürich zurück. Hier ließ er sich seit 1850 mehrere Winter hindurch bereit finden, in den Orchesterkonzerten der »Musikalischen Gesellschaft« einzelne Werke, namentlich Beethovensche Symphonien, sowie im Theater verschiedene Opern zu leiten; auch veranstaltete er bisweilen eigene Konzerte. Die erläuternden Programme zu Beethovens »Eroica« und der »Eoriolan«-Ouvertüre, desgleichen zur »Tannhäuser«- und »Holländer«-Ouvertüre und dem »Lohengrin«-Vorspiel Sämtl. Schriften. V. Spätere Erläuterungen zu Tristan-, Meistersinger-, Parsifal-Vorspielen Bd. XII schrieb er für derartige Zwecke. Auch die kleine Schrift »Ein Theater in Zürich« fällt in diese Zeit. Später (1854) nahm er sich auch eines Quartettvereins an, dem er unter anderem Beethovens Cis-moll-Quartett einstudierte.

Neuen Mut und frische Schaffensbegeisterung hatte inzwischen die Kunde in ihm erweckt, daß sein bisher lebendig begraben liegender »Lohengrin« zum ersten Mal unter Liszts Leitung in Szene gehen sollte. Am 28. August 1850, bei Gelegenheit des Herder- und Goethefestes in Weimar, fand die erste Aufführung des Werkes statt, das Liszt als »eine der merkwürdigsten Schöpfungen der Poesie und der Musik der Gegenwart« bezeichnet. War nun der Erfolg zuvörderst auch nicht der erwartete, so legte Liszt, »um dem Verständnisse aufzuhelfen, dem Publikum seine eigene Anschauung und Empfindung von dem Werke in einer Weise dar, die an überzeugender Beredtheit und hinreißender Wirksamkeit ihres gleichen noch nicht gehabt.« Offen und begeistert trat er, der Weltberühmte, anerkannt Geniale, für Wagner in die Schranken – und der Erfolg lohnte ihm. Seine glänzende Schrift Liszt, Ges. Schriften, Bd. III 2. in Verbindung mit seinem praktischen Vorgehen in Weimar erregte allgemeines Aufsehen und brach Wagner Bahn. Sie gab gleichzeitig das Signal zur Eröffnung der literarischen Wagner-Bewegung, die bis zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts nicht zur Ruhe kam.

Der Mahnruf Liszts, ein neues Werk zu schaffen, ging nun nicht ungehört an Wagner vorüber: er griff zurück nach dem früher begonnenen Nibelungendrama. Der Stoff aber ergab sich als zu reich, um sich in den Rahmen eines Dramas zu fügen; so entstand, in umgekehrter Reihenfolge, noch ein zweites und drittes, dem sich endlich auch noch ein Vorspiel anschloß, und damit war der Plan zu einem in seiner Art einzigen Werke: einer musikalischen Tetralogie, geschaffen. Binnen kurzem ward die große Dichtung vollendet und zunächst (1853) in nur 50 Exemplaren als Manuskript für seine Freunde gedruckt, zehn Jahre später erst unter dem Namen: »Der Ring des Nibelungen« veröffentlicht, deren einzelne Teile der Meister nun »Die Walküre«, »Siegfried« und »Götterdämmerung«, deren Vorspiel er »Das Rheingold« benannte. Die riesigen Dimensionen, in denen dieses Werk angelegt war, sollten von vornherein die Möglichkeit ausschließen, es unserm bestehenden Opernrepertoire einzuverleiben. Nur unter den außergewöhnlichsten Umständen sollte es zur Darstellung gebracht werden können. Wie einst im alten Athen das Theater seine Räume nur an besonderen heiligen Festtagen öffnete, so wollte auch Wagner sein Werk nur als Festspiel aufgeführt wissen. In Gegenwart eines einzuladenden deutschen Publikums und unter Mitwirkung der vorzüglichsten dramatischen Sänger Deutschlands, sollte die Aufführung an vier auf einanderfolgenden Abenden und auf einer eigens zu errichtenden Bühne, deren Verwirklichung er von der Gunst eines Fürsten erhoffte, stattfinden.

»Mit großer Freudigkeit« begann Wagner, von einem Ausflug nach Norditalien und Paris, wo er mit Liszt zusammentraf, zurückgekehrt, nach fünfjähriger Unterbrechung seines musikalischen Produzierens, in der Jahreswende von 1853-54 die musikalische Ausführung seiner Dichtung. Schon im vorausgehenden Sommer war ihm, schlaflos in einem Gasthofe zu Spezzia liegend, die erste Eingebung seiner Musik zum »Rheingold« gekommen. Im Mai 1854 war die Partitur vollendet, am 27. Dezember desselben Jahres auch die »Walküre« bis auf die erst im Frühjahr 1856 beendete Instrumentation abgeschlossen. Dazwischen hatte er 1855 auch einen Stoff »Die Sieger« konzipiert. Am 20. Januar 1857 wurde der »Siegfried« begonnen. Am 8. Mai lag der erste, am 30. Juni der zweite Akt fertig vor. Indessen trat der Dichterkomponist nach mehreren Jahren der Zurückgezogenheit zum ersten Male wieder mit dem großen öffentlichen Kunstleben in Verbindung, als er, wiederholtem Drängen nachgebend, im Februar 1855 einer Einladung nach London zur Direktion der philharmonischen Konzerte folgte. Acht derselben, vom 12. März bis 25. Juni leitete er daselbst. Obwohl von Vorurteilen begrüßt und – wie in seinem deutschem Vaterlande – von der Presse, der »Times« vor allem, vielfach angefeindet, gelang es ihm doch in immer höherem Grade, die Sympathien des Publikums zu erwecken, deren Kundgebung sich bei seinem endlichen Scheiden bis zum wahrhaften Enthusiasmus steigerte. Einem wiederholten Rufe nach London jedoch gab er ebensowenig als einer Einladung nach Boston und New York und einer späteren nach Rio Janeiro Gehör. Er verweilte mit kleinen Unterbrechungen in Zürich, wo er, dank seinen Freunden Wesendonks, ein ihn beglückendes Asyl gefunden hatte, das er bald nach seinem Einzug, am Charfreitag 1857, durch Skizzierung seiner »Parsifal«-Dichtung weihte. Leider vertrieb Minnas Stellungnahme gegenüber seinen sich sehr warm gestaltenden Beziehungen zu der geistvollen Frau Mathilde Wesendonk, über die seine herrlichen Briefe an sie näheren Aufschluß geben, »Richard Wagner an Mathilde Wesendonk«, herausgegeben von W. Golther. Berlin, Alex. Duncker. 1904. 37. Aufl. ihn nur zu bald aus dem behaglichen Zufluchtsort, so daß er im Spätsommer 1858 nach Venedig übersiedelte. Dort, sowie schließlich in Luzern, ward am 19. Juli 1859 ein schon 1854 skizziertes, im Herbst 1857 begonnenes Werk zur Vollendung gebracht: das nach Gottfried von Straßburgs glühender Liebesdichtung geschaffene musikalische Drama »Tristan und Isolde«. Der Wunsch, ein hinsichtlich des Umfangs und der szenischen Anforderungen, wie er meinte, leichter aufführbares Werk zu liefern, hatte den Künstler zu einer Unterbrechung seiner Arbeit an den »Nibelungen« veranlaßt. Eine gewisse Verwandtschaft zwischen dem Heldenpaar der letzteren und dem des »Tristan« hatte ihn zur Wahl eines Stoffes angereizt, den er als einen »Ergänzungsakt des großen, ein ganzes Weltverhältnis umfassenden Nibelungenmythus« betrachtete. Das Bedürfnis aber, endlich wieder einmal etwas von sich selber zu hören und in lebendige Berührung mit seiner Kunst zu treten, drängte ihn, jetzt einen Versuch zur Rückkehr in sein deutsches Vaterland zu wagen. Ein im Sommer 1859 an den ihm wohlgeneigten Großherzog von Baden gerichtetes Gesuch, ihm eine dauernde Niederlassung in seinem Lande zu erwirken, schlug jedoch an der Forderung des Königs von Sachsen fehl, daß Wagner sich vor der Begnadigung der richterlichen Untersuchung zu stellen habe. Infolgedessen wandte sich dieser im September desselben Jahres nach Paris.

Gleich der Hoffnung, den »Tristan« in Karlsruhe zur Aufführung zu bringen, scheiterte zwar auch die Idee, mit einer deutschen Truppe im Saal der Pariser italienischen Oper eine Mustervorstellung seines neuesten Werkes zu veranstalten. Dagegen gewannen drei im italienischen Theater von Wagner gegebene Konzerte (im Januar und Februar 1860) seiner Musik einflußreiche Freunde, wie den preußischen Gesandten Graf Pourtales und seine Gemahlin, den Maler Gustave Doré, die Schriftsteller Gasperini und Ruitter; mochte immerhin die Kritik sich mit geringen Ausnahmen in mehr oder weniger feindseligen Auslassungen ergehen, und selbst Berlioz, der doch in Frankreich verwandten Bestrebungen wie Wagner in Deutschland oblag, einen Protest gegen die mißverstandene »Schule der Zukunftsmusik« für nötig erachten. Wagner entgegnete in dem »Brief an H. Berlioz«. Sämtl. Schriften. Bd. VII. Den durch stete Schuldenlasten bedrängten Verhältnissen des Dichterkomponisten vermochten die Konzerte nicht aufzuhelfen. Doch kam für Deckung des unerwarteten Defizits derselben die Wagner damals ganz fernstehende großherzige Frau von Kalergis – als Frau von Mouchanoff später in Musikerkreisen verehrt und geliebt – auf. Da lenkte die Fürstin Pauline Metternich, die Gattin des österreichischen Botschafters in Paris, die Aufmerksamkeit des Hofes auf den deutschen Komponisten, und Napoleon III. befahl die Aufführung des »Tannhäuser« in der Académie impériale de musique.

