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Frédéric Chopin

Frédéric Chopin

Wenn es wahr ist, das Wort des Dichters, das einen frühen Tod als eine Gabe preist, mit der die Götter ihre Lieblinge zu segnen pflegen, so muß es scheinen, als sei es unter allen Künsten vornehmlich eine, deren Jünger sich der Gunst der Himmlischen rühmen dürfen: jene eine, die wir so oft als die »göttliche« bezeichnen. Schauen wir uns um im Kreise unserer großen Tonmeister, so fällt unser Blick auf gar manche edle jugendliche Gestalt, die inmitten der Blüte ihres Lebens und Schaffens hinweggenommen ward von der Stätte ihres Wirkens. Wir aber klagen ob solch' frühen Hingangs, den wir als einen Verlust empfinden für die Welt der Kunst, und statt den glücklich zu preisen, den ein gnädiges Geschick vor der Zeit den Kämpfen und Nöten entrückte, die der Sterblichen keinem, am wenigsten aber dem Künstler hienieden erspart bleiben, trauern wir vielmehr um ihn, dem es nicht vergönnt sein sollte, die hohe Mission zu vollenden, die seinem Leben zuerteilt ward, und unsere Klagen und Tränen werden zum Demantschein, mit dem wir gern das Bild der Frühvollendeten verklären.

Auch das Bild Frédéric Chopins, des polnischen Tondichters, gehört in die Reihe jener Lichtgestalten, die wir uns gewöhnt haben, im Verklärungsscheine ihres frühen Todes zu betrachten. Und mit Recht. Vom Zauber ewiger Jugend umflossen, von unsagbarer Anmut und Liebenswürdigkeit erfüllt, übt es eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf den Beschauer und läßt uns in ihm eine der idealsten Erscheinungen erkennen, die die Geschichte der Tonkunst aufzuweisen hat. Nicht mit den titanenhaften Gestalten eines Beethoven und Bach, oder anderer unserer musikalischen Heroen dürfen wir ihn vergleichen, dessen Schaffensweise keinen pathetischen Aufschwung im monumentalen Stile jener kennt, in dessen Sein und Wesen nichts lag, was ihn zum heroischen Charakter befähigte. Er war ein Dichter, ein Träumer und Phantast – nichts weiter; freilich dies alles in genialischster Art. In engen Grenzen verharrte sein künstlerisches Genie. Vom weiten Reich seiner Kunst erwählte er sich nur das Gebiet der Klaviermusik. Aber innerhalb desselben schaltete er als Künstler von Gottes Gnaden. Zum Verhängnis ward ihm nur, daß ihm kein gesundes Gleichgewicht zwischen Leib und Seele beschieden war. Daß sein zarter Körper, seine überempfindlichen Nerven den Anforderungen seiner kühnen Einbildungskraft, seines hochgemuten leidenschaftlichen Empfindens nicht immer genugzutun vermochten, daß sein Können mannigfach zurückblieb hinter seinem Wollen und Streben, das bildet die Tragik in Chopins Leben, den Schlüssel für vieles, was sonst rätselhaft bliebe.

