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Franz Schubert

Franz Schubert

Es ist eine häufig laut werdende, nur zu berechtigte Klage, daß der Genius hienieden rauhe Bahnen wandele, und vornehmlich unserem Volke ist der Vorwurf nicht erspart geblieben, daß es seinen größten Geistern meist erst nach ihrem Tode den Dank und die Anerkennung darbringe, die es den Lebenden vorenthielt. Weniger aber hat kein anderer unsrer großen Musiker von der Gunst und Teilnahme seines Volkes erfahren, kärglicher haben Glück und Sonnenschein keinem ihre Gaben zugemessen, als Franz Schubert. »Wie der Vogel in der Luft«, sagt Liszt, »lebte er in der Musik und sang dabei Engelweisen.« Doch keins der Güter, die das Schicksal seinen Lieblingen in den Schoß wirft, weder Gold, noch Ruhm, noch Liebesglück ward ihm zuteil. Der Beifall der Menge und die Gunst der Großen dieser Erde dankten ihm nicht für seine Wundergaben. Arm und unbeachtet ging er, der Tönereiche, durchs Leben. Nur sich selbst zur Lust sang er, weil er nicht anders konnte, bis der Tod dem Unermüdlichen Schweigen gebot und die Welt ihn verlor, noch bevor sie wußte, was sie in ihm besessen. Heute freilich, wo sein Name in aller Herzen, seine Lieder in aller Munde leben, wo wir stolzen Blickes auf sein reiches Vermächtnis schauen, als auf einen uns längst gesicherten unveräußerlichen Besitz, bedenken wir kaum, daß jedes einzelne der nahezu neunzig Jahre, die seit seinem frühen Tode verflossen, daran mitwirken mußte, uns den Wert dieses Besitzes ins Bewußtsein zu bringen, ja diesen Besitz selbst erst zum großen Teil ans Licht zu fördern. Jahr um Jahr hob man neue Schätze aus seinem Nachlaß. Doch erst seit uns in der monumentalen Gesamtausgabe seiner Werke, die wir Breitkopf und Härtel in Leipzig danken, die ganze Summe seines kurzen künstlerischen Tagewerks vor Augen liegt, vermögen wir die Größe dieser Erbschaft völlig zu ermessen.

»Wenn Fruchtbarkeit,« sagt Robert Schumann, »ein Hauptmerkmal des Genies ist, so ist Schubert eins der größten.« Aber mehr als die Menge hat ihn die Bedeutung seiner Gaben neben unsre besten und größten Tondichter gestellt. Romantiker vom reinsten Wasser, wie sich dies schon durch das subjektivere Wesen, das häufig fühlbare Übergewicht des Ideellen über das Formelle bei ihm kund gibt, trägt er doch auch manches vom Klassiker an sich. Die lautere Naivetät seines Schaffens, die kristallhelle Klarheit seiner Gebilde, ihre Leichtigkeit und Freiheit von allem Erdendrucke gemahnen an die heitere Ruhe klassischer Gestaltungsweise und lassen es nicht vergessen, daß seine Jugend mit dem goldnen Zeitalter der Tonkunst zusammenfiel. Darf man ihn doch als Liederkomponist als den letzten der großen Wiener Meister bezeichnen, in deren Werken sich Fülle des Geistes mit sinnlicher Schönheit zu vollkommener Harmonie verband.

Überblicken wir die erstaunliche Anzahl seiner Schöpfungen, so gewahren wir keine Kunstart, von der höchsten herab bis zur geringsten, der er nicht die Spuren seines Genius aufgedrückt hätte. Einige seiner Kompositionen für Kammermusik und seine Symphonien in H-moll und C-dur behaupten eine bleibende Stelle unter den Meisterwerken unserer Musikliteratur. Seine eigenste Sphäre aber bleibt das Lied; als Schöpfer desselben im neueren Sinne hat er seine höchste Bedeutung gewonnen. Schubert war der Erste, der, während seine Vorgänger und Zeitgenossen das Lied mehr objektiv behandelten, dasselbe aus der Form des Allgemeinen loslöste und es individualisierte, indem er es nach Form und Ausdruck neu gestaltete. In dieser Beziehung durfte ihn Louis Köhler als den Lieder-Beethoven bezeichnen. »F. Schubert Leben und Schaffen«. Mus. Zentralblatt II. Nr. 12 u. ff. Seine kunstgeschichtliche Mission wies ihn auf Entwicklung einer Kunstform hin, die nicht wie die anderen Musikgattungen von den großen klassischen Meistern bereits zur Vollendung geführt worden war. Die Voraussetzungen zu einem musikalischen Liederfrühling hatten sich erfüllt. Einen Blütenreigen ohne Ende hatte die lyrische Poesie unseres Vaterlandes im Anschluß an Goethe hervorgezaubert, der nur der Wiedergeburt in Tönen zu harren schien. Andrerseits war das geistige und technische Wesen des begleitenden Instrumentes, dank Beethoven, der dem Klavier seine unsterblichen Sonatendichtungen anvertraut hatte, inzwischen zur Genüge ausgebildet worden, um das gesungene Wort durch den vollen Reichtum der Harmonie und Figuration zu unterstützen. So brauchte Schubert sich nur der vorgefundenen Errungenschaften zu bemächtigen, brauchte im Grunde nur an Beethovens Liederkreis »An die ferne Geliebte« anzuknüpfen, um eine neue lyrische Phase in der Entwicklung der Tonkunst einzuleiten.

Der Instinkt des Genies, nicht Reflexion leitete ihn bei Erfassen seiner künstlerischen Aufgabe. Dank einer unglaublich üppigen Einbildungskraft über einen Melodienschatz verfügend, dem sich an Unversieglichkeit kaum ein andrer als der Mozarts vergleichen läßt und dessen Reize eine überaus aparte Harmonik noch erhöhte, strömten seine Lippen über von Liedern ohne Ende. Was die Menschenbrust bewegt an Luft und Leid, das klingt er in Tönen aus. Eine unendliche Mannigfaltigkeit an Stimmungsnüancen, die ganze Skala der Gefühle, vom Lächeln der Freude bis zum Ausbruch der Verzweiflung, steht seiner Tonsprache zu Gebote, und er bannt sie in den engen Rahmen des Liedes. Was Wunder, zumal die Kunstgattung, der er seine Pflege vorzugsweise widmete, eine spezifisch deutsche ist, daß seine Lieder vor allem ihn zum Liebling des deutschen Volkes machten, das ihm vor andern den Ruhm des liederreichsten Volks der Erde dankt? Volkstümlicher als er ist kein andrer Liedermeister geworden. Oder wer nennt ein Kunstlied, das sich an Popularität dem »Erlkönig« oder dem »Wanderer«, dem »Ständchen« oder den »Müllerliedern« vergleichen dürfte?

Stand auf instrumentalem Gebiet unter seinen Zeitgenossen noch ein Höherer, Gewaltigerer, ob auch kein Geringerer als Beethoven über ihm, im Bereich des Liedes erklomm er höchste Höhen. Wohl neben, doch nicht über ihm sind die Meistersänger, die nach ihm kamen: Schumann, Franz, Brahms und in neuester Zeit Hugo Wolf zu nennen. Die reichste, ursprünglichste Musiknatur unter ihnen, der echteste Sänger von Gottes Gnaden war ohne Zweifel der Erstgeborene. Im Gegensatz zu ihm, dem das rein Musikalische als das Wesentlichste galt, rückten seine Nachfolger, moderner Bildung und poetisierender Neigung gemäß, die poetische Intention mehr in den Vordergrund, und ihre musikalische Auslegung des Dichterwortes empfing ein subjektiveres Gepräge. Ihrer reflektierenden Art gegenüber tritt seine naive Unmittelbarkeit ins hellste Licht. Mit ihm aber, so scheint es, kam der Tonkunst die Naivetät für lange abhanden. Bei ihm ist nichts reflektiert. Sich selber fast unbewußt, entquoll ein unaufhaltsamer Strom von Melodie seinem Innern. Absichtslos und selbstgenügsam, geräuschlos und still wie die Natur selbst, waltete schaffend sein Genius. Still und geräuschlos, selbstgenügsam wie sein Wirken stellt sich auch sein äußeres, sein persönliches Leben der Betrachtung dar.

Als schlichter Eltern Kind kam Franz Schubert am 31. Januar 1797 in Wien auf die Welt. Sein unscheinbares Geburtshaus auf der Nußdorfer Straße – es trägt jetzt die Nummer 54 und ist durch eine Gedenktafel und eine überaus armselige Miniaturbüste des Liederfürsten kenntlich – wurde 1908 von der Stadt Wien angekauft, um samt Hof und Gärtchen erhalten zu bleiben. Sein Vater, der Abkömmling eines Bauerngeschlechts aus Österreichisch-Schlesien, der sich in der Hauptstadt der Monarchie zu einem tüchtigen Schulmann gebildet hatte, leitete in der Wiener Vorstadt Himmelpfortgrund die zur Pfarre Lichtental gehörende Schule »Zu den heiligen vierzehn Nothelfern«. Seit seinem neunzehnten Lebensjahre schon mit Elisabeth Fitz aus Schlesien, einer ehemaligen Köchin, verheiratet, wurde er in dieser Ehe mit vierzehn Kindern, unter denen Franz der vierte Sohn war, beschenkt. Dieser für die beschränkten Verhältnisse eines armen Schulmeisters ohnehin verhängnisvolle Familiensegen aber vermehrte sich noch um fünf Kinder, als er nach dem Tod seiner Gattin 1813 ein zweites Ehebündnis mit einer Wiener Fabrikantentochter schloß. Das gesamte Jahreseinkommen des Familienoberhauptes belief sich, laut Dr. Max Friedländers im Nachstehenden mannigfach benutzten »Beiträgen zur Biographie Franz Schuberts«, Als Manuskript gedruckt. Berlin, Haack. auf nicht mehr als etwa 400 fl. österreichischer Währung, d. i. nach unserm Gelde 700 Mark. So waren Mangel und Sorge die unausbleiblichen Gäste des Hauses, darin Franz Schubert aufwuchs, wie sie ihn beharrlich begleiteten bis an sein frühes Grab. Von seinem sechsten Jahre an ließ ihn der Vater die Schule besuchen. Er zeichnete sich, dessen Mitteilungen zufolge, bald als der erste unter seinen Mitschülern aus.

Auch sein früh zutage tretendes musikalisches Genie fand seitens des Vaters zunächst bereitwillige Förderung. Er selber brachte, gemeinsam mit seinen ältesten Söhnen Ignaz und Ferdinand, dem jüngsten die Elementarkenntnisse im Klavier- und Violinspiel bei. Dann übernahm der regens chori Michael Hölzer dessen musikalische Weiterführung. Dabei waren die Fortschritte des Knaben so staunenerregend, daß der Lehrer mit Rührung versicherte, einen solchen Schüler noch niemals gehabt zu haben.