Was Richard Wagner zwanzig Jahre früher als Wunsch und Traum vor der Seele geschwebt: eins seiner Werke von den glänzenden Kräften der Pariser »großen Oper« wiedergegeben zu sehen, das bot sich ihm nun dar. Zudem noch gewährte ihm die Gunst des Kaisers unumschränkte Freiheit bezüglich der vorhandenen, oder noch zu erwerbenden Mittel. Mit Begeisterung und der Erwartung einer vollendeten Aufführung begann der Meister im September 1860 die Vorbereitungen. Um das Publikum über das Wesen seiner Kunst aufzuklären, fügte er der Herausgabe von vier seiner Operndichtungen in französischer Prosaübertragung ein Vorwort bei, das später unter dem Titel »Zukunftsmusik« auch in deutscher Sprache erschien. Sämtl. Schriften. Bd. VII. Er arbeitete die Partitur noch einmal durch, erweiterte die Venusszene und gestaltete das einleitende Ballett, seinen neueren Prinzipien gemäß, zu einem großartigen choreographischen Gemälde, das, voll antiker Lebens- und Sinnenfreude, den Venushof in farbenprächtiger Schönheit darstellt. Diese neue Ausführung der beiden Szenen wollte Wagner fortan als einzig gültige für die Aufführung anerkannt wissen. Sämtl. Schriften, II, »Tannhäuser«, Anmerkung. Sie ist in Bayreuth 1904 zu sieghafter Darstellung gelangt. Weiter gewann der Tondichter Niemann, den besten Tannhäuser unter den deutschen Tenoristen, für die Titelrolle und fand auch für die übrigen Partien in Madame Tedesco als Venus, Fräulein Sax als Elisabeth, Morelli als Wolfram die geeigneten Kräfte. Nachdem er jedoch, zufolge der Intrigen gegnerisch gesinnter Rezensenten, den Sänger der Hauptrolle wachsender Entmutigung verfallen und sich selber die Leitung des Orchesters konsequent versagt sah, verlangte er seine Partitur wieder zurückzuziehen. Vergebens. »Geist- und schwunglos« ging denn, laut Wagners eignen Worten, der »Tannhäuser« am 13. März 1861, unter Dietschs Führung in Szene. Wohl waren einige Nummern der Oper, wie die Ouvertüre, das Septett, der Marsch u.a. von lebhaften Beifallsbezeigungen begleitet. Aber eine durch den überwiegenden Teil der Presse und zumal den sich vornehmlich aus Mitgliedern des kaiserlichen Hofstaates zusammensetzenden »Totenklub« repräsentierte Oppositionspartei, die sich für das Ausbleiben des in der Mitte des zweiten Aktes beliebten Balletts rächte, beraubte dieselbe so systematisch allen Erfolges, daß der Komponist nach dreimaliger Wiederholung eines Skandals ohne gleichen, trotz der Demonstrationen des Publikums und selbst des anwesenden Kaiserpaares, sein Werk zurückzog. Von der Leidensgeschichte des »Tannhäuser« in Paris geben die Briefe Wagners an Fürstin Pauline Metternich, die Ende September 1893 in der »Neuen freien Presse« veröffentlicht wurden, ein deutliches Bild.

Zur Wiederaufführung desselben war er nicht zu bestimmen. Übrigens fehlte es auch nicht an Kundgebungen zu Wagners Gunsten. Baudelaire, Jules Janin, Pasdeloup traten für ihn ein, die Opéra comique bewarb sich um das Aufführungsrecht der mißhandelten Oper; selbst die Idee, ein Wagner-Theater zu gründen, kam auf. Doch der Dichterkomponist verließ Paris. Erst 34 Jahre später, als er längst im Grabe ruhte, wurde der skandalöse Vorgang am 13. Mai 1895 durch eine triumphreiche Wiedererstehung des »Tannhäuser« auf Frankreichs erster Opernbühne gesühnt, ja allmählich sah sie auch die anderen Werke des deutschen Künstlers lebendig werden. Diesem hatte sich endlich sein Vaterland wieder erschlossen. Nach einem festen Stützpunkt in dessen Mitte sah er sich gleichwohl vergeblich um.

Die Theaterleitungen und Intendanzen hielten sich sorglich von ihm fern. Er mußte in der Welt umherziehen und Konzerte mit Fragmenten aus seinen Werken veranstalten, da sich ihm keine Bühne darbot. Am 15. Mai 1861 hörte er in Wien seinen »Lohengrin« zum ersten Male. Im August war er bei Liszt in Weimar. Für mehrere Monate quartierte er sich im Februar 1862 in Biebrich ein, um die begonnenen »Meistersinger« zu fördern. Deren Vorspiel und die Tannhäuser-Ouvertüre dirigierte er, nachdem ihm seit dem Mai 1862 auch die Rückkehr nach Sachsen offen stand, in seiner Vaterstadt Leipzig im November dieses Jahres, in einem wenig besuchten Konzert des ihm befreundeten Weißheimer; dann erntete er in Petersburger und Moskauer Konzerten erfreuliche Erfolge. Das Verlangen, seinen »Tristan« auf der Bühne lebendig zu sehen, aber schien ungestillt bleiben zu sollen. Die vom Großherzog von Baden gewünschte Aufführung in Karlsruhe scheiterte am Widerstand seines Theaterdirektors Eduard Devrient. Auch die in Wien begonnenen Vorbereitungen hatte man nach 77 Proben wieder aufgegeben und das Werk – mit dessen neuem, wahrend der Beschäftigung mit den »Nibelungen« in ihm zur Reife gekommenen Stil er sich von den Gewohnheiten der Opernbühne weit und weiter entfernt hatte – für unaufführbar erklärt, dafern sich der Komponist nicht zu Abänderungen verstehe. In schmerzlicher Erkenntnis, daß die Stunde für sein Drama noch nicht gekommen sei, hatte er dasselbe zurückgenommen, um, Wien, oder vielmehr das nahe Penzing, am 23. März 1864 kampfesmüde, unter schwerer Schuldenbedrängnis verlassend, sich über München nach der Schweiz zu wenden. Auf dem Gute seiner Freunde Franz und Eliza Wille, Mariafeld bei Zürich, fand er zunächst Aufnahme. Vgl. Eliza Wille, »Fünfzehn Briefe von R. Wagner«. Berlin, Paetel. 1894. 2. Aufl. Leipzig, Breitkopf & Härtel, 1908. Nicht lang aber war auch hier seines Bleibens. Am 30. April begab er sich nach Stuttgart.

»Ich war am Vergehen«, schreibt er selbst: An Frau v. Mouchanoff. Siehe Tappert: »R. Wagner.« Elberfeld, Lucas. 1883. »Jede Bemühung für mein Gedeihen war fehlgeschlagen; das sonderbarste, fast dämonische Mißgeschick vereitelte jeden meiner Schritte; ich war entschlossen, mich für alle Zeiten in eine Zuflucht zurückzuziehen und für immer jeder künstlerischen Unternehmung zu entsagen.« Da endlich ereignet sich das »Wunder« seines Lebens, wie er selbst es nannte. Ein begeisterter Verehrer der Kunst Richard Wagners, besteigt Ludwig II. den bayerischen Königsthron, und sein königliches Wort lädt den Künstler am 5. Mai 1864, durch seinen Kabinettssekretär Pfistermeister, ungesäumt an seine Seite. Jeder Unbill entzogen, soll er fortan in München seinem Schaffen leben. So hat sich in Wahrheit »der Fürst« gefunden, den Wagner einst, anscheinend aussichtslos, für Vollendung und szenische Verwirklichung seiner »Nibelungen« herbeigesehnt hatte. »Der gefahrvolle Weg« – so schließt er seine Autobiographie – »auf den mich heute mein Schicksal zu höchsten Zielen berufen hatte, sollte nie frei von Sorgen und Nöten von bis dahin mir noch ganz ungekannter Art sein; nie jedoch hat unter dem Schutze meines erhabenen Freundes die Last des gemeinsten Lebensdruckes mich wieder berühren sollen.« Genug, »in dem sommerlichen Königreich der Gnade«, unter dem Schirm des jugendlichen Herrschers, der »sein Vaterland, seine Heimat, sein Glück« ward, fand er nach langer Irrfahrt ein neues Leben, fand seine Kunst ein gesichertes Gedeihen.

Fürs erste galt es nun »Tristan und Isolde« auf die Bühne zu rufen. Das lang vergebens gesuchte, zur Bewältigung der Titelrollen berufene Künstlerpaar war endlich in Ludwig Schnorr von Carolsfeld und seiner Gattin Malwina geb. Garrigues erstanden. Wagner selbst erzählt, wie er an den Studien des Sängers begeisterten Anteil genommen, wie er in ihm sein höchstes Ideal erfüllt sah; ja, wie er, überwältigt von der grandiosen Auffassung dieses Künstlers, nach der vierten Aufführung seiner Oper jede fernere Wiederholung derselben verweigerte.