Seine Poesien und Träumereien gehören dem Reich der Romantik an, in dem er manchen Vorgänger hatte; aber in durchaus eigentümlicher Weise weiß er sie zu gestalten und ihnen ein fremdartig charakteristisches Gepräge zu verleihen, das sie von allen anderen Erscheinungen unterscheidet. Im Vollbewußtsein der Rechte des Künstlers hat Chopin sich unumschränkte Freiheit und Selbständigkeit für sein Schaffen, sowohl nach Form als nach Inhalt hin, zu wahren verstanden und indem er uns neue Ideen gab, auch eine neue Ausdrucksweise für dieselben gefunden. Allenthalben folgt er in freier Ursprünglichkeit dem Zug seines Genius; dennoch sehen wir ihn kaum je die feine Linie überschreiten, die jenseits der Welt der Schönheit und des Lichtes liegt. Der göttliche Funke durchzieht in vollem Strom seine Werke und verleiht ihnen einen seltsam leuchtenden Glanz, der uns ebenso blendet als entzückt, ebenso bannt als hinreißt. Immerdar aber bleiben wir uns dessen bewußt, daß es die Macht eines Zauberers, nicht die Kraft eines Titanen ist, die uns fesselt. »Chopin hat etwas vom Engel und der Fee«, sagt Liszt so wahr. Wie in einem Zauberlande fühlen wir uns unter dem Einfluß seiner ätherischen Gebilde. Rings um uns her ist Mondeshelle und Sternenglanz, Lilienduft und Nachtigallenklage; süße, berauschende Stimmen und Harmonien nehmen unsere Seele gefangen. Dann erlöschen plötzlich Mond und Sterne – alles ist still und nächtig, bis endlich ein Strahl des Lichts das Dunkel wiederum erhellt. Vom taghellen freudigen Glanz des Sonnenlichts ist wenig zu spüren in Chopins Ton gestalten; es sind meist Nacht- und Nebelbilder, Morgen- und Abenddämmerungen, die er an uns vorüberziehen läßt. Es ist, als scheue sein empfindsames Wesen die grelle Beleuchtung des Tages, und sein träumerisches Gemüt wendet sich der Nacht zu, deren sanfter Schleier den Träumern hold ist.

So bilden Chopins Schöpfungen eine Welt für sich. Von Universalität ist in ihnen keine Spur; sie sind im höchsten Grade individuell, auch wenn sie sich nirgend losgelöst haben vom Boden der Zeit und der Heimat, dem sie entsprangen. Im Gegenteil: Chopin ist immerdar, ist bis zu seinem letzten Atemzuge ein treues Kind seines Vaterlandes geblieben. Nur hat das Volkstümliche bei ihm einen aristokratischen Charakter angenommen. Seine Werke sind ein Zeugnis dessen. In jedem derselben strömt ein lebendiger Zug des nationalen Elementes, in dem wir des Künstlers Lebens- und Leidenselement erkennen. Die Leiden und Freuden seines Volkes, dessen Wesen und Eigentümlichkeiten finden sich widergespiegelt in seinen Tongebilden, in deren jedem sich, mehr oder minder verborgen, die Klage um das tragische Geschick Polens zu wiederholen scheint. Denn wer erkennte nicht auch in dem scheinbar heitersten derselben den Hauch von unbesiegbarer Schwermut, der sich wie ein Trauerflor über seine künstlerischen Äußerungen breitet? Das still getragene Weh des Dichterherzens, sein Leben und Hoffen, sein Lieben und Träumen, davon einst seine Lippen beharrlich geschwiegen, hier ist es laut geworden, das einst so keusch verhüllte Geheimnis seiner innersten Seele, hier hat es sich losgerungen und Gestalt gewonnen für den, der zu lesen und zu hören versteht. Nicht allen freilich ist es gegeben, den Offenbarungen eines Genius zu folgen, dem an Eigenartigkeit kein andrer vergleichbar ist. Zwar gehören sie längst zu den bevorzugtesten, zu den am meisten gespielten, und wenig oder nichts ist in ihnen alt geworden. Dem Empfinden der Gegenwart stehen sie weit näher als die Werke des wenig älteren Mendelssohn, oder selbst die des gleichalterigen Schumann. Ihre kühne fortschrittliche Klangsprache, ihr nervöser Herzschlag, ihre Ichkunst sozusagen verleiht ihnen ein modernes Gepräge.