»Er hat die Harmonie im kleinen Finger!« rief Holzer begeistert aus, als er Franz einmal ein gegebenes Thema durchführen hörte. Elf Jahre alt, genoß der Kleine als tüchtiger Sopransänger und Violin- und Bratschenspieler, ja als gelegentlicher Organist auf dem Chor der Lichtentaler Pfarrkirche in der Nachbarschaft schon einer gewissen Berühmtheit. Im Oktober 1808 aber wurde ihm nach trefflich bestandener Prüfung die erwünschte Aufnahme als Sängerknabe in die von Salieri geleitete kaiserliche Hofkapelle und damit zugleich ein Stiftsplatz im Wiener Stadtkonvikt zuteil. Dieses von Mönchen beaufsichtigte Institut bot seinen Zöglingen, neben dem vom benachbarten Universitäts-Gymnasium gewährten wissenschaftlichen Unterricht, Kost und Wohnung dar, wenn freilich auch in so unzulänglicher Weise und unter so strenger klösterlicher Zucht, daß Schubert dasselbe als »Gefängnis« bezeichnet. Dagegen öffnete sich ihm hier eine seinem Talent förderliche praktische Schule. Durch die Mitwirkung bei der sonn- und festtägigen Kirchenmusik in der Hofburgkapelle, wie durch die täglich stattfindenden Übungen im Orchester- und Quartettspiel, bei denen er sich bald an der ersten Violine, bald auch am Dirigentenpult betätigte, bildete sich sein Tonsinn an den Werken der besten Meister. Bewegten ihn, nach den Mitteilungen seines Freundes und Konviktgenossen Josef von Spaun, »Erinnerungen an F. Schubert«, zum ersten Mal vollständig veröffentlicht von La Mara: »Klassisches und Romantisches aus der Tonwelt.« Breitkopf & Härtel 1892. Desgl. weiteres »Aus Spauns Familienchronik«. Signale 1891, Nr. 50. die Adagios der Haydnschen Symphonien auf das innigste, ja meinte er in Mozarts G-moll-Symphonie die Engel singen zu hören, so galt sein höchstes Entzücken doch den Werken Beethovens, des Tonheros, zu dem er lebenslang als zu seinem höchsten Ideal emporschaute. Obendrein gewährte ihm das Konvikt die Möglichkeit, seine eigenen jugendlichen Erzeugnisse zur Aufführung zu bringen. Schon komponierte er ja nach Herzenslust. Als dreizehnjähriger Knabe hatte er sich bereits in der Stille in allen Gattungen seiner Kunst versucht – Versuche, die später von ihm vernichtet wurden – und nie kehrte er an Ferientagen im Elternhause ein, ohne für die von Vater und Brüdern mit ihm betriebenen »Hausmusiken« ein neues Streichquartett in Bereitschaft zu haben. Dabei erwies sich der Jüngste unter ihnen als der musikalisch Empfindlichste, der die Fehler der andern gewissenhaft rügte und verbesserte. »Herr Vater, da muß etwas gefehlt sein!« bemerkte er schüchtern hinter seinem Violapult hervor, wenn jenem etwas Sterbliches passierte, und seine Belehrung wurde, wie es heißt, ohne Widerrede hingenommen.

Schamrot und scheu bekannte er sich mit Vortrag eines Menuetts eigner Erfindung Spaun gegenüber einmal zu seinen im Konvikt bisher nur im geheimen geübten kompositorischen Neigungen. Als er dem Freund ein andermal ein paar von ihm in Musik gesetzte Klopstocksche Lieder vorsang und auf seine Frage: »Glauben Sie wirklich, daß aus mir etwas werden wird?« die Versicherung empfing, er sei schon jetzt recht viel, gab er zur Antwort: »Ich glaubte auch schon, es könnte etwas aus mir werden – aber wer vermag nach Beethoven etwas zu machen?«

Ungehindert durfte er sich seinem Schaffensdrang überlassen, seit ihn die Freigebigkeit des hilfreichen Spaun riesweise mit dem unentbehrlichen Notenpapier versorgte, das sich selbst anzuschaffen ihm seine Armut verwehrte. Als einer der Erstlingsversuche vom Jahre 1810 ist eine große vierhändige Phantasie: die sogenannte »Leichenphantasie« bekannt geworden, zu der ihn Schillers Gedicht, das er auch als Lied komponierte, angeregt hatte. Sie zeigt, ebenso wie ein Lied »Der Vatermörder«, das er »seinen geliebten Eltern zu Weihnachten 1811« widmete, des Knaben seltsame Vorliebe für gruselige Stoffe. Das erste seiner Lieder »Hagars Klage«, in dem sich bereits ein bewußtes Streben nach Wahrheit des Ausdrucks verrät, kam durch einen glücklichen Zufall vor Salieris Augen und bestimmte diesen, dem jungen Musikgenie im Hoforganisten Ruzicka einen besonderen Kompositionslehrer zuzuweisen. Aber schon nach der zweiten Stunde erklärte auch der vortreffliche neue Meister: »Dem kann ich nichts lehren, der hat's vom lieben Gott gelernt!« So übernahm denn Salieri im Juni 1812 in höchsteigener Person die weitere Ausbildung dieses ungewöhnlichen Schülers.

Da Schubert noch nie eine Oper gehört hatte, bot Spaun ihm während der Ferien auch dazu Gelegenheit. Bei den bescheidenen Mitteln, über die er verfügte, mußten die Freunde freilich – so erzählt er – »ihr Hauptquartier im fünften Stock aufschlagen«. »Die Schweizerfamilie« von Weigl, Cherubinis »Medea«, »Johann von Paris«, »Aschenbrödel« usw. entzückten Franz; »glühend verließ er immer das Theater. Über alles aber ergriff ihn ›Iphigenia auf Tauris‹ von Gluck.« Auch »Fidelio« lernte er kennen und lieben. Die auf der Bühne gewonnenen Eindrücke forderten ihn selbst zu dramatischem Gestalten auf, und nachdem Salieri dem sechzehnjährigen Jüngling gesagt hatte, er könne nun schon eine Oper schreiben, blieb er eine Zeit lang vom Unterricht weg, um dem erstaunten Maestro sodann die Partitur einer dreiaktigen Oper: »Des Teufels Lustschloß« (von Kotzebue) vorzulegen.

Nach fünfjährigen Studien verließ Schubert Ende Oktober 1813 das Konvikt und kehrte in das Elternhaus zurück. Um der Militärpflicht zu entgehen und wohl mehr noch, um sich dem Gebot seines Vaters gehorsam zu zeigen, trat er als Hilfslehrer in dessen Elementarschule ein. Kindern die Anfangsgründe im Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen, das war nun drei Jahre lang das Los eines Genies, das im Jahre 1814 bereits ein Lied wie »Gretchen am Spinnrad«, 1815 den »Erlkönig« zu schaffen vermochte. Unter härtesten Kämpfen nur verstand sich Schubert zu einem Beruf, dessen bleierner Druck seiner nach Freiheit dürstenden Künstlerseele unerträglich dünkte. Doch weichen, passiven Naturells, wenig tatkräftig, wie er war, nahm er den Kampf mit den Verhältnissen nicht auf, er unterwarf sich ihnen. Welches Märtyrertum mochten diese Jahre für ihn umschließen! Und dennoch, selbst in aller Nüchternheit und Enge, unter allem Druck und Zwang seines äußeren Lebens schöpfte sein Genius aus reichem Born und trank nie versiegende Fülle und ewiges Genügen. Gewiß war Schubert nichts weniger als ein Idealist, auch nicht was die Welt einen Träumer nennt. Der stillen Weise süßer Träumerei, wie wir sie an Schumann und Chopin kennen, begegnen wir bei ihm nirgends. Das schwelgende Versinken in Träume ist ein Produkt jüngerer, selbstsüchtigerer Tage, von dem die klassische Welt nichts weiß, in der Franz Schubert geboren ward. Sein Wesen haftete am Natürlichen, ein realer, kräftiger Pulsschlag durchströmte dasselbe und ließ sein gesundes Sinnenleben sich nicht verlieren in schattenhaften Traumgebilden. War er doch das echte Kind Wiens, seiner schönen Vaterstadt, deren Wesen und Natur er wie kein anderer zu tönendem Ausdruck brachte. Die naive Lebenslust, die leichtlebige natürliche Art, der liebenswürdige Mutterwitz, die Gemütswärme und Phantasiefülle, die den Wiener charakterisieren, finden in seinen goldnen Melodien ihren treuen Widerhall. So haben seine Schöpfungen sich nicht losgelöst vom Boden der Wirklichkeit, irdischer Schmerz und irdische Freude atmen in ihnen und ergreifen uns mit der unwiderstehlichen Macht der Wahrhaftigkeit. Wie seinem Leben freilich das Mißgeschick ein treuerer Gefährte war als das Glück, so sind ihm aus tränenreicher Saat auch die Mehrzahl seiner unvergänglichsten Gebilde aufgegangen. Keine Spur ist bei ihm von der nervösen Reizbarkeit, der wir so häufig bei Musikern begegnen. Es ist ein gesunder, kein kranker, selbstgeschaffener Schmerz, der durch seine Weisen hindurch klingt. Seine Natur war zu einfach und schlicht, um sich grübelnd in sich selber zu vertiefen. Er war nicht zum Denker geboren, und der einfache Bildungsgang, den er durchschritt, hat ihn nicht dazu werden lassen. Das Maß einer gewöhnlichen Durchschnittsbildung seiner Zeit, nicht mehr und nicht weniger war sein Teil. Seine Studien reichten, nach seines Freundes Bauernfeld Zeugnis, kaum über das Gymnasium hinaus, und er blieb sein kurzes Leben hindurch Autodidakt. Wie er in seinem Fache aber die Meister und Muster kannte, war er auch in der Literatur – seine charakteristische Auffassung und Wiedergabe der verschiedenen Dichterindividualitäten beweist es – keineswegs unbewandert. Nur der Dichter kann den Dichter so verstehen. Freilich nicht Worte, sondern Töne waren seine natürlichste Sprache, und wenn sich in den uns vereinzelt erhaltenen Tagebuchfragmenten (von 1816 und 1824), Gedichten und Briefen eine gewisse Ungelenkigkeit des Ausdrucks bemerkbar macht, so ist seine melodische Beredsamkeit um so überströmender. Wo haben die Leichtigkeit und Massenhaftigkeit seines Schaffens in der Geschichte der Tonkunst ihresgleichen? Phantasiebegabt bis zum Überfluß, einer strengen methodischen, ihm Maß und Selbstkritik anbildenden Zucht entbehrend, wie sie beispielsweise Mozart und Mendelssohn geleitet, vollzog sich seine künstlerische Entwicklung nicht wie bei jenen in stetigem harmonischen Fortschreiten, sondern rasch und unaufhaltsam. Gelangten demgemäß jene in aller Frühe zu großer formeller Meisterschaft, so daß ihre ersten Werke mehr von der Freude am Spiel mit Formen als von einem individuellen Inhalt erzeugt zu sein scheinen, so macht sich bei Schubert vielmehr zeitig eine Fülle des Gehaltes geltend, die nur langsam und allmählich der knappen Form sich fügt. Seinen quellenden Melodienreichtum den Formenschranken anzupassen, wurde ihm außerhalb des Liedes immerdar sauer, und die ihm abgehende Beherrschung seines Genies blieb der einzige Mangel seines wunderbar reichen künstlerischen Wesens.