Die Wirkung des »Tristan« war in Wahrheit die gewaltigste, als er am 10. Juni 1865, unter Leitung des 1864 nach München berufenen Hofkapellmeisters Hans von Bülow, zum ersten Mal über die Bühne ging. Er erscheint als der höchste, der vielleicht auf die kühnste Spitze getriebene Ausdruck künstlerischer Individualität und Selbständigkeit; war er doch auch des Meisters Lieblingswerk. Was Wagner in seinen früheren künstlerischen Taten vorbereitet, in seinen theoretischen Schriften als Forderung aufgestellt und als das eigne höchste Ziel bekannt: hier ist es erreicht. Darum, während er sich einst sehr entschieden gegen die Annahme verwahrte, als glaube er mit seinen früheren dramatischen Arbeiten bereits seinem Ideale genügt zu haben, spricht er es nun offen aus, daß er an den »Tristan« die strengsten aus seinen theoretischen Behauptungen fließenden Anforderungen zu stellen erlaube. Er bezeichnet ihn (in dem Aufsatz »Zukunftsmusik«, 1861) als das wenn auch unbewußte Ergebnis seines Systems, im Gegensatz zu seinen übrigen Werken, die teils (»Holländer«, »Tannhäuser« und »Lohengrin«) vor der eigentlichen Entwicklung desselben, teils (die »Nibelungen«) gleichzeitig mit diesem entstanden. (Die »Meistersinger« wurden bekanntlich erst später, 1867, beendet.) Ja er erklärt sogar, daß er, indem er sich hier »mit der vollsten Freiheit und gänzlichsten Rücksichtslosigkeit gegen jedes theoretische Bedenken bewegte, sein System weit überflügelte.« Als einen Vorzug des Werkes erkennt er die gesteigerte Innerlichkeit desselben, derzufolge die Handlung sich nur aus ihren inneren Motiven entwickelt. Die Menschenseele selbst ist hier gleichsam der Schauplatz der Tragödie. »Mit voller Zuversicht«, sagt er, »versenkte ich mich hier nur noch in die Tiefen der inneren Seelenvorgänge und gestaltete zaglos aus diesem innersten Zentrum der Welt ihre äußere Form. Leben und Tod, die ganze Bedeutung und Existenz der äußeren Welt hängt hier allein von der inneren Seelenbewegung ab. Die ganze ergreifende Handlung kommt nur dadurch zum Vorschein, weil die innerste Seele sie fordert, und sie tritt so an das Licht, wie sie von innen aus vorgebildet ist.« Keineswegs reich an äußeren Vorgängen und eigentlicher Handlung, wirkt das Ganze, eine flammende Apotheose der Liebe, gleichwohl so hochdramatisch und voll leidenschaftlicher Allgewalt, daß wir ihm in dieser Beziehung die erste Stelle unter Wagners Tondichtungen zuerkennen müssen. Es ist ein exzeptionelles, ein einziges Werk, dem wir hier gegenüberstehen, das empfinden wir bereits während der allerersten Szenen. (Wo vernahm man je auch einen eigentümlicheren Operneingang, als den a-cappella-Gesang des Seemanns hinter der Szene, während dessen das Orchester schweigt?) Die Tonsprache ist von einer Freiheit und Kühnheit, von einer Innerlichkeit und Macht des Ausdrucks, daß sie den Empfänglichen unwiderstehlich in regste Mitleidenschaft zieht. Die »Wirkung auf das menschliche Gemüt«, um die es Wagner in erster Linie zu tun ist, kann somit nicht ausbleiben, dafern ihr nur Unbefangenheit, nicht gegnerische Voreingenommenheit entgegentritt. Dazu spürt man zu sehr – welche Saiten der Komponist auch anschlage – das Ausströmen der eigensten Seelenempfindung, fühlt man sich zu unweigerlich unter der Wahrheit zwingendem Bann. Das Gefühl innerster Notwendigkeit verläßt uns das ganze Stück hindurch nicht. Es ist als müsse alles eben so und nicht anders sein, und ganz natürlich scheint es, wenn die geschlossene Kunstform zur offenen Szene sich erweitert, wenn die rezitiert gesungene dramatische Wechselrede die Arie, das Duett, den Chor nach alter Art ersetzt.

Man denke jedoch nicht, daß mit den alten lyrischen Opernformen auch das lyrische Element aus Wagners Drama ausgeschieden sei! Im Gegenteil. Dem Ausleben der musikalisch-poetischen Stimmung hat er nirgend, selbst auf Kosten einer fortdrängenden dramatischen Wirkung, breiteren Raum vergönnt, und der Gipfelpunkt des Werks, die fast den ganzen zweiten Akt und den vollen vierten Teil der Partitur füllende Liebesszene, ist rein lyrischen Charakters. Aber das lyrische Element steht im engsten Zusammenhang mit der jeweiligen Situation; es schädigt nicht durch unmotiviertes Verweilen die dramatische Einheit, löst das Drama nicht in eine Folge zusammenhangloser Einzelteile auf, sondern kommt nur da zu Worte, wo es die psychologische Treue, die innere Wahrheit gebietet. Trotz der unerhört sparsamen Verwendung des Chors, der fast durchgehends einstimmigen Gesangsführung, der vorwiegend nur den beiden Titelrollen übertragenen Handlung, tritt nirgends Einförmigkeit hervor, und inmitten einer vom Anfang bis zu Ende festgehaltenen einheitlichen Grundstimmung entbehren wir nicht Farbenwechsel und Mannigfaltigkeit. Höchstes Interesse namentlich erregt die ausgedehnte Anwendung des Motivenprinzips, vermöge deren der Dichterkomponist alle Einzelteile des mächtigen Baues zu einem einheitlichen symphonischen Ganzen verbindet. Die Erfindung der Motive ist überaus genial und charakteristisch, dabei von großer Einfachheit. So personifiziert er Isolde, die Eignerin des Liebeszaubers, durch vier chromatisch aufsteigende Töne, und Tristan mittelst fünf kurzer Noten: einen aufsteigenden Ganzton und Halbton, welcher letztere, wiederholt angeschlagen, in die Septime zurücksinkt. Gleichzeitig mit der eigentümlichen thematischen Arbeit bewundern wir in dieser Partitur die seine, den geheimnisvollen Verschlingungen und Wandlungen der Empfindung angepaßte Polyphonie. Von bloßen Füllstimmen ist hier keine Rede, jede Orchesterstimme geht für sich in Selbständigkeit und Freiheit. Die Harmonik ist kühn, wie wir sie bei Wagner kennen. Der leidenschaftlich unruhige verminderte Septimenakkord, Nonen- und Undezimenakkorde spielen eine hervorragende Rolle. Von der Chromatik und Enharmonik macht der Komponist den freiesten Gebrauch. Und wie reden die Instrumente; wie versteht er sie zu wählen und zu mischen und auf das charakteristischste zu verwerten! Neue unbegreifliche Effekte weiß er zu erzielen, Klänge, die der Natur abgelauscht scheinen, wie sphärenhafte, wahrhaft ätherische Tonverbindungen. Mit Recht hat man gesagt, seit Beethovens Tode habe das Orchester nirgend hinreißender und geistvoller gesprochen als im »Tristan« und den folgenden Werken des Meisters; wie denn Wagner in der Tat das in den Beethovenschen Symphonien zur höchsten Höhe entwickelte orchestrale Sprachorgan zuerst dramatisch verwendet und somit das Drama auf symphonischem Grunde auferbaut. Die Polyphonie und das Kolorit seines Orchesters haben nun auch eine derart allgemeine, sich über die Oper hinauserstreckende Wirkung geübt, daß sie sich selbst den Tonsetzern unwiderstehlich aufdrängten, die sich Wagners Grundsätzen im übrigen verschlossen.

Nicht aber in Einzelheiten, in seiner Ganzheit vielmehr beruht der Wert und die Bedeutung eines Werkes, dessen überreiche Schönheiten erst sehr allmählich in weiteren Kreisen zur Würdigung gelangten. Ein volles Jahrzehnt fast blieb es ausschließlich das Eigentum Münchens, und lange wollte es scheinen, als sei mit dem Heldensänger Schnorr, der, tragisch genug, bald nach jenen ersten Aufführungen starb, auch der »Tristan« selber zu Grabe getragen. Indessen erstand in dem Münchner Sängerpaar Vogl ein zweiter Tristan, eine zweite Isolde, deren allbewunderte Leistungen nicht allein München (1872, 1874, 1881, 1883 usf.), sondern später auch Weimar (bei wiederholtem Gastspiel 1874 und 1875), Königsberg (1881 und 1883), Frankfurt a. M. (1884) und andern Orten zu gute kamen. Auch in Berlin (1876), Leipzig und Hamburg (1882), in Wien und Bremen (1883), in Dresden und Karlsruhe (1884) überzeugte man sich zunächst, daß die Schwierigkeiten des verketzerten Dramas keine unüberwindlichen sind. Heute befreunden sich selbst kleinere Bühnen unbedenklich mit demselben. Man hat sich in das Verständnis dieser kompliziertesten Aufgabe eingelebt; ja sogar im Ausland, in New York (1886), Bologna (1888), London, Rom, Mailand, Paris und anderwärts empfing man das zaubervolle Werk des deutschen Meisters mit Enthusiasmus.