Die Romantik erscheint, von diesem individuellsten Geiste widergespiegelt, neuartig, die uns so sympathische Weise stiller Träumerei gewinnt bei ihm eine veränderte Physiognomie. Chopin träumt mehr aus sich heraus, als in sich hinein, wie es deutsche und vornehmlich des versonnenen und versponnenen Schumanns Art ist. Man muß mit Chopins Leben, mit seiner Individualität und Nationalität vertraut sein, muß sich völlig in sie eingefühlt haben, um die Liebes- und Schmerzensklänge zu verstehen, die in seinen Tondichtungen laut werden. Meist aber hören wir nur die verschiedenen Einzelzüge seines Fühlens durch seine Interpreten widertönen. Die einen bringen vorzugsweise die elegante, graziös-kokette, andere die elegisch-träumerische, wieder andere die pikant -kapriziöse, spirituelle Seite seines Wesens zur Geltung. Das seltsame Gemisch dieser verschiedenartigen Ausstrahlungen aber, das gerade Chopins Naturell bedingt, einheitlich zu verbinden und dabei der nervösen Sensibilität wie der heißverzehrenden Leidenschaft gerecht zu werden, die, bald heimlich glühend, bald offen emporflammend, seine Musik durchströmt, sind nicht viele imstande. Und doch liegt gerade in der Verbindung dieser scheinbar unversöhnlichen Gegensätze der geheimnisvolle Reiz seiner künstlerischen Persönlichkeit begründet. Chopin ist süß und herbe, sanft und wild, leichtbeschwingt und tiefsinnig, schmelzend und funkensprühend zugleich; er weint, wenn er zu lächeln scheint, und führt uns zu den Bildern und Gestalten seines Lebens, wenn wir in einer andern Welt mit ihm zu weilen meinen. Er täuscht uns fortwährend über sich selbst; aber er belohnt den, der sich nicht täuschen läßt, mit einem vollen Blick in eine Fülle inneren Reichtums. Seine süßen Melodien schmeicheln sich leise in unser Herz; der wilde Sturm seiner Leidenschaft aber nimmt uns Sinn und Seele gefangen. So steht Frédéric Chopin als ein Zauberer vor uns, der seines Zaubers nicht entkleidet wird, auch wenn uns das Rätsel seines Seins und Schaffens gelöst erscheint im Hinblick auf sein und seines Volkes Leben und Leiden.

Mit Unrecht, wie neuere Quellen, insbesondere Wanda Landowska »Chopins Nationalität.« Allgem. Musikzeitung. 12. Mai 1911. und Chopins polnischer Biograph Ferdinand Hoesick »F. Chopin.« Warschau 1904. Eine teilweise Übersetzung aus dem Polnischen von Bernard Scharlitt gibt »Die Musik«, 1910, 2. Februarheft. Vielfach benutzt ist Hoesick auch in Hugo Leichtentritts »Fr. Chopin«. Berlin, Harmonie, 1905. besagen, hat man eine halbfranzösische Abstammung Chopins angenommen. Ganz und ungeteilt gehörte er Polen an. Gleichwohl bezeichnet Chs. Taufschein den Vater als Franzosen. Sein Urgroßvater, der Pole Nikolai Szop, ein Höfling des Königs Stanislaus Leszczynski, kam mit diesem nach Nancy. Von seinem Fürsten, der daselbst als Herzog von Lothringen residierte, die Erlaubnis zur Eröffnung einer Weinhandlung erhaltend, französierte Szop seinen Namen und nannte sich Chopin. Sein Sohn sowie sein Enkel, des Komponisten Vater, wurden Lehrer, und letzterer wandte sich 1787 wieder zurück nach Polen und schloß sich, heißt es, der Erhebung unter Kosciuszko an. Er war in Zelazowa Wola, einem unfern Warschau gelegenen Dorfe der Gräfin Skarbek, als Erzieher von deren Sohn tätig, als ihm dort Frédéric, das zweite seiner vier Kinder, geboren wurde. Irrtümlich galt bald der 8. Februar 1810 – laut Fétis – bald der 1. März 1809 – laut Karasowski und Niecks, den älteren Biographen des Meisters Karasowski, F. Chopin. 2 Bde. Dresden, Ries, 1877. 2. Ausg. 1878. – Niecks, Ch. als Mensch und als Musiker. 2 Bde. Deutsch v. Langhans. Leipzig, Leuckart. 1890. Neue Aufschlüsse gibt Scharlitt, »Chopins Ges. Briefe«. Leipzig, Breitkopf & Härtel. 1911. – als Chopins Geburtstag. Erst die spätere Auffindung des Taufscheines, von der der Musikschriftsteller Alexander von Polinski in der »Neuen Berliner Musikzeitung« vom 6. April 1893 Kunde gab, klärte darüber auf, daß Chopin am 22. Februar 1810 geboren und am 23. April in der Kirche des Dorfes Brochow getauft wurde, in der seine Eltern, Nicolai Chopin (der Taufschein schreibt Nicolai Choppen) und Justina de Krzyzanowska am 2. Juni 1806 getraut worden waren. Als Paten sind die junge Gräfin Anna Skarbek und Franz Grembecki, als Vertreter des abwesenden Grafen Skarbek, genannt.