Wohl hat Salieri, bei dem Schubert auch nach seinem Abgang vom Konvikt seine Studien bis 1817 fortsetzte, zum Teil die Verantwortung dafür zu tragen. Überhaupt kann man nicht behaupten, daß er der rechte Lehrer für ihn gewesen sei. Verlangte er doch, wie Spaun erzählt, von ihm, daß er sich nicht mehr mit der barbarischen deutschen Sprache befasse, sondern italienische Gedichte in Musik setze – eine Forderung, die sein Schüler damit beantwortete, daß er in seinem kurzen Leben mehr denn 600 deutsche Lieder komponierte. Nichtsdestoweniger legte Schubert so ersichtlichen Wert auf den Unterricht des seiner Zeit hochberühmten Meisters, daß er sich bei vier Werken auf dem Titelblatt den »Schüler des Herrn von Salieri« nennt. Auch dieser war stolz auf seinen Jünger und als derselbe im Jahre 1814, bei Gelegenheit des hundertjährigen Jubiläums der Lichtentaler Pfarrkirche, eine für diesen Zweck geschriebene Messe (in F) unter persönlicher Leitung zur Aufführung brachte, umarmte er ihn nach beendeter Feier hocherfreut mit den Worten: »Franz, Du bist mein Schüler, der mir noch viel Ehre machen wird!«

Zeigen Schuberts erste Symphonien (in D und B) aus den Jahren 1813 und 1814 ihn neben anderen Arbeiten noch derart im Banne seines großen Vorbildes Beethoven, daß es darin zu direkten Anklängen an ihn kommt, so gewahren wir unter der reichen, künstlerischen Ausbeute des nächstfolgenden Jahres 1815 eine Tondichtung, die für seine erlangte Reife und Eigenart, wenigstens auf dem ihm eigensten Gebiete, beredt genug zeugt: den »Erlkönig«. Über dessen Entstehung berichtet Spaun: »An einem Nachmittage ging ich mit Mayrhofer zu Schubert, der damals bei seinem Vater auf dem Himmelpfortgrunde wohnte. Wir fanden Schubert ganz glühend, den Erlkönig aus dem Buche laut lesend. Er ging mehrmals mit dem Buche auf und ab, plötzlich setzte er sich, und in der kürzesten Zeit, so schnell man nur schreiben kann, stand die herrliche Ballade auf dem Papier. Wir liefen damit, da Schubert kein Klavier besaß, in das Konvikt, und dort wurde der Erlkönig noch denselben Abend gesungen und mit Begeisterung aufgenommen. Der alte Hoforganist Ruzicka spielte ihn dann selbst ohne Gesang in allen Teilen aufmerksam und mit Teilnahme durch und war tief bewegt über die Komposition. Als einige eine mehrmals wiederkehrende Dissonanz ausstellen wollten, erklärte Ruzicka, sie auf dem Klavier anklingend, wie sie hier notwendig dem Text entspreche, wie sie vielmehr schön sei und wie glücklich sie sich löse.« Es war dies die scharf dissonierende kleine Sekunde bei »Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an!«, die mit Recht als charakteristisches Wahrzeichen des sich auf dem Gebiet des Liedes oder der Ballade vollziehenden Fortschritts bezeichnet werden konnte.

Was der Tonkunst innerhalb der Schranken des Liedes an Gewalt dramatisch-dämonischen Ausdrucks verliehen ist, hier erscheint es zu hinreißender Wirkung gebracht. Eine neue Weise, wie sie nie zuvor im Lied erklungen, wird hier zum erstenmal angeschlagen. Mögen puritanische Kunstrichter immerhin ob des Zwiespalts zwischen der nordisch herben Einfachheit der Goetheschen Ballade und der südlich blühenden Sinnlichkeit der Musik rechten, die unwiderstehliche Macht dieser genialen Tonsprache wird doch allezeit der ästhetischen Bedenken spotten. Hat nicht auch die Erfahrung der Theorie Unrecht gegeben? Wie kein anderes von Schuberts Liedern trug der Erlkönig seinen Namen in die Welt hinaus und erweckte ihm allerwärts begeisterte Freunde und Verehrer. Nur zum Herzen des Dichters fand diese wundervolle Musik nicht so bald ihren Weg.

Um seinen schüchternen Freund mit Goethe in Verbindung zu bringen, sandte Spaun im April 1817 eine Anzahl von dessen Vertonungen Goethescher Gedichte an den Olympier in Weimar, mit der Bitte, sie ihm »in Untertänigkeit weihen zu dürfen«. Aber eine Antwort darauf erfolgte ebensowenig als auf ein zweites direktes Schreiben Schuberts vom Jahre 1825, das die Goethe gewidmeten Lieder: »An Schwager Kronos«, »An Mignon« und »Ganymed« begleitete. Dasselbe lautet:

»Euer Exzellenz!

Wenn es mir gelingen sollte, durch die Widmung dieser Komposition Ihrer Gedichte meine unbegrenzte Verehrung gegen Ew. Exzellenz an den Tag legen zu können, und vielleicht einige Beachtung für meine Unbedeutenheit zu gewinnen, so würde ich den günstigen Erfolg dieses Wunsches als das schönste Ereignis meines Lebens preisen.

Mit größter Hochachtung

Ihr ergebenster Diener
Franz Schubert m. p.«

Leider sollte dies erhoffte »schönste Ereignis seines Lebens« den sich so unterwürfig vorstellenden großen Tonmeister nicht erfreuen. Während Goethe für die am selben Tag eintreffende Sendung der ihm zugeeigneten Erstlingsquartette seines Lieblings, des sechzehnjährigen Mendelssohn, die herzlichsten Dankesworte fand, hatte er für Schuberts geniale Tonspende nur eine karge Erwähnung in seinem Tagebuch übrig. Von Zelterschen und Reichardtschen Einflüssen befangen, fehlte dem Dichterfürsten das Verständnis für eine musikalische Lyrik unvergleichlich höheren Stils. Nur der unwiderstehlichen Vortragsgewalt einer Schröder-Devrient gelang es, ihm noch kurz vor seinem Hingange (1830) die ihm bis dahin fremd gebliebene Bedeutung von Schuberts »Erlkönig« zu erschließen. Aber der ihn gesungen, lag nun schon im Grabe. Es gehört zur Tragik in Schuberts Leben, daß er, der nach Spauns Worten, »Goethes Dichtungen wesentlich seine Ausbildung zum deutschen Sänger verdankt«, er, der ihnen ins innerste Herz schaute, um ihnen ein verklärendes musikalisches Leben zu leihen, für seine begeisterte Hingabe vom Dichter selbst nur kalte Ablehnung erfuhr. Zählen doch seine Kompositionen Goethescher Gesänge, deren wir über achtzig besitzen, – es sei nur an »Rastlose Liebe«, »Gretchen am Spinnrad«, Mignons »So laßt mich scheinen«, »Wanderers Nachtlied«, »Suleika«, »Haideröslein« erinnert – zu seinen unvergänglichsten Meistertaten.

Das Geburtsjahr des »Erlkönig« (1815) war das fruchtbarste in Schuberts Leben. Es sah zwei Messen und andere Kirchenwerke, eine Symphonie, zahlreiche Klavierkompositionen – darunter vier Sonaten – sowie sieben Opern und Singspiele (»Der vierjährige Posten«, »Fernando«, »Claudine von Villabella«, »Die beiden Freunde von Salamanca«, »Der Spiegelritter«, »Der Minnesänger« und »Adrast«) und über 130 Lieder entstehen. Von letzteren, unter denen die herrlichen »Gesänge Ossians« hervorragen, entfallen allein 45 auf Goethesche Gedichte. Mit einer Reihe Balladen, wie Schillers »Bürgschaft« und anderen, brachte der junge Tonsetzer dem mit Vorliebe dem Epischen zugewandten Zeitgeschmack seinen Tribut dar. Zumsteegs Balladen, die ihn, wie Spaun erzählt, »aufs tiefste ergriffen«, und die nicht ohne Einfluß auf ihn blieben, mögen ihn dazu veranlaßt haben. Von den genannten Opernpartituren sollte bei seinen Lebzeiten keine einzige das Licht der Lampen erblicken. Erst 1896 gelangte »der vierjährige Posten« in Dr. Robert Hirschfelds Bearbeitung in Dresden, sowie 1897 zur Schubertfeier in Wien zu flüchtigem glücklosen Bühnendasein. Schubert huldigte der dramatischen Muse lebenslang mit viel Beharrlichkeit und wenig Erfolg. Die Bühne hat sich Zeit seines Lebens sowohl, als mit geringen Ausnahmen auch nach seinem Tode, seinen größeren dramatischen Werken verschlossen, und nur die bescheidensten seiner diesbezüglichen Leistungen, die sich ausschließlich auf das Melodrama und Singspiel beschränkten, war es ihm vergönnt, je aufgeführt zu sehen. Des Vorteils eines praktischen Studiums, der Möglichkeit Erfahrungen zu sammeln und sie weiterhin zu verwerten, ging er damit verlustig. Ob aber der große Liedermeister, dessen dramatische und symphonische Versuche nach Liszts Ausspruch nur als akzessorisch in seiner arbeitsreichen Laufbahn zu betrachten sind, selbst im intimen Umgang mit der Bühne gelernt haben würde, ihre Bedingungen zu erfüllen, wer weiß es?

Reich an schöpferischen Ergebnissen war auch das folgende Jahr. Eine unvollendete Oper »Die Bürgschaft«, zwei Symphonien, eine Messe, das Stabat mater, Liederperlen wie den »Wanderer«, die Harfner-Gesänge und vieles andere umfassend, trug es dem Künstler für eine leider verloren gegangene Kantate »Prometheus« sein erstes Honorar von 40 fl. ein. Mittlerweile machte Schubert den Versuch, sich dem Joch der Schulmeisterei, das er bisher mit Selbstverleugnung getragen hatte, zu entziehen. Er bewarb sich (wahrscheinlich im April 1816) um eine Lehrerstelle an der Musikschule zu Laibach. So bescheiden das damit verbundene Einkommen im Betrag von 500 fl. Wiener Währung war, den anspruchslosen jungen Mann lockte die sichere Anstellung; »er gelobet« – so schreibt er – »die bestmögliche Verwendung seiner Fähigkeiten, um einer gnädigen Bittgewähr vollkommen zu entsprechen.« Dabei beruft er sich auf Salieris Empfehlung; aber diese Empfehlung fiel, da sein Meister heimlich einen andern begünstigte, so kühl aus, daß die Bewerbung ohne Erfolg blieb.

Dennoch schlug endlich die Stunde der Befreiung. Im Oktober 1816 trat Schubert aus der Schule seines Vaters aus. Die erlösende Tat vollbrachte, laut dem Biographen unsers Meisters, Heinrich von Kreißle Franz Schubert, Wien, Gerold. 1865. – dessen Angaben neuerlich durch die methodischen Forschungen Max Friedländers vielfältig berichtigt und ergänzt worden sind – Franz von Schober, ein Freund Spauns, der zu Schubert in das innigste Verhältnis trat. Er bot dem Bedrängten in seinem eigenen Hause eine Zufluchtsstätte, die ihm, auch wenn er sie nachmals zeitweise unbenutzt ließ, doch immerdar offen blieb. Damit leistete er seinem genialen Freund und mit ihm der musikalischen Welt einen Dienst, der ihm unvergessen bleiben muß. Dieser Freundschaftsdienst ist nachmals angezweifelt worden; indessen hat Schober selbst, dem die vorstehende Skizze in einer ihrer früheren Auflagen (1878) vorlag, dem nicht widersprochen, sondern die darin gegebene, auf Kreißle fußende Darstellung seines Verhältnisses zu Schubert in einem Brief an d. Verf. vom 11. Dez. 1878, dem er das hier reproduzierte Bildnis beifügte, als »wahr« bezeichnet. Der 1796 bei Malmö in Schweden Geborene starb als Weimarischer Legationsrat 1882 in Dresden.