Der vorzeitige Tod Schnorrs, seines Tristan, raubte Wagner gleichzeitig eine zweite aussichtsvolle Hoffnung. Sein Plan einer in München zu errichtenden königlichen Schule für Musik und dramatische Kunst, wie er ihn in einem umfänglichen Bericht an den König Sämtl. Schriften. Bd. VIII. niederlegte, knüpfte sich an den Gewinn Schnorrs. In ihm sollte die Anstalt eine ihrer Hauptstützen finden und dem Streben des älteren Meisters das seine sich vereinen. Er sollte als Gesanglehrer eintreten, um jenem, sich aus der Eigentümlichkeit unserer Sprache selbständig ergebenden, von Einflüssen der italienischen Schule sich frei erhaltenden Gesang, wie er Wagners Intentionen entsprach, den Weg zu bahnen. »Die Begründung eines musikalischen deutschen Stils in dem Vortrag und der Darstellung der Werke des deutschen Geistes« war die gemeinsame Losung beider. Was aber dem einen nicht mehr zu erleben vergönnt blieb, dem andern war es beschieden. Mit der unter Hans von Bülows Direktion am 14. Oktober 1867 erfolgten Eröffnung des Münchener Konservatoriums trat Richard Wagners Plan ins Leben. Der Meister selber nahm keinen unmittelbaren Anteil daran; blieb er doch, dank königlicher Vergünstigung, von jeder amtlichen Verpflichtung frei. Nur an der Einstudierung seiner Werke auf der Hofopernbühne beteiligte er sich persönlich. So an den Mustervorstellungen von »Holländer«, »Tannhäuser« und Lohengrin« (1866 und 67), bei denen er zum ersten Mal seine Intentionen voll verwirklichen konnte; so daß er mit ihnen die Norm für den Darstellungsstil seiner Werke feststellte. Im übrigen verwandte er seine ganze Kraft allein auf seine schöpferischen Arbeiten.

Von der unermüdeten Tätigkeit seines Geistes brachte das Jahr 1868 der Welt ein neues Zeugnis. Seiner Broschüre »Deutsche Kunst und deutsche Politik« – die den Kulturberuf der deutschen Fürsten zum Gegenstand hat und es als Bayerns Aufgabe insbesondere betrachtet, die deutsche Kunst zu fördern und zu heben und damit Preußens praktischen Beruf zu ergänzen – folgte am 21. Juni die erste Aufführung seines 1867 beendeten Werkes: der mit dem »Lohengrin« gleichzeitig entworfenen »komischen« Oper »Die Meistersinger von Nürnberg«.

Wer mit der Erwartung einer komischen Oper im herkömmlichen Sinne an dieselbe herantrat, mußte allerdings fehl gehen. Wer begehrt auch leichten Genuß von Wagner? Mehr Satire als Komik findet sich drin, und auf fehl ernsthaftem Hintergrunde treibt der Humor sein Spiel. Der Kampf der Wahrheit gegen die Vorurteile, die das einst nützlich Gewesene zum ewig gültigen Gesetz stempeln wollen, die Erlösung der Musik aus den Fesseln eines toten Formalismus ist die Grundidee des Ganzen, in dessen Helden Wagners eigenes Künstlertum repräsentiert erscheint. Schon die darin ausgesprochene Tendenz, die durch die damit verbundene »innere Handlung«: die entsagende Liebe des Hans Sachs zu Eva, eine wundersame Vertiefung empfängt, reichte, von ihrer musikalischen Ausführung ganz abgesehen, hin, die alte Opposition zu erwecken, die denn auch stürmischer denn je ihre Stimme erhob. Zur abgetanen Philisterschar der Meistersinger mochte eben keiner gehören. So redete man dreist von gekünsteltem Schaffen, von Mangel an Maß, an Form und Schönheit; ja man scheute sich nicht, dem Meister, der gerade in diesem Werk eine spezifisch musikalische Tat von imponierendster Kunst und formell technischer Vollendung hingestellt hatte, »die geniale Begabung« streitig zu machen.

Gegenüber dem faktischen Erfolg der tief aus dem deutschen Volkswesen geschöpften Oper auf allen Bühnen, wo sie erschien, – und keine der namhafteren unseres Vaterlandes fehlt in ihrem Kreise, ja selbst Paris nahm sie 1897 mit Entzücken auf – mußte nichtsdestoweniger endlich jeder kritische Zweifel verstummen. Die Ereignisse des Jahres 1870 verhalfen uns Deutschen inzwischen dazu, unser eigenes Wesen, unsere nationale Besonderheit mit offenerem Blick anzuschauen, uns der Vorzüge unseres Besitzes bewußter zu werden. Auch die urdeutschen Taten Wagners lernte man dankbarer denn zuvor schätzen. Was ehedem noch fraglich blieb, es ward bald eine nicht mehr zu leugnende Tatsache: im Herzen unsres Volkes hatten seine Werke ihren festen, weil grundnatürlichen Boden gefunden. So durfte er, der noch im Jahre 1862 trübe der Hoffnung entsagen zu müssen meinte, das Hauptwerk seines Lebens jemals auf der Bühne lebendig, ja überhaupt nur musikalisch beendet zu sehen, schon im April 1871 den Mut finden zu einer »Aufforderung an die Freunde seiner Kunst«, die Aufführung seines Bühnenfestspiels »Der Ring des Nibelungen« zu ermöglichen und die nationale Wiedergeburt durch eine künstlerische große Tat zu feiern. Mochte auch seine Hoffnung, Kanzler und Oberhaupt des deutschen Reichs für das Nationale seines Unternehmens zu interessieren, sich als eine illusorische erweisen: sein Ruf fand ein Echo im ganzen deutschen Land und jenseits seiner Grenzen bis hinüber in die neue Welt. Ein Patronatverein, der vor allem die nötige finanzielle Stütze gewähren sollte, ward gegründet; »Wagnervereine« bildeten sich allerorten, die sich gleichfalls die Förderung des Zwecks, insbesondere durch Sammlung von Beiträgen, zur Aufgabe stellten, so daß durch das gemeinsame eifrige Wirken die Ausführung des großen Plans, der Gewinn der dazu erforderlichen Mittel – einer Summe von 900 000 Mark – wenigstens großenteils gesichert wurde.

In Bayreuth, der im Herzen Deutschlands gelegenen, ehemaligen Markgrafenstadt, hatte Wagner die geeignete Stätte gefunden. Hier erbaute er am Stuckberg, inmitten parkähnlicher Umgebung, das unter Benutzung eines früheren Semperschen Planes entworfene Theater. Am 22. Mai 1872 fand, unter zahlreicher Beteiligung der Freunde Wagners von nah und fern, die Grundsteinlegung daselbst statt. Eine ideale Aufführung der neunten Symphonie, von Wagner dirigiert, gab ihr die Weihe.

Der Meister selber verlegte 1872 seinen Wohnsitz nach Bayreuth und gründete sich dort in Haus »Wahnfried« ein kunstgeschmücktes herrliches Heim für seinen Lebensabend. Hier lebte er ganz der Vollendung seiner »Nibelungen«, die im November 1874 mit Abschluß der »Götterdämmerung« erfolgte. Teile der Tetralogie: »Rheingold« und »Walküre« wurden, obwohl gegen seinen Wunsch, zu einzelnen Malen auf der Münchner Hofbühne gesehen. Sein hoher Gönner, König Ludwig, befahl im Sommer 1869 die Aufführung des »Rheingold«. Wagner hatte sich bereits, da ihm Kabalen in Hofkreisen und Publikum – genährt durch eine mißleitete Presse, die ihn der Verschwendung, der Einmischung in die Politik bezichtigte – das Leben daselbst vergällten, im Dezember 1865 von München zurückgezogen, und, trotz seiner edlen Begeisterung für ihn und seine Werke, hatte der König schließlich mit dem Ausspruch: »Ich will meinem Volke zeigen, daß sein Vertrauen, seine Liebe mir über alles geht«, in seine Entfernung gewilligt. Interessantes enthält: Sebastian Röckel, »Ludwig II. und R. Wagner.« München, Becksche Buchhandlung. 1903. In Triebschen bei Luzern nahm der Meister seinen Aufenthalt; hier verweilte er bis zur Übersiedlung nach Bayreuth, Da auch Hans von Bülow 1869 München verlassen und seine Stelle niedergelegt hatte, ward Hofkapellmeister Hans Richter mit Einstudierung des »Nibelungen«-Vorspiels betraut. Als dasselbe jedoch noch nicht genügend vorbereitet und demnach unfertig und unvollkommen ans Licht treten sollte, verweigerte Richter, im Auftrag und Interesse Wagners, seine Mitwirkung. Erst nach wiederholtem Aufschub kam »Rheingold« am 22. September 1869 unter Wüllners Leitung zur Darstellung. Im Sommer 1870 und 1872 erschien es abermals, nun die »Walküre« im Gefolge. Am 26. Juni 1870 ging diese mit großartigem Erfolg zum ersten Mal in Szene. Mancher der abgeschworensten Gegner des Dichterkomponisten verwandelte sich, kraft der Gewalt ihrer Tonsprache, in einen feurigen Bekenner.