Im Oktober 1810 übernahm der Vater die Professur der französischen Sprache bei dem neubegründeten Lyzeum in Warschau und war daneben von 1812 an noch an der Artillerie- und Ingenieurschule angestellt. Er und seine Gattin, die bei Gräfin Skarbek Wirtschafterin gewesen war, genossen so allgemeiner Achtung, daß viele der angesehensten polnischen Familien ihnen ihre Söhne zur Erziehung anvertrauten. Mit diesen gemeinsam wuchs Frédéric samt seinen drei Schwestern – sie waren sämtlich schriftstellerisch begabt und späterhin auch tätig – auf und empfing eine sorgfältige Ausbildung. Von Natur zart und schwächlich, zeigte er sich in den ersten Jahren seiner Kindheit so empfindlich gegen Musik, daß er, sobald er sie hörte, in Tränen ausbrach und man ihn nur mit Mühe zu beruhigen vermochte. Bald aber tat sich eine so entschiedene Vorliebe für das Klavier bei ihm kund, daß man mit dem Beginn des Unterrichts nicht säumte und ihn, nach Vorbereitung durch seine sehr musikalische Mutter und seine Lieblingsschwester Louise, der trefflichen Leitung des Böhmen Adalbert Zywny, eines eifrigen Anhängers Sebastian Bachs und der klassischen Schule, übergab. Dieser staunte über die Fortschritte seines Schülers, der mit sieben Jahren schon die Bewunderung Warschaus auf sich zog. Es währte nicht lang, so versuchte er zu komponieren, und da er selbst noch nicht fähig war, seine Gedanken niederzuschreiben, brachte der Lehrer auf seine Bitten das, was er ihm vorspielte, aufs Papier. Seine ersten kindlichen Eingebungen nahmen die Form von Tänzen an. In Polonaisen, Mazurken, Walzern, einem Marsch, welchen er dem Großfürsten Konstantin widmete, in dessen Gemahlin er eine seiner vornehmsten Gönnerinnen fand, und dessen kleiner Sohn Paul ihn gern zum Gesellschafter wählte, machte sich sein Schaffensdrang zuvörderst Luft. Als Klavierspieler debütierte erden 24. Februar 1818, auf Bitten des Dichters Niemcewicz, zuerst in einem Warschauer Wohltätigkeitskonzert mit dem Konzerte von Gyrowetz. Seitdem ward er der Liebling der hohen Aristokratie. Die hervorragendsten Persönlichkeiten der Hauptstadt, die Fürsten Czetwertynski, Czartoryski, Sapieha u. a., und mit ihnen die gefeiertsten Vertreterinnen einer Gesellschaft, deren Glanz, Anmut und Liebenswürdigkeit zu jener Zeit einer weitverbreiteten Berühmtheit genoß, zogen Frédéric in ihre Kreise, der, voll natürlichen Taktgefühls, von früh auf an feinste Umgangsformen gewöhnt, sein Lebenlang eine unverhohlene Abneigung gegen schroffe oder wenig manierliche Menschen beibehielt. So erfuhr der durch Schönheit des Geistes wie des Körpers gleich ausgezeichnete Knabe, der, wie uns erzählt wird, im Alter von fünfzehn Jahren die reizvolle Anmut der Jugend mit dem Ernste des reiferen Alters verband, frühzeitig die Gunst jener eleganten Frauen, die es liebten, die magischen Rhythmen ihrer Tänze von seinen Händen erklingen zu hören. Angeregt durch die bunte glänzende Welt um ihn her, ergriffen vom Zauber ihrer blendenden Erscheinungen, ließ er seine Phantasie ungehindert walten, und neue Tanzweisen gestalteten sich unter seinen Fingern. War er es doch auch, der die Tänze seines Volkes zu einer Durchgeistigung emporhob, wie es vordem keiner vermocht hatte. Mögen die Polonaisen Webers, die Walzer Schuberts, die dem Tanz zuerst eine künstlerische Bedeutung gaben, immerhin nicht ohne Wirkung auf ihn geblieben sein – er faßte das Wesen desselben mehr symbolisch. Er gab uns im Tanz mehr als einen bloßen tönenden Begleiter rhythmischer Bewegung. Nur als Rahmen diente ihm derselbe für eine ihm zugrunde gelegte höhere Idee, ohne deshalb seines Charakters beraubt zu werden; ja zugleich mit dem spezifisch national-polnischen Elemente verlieh er ihm das eminent persönliche Gepräge, das seinen Kunstausdruck kennzeichnet.