Seit seinem nunmehr aufgegebenen Schullehreramt bekleidete Schubert lebenslang keine feste Stellung mehr, obgleich er, um sich aus seiner Dürftigkeit herauszuhelfen, die Hand wiederholt nach einer solchen ausstreckte. Seine Tage spannen sich äußerlich mit seltener Gleichförmigkeit ab. Die Vormittagsstunden waren der Arbeit, dem Schaffen geweiht. Den Nachmittag verbrachte er im Freien in der schönen Umgebung Wiens. Der Abend gehörte dem Verkehr mit seinen Freunden, einem Kreis kunstbegeisterter junger Männer, unter ihnen neben Spaun und Schober als vornehmste Elemente die Maler Kupelwieser und Moritz von Schwind, die Dichter Mayrhofer, Bauernfeld, Grillparzer, die Musiker Hüttenbrenner, Franz Lachner, Randhartinger. In der heitern Tafelrunde der Genossen, die sich allabendlich im Gasthaus und allwöchentlich einmal zu einer »offiziellen Versammlung«, einer »Schubertiade«, wie man sie nach ihrem geistigen Mittelpunkt benannte, zusammenfanden, feierte Schubert, ein Freund feurigen Rebenblutes, seine frohesten, an künstlerischer Anregung reichen Stunden. Hier überließ er sich, so melancholisch er zuweilen sein konnte, seiner natürlichen, harmlosen Lustigkeit. Von weitesttragender Bedeutung für ihn aber ward der vertraute Umgang mit Michael Vogl, dem berühmten ersten Bariton der Hofoper, der sich ihm durch Schober um diese Zeit erschloß. Die Liederschätze, die in der stillen Arbeitsstube des jungen Tondichters vergraben lagen, trug der gefeierte Liebling der vornehmen Gesellschaft hinaus in Salon und Konzertsaal und sorgte besser als ihr um seinen Ruhm unbekümmerter Autor für ihren Weg in die Welt und das Bekanntwerden seines Namens. Schubert schätzte in ihm den ersten und ausgezeichnetsten Interpreten seiner Lieder, und sein Vortrag derselben galt als ein so mustergültiger, daß zahlreiche zur Steigerung des Effektes von ihm angebrachte Verzierungen sogar in den Druck übergingen, sodaß es in unseren Tagen erst revidierter Ausgaben (durch Mandyczewski und Friedländer) bedurfte, um die ursprüngliche Lesart wieder herzustellen. Der eine singend, der andre begleitend, waren Vogl und Schubert, wohin sie kamen, willkommene Gäste, zogen sie im Sommer auch wiederholt als fahrende Sänger durch Oberösterreich und das Salzkammergut, allerwärts offene Türen und Herzen findend. Schubert selbst schreibt einmal: »Die Art und Weise wie Vogl singt und ich akkompagniere, wie wir in einem solchen Augenblicke Eins zu sein scheinen, ist diesen Leuten etwas ganz Neues, Unerhörtes.« Wie Vogl im Gesang das Dramatische zum Hauptfaktor erhob und nach dem Urteil kompetenter Zeitgenossen »in der Darstellung des Charakteristischen, in der künstlerischen Verbindung der Wahrheit mit der Schönheit« seine eigentliche Stärke entwickelte, so kommt auch in Schuberts Liedern das charakteristische, dramatische Element in ungleich höherem Grade als in denen seiner Vorgänger zum Ausdruck. Vermutlich auch verharrte Schubert zunächst auf Anregung des befreundeten Sängers dauernd in der Pflege des Liedes, selbst wenn er hierbei nicht minder einem inneren Naturgebot folgte. Jedenfalls wirkte der um 29 Jahre ältere, ihm an Kenntnissen und umfassender wissenschaftlicher Bildung weit überlegene Vogl, der mit den griechischen und römischen Klassikern auf so vertrautem Fuße stand, daß sie ihm sogar in der Theatergarderobe während der Zwischenakte Gesellschaft leisteten, belehrend und ratend auf den jungen Musiker ein. Sorgte er doch auch, nach Schobers Zeugnis, väterlich für Befriedigung seiner Bedürfnisse. Die ihm von Vogl gewährte Beihilfe abgerechnet, blieb Schubert, so sehr sich auch der Kreis seiner Bewunderer mehrte, ohne irgend welche Unterstützung. »Seine Lage«, sagt Spann, »war eine wahrhaft drückende. Kein Verleger war zu finden, der es gewagt hätte, für seine herrlichen Schöpfungen auch nur einiges zu bieten. Der so Reiche an Melodien konnte selbst nicht die Miete für ein Klavier erschwingen. Die Schwierigkeiten seiner Lage lähmten jedoch seinen Fleiß und seine Lust durchaus nicht. Er mußte singen und dichten, es war sein Leben. Er blieb auch immer heiter, und freundlich nahm er es an, daß er durch viele Jahre bei dem gemeinschaftlichen heitern Abendmahle, das sich meist über Mitternacht erstreckte, der Gast eines alten Freundes war« – nämlich Spanns selber. »Wir halfen einander gegenseitig aus«, erzählte der 1890 verstorbene Bauernfeld einmal d. Verf. »Wer gerade etwas im Beutel hatte, zahlte für den andern.« Sich durch Musikunterricht Erwerb zu schaffen, wies der jedem Zwang abholde Künstler widerstrebend von sich. Seine schüchterne, in geselligen Formen unbeholfene Natur ging ohnehin dem Verkehr mit vornehmen Häusern gern aus dem Weg. In einem einzigen Fall nur entschloß er sich zu einer Ausnahme von der Regel: den Antrag des Grafen Johann Esterhazy, den Sommer 1818 als Musiklehrer seiner zwei Töchter auf seinem ungarischen Schloß Zéléz zu verbringen, nahm er an; er wiederholte sogar seinen Aufenthalt daselbst noch einmal im Sommer 1824. Man hat sich diese wohl einfach auf seine Notlage zurückzuführende Ausnahme durch einen Roman zu erklären gesucht, in dem (laut Kreißle und Bauernfeld) Schubert die Rolle des musikalischen Tasso, Komtesse Caroline, die jüngste Tochter des Hauses, die der Leonore gespielt haben soll. Indessen stellten Friedländers Forschungen fest, daß jener Roman ins Reich der Sage gehört und Komtesse Caroline 1818, als Schubert zum erstenmal in Zéléz war, erst zwölf Jahre zählte. Bei seinem zweiten Aufenthalt 1824 machte ihre aufblühende Schönheit wohl Eindruck auf den Komponisten; doch kann derselbe, seinen eignen brieflichen Äußerungen zufolge, kein sehr tiefgehender gewesen sein. Nach Mitteilungen Anselm Hüttenbrenners, des schon genannten Jugendfreundes von Schubert, hatte dieser eine minder romantische Neigung für eine einfache, nicht mit Schönheit gesegnete Schullehrerstochter, Therese Grob, gefaßt, die bei Ausführung seiner F-dur-Messe 1814 das Sopransolo darin schön gesungen hatte. Aber sie heiratete, da er keine Anstellung fand, nach dem Wunsch ihrer Eltern einen andern, – nach Angabe Otto Erich Deutschs, »Bühne und Welt«, 2. Juniheft 1807. der ihr aber einen Seidenspinner zum Vater gibt, einen Bäckermeister – und obwohl Schubert ihr Verlust sehr zu Herzen ging, tröstete er sich am Ende damit, »daß sie ihm halt nicht bestimmt war.«

Das Gedächtnis Caroline Esterhazys bleibt trotzdem für alle Zukunft mit einer der schönsten Klavierdichtungen ihres einstigen Lehrers verbunden: ihr wurde nach seinem Tode die vierhändige Phantasie in F-moll op. 103 von seinen Verlegern gewidmet. Und auch mit andern Tonwerken Schuberts verknüpft sich die Erinnerung an das gräfliche Haus. So namentlich mit dem Divertissement à la hongroise op. 54. Weisen, die er von einer Magd in der Küche singen hörte, bilden die Themen, aus denen er dies Gemälde von ebenso dichterischer als nationaler Färbung schuf; erhöhte er doch hin und wieder gern den melodischen und harmonischen Reiz seiner Werke durch ungarische Motive. Bei seinem zweiten Aufenthalt in Zéléz im Jahre 1824 entstanden das große Duo für Pianoforte op. 140, die vierhändigen Variationen op. 35 und das Quartett »Gebet vor der Schlacht«, das lange Jahre hindurch das ausschließliche Eigentum der Familie Esterhazy blieb und erst spät (als op. 135) der Öffentlichkeit übergeben ward. Schubert schrieb dasselbe auf Wunsch der Gräfin, die ihn eines Morgens aufforderte, das betreffende Gedicht von de la Motte Fouqué für ihr Hausquartett in Musik zu setzen. Am Abend desselben Tages bereits ward die vollendete umfangreiche Komposition zur Freude aller am Klavier durchgesungen. Mit Hilfe eines nahen Freundes des Hauses, Baron von Schönstein, bildete die Familie nämlich ein vollstimmiges Quartett, bei dem auch Caroline, die eine angenehme Altstimme besaß und daneben eine vorzügliche Pianistin war, häufig mitwirkte.

Auch zu Carl von Schönstein trat Schubert bald in ein näheres Verhältnis und fand in ihm nicht nur einen enthusiastischen Verehrer, sondern zugleich einen so geistvollen Vermittler seiner Lieder, daß man ihn als solchen sogar Vogl zur Seite stellen durfte. Er ließ es sich angelegen sein, die Gesänge seines Freundes zuerst in den höheren Gesellschaftskreisen Wiens einzuführen, in denen er selber heimisch war, und noch im Jahre 1838, als Franz Liszt daselbst Gelegenheit hatte, ihn zu hören, bekannte sich dieser von seinem Vortrag der Lieder Schuberts, »dieses poetischsten aller Musiker«, bis »zu Tränen gerührt.« Ihren verschiedenen Naturen entsprechend, teilten die beiden bevorzugtesten Schubertsänger sich friedlich in die vom Liedermeister gespendeten Reichtümer. Während Vogl sich mit Vorliebe den dramatischer geprägten Gesängen zuwandte, neigte sich Schönstein mehr den rein lyrischen zu, und so wurden die »Winterreise« und Ähnliches das Terrain, auf dem der erstere, die ihm auch gewidmeten »Müllerlieder« dagegen dasjenige, auf dem der andere seine größten Siege feierte.

Ist von den im Jahre 1817 geschaffenen Werken außer fünf Klaviersonaten vorzugsweise der Lieder »Der Tod und das Mädchen«, »Memnon«, »Ganymed«, »An die Musik«, »Die Forelle«, »Gruppe aus dem Tartarus« noch nachträglich zu gedenken, so weisen die künstlerischen Ergebnisse von 1818, außer den zuvor erwähnten, als Bekanntestes auf: mehrere geistliche Lieder, drei Sonette von Petrarca für Gesang, die ersten Walzer op. 9 (mit dem bekannten Trauer- oder Sehnsuchtswalzer, der lange Zeit irrtümlich Beethoven zugeschrieben wurde), und die vierhändigen Variationen op. 10 für Klavier. Der Instrumental- und zumal der Klavierkomponist Schubert ist im Vergleich zum Liederkomponisten seit je in der allgemeinen Schätzung zu kurz gekommen. Nichtsdestoweniger blieb er auch als solcher seinem Charakter als Lyriker treu. Mit Gesang und üppiger Klangschöne erfüllte er auch jene größeren Formen, wenn es ihm auch nicht wie einem Beethoven gegeben war, sich in die abgrundreichen Tiefen der Menschenbrust zu versenken und in titanischem Ringen Stürme heraufzubeschwören und zu stillen. Selbständige Wege ging er auch da. Gleich allen Nachkommenden wuchs er empor an der Riesengröße des Einen, aus dessen Hand sozusagen er die von ihm zu lösende künstlerische Aufgabe empfing. Aber als ein Eigener steht er ihm gegenüber, als einer der Hauptvertreter der romantischen Richtung, für die Beethoven, der Vollender der Klassizität, zugleich Fundament und Ausgangspunkt war. Es ist wahr, wo Schubert nach größeren musikalischen Formen greift, tritt die organisierende, die thematisch entwickelnde Kraft zurück hinter der erfinderischen. Der überquellenden Phantasie will sich die Selbstzucht nicht gesellen, die jene in engere Schranken weist, endlose Wiederholungen meidet und Geringwertiges von Bedeutendem scheidet. Der Reichtum wird ihm zum Fehler, vor dem ihn Armut bewahren würde. Wie viele aber dürfen ihm diesen Überreichtum beneiden!