Auch an diesen Aufführungen nahm Wagner keinen Anteil. Jahrelang lebte er, kurze Ausflüge nach dem südlichen Frankreich, Genua, dem Lago maggiore abgerechnet, still in der Schweiz. Dort feierte er, nach dem am 25. Januar 1866 erfolgten Ableben seiner ersten, zuletzt von ihm getrennt lebenden Gattin – einer ihm treu anhangenden, aber schwunglosen, in unversöhnlichem inneren Gegensatz zu ihm stehenden Natur – am 25. August 1870 in Luzern seine Vermählung mit der ihm kongenialen Frau Cosima von Bülow, geb. Liszt. Im endlichen späten Vollbesitz ehelichen Glückes und harmonischer Häuslichkeit schuf er rastlos. »Siegfried« und »Götterdämmerung« wurden beendet und in Partitur veröffentlicht, worauf er unverzüglich an Ausführung eines neuen Bühnenwerks, des »Parsifal« ging. Zwischendurch wurden auch kleinere Gaben von ihm bekannt: der für den König von Bayern geschriebene »Huldigungsmarsch«, »Fünf Gedichte« für eine Frauenstimme mit Pianofortebegleitung, der kurz nach Beendigung des deutschfranzösischen Kriegs dem deutschen Kaiser gewidmete »Kaisermarsch«, zwei Albumblatter für Klavier, ein Festmarsch, den er für Eröffnung der Ausstellung in Philadelphia komponierte, eine Album-Sonate und das sonnige Siegfried-Idyll, mit dem er den ersten Geburtstag seiner Frau nach Geburt seines Sohnes Siegfried feierte. Vielfältig auch beschäftigte er sich mit literarischen Veröffentlichungen, als deren hauptsächlichste, neben kleineren, im »Musikalischen Wochenblatt« und in den »Bayreuth« Blättern« – dem offiziellen Organ für die Wagnervereine – erschienenen Aufsätzen, eine erneute Ausgabe des schon 1850 entstandenen, viel Staub aufwirbelnden »Judentums in der Musik«, sowie die Broschüren »Beethoven« (1870), »Über die Bestimmung der Oper« (1871), »Über Schauspieler und Sänger« (1872) und »Das Bühnenfestspielhaus zu Bayreuth« (1873) Alle in Bd. IX der Sämtl. Schriften enthalten. zu erwähnen sind.

Mit dem Jahre 1871 begann Wagner die Herausgabe seiner »Gesammelten Schriften und Dichtungen«, die seit 1874 in neun Bänden Leipzig, Fritzsch, 5. Aufl. Siegel u. Breitkopf & Härtel. vorlagen, bis sich ihnen nach des Meisters Tode ein zehnter, sodann mehrere nachgelassene Schriften Leipzig, Breitkopf & Härtel u. Siegel. und 1911 noch zwei dieselben zusammenfassenden weitere Bände anschlossen. Ihnen gesellt sich die kaum minder wertvolle Veröffentlichung zahlreicher Briefbände. Die Schriften enthalten, sagt der Autor im Vorwort derselben, »die aufgezeichnete Lebenstätigkeit eines Künstlers, der in seiner Kunst selbst, über das Schema hinweg, das Leben suchte. Dieses Leben aber heißt eben die wahre Musik, die ich als die einzige wirkliche Kunst der Gegenwart wie der Zukunft erkenne.« Als schöpferischer Tondichter wie als spekulierender Ästhetiker, der die Welt über Wesen und Aufgabe der Kunst, der dramatischen insbesondere, belehrte, hielt er mit felsenfester Überzeugungstreue das Ideal eines spezifisch deutschen Musikdramas fest, das seine ganze Seele erfüllte und das er mit der Sieghaftigkeit des Genies zur Verwirklichung brachte.

Mittlerweile zogen »Lohengrin« und »Tannhäuser«, »Holländer«, »Rienzi« und »Meistersinger« immer unaufhaltsamer ins Weite. Nicht nur in allen Hauptstädten Europas, auch in Amerika und Australien bürgerten sie sich ein, während von Wagner geleitete Konzerte in deutschen Städten (1871–1873), die Direktion von »Tannhäuser« und »Lohengrin« in Wien (November 1875 und März 1876), wie die Aufführung des »Tristan« in Berlin (März 1876) zu glänzenden Ovationen für ihn wurden. Ihren höchsten Gipfel erreichten dieselben mit den Bühnenfestspielen von Bayreuth, die endlich, nach der Arbeit dreier Jahrzehnte, nach ungeheueren, in dieser Weise nie dagewesenen Vorbereitungen, im August 1876 in die Erscheinung traten. Was Wagner, wie der Titel seiner »Nibelungen«-Partitur besagt, »im Vertrauen auf den deutschen Geist entworfen und zum Ruhme seines erhabenen Wohltäters, König Ludwig II. vollendet« und was als das Hirngespinst eines Träumers bezweifelt und verspottet worden war, ward Leben und Wahrheit in Gegenwart von Kaiser und Königen, zahlreichen gefürsteten Häuptern, der gesamten geistigen Blüte unsres Volkes und anderer Nationen. Gewiß, glorreicher ward nie ein Kunstwerk aus der Taufe gehoben, und wo hat je eine glänzendere Versammlung den Darbietungen eines Künstlers gelauscht? In wundersamer Weise hatten sich alle Vorbedingungen, auch die schwierigsten, für unmöglich erklärten, erfüllt. Das Theater, ein nach außen äußerst schlichter, im Innern aber musterhaft zweckentsprechender und akustisch unübertrefflicher Bau, stand vollendet; die besten deutschen Künstler: Sänger und Sängerinnen, als auserlesenste Vertreter ihrer Rollen, Choristen und Instrumentalisten, an ihrer Spitze »der Siegfried der Violinisten« Wilhelmi, und Hans Richter, der bewährte einstige Münchner Hofkapellmeister – sie alle vereinigten sich in hingehendster Begeisterung, ihr Bestes zu geben. Dekorationen, Szenerie, Kostüme und Gerätschaften waren stilvoll von Künstlerhänden gefertigt; die komplizierteste Maschinerie, selbst Naturkräfte: Elektrizität und Wasserdämpfe, die bei Verwandlungen und Wundern auf der Szene treffliche Dienste leisteten, standen dem Meister zu Gebote, dem eben alle Künste gehorchten und der in eigener Person die Regie des Ganzen leitete; der, wie der geistige, so auch der szenische Urheber seines Kunstwerks, die belebende und beseelende Kraft bei dessen Verlebendigung war.

Dreimal, in drei aufeinander folgenden Wochen ward der je vier Tage umfassende Zyklus wiederholt, und diese ganze Zeit hindurch war das Glück dem Unternehmen Wagners hold; der stolze Glaube an seinen Stern hatte ihn nicht betrogen. Mit dem »Rheingold« begann am Nachmittag des 13. August 1876 die erste Reihe der Vorstellungen, die tags darauf durch die »Walküre«, am 16. durch »Siegfried« fortgesetzt, am 17. mit der »Götterdämmerung« beschlossen ward. Von Tag zu Tag erhöhte sich die Wirkung. Die Art, wie Wagner dem Gesetz der musikalischen Steigerung allenthalben Rechnung trägt und selbst innerhalb der kolossalsten Verhältnisse maßvoll gestaltet, zeigt ihn in seiner ganzen Größe.

Ein enger Zusammenhang verbindet bekanntlich alle vier Dramen untereinander; wenngleich jedes einzelne seine Selbständigkeit behauptet. Im »Rheingold«, der Exposition des Ganzen, werden in zahlreich auftretenden Hauptmotiven die Fäden angelegt, aus denen sich das unvergleichlich kunstvolle Gewebe symphonisch zusammensetzt. Je ihrer Art und Bedeutung nach, nur für ein einzelnes Drama oder die ganze weitere Folge festgehalten, mit jedem neuen Stück um neu hinzukommende vermehrt, bis sie dann im letzten fast sämtlich wiederkehren, ergeben diese Themen eine Fülle unendlich feiner, geist- und poesievoller Bezüge, lebendiger Rückblicke auf eben empfundene Eindrücke, die Vergangenes und Gegenwärtiges in steter Wechselwirkung erhalten. Aus ihnen knüpft sich die Einheit des wundersamen Werkes zusammen; jene neue Einheit nämlich, die Wagner uns an Stelle der alten, in geschlossenen Formen bestehenden, gibt. Es ist erstaunlich, wie er mittelst einem oder weniger Takte den Charakter einer Person oder Situation oder Idee zu zeichnen weiß. So bilden drei ab- und wieder aufsteigende Terzen das Ring-, ein einfacher gebrochener Akkord das Schwertmotiv. Das Stolz-Majestätische beispielsweise ist in den breiten Akkorden des Walhallthemas, das Schwerfällig-Plumpe in den gemessenen Oktavschritten der Riesen, das unheimlich Flackernde, Irrlichterierende im chromatischen Motiv des Feuergottes Loge auf das prägnanteste ausgesprochen. Von hohem melodischen Reiz wiederum sind namentlich einige breiter gestaltete Phrasen, wie die der Entsagung, des Sterbegesangs, der Liebeserlösung, der Wälsungen, Siegfrieds u. a. Um zu beobachten, wie fein Wagner individualisiert, vergleiche man nur die beiden letztgenannten miteinander. An der düsteren Mollfärbung des einen haftet die ganze Tragik des fluchgeweihten Geschlechts, während das im hellen Glanz der Trompeten ertönende Siegfriedsmotiv uns die sonnigste Heldengestalt des Dramas malt. Einen ähnlichen charakteristischen Gegensatz gewahren wir auch in den Liebesmotiven Sieglindes und der Götterjungfrau Brünnhild. Die letztere ist der idealste, dichterisch wie musikalisch mit größter Liebe ausgeführte Charakter der gesamten Tetralogie. Inniger als irgend eine andere erregt diese hehre Gestalt unser Mitgefühl; bleibt sie doch auch in den heroischsten, sich zu tragischster Größe erhebenden Momenten – wie da, wo sie am Schlüsse der »Götterdämmerung« mit Rückgabe des Rings an die Rheintöchter und dem eigenen Liebesopfer die sühnende und erlösende Tat vollbringt – ganz Weib. Aber auch die übrigen Träger der Handlung, allen voran Siegmund, Sieglinde, Siegfried, sind mit seiner psychologischer Wahrheit gezeichnet. Selbst die Götter, Riesen, Zwerge und Nixen, die uns der Dichterkomponist vorführt und die er ohne jegliches Vorbild schaffen mußte – denn er zuerst rief sie auf die Bühne – erkennen wir als lebendige Individualitäten, deren Freuden und Leiden uns zur Teilnahme zwingen. Man vergegenwärtige sich einzig die Fluchszene Alberichs, den Abschied Wotans von Brünnhild, um dessen inne zu werden! Wir glauben an sie: denn was wir sehen und erleben, dünkt uns Wahrheit, wirkliches Leben.