Das auffallende Kompositionstalent seines Sohnes bestimmte den Vater, ihn durch Professor Josef Elsner, den Direktor des Warschauer Konservatoriums, in Harmonie und Kontrapunkt unterweisen zu lassen. Um einer wissenschaftlichen Ausbildung teilhaftig zu werden, besuchte er seit 1823 das Lyzeum. Bei seinen Schulkameraden erfreute er sich außerordentlicher Beliebtheit. Sein sprudelnder Übermut, sein satirischer Sinn gefiel sich in allerlei Possen, insbesondere im Nachahmen und Karrikieren anderer. Seine mimische Kunst, seine verblüffende Virtuosität im Verändern der Gesichtszüge hoben George Sand, Liszt, Balzac und andere ja noch bei dem Manne staunend hervor. Bei den öfteren theatralischen Vorstellungen im Pensionate der Eltern machte sich sein schauspielerisches Talent und seine Improvisationsgabe geltend; verfaßte er doch auch für den Namenstag des Vaters 1824 gemeinschaftlich mit seiner jüngeren Schwester Emilie (die er schon 1827 verlor) ein einaktiges Lustspiel in Versen: »Der Irrtum, oder der angebliche Spitzbube«, das er mit seinen jugendlichen Genossen zur Aufführung brachte.

An die Wahl des Musikerberufes dachte man noch nicht: weder die Eltern noch er selbst ahnten seine künftige Meisterschaft. Systematischen Klavierunterricht hatte er nur bis zu seinem zwölften Jahre empfangen: dann war er sich selbst überlassen geblieben. Doch ging er seinen Weg so sicher, daß er sich im Frühjahr 1825 wiederum mit Glück in einem Warschauer Wohltätigkeitskonzert hören lassen konnte, wobei die Kritik den »Reichtum musikalischer Ideen« anerkannte, »durch den sich seine freien Phantasien auszeichneten.« Hatte die berühmte Catalani schon im Jahre 1820 ihrem Entzücken über die Leistungen des zehnjährigen Knaben durch das Geschenk einer kostbaren Uhr Ausdruck verliehen, so ließ jetzt auch Kaiser Alexander I. von Rußland, dem während seines Aufenthalts in Warschau das Äolomelodikon – ein orgelartiges Instrument – durch ihn vorgeführt wurde, in Anerkennung des frühreifen Genies, ihm einen Diamantring reichen.