»Unsere Pianisten ahnen kaum, welch herrlicher Schatz in den Klavierkompositionen Schuberts zu heben«, schrieb Liszt schon vor nahezu 50 Jahren. In Wahrheit, hätte nicht er selber, der sich schon durch seine unvergleichlichen Transkriptionen Schubertscher Lieder um Popularisierung des Wiener Meisters größere Verdienste als irgendeiner erwarb, den großen »Wanderer-Dithyrambus« op. 15, die Märsche, die Walzer unter dem Titel »Soirées de Vienne« und anderes durch seine glänzenden Bearbeitungen konzertfähig gemacht, man würde uns höchstens noch dann und wann einen der »Moments musicals«, oder eins der »Impromtus« zu hören geben, in denen wir die Keime zu Mendelssohns Lied ohne Worte und zu Schumanns Charakterstück erkennen. Aber die Sonaten – namentlich die A-moll, die D-durund die drei letzten – wo bleiben sie? wo die G-dur-Phantasie, die d'Albert vorübergehend auf seine Programme setzte und die Liszt eine Virgilsche Dichtung nennt? »O rastlos quellender, liebevoller Genius!« ruft er Schubert einmal an, »Liszts Briefe«, herausgeg. von La Mara. Bd. II. Nr. 78. Leipzig, Breitkopf & Härtel. 1893. »o mein trauter Heros des Jugendhimmels! Wohlklang, Frische, Kraft, Anmut, Träumerei, Leidenschaft, Besänftigung, Tränen und Flammen entströmen Dir aus Herzenstiefen und -höhen, und fast lässest Du die Größe Deiner Meisterschaft vergessen ob dem Zauber Deines Gemüts!«

Im Jahre 1819 endlich ward dem unermüdlich Schaffenden die Freude zuteil, eins seiner Lieder – »Schäfers Klagelied«, durch den Opernsänger Jäger in den Konzertsaal dringen und reichen Beifall ernten zu sehen. Ferner empfing er durch Vogls Vermittlung von der Direktion der kaiserlichen Oper den Auftrag, ein aus dem Französischen übertragenes Singspiel »Die Zwillingsbrüder« in Musik zu setzen. Aber obgleich die Aufführung im Juni 1820 eine befriedigende war und besonders Vogl sein Möglichstes tat, die durch ihn vertretene Hauptrolle zur Geltung zu bringen; obgleich die Musik selbst so ansprach, daß man am Schluß den Komponisten zu sehen verlangte, erlebte sie doch nur sechs Vorstellungen. Auch als man sie in einer neuen Bearbeitung von Fuchs 1882 an ihrer Geburtsstätte wieder aufnahm, war ihr keine erfreulichere Laufbahn beschieden.

Nicht besser erging es dem Melodrama »Die Zauberharfe«, das im August 1820 auf dem Theater an der Wien zur Aufführung gelangte. Die Kritik erwies sich, bei Anerkennung des sich darin kundgebenden Talentes, gegen die »grellen Harmoniefolgen und das fortwährende Modulieren, das zu keiner Ruhe kommen lasse,« empfindlich. Schubert selbst zählte diese Arbeit zu seinen gelungenen. Bekanntlich wird eine Nummer derselben, unter dem irrtümlichen Namen der Rosamunden-Ouvertüre (op. 26), noch heute öfters gehört.

Neben einer dritten dramatischen Komposition: der unvollendet gebliebenen Oper »Sakontala«, und verschiedenen kleineren Werken – den Antiphonen zur Palmenweihe, dem 23. Psalm für vier Frauenstimmen (für die Schwestern Fröhlich), dem »Gesang der Geister über den Wassern«, der C-dur-Phantasie (über den Wandrer, op. 15) und einer Anzahl Lieder – entstammt diesem Jahr noch eine andere umfangreiche Schöpfung: das Oratorium »Lazarus, oder die Feier der Auferstehung.« Es blieb Fragment. Von den drei »Handlungen«, die es umfassen sollte, blieb die dritte ungeschrieben, die zweite unvollendet. Schuberts flüssige Melodik und dramatische Empfindung fehlen auch diesem Werke nicht; doch hat die Monotonie der zugrunde gelegten Niemeyerschen Dichtung stark auf die musikalische Behandlung abgefärbt. Die endlosen ariosen Rezitative, die instrumentale Dürftigkeit, der Mangel an Gegensätzen in Arien und Chören, an rhythmischer und harmonischer Mannigfaltigkeit, wie er aus dem konsequenten Festhalten derselben sentimentalen Stimmung resultiert, lassen die vereinzelten Schönheiten nicht zur Geltung kommen und berauben den »Lazarus« – wie wiederholte Aufführungen in Wien ergaben, von deren einer d. Verf. Zeuge war – einer lebendigen Wirkung.

Einigermaßen günstiger gestalteten sich Schuberts Verhältnisse endlich, als ihm das Jahr 1821 zwei um das Musikleben Wiens verdiente Kunstfreunde: Dr. v. Sonnleithner Vater und Sohn, zuführte. Emsig um seinen Ruhm bemüht, brachten sie nicht allein bei den in ihrem Hause regelmäßig stattfindenden musikalischen Aufführungen des öfteren seine Werke zu Gehör, sie veranstalteten auch, nachdem verschiedene Versuche, einen Verleger zu gewinnen, gescheitert waren, eine Herausgabe des »Erlkönigs« auf eigene Kosten. Durch Subskription wurde sodann das Erscheinen elf anderer Werke ermöglicht, die Diabelli in Kommission gegeben wurden.

Im März 1821 erschien der »Erlkönig« als op. 1 im Druck. Wenige Wochen vorher, im Januar, war er von Gymnich, einem bewährten Dilettanten, zum erstenmal in einem öffentlichen Konzert gesungen wurden. Am 7. März brachte ihn dann Vogl in einer im Kärntnertor-Theater stattfindenden Akademie mit so hinreißendem Feuer zum Vortrag, daß er auf stürmisches Verlangen wiederholt werden mußte. Von zwei mehrstimmigen Gesängen Schuberts, die noch auf dem Programm standen, gefiel nur »Das Dörfchen«, während der herrliche »Chor der Geister über den Wassern« zu des Autors nicht geringem Verdruß ohne Eindruck auf die Zuhörer blieb. Alsbald fand der »Erlkönig« reißenden Absatz und »warf Schubert« – so berichtet wiederum Spaun – »einen nicht unerheblichen Gewinn ab, als erste Frucht seines Talents. Nun war die Bahn gebrochen und die Verleger übernahmen nach und nach seine Kompositionen; allein der bescheidene Schubert, der in Geldangelegenheiten ein wahres Kind war, war mit allem zufrieden, was sie ihm gaben, und so konnte er sich noch immer nicht auch nur das Unentbehrlichste erwerben.« Auch anderen Werken des mit einem Male berühmt gewordenen jungen Tonsetzers öffnete sich nun der Konzertsaal. Ein trefflicher Begleiter seiner Lieder, gab er selbst dem größeren Publikum zuweilen Gelegenheit, ihn zu hören; denn wenn auch kein Virtuos im modernen Sinn, war er doch auch am Klavier, zumal bei Vermittlung des Selbstgeschaffenen, ein vielbewunderter Künstler. So hat namentlich der Vortrag seiner Sonaten ihn allen, die ihn vernommen, unvergeßlich gemacht. Man rühmt in gleichem Maße die Vollendung der Technik wie des Ausdrucks bei Wiedergabe derselben, die nicht eben geringe Kräfte beanspruchen. Nur von der Wanderer-Phantasie wird erzählt, er sei, als er sie einmal im Freundeskreis spielte, im letzten Satz stecken geblieben und mit den Worten aufgesprungen: »Das Zeug soll der Teufel spielen!«

Wie begreiflich lenkte der zunehmende Ruhm des Künstlers die Aufmerksamkeit der Wiener mehr und mehr auch auf seine Person. Die verschiedensten Kreise taten sich ihm auf; doch zog sein einfacher ungebundener Sinn dem Glanze der großen Welt den Verkehr in der schlichten Sphäre vor, der er selbst durch Geburt und Erziehung angehörte. »Als« – so erzählt Kreißle – »in dem Hause der Fürstin Kinsky vor einer Gesellschaft mehrere seiner Lieder gesungen worden waren, ohne daß sich jemand um ihn bekümmert hatte, und die Hausfrau endlich selbst zu ihm hintrat, um ihm einige schöne Worte zu sagen und gleichsam das Benehmen der Gäste zu entschuldigen, antwortete er der Fürstin, sie möge sich nicht bemühen, er sei das schon gewohnt und fühle sich so weniger geniert.« Unter den Freunden dagegen gab er sich treuherzig und offen, heiter und gesprächig, und auch an Witz fehlte es ihm nicht, wenngleich er den Ausdruck lauter Fröhlichkeit nicht kannte. »Er war zart und tieffühlend,« sagt Spaun; »nur liebte er es, seine Gefühle nicht bloßzulegen, sondern in seinem Innern zu verschließen.« »Die ihn näher kannten, wissen, wie tief ihn seine Schöpfungen ergriffen und wie er sie in Schmerzen geboren. Wer ihn nur einmal gesehen hat, während er komponierte, glühend und mit leuchtenden Augen, ja selbst mit anderer Sprache, einer Somnambule ähnlich, wird den Eindruck nie vergessen.«

Schuberts gestaltende Tätigkeit umfaßt im Jahre 1821 als Wesentlichstes: die Skizze einer Symphonie in E-dur (die Mendelssohn ursprünglich auszuführen beabsichtigte), eine Reihe von Liedern, sowie den grüßten Teil der in erstaunlicher Fülle entworfenen Tänze, die er bei Gelegenheit zu improvisieren und, dafern sie ihm dessen wert erschienen, aufzuschreiben pflegte. Endlich fällt in die Herbstmonate dieses Jahres auch der Beginn der Oper »Alfonso und Estrella«, deren leider recht fades Textbuch Franz von Schober verfaßte. Wort- und Tondichtung entstand während eines mehrmonatlichen Aufenthaltes beider Freunde bei Schobers Onkel, dem Bischof von Dankesreithner, auf dessen Schloß Ochsenburg und in St. Pölten. In die Stadt zurückkehrend, brachte Schubert zwei Akte fertig mit, im Februar 1822 ward dann der dritte und letzte beendet. Doch vergebens waren alle Bemühungen, die Oper in Wien oder andernorts zur Aufführung zu bringen. »Die Freunde und Genossen« – erklärt Bauernfeld –, »in deren Mitte Schubert am liebsten weilte, waren wenig in der Lage, ihm tatkräftig unter die Arme zu greifen; in höhere Kreise sich zu drängen und Gönner zu suchen, die ihn emporzuheben vermochten, dazu fehlte ihm Neigung und Geschick. Kein Wunder also, daß er es weder zu einer Anstellung brachte, noch irgend eine seiner Opern zur Aufführung gelangte.« Genug, die zu jener Zeit fast ausschließlich von Rossini beherrschten Bühnen blieben seinem Werke unzugänglich. Die Hoffnung, dasselbe in Berlin mit Hilfe von Anna Milder-Hauptmann, der gefeierten, dem Komponisten von Wien her befreundeten Sängerin, aufs Repertoire gebracht zu sehen, scheiterte ebenso wie ein Versuch Carl Maria von Webers in Dresden. In Wien aber zeigte man sich wohl zu verschiedenen Malen nicht abgeneigt, tat jedoch in Wahrheit nichts, um die Sache zu fördern. Erst den Bestrebungen Franz Liszts gelang es nach drei Jahrzehnten, »Alfonso und Estrella« im Juni 1854 auf die Weimarer Bühne zu bringen. Nur blieb es bei einer einmaligen Aufführung. Die Oper ruhte weitere dreißig Jahre, bis man sie 1881 und 1882 in einer zeitgemäßen Bearbeitung des Wiener Hofopernkapellmeisters J. R. Fuchs in Karlsruhe, Kassel, Wien, Berlin, Köln, München, Hannover aufs neue lebendig werden ließ. Der musikalische Erfolg blieb bei diesem verspäteten Akt der Pietät nirgend aus, der dramatische hingegen allenthalben. Für die Bühne eignete sich nun einmal die Tonsprache des großen Lyrikers nicht, so dramatisch sie im engen Rahmen des Liedes erscheint. »Schubert«, sagt Liszt in seinem geistvollen Aufsatz über »Alfonso und Estrella«, Ges. Schriften, Bd. III. Leipzig, Breittopf & Härtel. 1881. »erfüllte die wichtige Mission, der lyrischen Komposition eine ungeahnte künstlerische Bedeutung zu geben und sie den höchsten Kunstgattungen gleichberechtigt an die Seite zu stellen. Während er aber die Formverhältnisse der Lyrik erweiterte, gingen die der Szene über seine Kräfte – vielleicht, daß sie ihn zerdrückt haben würden, wenn er sich ihnen gewidmet hätte. In ein zu breites Bett geleitet, verlor der reiche, mächtige Strom seiner Melodien an Tiefe. Das Theater hatte für seinen Blick einen zu ausgedehnten Raum, und für seine plötzliche unmittelbare Inspiration war das Gewebe, welches die Bühne erfordert, zu kompliziert. Schuberts Bestimmung war, indirekt der dramatischen Muse einen immensen Dienst zu erweisen. Dadurch daß er in noch höher potenzierter Weise als Gluck es getan, die harmonische Deklamation anwandte und ausprägte, sie zu einer bisher im Liede nicht für möglich gehaltenen Energie und Kraft gesteigert und Meisterwerke der Poesie mit ihrem Ausdruck verherrlicht hat, übte er auf den Opernstil einen vielleicht größeren Einfluß aus, als man es sich bis jetzt klar gemacht hat. Auf diese Weise verbreitete und popularisierte er die Deklamation, machte ihr Eingang und Verständnis leicht, und indem er uns die Verbindung edler Dichtung mit gediegener Musik schätzen lehrte und letztere mit den pathetischen Akzenten durchdrang, naturalisierte er gleichsam den poetischen Gedanken im Gebiete der Musik und verschwisterte ihn mit derselben wie Seele und Körper.«