Die gleiche Wahrheit und innere Notwendigkeit, die aus der Zeichnung der Charaktere spricht, waltet auch beim Aufbau der Handlung. Zufall und Willkür haben keinen Platz, wo alles sich mit strenger Folgerichtigkeit aus dem einen bewegenden Grundmotiv: dem Raube des machtverleihenden Goldes, entwickelt. Dem auf diesem lastenden Fluche verfällt jeder, der den unheilvollen Ring, den Alberich, der Nibelunge, sich daraus geschmiedet, trägt; bis endlich mit der Rückgabe desselben durch Brünnhilds allen Egoismus besiegende Liebe die Sühne und damit zugleich der Untergang der alten germanischen Götterwelt sich vollzieht.

Die Bewältigung und Verteilung des Stoffes erscheint in dieser gewaltigsten Arbeit Wagners staunenswert. Nicht um eine einfache Dramatisierung unseres alten Nibelungenepos war es ihm ja zu tun. Alles Historische, seinen Prinzipien gemäß ausscheidend, löste er nur den mythischen Teil desselben für seine Zwecke ab und griff dafür zu den Urquellen deutscher Sage: der älteren und jüngeren Edda und Völsungasaga, zurück. Mit dem Göttermythus des germanischen Heidentums brachte er die Siegfriedsage in Verbindung, indem er aus dem Schicksal der Götter Siegfrieds Ursprung herleitete und an dessen Ende wiederum das Ende der Götter, die »Götterdämmerung« knüpft. So die ältesten Denkmale deutscher Volkspoesie dem künstlerischen Genießen der Gegenwart wiedergewinnend und das moderne Bewußtsein mit der alten Mythologie unseres Volkes in Zusammenhang setzend, vollbrachte er eine wahrhaft nationale Tat. Seinem Genie gelang es, uns auch jene uns völlig entfremdeten vorchristlichen Phantasiegestalten menschlich nahe zu rücken, ja den alten Sagenstoff durch Herausgreifen und Ausbilden des rein menschlichen Gehaltes, durch Aufstellung und Lösung weltbewegender Probleme über das Maß des nur zeitweise Gültigen zum unwandelbar Dauernden, Gemeingültigen zu erheben.

Aber nicht nur dem Stoff und der Idee, sondern auch dem Stile nach bezeugt sich Wagners Nibelungenwerk als ein echt nationales. Die Umwandlung der fremdländischen, in Italien geborenen und in Frankreich groß gezogenen Kunstform der Oper zum musikalischen Drama, als einem von jeder Nachahmung freien, eigentümlich deutschen Kunstwerk, wie sie sich der Wort-Tondichter zur Aufgabe gestellt, ist hier erreicht; das Einswerden von Rede und Gesang, die Vermählung von Poesie und Musik, unter hilfreicher Beteiligung aller Schwesterkünste – also das Gesamtkunstwerk, wie Wagner es will – ist Wahrheit geworden. Ob aber auch ihre Herrschaft treulich mit Schwester Poesie teilend, hört darum die Musik doch nicht auf, ihre eigensten, holdesten Reize zu entfalten. Schon während der ersten Takte des »Rheingold«-Vorspiels nimmt sie uns völlig in Bann und gibt uns erst uns selbst zurück, nachdem am letzten Abend die letzten Töne des gigantischen Werkes verklangen. Eine vollgültige Wirkung desselben wird allerdings durch eine entsprechende Aufführung bedingt, wie man sie in Bayreuth zu empfangen pflegt. Doch galt deren äußere Seite dem Dichterkomponisten nirgend als Selbstzweck, sondern nur als Mittel zur Erzielung der von ihm erstrebten »vollkommenen Täuschung«, die uns die Bühne zur wirklichen Welt, das Geschaute und Gehörte zum inneren Erlebnis werden läßt. Daß diese Absicht in Wahrheit erreicht worden ist, stand schon 1876 außer Frage. Wir haben in Bayreuth eine, wenn auch nicht in jeder Beziehung, so doch dem Geist und Stil nach vollendete, durch Wagner selbst durch und durch inspirierte Wiedergabe der »Nibelungen« empfangen und sahen damit eine neue idealere Kunst der Darstellung erstehen. »Gewiß«, bezeugt er selber, »hat nie einer künstlerischen Genossenschaft ein so wahrhaft für die Gesamtausgabe eingenommener und ihrer Lösung mit vollendeter Hingebung zugewendeter Geist innegewohnt, als er hier sich kundgab.« Die Mehrzahl der dramatischen Darsteller, der »einzigen Ermöglicher seines Werkes«, als welche der Autor sie dankbar rühmte, leistete Vorzügliches; sie hatte, unter seiner lebendigen Einwirkung, sich in die neue Sprach-Gesangweise zwanglos hineingelebt.

Unvergleichlich waren die Leistungen des Orchesters unter Führung seines Musterkapellmeisters Richter. Vermöge Tieferlegung und teilweiser Überdeckung des Orchesterpodiums durch eine mächtige Schallwand, wird im Bayreuther Theater eine instrumentale Klangschönheit erzielt, wie sie sich nirgend in gleicher Vollkommenheit wiederfindet, wie sie aber sicherlich allerwärts angestrebt werden würde, hinge der Orchesterbau nicht mit dem gesamten Theaterbau zusammen. Tieferlegung des Orchesters, auch mit beliebiger Stellbarkeit des Orchesterbodens, hat man seit Bayreuth an vielen Theatern eingeführt, wie auch die von Wagner zuerst angewandte Verfinsterung des Zuschauerraums während der Vorstellung – allerdings wohl mehr aus ökonomischen denn aus künstlerischen Gründen – allgemein nachgeahmt wird. Nicht unwesentlich wirkt dabei ohne Zweifel die veränderte Anordnung mit, welche die Instrumente, statt wie gewohnt in kompakte Einzelgruppen, vielmehr in parallellaufenden Linien, und zwar je nach dem Grad ihrer Verwandtschaft und ihres Stärkemaßes, verteilt; so daß die zartklingenden Saiten- und Holzblasinstrumente auf der obersten, dem Publikum zunächst liegenden Stufe, das Blech und die Schlaginstrumente aber zu unterst, nämlich noch unterhalb der Bühne, aufgestellt sind. Die Klangwirkung der 116 Instrumente (allein 32 erste und zweite Geigen, 12 Violen, 12 Celli, 8 Kontrabässe, 8 Harfen usw., auch eigens nach Wagners Angabe konstruierte Kontrabaßtuben und Kontrafagotts, wie zur Verstärkung der Baßthemen sogar ein 16 füßiger Orgelbaß angewandt wurde) war eine ideale, wunderbar einheitliche. Frei und unbeeinträchtigt schwebten die Stimmen der Sänger auch über dem reichsten instrumentalen Untergrund.

Hatte sich das unsichtbare Orchester als eine überaus geniale Eingebung Wagners bewährt, so erwiesen sich auch andere Neuerungen, die er mit seinem Festspiel einführte, als nicht minder glücklich. Der amphitheatralische Aufbau des Zuschauerraums, der, den Begriff einer idealen Einheit verkörpernd, bis zu der ihn im Hintergrunde abschließenden Fürstengalerie hinansteigt und der gewohnten, das Auge zerstreuenden Abwechselung von Logen und Galerien entbehrt; die, an Stelle des üblichen Glockensignals, den Beginn des Spiels vorbereitende Fanfare, die ein Hauptmotiv des aufzuführenden Dramas markiert; die gleichzeitig eintretende Verfinsterung des Zuhörerraums, die alles Licht auf die Bühne konzentriert;, das Hinwegbleiben von Souffleurkasten und Rampenlampen; der sich nach rechts und links teilende, statt nach oben aufrollende Vorhang – alles das dient Wagner als Mittel, den Zuhörer zu isolieren, seine Aufmerksamkeit von allem Äußeren ab-, einzig auf das zu schauende Kunstwerk hinzulenken, das in dem geschlossenen Rahmen eines Bildes vor ihn hintritt. Nicht von ungefähr auch hat er sich eine kleine Landstadt von 19 000 Einwohnern zum Festort erwählt, statt seine Freunde nach einer unserer großen Städte zu berufen, die den Bedürfnissen einer so zahlreichen und glänzenden Versammlung ohne Zweifel Entsprechenderes dargeboten hätte. Allen anderen Zerstreuungen als denen, welche die Natur gewählt, entrückt, sollten seine Festgenossen eine ganz nur seinem Kunstwerk angehörende Gemeinde bilden. Ihm selber war ja der Kunstgenuß gleichsam ein religiöser Akt, und nach seinem eigenen Zeugnis hat er, im Gegensatz zu unserem Dichter, »das Leben immer heiter, die Kunst dagegen immer sehr ernst genommen.« Erbaut und erhoben in Wahrheit durften sich alle fühlen, die Wagners Ladung nach Bayreuth folgten. Wer nicht die Empfindung, Einziges, in seiner Weise Höchstgeartetes erlebt und eine Bereicherung seines inneren Menschen erfahren zu haben, aus jener Festzeit mit sich hinausnahm in das Alltagsleben, hat mindestens nicht Wagner, sondern sich selber allein dafür verantwortlich zu machen. Der ungeheure, bei einem dergestalt auserlesenen Publikum doppelt schwerwiegende Erfolg stellte es hinlänglich außer Zweifel, daß des Meisters Absicht, sein Werk »zu wirklichem Gefühls- (nicht kritischem) Verständnis mitzuteilen«, sich verwirklicht hatte. Sein Ideal sah er erfüllt, indem er zugleich den höchsten Triumph seines Lebens feierte. Weiter gingen nun seine Wünsche dahin, die periodische, womöglich alljährliche Wiederkehr solcher Festspiele zu einer bleibenden Institution zu machen.