Nachdrücklich griff, wie Hoesick erzählt, der als »Faust«-Komponist bekannte Fürst Anton Radziwill, der Statthalter von Posen, in Frédérics weitere künstlerische Entwicklung ein. »Im Jahre 1825, während der Landtagssitzungen einige Wochen in Warschau weilend, interessierte sich der Fürst sehr lebhaft für den jungen Chopin, und da er selber ein ausgezeichneter Musiker war, durfte man sich getrost auf sein fachmännisches Urteil berufen. Hierbei mußte noch der Umstand in Betracht gezogen werden, daß durch Befolgung der Ratschläge eines so hohen Protektors die Karriere des Sohnes außer Frage gestellt war. Und Fürst Radziwill drang sehr darauf, daß man Frédéric seiner geliebten Kunst nicht abwendig mache, ihn vielmehr zu ihr ansporne, ihm die Möglichkeit einer freien Entfaltung der angeborenen, ganz exzeptionellen Fähigkeiten biete. Nachdem er diese erkannt hatte, erklärte sich der Fürst bereit, für den jugendlichen Tondichter Sorge zu tragen, wogegen die Eltern Chopins nichts einzuwenden hatten.« Diese der erwähnten Übersetzung B. Scharlitts entnommenen Angaben decken sich genau mit denen Liszts (»F. Chopin«), die von Chopins Schülerin, Miß Stirling und mehreren seiner Biographen, sowie angeblich auch von seinen Verwandten fälschlich als unrichtig bezeichnet worden sind. Frédéric gab 1829 seiner Dankbarkeit für seinen Beschützer durch Widmung seines Trios Ausdruck.

Bereits 1825 gelangte Chopins opus 1, das Rondo in C-moll, in den Druck, dem bald darauf sein op. 5, das seiner jugendlichen Flamme, der Gräfin Alexandrine Moriolles, zugeeignete Rondeau à la Mazur, folgte. Nach bestandenem Abiturientenexamen verließ er 1826 das Lyzeum. Dagegen trat er für drei Jahre in das Konservatorium ein, und Elsner durfte am 20. Juli 1829 in seinem letzten Examenbericht das Urteil verzeichnen: »Chopin, Frédéric (Schüler im dritten Jahre) erstaunliche Befähigung, musikalisches Genie.« Vgl. Miecyslaw Karlowicz, » Souvenirs inédits de Frédéric Chopintraduits par Laure Disière« (Paris und Leipzig, H. Welter, 1904). Dieselben enthalten einen großen Teil von Chopins brieflichem Nachlaß; denn dieser ist nicht, wie man bis dahin glaubte, bei der am 19. Sept. 1863 vom Statthalter von Polen Graf Berg befohlenen Plünderung des von einer Schwester Chopins bewohnten Palais Zamoyski in Warschau – aus dem man eine Bombe auf den Grafen geworfen hatte – total verbrannt. Er wird vielmehr, so weit noch vorhanden, von einer Enkelin von Chopins Schwester Louise, Mlle. Ciechomska, sorgsam bewahrt. Ihm sind die nachstehend hier mitgeteilten Briefe des Tondichters über seinen Bruch mit George Sand entnommen, die sich teilweise bei Leichtentritt, sowie jetzt bei Scharlitt, »Ch. Ges. Briefe« wiedergegeben finden.

Wiederholt schon hatten sich infolge seiner durch übereifrige Studien angegriffenen Gesundheit Erholungsreisen für Frédéric nötig gemacht. So brauchte er beispielsweise 1826 im schlesischen Bad Reinerz die Kur. Gern verbrachte er immer einen Teil des Sommers bei dem Fürsten Radziwill oder anderen Gönnern und Freunden auf dem Lande, wo sich ihm Gelegenheit bot, den bizarren und doch so hinreißenden Weisen des polnischen Volkes zu lauschen, das Gesang und Tanz wie kein anderes leidenschaftlich pflegte. Um gute Musik zu hören und mehrere der deutschen Musikgrößen kennen zu lernen, unternahm er im September 1828 einen ersten Ausflug nach Berlin. Bei einer Aufführung der Singakademie sah er daselbst Spontini, Zelter und Mendelssohn. Aber er hielt es, wie er schreibt, »nicht für schicklich, sich ihnen selber vorzustellen«, und sein Beschützer Fürst Anton Radziwill, auf dessen Vermittlung er gehofft hatte, war leider nicht in Berlin anwesend. Dagegen trat er zu Hummel, der 1828 nach Warschau kam und gleich Field nicht ohne Einfluß auf ihn blieb, in angenehme Beziehungen. Paganini hörte er 1829 in seiner Vaterstadt.