Besonderes Interesse verleiht der in Rede stehenden Oper noch der Umstand, daß sie die Veranlassung zu einer unerquicklichen Begegnung zwischen Schubert und Carl Maria von Weber ward. Als letzterer nämlich zur Aufführung seiner »Euryanthe« 1823 nach Wien gekommen war, wohnte auch Schubert derselben bei. Ein absprechendes Urteil, das er darüber gefällt hatte, kam dem Komponisten zu Ohren und veranlaßte diesen zu der Äußerung: »Der Laffe soll früher etwas lernen, bevor er mich beurteilt!« Schubert nahm hierauf seine Partitur zu »Alfonso und Estrella« unter den Arm und begab sich mit ihr zu Weber. Dieser ging sie durch und nachdem er noch einmal auf Schuberts Urteil über seine Oper die Rede gelenkt, sagte er in gereizter Stimmung, in der Meinung ein Erstlingswerk vor sich zu haben: »Ich aber sage Ihnen, daß man die ersten Hunde und die ersten Opern ertränkt.« Dessenungeachtet trennten sich die beiden Künstler nicht als Feinde, und Weber selbst hat durch seine spätere Teilnahme an eben dieser Oper das ihr angetane Unrecht wieder zu sühnen gesucht.

Im übrigen war es Franz Schubert leider nicht vergönnt, zu seinen großen zeitgenössischen Kunstgefährten in nähere Beziehung zu treten. Selbst Beethoven, der doch dreißig Jahre dieselbe Luft mit ihm atmete, ging teilnahmlos an seinem nächsten Erben vorüber. Eine schüchterne Huldigung des jungen Künstlers, die Dedikation der vierhändigen Variationen op. 10 (1822), blieb unbeachtet. Allerdings widersprechen sich die Berichte hierüber seltsam. Schindler erzählt in seiner Beethoven-Biographie, Schubert habe bei persönlicher Überreichung seines Werkes mut- und fassungslos vor Beethovens Künstlermajestät gestanden, zumal als dieser ihn mit sanften Worten auf eine harmonische Unrichtigkeit aufmerksam machte. »Erst außer dem Hause raffte er sich wieder zusammen und schalt sich selber derbe aus. Er hatte niemals wieder den Mut sich ihm vorzustellen.« Dagegen gab Josef Hüttenbrenner an, Schubert habe Beethoven bei seinem Besuch nicht angetroffen, ihn demnach weder gesehen noch gesprochen. Sein Bruder Anselm Hüttenbrenner, der näher als ein anderer der Freunde Schuberts mit Beethoven verkehrte und diesem bekanntlich die Augen zudrückte, wollte sogar wissen, daß Schubert zu Beethoven ungehindert Zutritt hatte. Unser Gewährsmann Spann aber bezeugt: »Schindlers Erzählung über den Besuch Schuberts bei Beethoven ist vollkommen unrichtig. Schubert klagte oft und namentlich bei dem Tode Beethovens, wie leid es ihm tue, daß dieser so unzugänglich gewesen«, daß es ihm nie möglich war, »sich ihm zu nähern«. Erst auf seinem letzten Krankenlager, im Februar 1827 lernte Beethoven eine Anzahl Schubertscher Lieder kennen. »Mehrere Tage hindurch«, so schreibt Schindler, »konnte er sich gar nicht davon trennen und stundenlang verweilte er täglich bei »Iphigenie«, »Grenzen der Menschheit«, »Allmacht«, »junge Nonne«, »Viola«, den »Müllerliedern« und anderen mehr. Mit freudiger Begeisterung rief er wiederholt aus: ›Wahrlich, in dem Schubert wohnt der göttliche Funke!‹« In höchste Verwunderung versetzte es ihn, als Schindler ihm sagte, daß mehr denn fünfhundert solcher Lieder bereits geschrieben seien, und er erschöpfte sich im Lob der originellen Bearbeitung und des dramatisch Wirkungsvollen vieler derselben. Auch seine Opern und Klavierwerke verlangte er nun zu sehen, doch nahm seine Krankheit bereits dermaßen zu, daß es nicht mehr dazu kam. Er sprach noch viel von Schubert und bedauerte, ihn nicht früher kennen gelernt zu haben, von dem er prophezeite: »daß er noch viel Aufsehen in der Welt machen werde.« Die sieben Rellstabschen Lieder, die jetzt den »Schwanengesang« zieren, aber ursprünglich Beethoven vom Dichter zur Komposition übergeben worden waren, sandte er nun mit eigenhändig hinzugefügten Bleistiftzeichen an Schubert, da er sich selbst zu krank fühlte, die Arbeit zu vollenden.

Kurz vor Beethovens Tod erschien Schubert in Begleitung zweier Freunde in dem einsamen Krankenzimmer. Schweigend umstanden sie das Sterbelager unsers größten Tonmeisters, und Beethoven, dem man ihre Namen genannt hatte, fixierte sie unbeweglichen Auges, seine Hand erhob sich zu einigen ihnen unverständlichen Zeichen. Aufs tiefste erschüttert schied Schubert von ihm, dem er wenige Tage später das letzte Geleite gab. Als er mit seinen Freunden Lachner und Randhartinger vom Begräbnis zurückkehrte, füllte er, in eine Weinstube eintretend, die Gläser und leerte das erste auf das Gedächtnis des Heimgegangenen, das zweite auf den, der ihm zunächst folgen werde. Er feierte damit ahnungslos sein eigenes Gedächtnis. Noch ehe sich ein zweites Jahr vollendete, ruhte er selber zur Seite der geweihten Gruft. Ein eigenes Verhängnis wollte es, daß er Beethoven, dessen Titanenerscheinung seine bescheidenere Größe so lange er lebte in Schatten gestellt hatte, nun auch nur kurz überdauern durfte.

So viel Schuberts Leben ihm an Glück schuldig blieb, verkennen läßt es sich doch nicht, daß er selbst manches ungeschehen ließ, was zur Verbesserung seiner Lage hätte dienen können. So ließ er sich, seinem Unabhängigkeitsbedürfnis zuliebe, die sich ihm durch die Protektion des Grafen Dietrichstein darbietende Organistenstelle der kaiserlichen Hofkapelle entgehen. Jegliches Band drückte und hemmte ihn; vermochte er es doch nicht einmal über sich, bei gelegentlichen Musikproben mit der nötigen Pünktlichkeit zu erscheinen. Gänzlich unbegabt in jeder Art praktischer Geschäftsführung, verstand er es auch seinen Verlegern gegenüber nicht, seinen Vorteil wahrzunehmen, und so günstige Aussichten ihm der glänzende Erfolg seiner zwölf ersten Diabelli in Kommission gegebenen Werke eröffnete – denn allein der »Erlkönig« trug ihm in den ersten dreiviertel Jahren nach Erscheinen 800 fl. ein – sie blieben zumeist durch seine eigene Schuld ungenützt. Während er nämlich alle Verlagsangelegenheiten sonst der tätigen Fürsorge seiner Freunde zu überlassen pflegte, ließ er sich unbedachter Weise von Diabelli verleiten, das Eigentumsrecht für diese zwölf Werke für den Preis von 800 fl. an diesen zu veräußern – eine Summe, deren Unverhältnismäßigkeit die einfache Tatsache in ein grelles Licht stellt, daß die Verlagshandlung an einem einzigen dieser Lieder, dem »Wanderer«, bis zum Jahre 1861 nicht weniger als 27000 fl. verdient hat. Unglaublich klingt, was die Verleger Schubert zu bieten wagten. Für die berühmte Wanderer-Phantasie ließ er sich beispielsweise mit 35 Mark nach unserem Geld abfinden, und für die sechs ersten Lieder der »Winterreise«, die er, schon auf dem Sterbelager liegend und dringend des Geldes bedürftig, Haslinger durch Lachner anbieten ließ, vermochte dieser nur mit Mühe 6 fl. W, W., also nach damaligem Stande achtzig Pfennig für jedes Lied, herauszupressen.

Von hervorragenden Werken des Jahres 1822 ist, außer Liedern und mehrstimmigen Gesängen, vornehmlich der Messe in As, wie der unvollendet gebliebenen Symphonie in H-Moll zu gedenken. Aus zwei vollständigen ersten Sätzen und einem bloß skizzierten Scherzo bestehend, lag die Handschrift der letzteren mehr denn drei Jahrzehnte im Besitz Anselm Hüttenbrenners in Graz verborgen. Erst im Jahre 1865 erlangte Herbeck in Wien von diesem die Erlaubnis, sie zur Aufführung zu bringen. In ihrer strafferen Fassung, an formeller Vollendung ihrer jüngeren Schwester, der sechs Jahre später geschriebenen großen C-dur-Symphonie, überlegen, zeigt sie uns, der hellen Frühlingsstimmung jener verglichen, ein schwermutsvolles Antlitz, dem Tiefe und Größe mit kindlicher Naivetät zugleich aus den Augen blicken. Bescheiden tritt hinter diesen beiden größten und allerwärts beliebten symphonischen Werken Schuberts die sechste seiner vollendeten Symphonien – sie steht gleichfalls in C und wurde wohl nach 1822 geschaffen – zurück. Sie ist harmloserer Natur, wenn auch ein holdes Kind Schubertschen Geistes. Im Konzertsaal hat man sie außerhalb Wiens wohl nur an wenigen Orten – so neuerdings in Leipzig unter Josef Pembaur jun. – kennen gelernt.