Zu dem Ende trug er sich mit dem Plan, eine unter seiner Leitung stehende »Hochschule für musikalisch-dramatische Darstellungen« zu gründen, deren Aufgabe es sein sollte, ihm »nicht nur ein Personal für die Darstellung seiner dramatisch-musikalischen Werke auszubilden, sondern überhaupt Sänger, Musiker und Dirigenten zur richtigen Ausführung ähnlicher Werke wahrhaft deutschen Stils (also keineswegs nur ausschließlich der seinigen, sondern der Instrumental- und Opernwerke aller großen deutschen Meister) verständnisvoll zu befähigen.« Zu schwach jedoch war leider noch immer der Glaube an Wagner, zu spärlich flossen die Mittel des sich auf seine Aufforderung vom 15. September 1877 konstituierenden zweiten Bayreuther Patronatvereins, um die Ausführung dieses großartigen Projektes, eines in seiner Art völlig neuen Nationalinstitutes, das für unser gesamtes Bühnenwesen, ja für die ganze fernere Kunstentwicklung von größter Tragweite zu werden versprach, zu ermöglichen. Aus Mangel an Mitteln kam die Pflanzstätte eines neuen Kunststils nicht zustande. Erst am 10. November 1892 trat die vom Meister angestrebte Stilbildungsschule ins Leben. Der verdiente Julius Kniese ward und blieb bis zu seinem 1905 erfolgenden Tode ihr Leiter. Das Patronat hatte an Verwirklichung der Bayreuther Idee nach Kräften mitgewirkt, aber Bayreuth zu erhalten schien es nicht fähig. Blieb doch überdies von den Aufführungen des Sommers 1876 her noch ein beträchtliches geschäftliches Defizit zu tilgen, um dessentwillen der Meister, nachdem der Versuch, es durch ein großes, in London (März 1877) von ihm geleitetes Festival zu decken, mißglückt war, nicht allein die tätige Hilfe seines königlichen Freundes wiederum in Anspruch zu nehmen, sondern auch die »Nibelungen«, die er Bayreuth ausschließlich vorzubehalten gedachte, an andere Bühnen frei zu geben sich genötigt fand. München, Leipzig und Wien erlebten bereits 1878 und 79 das sensationelle, für unsre gewöhnlichen Theaterverhältnisse für nahezu unmöglich gehaltene Ereignis der Inszenierung der vollständigen Tetralogie. Nach ihrem kühnen Vorgange wagte sich eine Stadt nach der andern an die hohe Aufgabe heran und versuchte, das »Wunderwerk«, das nach Liszts Worten, »unsere ganze Kunstepoche überragt und beherrscht, wie der Montblanc die übrigen Gebirge«, zu bewältigen. Selbst außerhalb ihrer deutschen Heimat, in Rotterdam und New York, begann zunächst die »Walküre« ihren Siegeslauf; dann brachte der kühne Unternehmergeist Angelo Neumanns den vollständigen »Nibelungenring« wie zuvor (1881) nach der deutschen Reichshauptstadt, so auch nach London (1882). Der glänzende Erfolg dieser ersten Versuche forderte zu weiteren auf. Neumann erwarb Dekorationen und Kostüme von Bayreuth und gründete unter Mitwirkung hervorragender Künstler eine Wanderbühne, ein »Wagner-Theater«, um die Tetralogie weithin durch die zivilisierte Welt zu tragen. Das Unglaubliche geschieht. Wagners, laut seinen Worten, »so maßlos anforderungsvolles, vom Gewohnten so merklich abweichendes« Werk, das, zunächst nur dem engeren Kreis seiner Freunde und Gesinnungsgenossen gewidmet, aller Popularität zu widerstreben scheint, findet Anklang, Anerkennung und Begeisterung, wo man es hört. Nicht Deutschland nur, auch Belgien, Holland, die Schweiz, Italien, Österreich, Rußland, Amerika heißen es willkommen auf seinem Triumphzug, der in der Geschichte der Oper nicht seinesgleichen hat. Sogar in Frankreich bringt es die »Walküre« 1893, bringen es nachmals auch ihre Geschwister zu beispiellosen Erfolgen. Voll und ganz ergreift die Gegenwart von dem »Kunstwerk der Zukunft« Besitz.

Mehr und mehr in den Geist desselben hineinwachsend, bereitete sie auch dem letzten großen Werke, das Wagner hienieden vollenden durfte, einen harmonischeren, dankbareren Empfang, als er seinen früheren Gaben gelohnt hatte. Als das größte Tongenie der Neuzeit, nachdem es in seinem Festspielhaus sechs Jahre lang still geblieben war, seine Freunde von nah und fern zum zweiten Male zu Bayreuth festlich um sich versammelte, als das Bühnenweihfestspiel »Parsifal« am 26. Juli 1882, von Levi geleitet, zum erstenmal vor uns lebendig ward, da fiel zum ersten Male in Wagners Leben der volle Erfolg einer seiner Bühnenschöpfungen mit der ersten Aufführung derselben zusammen. Was seit dem »Rienzi« – und auch bei diesem blieb der erste Erfolg auf Dresden beschränkt – keinem seiner Werke beschieden war, dessen durfte er sich wenigstens bei seinem letzten erfreuen: es wurde zugleich gehört und verstanden. Nicht ganz fehlte es auch diesmal an gegnerischen, an mißwollenden Stimmen, aber sie übertönte laut der helle Ruf der Begeisterung, der jetzt fast einmütig über Bayreuth in die Lande drang. Freilich, es war der letzte große Sieg seines Lebens, den der Meister mit diesem dem Stoff nach exzeptionellsten seiner Werke feierte.

Ein »Bühnenweihfestspiel« hat Wagner den »Parsifal« genannt, schon mit dieser Bezeichnung dessen Sonderstellung inmitten seiner eigenen und anderer Bühnentaten andeutend. Nicht eine Oper, auch nicht ein musikalisches Drama, sondern vielmehr ein christliches Mysterium, dessen weihevoller religiöser Charakter es über unsere Profanbühnen, über die Wochenrepertoire unserer Hof- und Stadttheater weit hinaushob, wollte er hier gestalten. Zum mystischen Gralsmythus, den er schon im »Lohengrin« behandelt, griff er, nachdem er im »Nibelungenring« die altgermanische heidnische Sage, den Untergang der heidnischen Götterwelt auf die Bühne geführt hatte, zurück; er wählte Parsifal, den Helden Wolfram von Eschenbachs und dessen französischen Vorgängers Chrétien de Troyes, zum Träger und Mittelpunkt seines letzten Tonvermächtnisses, das in seinem Grundgedanken: der Erlösung durch Mitleid, wie in einzelnen Zügen (namentlich des dritten Aktes), an eine frühere, wieder von ihm aufgegebene Idee: »Jesus von Nazareth«, anklingt und die große Reihe seiner Werke in erhabenster Weise abschließt. Predigen nach Wagners eigenen Worten Siehe seinen Artikel über die Grundgedanken seiner Werke »Schles. Volkszeitung« 1878, oder Tapperts Wagner-Broschüre. 1883. alle diese Werke vom »fliegenden Holländer« an »die Urwahrheit der Schuld und Erlösung der Menschheit durch die Liebe, die fluch tragende menschliche und die fluch sühnende göttliche Liebe«, so ist im »Parsifal« »das Leiden des Erlösers selbst die erlösende Macht, die Verkörperung gleichsam jenes Ideals, die den Liebesfluch von den Heiligen des Gralstempels nimmt, indem Parsifal zur Erkenntnis des Opferwunders Christi gelangt, im dämonischen Liebeswerben des ›Weibes‹ seine Reinheit durch diese Erkenntnis wahrt, den Todesspeer des Heilandes aus der Gewalt der heidnischen Weltmacht wieder gewinnt und im ›wissenden Mitleiden‹ damit die ewig offene Wunde aus der Liebesschuld des verführten Gralskönigs heilt. Der ›Parsifal‹ sollte anfänglich mit den Worten endigen:

Groß ist der Zauber des Begehrens,
größer ist die Kraft des Entsagens!