Einen reichen künstlerischen Segen vergegenwärtigt das Jahr 1823. Es weist drei der umfänglichsten Arbeiten Schuberts auf: die Musik zur »Rosamunde«, die Oper »Fierrabras« und die Operette »Der häusliche Krieg«. Das erste dieser Werke wurde zu einem Lustspiel Helmina von Chezys geschrieben und kam in Verbindung mit diesem am 20. Dezember des gleichen Jahres auf dem Theater an der Wien zur Aufführung. Es setzt sich aus Gesang- und Instrumentalstücken zusammen, deren anziehende Wirkung sich schon beim ersten Hören bewährte. Leider nur zog das baldige Verschwinden der unlebensfähigen Dichtung von der Bühne auch das der Schubertschen Musik nach sich, welche letztere nur 1881 in Wien noch einmal zu kurzem Lampenleben wieder auftauchte. Auch »Fierrabras«, der zweiten großen Oper Schuberts, war kein freundlicheres Geschick als ihren Vorgängern beschieden. Die Administration des Hoftheaters, in deren Auftrag das Textbuch von Kupelwieser verfaßt ward, löste sich auf, bevor das schon angenommene Werk zur Aufführung kam. Nur in Wiener Konzerten wurden Bruchstücke daraus wiederholt und beifällig gehört, bis ihm, bei Gelegenheit der Schubert-Zentenarfeier, Felix Mottl die Karlsruher Hofbühne auftat.

Ein hellerer Stern hat nur über der Operette »Der häusliche Krieg« oder »Die Verschworenen«, wie ihr ursprünglicher Name lautete, geleuchtet. Wohl hat auch sie, das Schicksal vieler Werke Schuberts teilend, Jahrzehnte hindurch lebendig begraben gelegen. Doch begann eine spätere Zeit sich ihrer zu erinnern: Frankfurt a. M., Wien, Leipzig, ja sogar Paris sahen sie, trotz ihres schlichten, mehr lyrischen als dramatischen Charakters, über ihre Bretter gehen, nachdem der Wiener Musikverein sie im März 1861 im Konzertsaal zur ersten Aufführung gebracht hatte. Auch erfuhr sie 1911 durch R. Hirschfeld eine neue Textbearbeitung.

In erstaunlicher Weise zeigt sich uns Schuberts Fruchtbarkeit, wenn wir hören, daß er die große Oper »Fierrabras« binnen vier Monaten geschaffen, daß der erste Akt derselben nur der Frist von sieben Tagen zum Entstehen bedurfte, daß endlich gleichzeitig mit den drei letztgenannten dramatischen Werken noch eine Fülle köstlicher Liederblüten – darunter die »Müllerlieder«, »Auf dem Wasser zu singen«, »Der Zwerg« – emporkeimte. Von mühseligem Aufbauen, von dem, was man Arbeit nennt, war bei ihm keine Rede. Fertig, »wie ein holdes Wunder«, löste sich das Kunstwerk aus seiner Seele. Mit Recht sagt Schumann: »Was er anschaut mit dem Auge, berührt mit der Hand, verwandelt sich zu Musik; aus Steinen, die er hinwirft, springen, wie bei Deukalion und Pyrrha, lebende Menschengestalten.« Bei der Überfülle seines tondichterischen Vermögens nirgends auf Beschränkung angewiesen, griff er fast wahllos nach poetischen Unterlagen und verschwendete den Segen seiner Töne nicht selten an wertlose Reimereien. Das ist ihm namentlich bei seinen dramatischen Produktionen zum Schaden geworden. Aber auch unter seinen Liedern trägt manches das Gepräge zufällig flüchtigen Entstehens; nicht alles, was er uns gab, ist reif für die Unsterblichkeit. Von der »schönen Müllerin« wird uns erzählt, wie Schubert bei Randhartinger die Gedichte Wilhelm Müllers fand und eilig mit sich nach Hause nahm, um am andern Morgen schon dem erstaunten Freund die musikgewordenen ersten fünf Müllerlieder vorzulegen. Die Mehrzahl der übrigen Gesänge des ewig jungen, frühlingsduftigen Zyklus wurde während einer ernsten Krankheit im Hospital vollendet. Der »Zwerg« ward inmitten des Gesprächs mit Randhartinger, das »Ständchen« (»Horch, horch«) im Tumult eines Gasthauses aufs Papier geworfen. Demzufolge meinte Vogl, die ihm unbegreifliche Schaffensleichtigkeit seines Freundes als »einen Zustand von clairvoyance, oder somnambulisme, in dem er ohne alle Willkür, durch höhere Gewalt und Eingebung« tätig sei, erklären zu müssen. Den Beweis dafür fand er in der allerdings wunderlichen Tatsache, daß Schubert einmal eins seiner eigenen Lieder, das ihm in fremder Abschrift transponiert vorgelegt wurde, nicht wieder erkannte, sondern als echtes Wiener Kind ausrief: »Schaut's, das Lied is nit uneb'n, von wem ist denn das?«

Auf eine Periode lebendigsten Aufschwungs folgte zu Anfang des Jahres 1824 ein Zustand tiefer Herabstimmung und Niedergeschlagenheit des Gemüts, wie ein solcher nie wieder in Schuberts Leben bemerkbar ist. Druck der äußeren Verhältnisse, körperliche Leiden und mannigfach erduldete Täuschungen mögen vereint gewirkt haben, um ihm jene schmerzliche Klage zu entringen, mit der er seinem Freunde Kupelwieser im März 1824 »seine Seele ausschüttete«. »Denke Dir einen Menschen«, schreibt er, »dessen Gesundheit nie mehr richtig werden will, und der aus Verzweiflung darüber die Sache immer schlechter, statt besser macht; denke Dir einen Menschen, sage ich, dessen glänzendste Hoffnungen zu nichte geworden find, dem das Glück der Liebe und Freundschaft nichts bietet als höchstens Schmerz, dem Begeisterung für das Schöne zu schwinden droht, und frage Dich, ob das nicht ein elender, Unglücklicher Mensch ist? Meine Ruh' ist hin, mein Herz ist schwer, ich finde sie nimmer und nimmermehr, so kann ich jetzt wohl alle Tage sagen; denn jede Nacht, wenn ich schlafen geh', hoffe ich nicht mehr zu erwachen, und jeder Morgen kündet mir neu den gestrigen Gram.« – Auch die Tagebuchfragmente aus diesem Jahre zeugen von vorwiegend düsterer Stimmung, und es liegt etwas seltsam Ergreifendes in seinen Worten, wenn er sagt: »Meine Erzeugnisse in der Musik sind durch den Verstand und durch meinen Schmerz vorhanden; jene, welche der Schmerz allein erzeugt hat, scheinen die Welt am meisten zu erfreuen. – Keiner, der den Schmerz des andern und keiner, der die Freude des andern versteht. Man glaubt immer zueinander zu gehen und man geht nur nebeneinander.« Glücklicherweise bewährte sich der Sommeraufenthalt in Zéléz als eine heilsame Kur für das umwölkte Gemüt des Künstlers. Die ländliche Stille und Abgeschiedenheit wirkte beruhigend auf ihn, wenn er auch fortgesetzt ernst gestimmt blieb. »Ich suche mir die miserable Wirklichkeit durch meine Phantasie so viel als möglich zu verschönen«, schreibt er an seinen Bruder, und in der Tat läßt selbst jene Zeit innerlichen Druckes keinen Stillstand seines Schaffenstriebes erkennen, den er u. a. durch das Oktett op. 166, die Streichquartette in A-Moll, E und Es und das schon erwähnte vierhändige Duo op. 140 (das von Joachim später instrumentiert und als Symphonie herausgegeben ward), neben kleineren Stücken für Gesang und Klavier betätigte.

Eine viel geringere musikalische Ausbeute bot das nächstfolgende Jahr (1825) dar: in der Hauptsache nur die A-Moll-Sonate op. 42 und die Gesänge aus Scotts »Fräulein am See« – ob es dem Meister gleich ein wesentlich freundlicheres Gesicht zeigte. Vom Frühjahr bis zum Spätherbst war er mit Vogl auf einem künstlerischen Wanderleben in dem ihm schon im Sommer 1819 so lieb gewordenen Oberösterreich begriffen. Mit seinem ganzen Herzen hing Schubert an der Natur, und doch kam er, eben diese Künstlerfahrten mit Vogl, den wiederholten Aufenthalt in Zéléz und einige wenige nähere Ausflüge zu oder mit Freunden abgerechnet, sein Lebtag nicht über Wien hinaus. Seine Anhänglichkeit an seine Vaterstadt ward ihm gleichwohl so wenig gelohnt, daß sein im Jahre 1826 eingereichtes Gesuch um die erledigte Stelle eines Vizehofkapellmeisters, gleich demjenigen um die Dirigentenstelle am Hofoperntheater, abschlägig beschieden ward. Mag nun – wie Schindler rücksichtlich der letzteren erzählt – der bei Gelegenheit einer Probe bewiesene Starrsinn Schuberts den unglücklichen Ausschlag gegeben haben, oder mochte, nach J. Hüttenbrenners Lesart, seine Anstellung an Theater-Intrigen gescheitert sein, genug, er blieb von neuem seiner bisherigen ungebundenen, aber auch ungesicherten Existenz überlassen. Selbst der Annahme seiner Kompositionen von Seiten der Verleger stellten sich allerlei Schwierigkeiten entgegen, und der geniale Tonschöpfer, der, in voller Erkenntnis seiner Bedeutung, von sich selber sagen konnte: »Wenn das Wort Kunst ausgesprochen wird, ist von mir die Rede«, mußte es sich gefallen lassen, immer und immer wieder um technische und intellektuelle Vereinfachung seiner Schreibweise ersucht zu werden. Trotz alledem trug ihn der Genius nur immer höheren und kühneren Fluges aufwärts; immer vollendetere Gebilde erzeugte er, je näher er dem Ziele kam, das seinem kurzen Dasein gesteckt war. Meisterwerke wunderbarster Art reifen in seinen letzten Lebensjahren. So weist das Jahr 1826 das Rondeau brillant für Klavier und Geige op. 70, die Streichquartette in D-Moll und G-dur, das B-dur-Trio und den eisten Teil der »Winterreise«, das Jahr 1827 den zweiten Teil der letzteren, das »Ständchen« für Altsolo und Frauenchor, den »Nachtgesang im Walde«, die Impromptus op. 142 (die eine regelrechte Sonate bilden), das Es-dur-Trio und die »deutsche Messe«, das Jahr 1828 endlich die große Symphonie in C, das Streichquintett in C, die Messe in Es, die Kantate »Mirjams Siegesgesang«, die letzten drei Klaviersonaten und den sogenannten »Schwanengesang« auf, als die letzten Vermächtnisse Schuberts, mit denen er seine Mission hienieden vollendete.

Die »Winterreise« enthält gleich der früher entstandenen »schönen Müllerin« eine von Wilhelm Müller gedichtete Folge von Liedern, die nach Stimmung und Charakter in engem Zusammenhang untereinander stehen, ähnlich dem Liederkreis »An die ferne Geliebte«, mit dem Beethovens Kunst die Welt beschenkte. Ist aber der ältere der beiden Schubertschen Zyklen rein lyrisch, einfach bis zur Annäherung an die Volksweise in Bau und Ausdruck gehalten, so kennzeichnet den späteren eine ungleich größere Mannigfaltigkeit der Form und Kühnheit der Tonsprache, eine gesteigerte Leidenschaft und Dramatik und demgemäß eine lebendigere Beteiligung des tonmalerischen Elementes. Schubert versteht es, mit der Empfindung gleichzeitig auch die Phantasie mächtig anzuregen. Er führt uns mitten hinein in die Situation und gibt seinen Liedern das Gepräge sinnlicher Wahrheit; so daß wie Liszt sagt, »aus dem kleinsten Lied oft eine Miniaturoper wird, voll tragischer und dramatischer Passion«. Man denke nur an den einzigen »Leiermann«! In tiefste Schwermut getaucht ist jeder einzelne der 24 Gesänge; der letzte Sonnenschimmer ist verglommen, aus der sanften Melancholie der »Müllerlieder« ist hier Trostlosigkeit, friedlose Resignation und Verzweiflung geworden. Schubert selbst äußerte, laut Spaun, von diesem »Zyklus schauerlicher Lieder«: »Sie haben mich mehr angegriffen, als dieses je bei andern Liedern der Fall war«, und, da sie den Freunden zuerst nicht zusagten: »Mir gefallen diese Lieder mehr als alle anderen, und sie werden euch auch noch gefallen!«

Lichtere Bilder mischen sich in den »Schwanengesang«, die letzte Liederreihe, die nicht mehr von des Komponisten Hand, sondern erst nach seinem Tode von seinem Verleger zusammengestellt wurde. Von überaus hohem Wert sind zumal die Heineschen Lieder »Der Atlas«, »Die Stadt«, »Am Meer«, »Der Doppelgänger«, in denen Schubert jene mehr rezitierende Weise anschlägt, die Schumann weiter führte. Mit dem Schlußgesang, der »Taubenpost«, nahm er für immer Abschied von der Gattung, die in ihm ihren höchsten Förderer und Meister ehrt.

Von Schuberts Kirchenkompositionen, aus denen seine sieben Messen und das Stabat mater hervorragen, hat die Musikwelt erst seit etwa vier oder fünf Jahrzehnten Kenntnis genommen. Unter seinen vier Jugend-Messen, welche die echt Schubertsche Neigung zum Liedton miteinander gemein haben, wird die reifste in G mit ihrer knappen Form noch heute mannigfach im katholischen Gottesdienst benutzt. Die späteren Messen in As und Es zählen, wenn sie auch nicht in allen ihren Einzelteilen zu gleichmäßiger Vollendung gediehen, ebenso wie das gefühlsinnige Stabat, auf das Dr. Georg Gühler neuerdings die Aufmerksamkeit gelenkt hat, zu den vornehmsten Erzeugnissen der Gattung und den eigenartigsten und tiefsten Hervorbringungen ihres Schöpfers. In mancher ihrer Eingebungen weisen sie auf Beethoven hin, dem Schuberts spätere Arbeiten für Kammermusik, bei all ihrem romantischen Wesen, noch ersichtlicher zuneigen.

Unter diesen haben sich vorzugsweise das als oeuvre posthume erschienene tiefpoetische D-moll-Quartett (über »Der Tod und das Mädchen«), das nicht minder bewundernswerte Streichquintett und die Trios in B- und Es-dur op. 99 und 100 verbreitet. Sie sichern dem großen Liedersänger auch auf diesem Gebiet Unsterblichkeit. Die beiden Trios stellte Schumann dem B-dur-Trio Beethovens zur Seite. Sie, wie die C-dur-Symphonie, Schuberts größte instrumentale Schöpfung, deren »himmlische Länge« Schumann begeisterte, ob sie ihr auch kaum als Tugend nachzurühmen ist, künden die blühende Originalität seines Genius. Wie in seinen Liedern die Menschenstimme, singen und klingen die Instrumente. »Er beflügelt die Phantasie, wie außer Beethoven kein anderer Komponist,« meint Schumann. »Er war der Ausgezeichnetste nach Beethoven, der, Todfeind aller Philisterei, Musik im höchsten Sinne des Wortes ausübte.«

Die Früchte seines Schaffens zu ernten war Schubert jedoch nicht beschieden. Als er starb, hatten nur etwa hundert Lieder und einige Klavier- und Kammerkompositionen den Weg in die Öffentlichkeit gefunden. Seine acht Symphonien, seine Quintette und Quartette, seine Messen, seine Opern und Chorgesänge, seine zwei- und vierhändigen Sonaten, Phantasien usw. – wer kannte sie? Ein einziges Mal nur in seinem Leben trat er, dem Drängen seiner Freunde nachgebend, als Konzertgeber vor das Publikum und führte am 26. März 1828 den Wienern einige seiner Werke vor. Das glänzende Ergebnis forderte zu einer Wiederholung auf, aber sie kam erst nach seinem Hinscheiden zustande und lieferte die Mittel, ihm einen Grabstein zu setzen. So blieb das erste Konzert zugleich das letzte und einzige in seinem Leben; denn auch eine beabsichtigte Konzertreise nach Pest, zu der Lachner und Schindler ihn dringend einluden, mußte, ebenso wie der Besuch bei einer befreundeten Familie in Graz, bei der er schon im Herbst 1827 einige frohe Wochen verlebt hatte, teils aus Mangel an den nötigen Mitteln, teils um seiner angegriffenen Gesundheit willen, aufgegeben werden.

Selbst die Hoffnung, seine große C-dur-Symphonie aufgeführt zu hören, blieb unerfüllt. Zum Dank für eine ihm verliehene Gratifikation von 100 fl. hatte Schubert dieselbe dem Wiener Musikverein übergeben. Das bereits begonnene Studium derselben wurde jedoch »zu großer Schwierigkeiten halber« wieder eingestellt und seine sechste Symphonie dafür in Angriff genommen; aber selbst die Aufführung dieser erfolgte erst nachdem er von hinnen gegangen war.

Zehn Jahre später kam Robert Schumann nach Wien und in das Haus Ferdinand Schuberts, des Bruders von Franz. Dort fand er unter der Hinterlassenschaft seines Lieblings dessen noch nicht laut gewordene letzte Symphonie, »die zehnte Muse nach den neun von Beethoven geborenen«. Voll Eifers, die Welt mit ihr bekannt zu machen, schickte er sie an Mendelssohn. Im März 1839 erwarb sich dieser durch ihre Vorführung im Gewandhaus den begeisterten Dank der Musikfreunde Leipzigs, die sie seitdem unter die beliebtesten der alljährlich wiederkehrenden Repertoirestücke zählen.

Im Hochsommer 1828 verschlimmerte sich das Kopfleiden, das Schubert in den letzten Jahren öfters heimzusuchen pflegte, in hohem Grade. Zwar besserte sich seine Gesundheit wieder so weit, daß er anfangs Oktober in Gesellschaft seines Bruders Ferdinand und zweier Freunde einen mehrtägigen Ausflug nach Ungarn unternahm, sich auch während desselben voll heiterster Stimmung zeigte; nach Wien zurückgekehrt aber nahm sein Leiden wieder zu. Blutwallungen und Schwindel stellten sich immer heftiger ein und Arzneien waren beinahe das Einzige, was er noch zu sich nahm. Im Freien nur glaubte er Linderung seines Zustandes zu finden und suchte sich daher so viel als möglich Bewegung zu schaffen. So ging er am 3. November nach Hernals, wo ein Requiem Ferdinands aufgeführt wurde. Es war die letzte Musik, die er hörte. Bei der Rückkehr klagte er über große Ermüdung, doch an eine ernste Krankheit dachte er nicht. Tags darauf noch besprach er sich mit einem ihm bekannten Musiker über vorzunehmende Studien bei Sechter im Fugensatz; so waren seine Gedanken noch immer seiner Kunst geweiht. Auch als ihn vom 11. November an zunehmende Schwäche ans Lager gebannt hielt, korrigierte er während der ersten Tage noch die Druckbogen seiner »Winterreise«, und mit Lachner und Bauernfeld, die ihn besuchten, unterhielt er sich stundenlang über Ideen, die ihn beschäftigten, namentlich über die Oper, die er auf einen Text des letzteren (»Der Graf von Gleichen«) bereits entworfen hatte und mit »völlig neuen Harmonien und Rhythmen« ausstatten wollte. Dem Gespräch der ihn täglich aufsuchenden Freunde gab er sich voll Teilnahme hin. Frei von eigentlichem Schmerz, klagte er nur über Ermattung und Schlaflosigkeit, Am 16. erregte der Zustand des Kranken das Bedenken der Ärzte, ohne daß sie die Hoffnung auf Genesung aufgaben: ein Nervenfieber war ausgebrochen. Fortan aber umdunkelten Phantasien fast ohne Unterlaß seinen Geist. Am Abend des 18. November rief er seinen Bruder an sein Bett und fragte ihn mit leiser Stimme: »Du, was geschieht denn mit mir?« Als jedoch jener, gemeinsam mit dem Arzte, die aufsteigende Todesahnung in ihm zu beschwichtigen suchte, sagte er langsam und ernst: »Hier ist mein Ende!« Am Nachmittag des 19. November, nach Empfang der heiligen Sterbesakramente, ward es still in ihm – er lauschte nun himmlischen Harmonien.

Arm, wie er auf die Welt gekommen war, verließ er sie. Sein gesamter Besitz an Kleidern, Wäsche, Betten, »alten Musikalien« wurde auf 63 fl. gerichtlich eingeschätzt. Unter den auf 10 fl. taxierten »alten Musikalien« waren die kostbaren Manuskripte all der ungezählten noch unveröffentlichten Werke Schuberts inbegriffen. Seinem Vater blieben »an bestrittenen Krankheits- und Leichenkosten 269 fl. 19 Kr. C. M. zu fordern«.

Reich kränzte man die Bahre, die ihn trug, des wahre Größe man erst erkannte, da er nicht mehr unter den Lebenden weilte. Eine große Zahl Teilnehmender folgte seinem Sarge, als man ihn nach feierlicher Einsegnung am Nachmittag des 21. November 1828 nach dem Währinger Friedhof geleitete. Ein inmitten seiner Fieberträume ausgesprochener Wunsch des Verklärten fand pietätvolle Erfüllung: in nächster Nähe Beethovens, seines großen Vorbildes, grub man ihm sein stilles Grab. Und nun begann seiner Vaterstadt die Erkenntnis dessen aufzugehen, was sie in ihm besessen hatte. In der Augustiner-Hofkirche wie zu St. Ulrich wurde zu seinem Gedächtnis ein Requiem aufgeführt, und wenig später veranstaltete man zwei Konzerte, deren Programm aus seinen Kompositionen zusammengestellt war. Der Ertrag derselben ward zur Errichtung eines Denksteins an seinem Grabe bestimmt. Seit 1829 schmückte er dasselbe. Er trug die Büste des Meisters, um, gleich dem 1872 im Wiener Stadtpark errichteten Denkmal, sein Bild der Nachwelt zu überliefern. Es ist nicht schön, dieses Bild, auch an seinen Zügen und an seiner Gestalt hatte das Schicksal seinen Segen gespart. Unter der Büste las man außer dem Datum seines Geburts- und Sterbetages Grillparzers Worte: »Der Tod begrub hier einen reichen Besitz, aber noch schönere Hoffnungen.«

So hatten die irdischen Reste Franz Schuberts 60 Jahre im Währinger Friedhof geruht, als man sie wegen Aufhebung dieses letzteren am 22. September 1888 der Erde entnahm, um sie ihr tags darauf mit fast königlichen Ehren in der imposanten Totenstadt des neuen Wiener Zentralfriedhofs wiederzugeben. In der Reihe der Ehrengräber, die die Stadt Wien für ihre ruhmreichsten Söhne bereit hält, unter der Hut eines Denkmals, das ihm der Wiener Männergesangverein gestiftet, schlummert nun der größte deutsche Liedersänger, wiederum in Beethovens Nachbarschaft, der Ewigkeit entgegen.

Grillparzers Grabschrift ist Schubert an seine neue Ruhestätte nicht nachgefolgt. Sie dünkte dem heutigen in Vollbesitz seines reichen Erbes getretenen Geschlecht mit Recht nicht mehr am Platze. Darum wollen wir, in Umdeutung der Worte des Dichters, voll Dank gegen den Genius, lieber sagen: »Uns starben in ihm schöne Hoffnungen, aber uns lebt in ihm ein unsterblicher Besitz!«


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