Mit so tiefernsten Worten dem Idealen durch die Kunst wieder zugewandt zu werden, scheint ein Hauptbedingnis mit zu sein, um unsere Volksseele ebenso den tiefernsten religiösen Empfindungen wiederum zu öffnen.«

Die Wiedergeburt der antiken klassischen Tragödie im Geist der modernen Kunst, Wagners Endziel und Ideal, für das er sein Lebenlang gekämpft und gerungen, war erreicht, ein neues Olympia hatte er seinem Volk in Bayreuth gegeben – und mit dieser Tat schied er von hinnen.

Mit dem Ruf »Auf Wiedersehen im nächsten Jahr!« verabschiedete er sich, nachdem er am 29. August den letzten Akt der sechzehnten und letzten »Parsifal«-Aufführung dirigiert hatte, von seinen Künstlern, die in Wiedergabe dieses seines Werks das Vollkommenste leisteten, was deutsche Darstellungskunst bis dahin auf der Gesangsbühne hervorgebracht. Er ahnte wohl nicht, daß er zum letztenmal in ihrer Mitte weilte. Wenige Wochen später verließ er mit den Seinen Bayreuth, um dem nordischen Winter zu entfliehen, dem seine durch die ungeheueren Anstrengungen und Erregungen erschütterte Gesundheit seit den letzten Jahren nicht mehr Stand halten wollte. Den vorausgehenden Winter hatte er in Palermo zugebracht, woselbst er am 13. Januar 1882 auch die letzte Hand an den »Parsifal« legte. Diesmal wählte er Venedig und einen seiner stolzesten Paläste, den Palazzo Vendramin am Canale grande, zum Aufenthalt. Genußvoller Muße gab er sich auch hier nicht hin, wo er sich fast zwei Monate lang des Besuchs von Liszt erfreute und diesem, wir lesen's bei Glasenapp, wie oftmals schon, »ernstlich zuredete, ein für allemal bei ihm, in seinem Hause zu bleiben«. Wann hätte der Rastlose, dessen eiserner Wille der widerstrebenden Natur das scheinbar Unmögliche abzwang, je geruht? Brustkrämpfe suchten ihn häufig heim und er klagte viel über sein Befinden, erschien darnach aber wieder wohl und verschönte die Abende im Familienkreise durch sein herrliches Vorlesen von Dichtungen und Prosawerken. Am 25. Dezember feierte er den Geburtstag seiner Gattin durch Aufführung seiner wiederaufgefundenen Jugendsymphonie im Liceo Marcello und bereitete den Seinen das glücklichste Weihnachtsfest. Er zeichnete musikalische Eingebungen auf und traf für die »Parsifal«-Vorstellungen im Juli 1883 alle Bestimmungen und Vorbereitungen. Auch schrieb er ein Vorwort zu Heinrich von Steins »Dialogen« und begann am 11. Februar eine ihn noch an seinem Todestag beschäftigende Arbeit »Über das Weibliche im Menschlichen«. Sie sollte den Abschluß seines in den »Bayreuther Blättern« veröffentlichten Aufsatzes »Religion und Kunst« bilden, darin er aufs neue seinen Glauben an eine Regeneration der Menschheit kundgibt, die sich die Aufgabe stelle, »für die ethische Seele der Zukunft zu sorgen«. Vgl. Arthur Prüfer »Das Werk von Bayreuth«. 2. Aufl. Leipzig, Siegel. 1909.

Kein Vorgefühl eines nahen Abschieds beschwerte den Starken. Rasch und unerbittlich trat am 13. Februar 1883 der Tod an den, trotz seiner fast vollendeten siebzig Jahre, noch Lebens- und Schaffensfreudigen heran und machte durch einen Herzschlag seinem Leben ein jähes Ende. In freundlicher Gestalt wenigstens nahte er ihm: in den Armen der über alles geliebten Frau, seiner treuen verständnisinnigen Helferin und Genossin, durchkämpfte er den letzten Kampf. Was sterblich an Richard Wagner war, das wurde nach erfolgter Überführung nach Bayreuth, unter Geleit von Freunden und Verehrern des Heimgegangenen, am 18. Februar 1883 im grünen Schatten des Wahnfried-Gartens der Erde wiedergegeben.

»Er war eine durchaus dämonische Natur«, bezeugt Paul Joukowsky, der Wahnfried nah verbundene Schöpfer der Parsifal-Dekorationen. Glasenapp. Bd. VI, S. 735 ff. »Die Gewalten, welche in ihm lebten, besaßen ihn vollständig. Sein Bedürfnis künstlerisch zu gestalten, sein Wollen und Wünschen, sein Lieben und Hassen, die Ideen, die in ihm geboren wurden, alles das nahm vollständig von ihm Besitz; für ihn war das künstlerische Schaffen und die schriftstellerische Tätigkeit Befreiung von dem erdrückenden Reichtum seiner Natur. Er war in jedem Augenblick seines Lebens schöpferisch. In der Welt mußte ein solcher Mensch – bei grenzenloser Zartheit und Reizbarkeit der Nerven – ein Martyrium zu tragen haben. Wie keiner zum Herrschen geboren, mit einer Kraft begabt, die bauen und zertrümmern konnte, mit einem Durst nach übermenschlicher Schönheit, hat er drei Vierteile seines Lebens mit jeder Art des Mangels, dabei mit Krankheit, Not und gänzlicher Verständnislosigkeit seiner Nächsten kämpfen müssen.«

Unter den letzten Aufzeichnungen von Wagners Hand fand man nach seinem Tode die Worte: »Durch Aufführung seiner Werke ehrt man einen verstorbenen Künstler weit höher und in einem edleren Sinne, als durch Niederlegen von Lorbeerkränzen auf seinem Sarge.« Nun, der Mahnung, des Meisters Gedächtnis durch Aufführung seiner Werke in uns lebendig zu erhalten, bedurfte es bei seinem Hinscheiden nicht mehr. Die Bühne vermag derselben, die sie beherrschen, nicht mehr zu entraten, und der empfängliche Sinn für die ihnen innewohnende ideale Macht wird unserem Volk, so Gott will, nicht abhanden kommen. Nur darum konnte es sich noch handeln, den Festspielen überhaupt und dem »Parsifal«, Wagners letztem Vermächtnis im besonderen, in Bayreuth zu periodischer Wiederkehr eine bleibende Stätte zu sichern. Nicht auf unseren Alltagsbühnen ist ja sein Platz, auf geweihterem Boden muß er leben und wirken, soll er nicht seiner eigensten Wirkung verlustig gehen. Wer hätte das nicht, da er ihn hörte, empfunden?

In gerechter Würdigung des letzten Willens des großen Meisters bildete sich nun zu Pfingsten 1883 zu Nürnberg der »Allgemeine Richard Wagner-Verein« »zur Erhaltung und Fortführung der Bayreuther Festspiele«. Neben ihm setzte der Verwaltungsrat der letzteren sein emsiges Wirken nach wie vor fort, und die in die Intentionen ihres verstorbenen Gatten tief eingeweihte Witwe Richard Wagners widmete sich der Verwirklichung derselben, als der ihr hinterlassenen hohen Lebensaufgabe. Die führenden Geister des musikalischen Teils der Aufführungen blieben die bereits bei Lebzeiten Wagners erprobten Musterkapellmeister Hans Richter und Hermann Levi, denen sich weiter Felix Mottl, Richard Strauß, Karl Muck, Michael Balling anschlossen. Seit 1894 führt auch Wagners Sohn Siegfried, der Erbe einer eigenartigen schöpferischen Begabung und auserlesenen Bildung, zugleich ein Genie in der Kunst der Inszenierung, den Dirigentenstab.

Der tätige Schutz König Ludwigs II. blieb bis zu seinem tragischen Ende den Festspielen erhalten; dann erstand ihnen im Prinzregenten Luitpold von Bayern ein neuer Protektor. Auch der deutsche Kaiser Wilhelm II. brachte durch Besuch derselben im August 1889 dem Genius Wagners und seinem nationalen Werke seine Huldigung dar. Seit der Große die Augen schloß, hat sein »Parsifal« schon zu vielen Malen seine hehre Kraft bewährt; In den Jahren 1883, 1884, 1886, 1888, 1889, 1891, 1892, 1894, 1896, 1897, 1899, 1901, 1902, 1904, 1906, 1908, 1909, 1911, 1912. mit ihm sind auch »Tristan und Isolde«, »Tannhäuser«, »die Meistersinger«, »Lohengrin«, der »Holländer« und wiederum der »Ring« im Festspielhause nacheinander eingezogen und zu stilgerechter Wiedergeburt gelangt.

Um die Zukunft Bayreuths braucht uns nicht bange zu sein, auch wenn mit dem Jahre 1913, in dem das deutsche Volk, späten Dankes voll, den 100. Geburtstag seines größten Tondramatikers feiert, die dreißigjährige Schutzfrist für die Werke Wagners erlischt und der »Parsifal«, dem letzten Willen seines Schöpfers zum Trotz, tatsächlich zum Allgemeingut werden sollte. Die Tradition des Stils lebendig erhaltend, steht Bayreuth außerhalb jeden Wettbewerbs; es hat in der gesamten Kulturwelt nicht seinesgleichen. Als zu einer Stätte idealer künstlerischer Erbauung, wallfahret, so oft die Spiele wiederkehren, ein Weltpublikum nach der alten Markgrafenstadt. Möge, inmitten einer realistischen Zeit, Wagners Kunstgeist, zum Besten unseres gesamten Musiklebens, vom Festspielhügel aus bis in die feinste Zukunft seine reinigende und erhebende Wirkung üben!


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