Unvergleichlich ergebnisreicher als der Berliner Ausflug wurde für ihn eine Reise nach Wien, die er um Mitte Juli 1829 antrat. Hier tat er seinen ersten Schritt in die große musikalische Welt. Auf Andrängen des Musikverlegers Haslinger und mehrerer Aristokraten veranstaltete er am 11. und 18. August zwei musikalische Akademien im kaiserlichen Opernhause, das ihm der Leiter desselben, Graf Gallenberg – der Gatte der von Beethoven angebeteten Gräfin Giulietta Guicciardi – zur Verfügung stellte. Seine von ihm gespielten Variationen op. 2, der Krakowiak op. 14 und Improvisationen trugen ihm, wie er selbst in die Heimat berichtet, »stürmischen Beifall und zahlreiche Hervorrufe« ein. Auch die Wiener Musiker, die ihrem jungen Kunstgenossen aufs liebenswürdigste entgegenkamen, geizten mit ihrem Lobe nicht, und die Presse begrüßte Chopin als »Meister vom ersten Range«, als »eines der leuchtendsten Meteore am musikalischen Horizonte«. Verlautete überhaupt ein Einwand gegen sein Spiel, so war es der, daß es zu zart, zu sanft sei. Doch Chopin meinte: »Das ist meine Art zu spielen, die den Damen so sehr gefällt.« »Er war« – sagt sein vortrefflicher Biograph Niecks, von dessen Forschungen die vorstehende Skizze mehrfach Nutzen zog – »eben schon damals und wurde mit der Zeit noch mehr der Damen-Pianist par excellence

Über Prag und Dresden, wo er mit dem Fugenkomponisten Klengel und Hofkapellmeister Morlacchi Beziehungen anknüpfte, kehrte er gegen Mitte September zu den Seinen zurück.

Das kommende Jahr sollte ihn, nachdem er im März in Warschau wiederum zweimal konzertiert und sein neues F-moll-Konzert in die Öffentlichkeit eingeführt hatte, auf Elsners Rat nach Italien führen. Doch verzögerte er seine Abreise immer aufs neue. Die unruhige Lage Europas, die eigene Unentschlossenheit – eine seiner Charakter-Eigentümlichkeiten – und wohl mehr noch die Liebe zu einer jungen Bühnensängerin, Constantia Gladkowska, die sein Herz erfüllte, machte ihm den Abschied schwer. Im Gedanken an sie, »seinen Friedensengel«, ist das Adagio seines F-moll-Konzerts geschrieben. Alle seine Tonschöpfungen aus dieser Zeit durchdringen die Empfindungen für sie, mochte er sie auch vor aller Augen wie ein Mysterium verborgen halten und sich allein seinen vertrautesten Freunden, Titus Woyciechowski und Jan Matuszynski, offenbaren. Nach ihr auch sehnte er sich voll leidenschaftlicher Glut, als er sich endlich von ihr losgerissen hatte, und den Ring, den sie ihm beim Scheiden an die Hand gesteckt, hütete er als sein teuerstes Kleinod. »Sage ihr«, schreibt er am Weihnachtsmorgen 1830 an Jan, »so lange mein Herz schlägt, werde ich nicht aufhören, sie anzubeten. Sage ihr, daß nach meinem Tode meine Asche unter ihre Füße gestreut werden soll. Aber alles dies ist noch zu wenig, Du kannst ihr noch viel mehr von mir sagen.«

Bange Vorgefühle bedrängten ihn, bevor er der Heimat Lebewohl sagte. »Ich habe eine Ahnung«, heißt es in einem Briefe vom 4. September, »daß ich Warschau verlassen werde, um nie wieder zurückzukehren. O wie traurig muß es sein, an irgend einem andern Orte zu sterben, als da, wo man geboren ist!«

Am 11. Oktober 1830 gab er in Warschau noch ein letztes Konzert, in dem er sein E-moll-Konzert und die Phantasie über polnische Weisen op. 13 spielte, bei welcher Gelegenheit auch seine Constantia Gladkowska singend mitwirkte.

Endlich am 1. November erfolgte seine Abreise unter dem feierlichen Geleit von Freunden und Schülern des Konservatoriums, die ihm als Abschiedsgabe einen silbernen Becher, mit heimatlicher Erde gefüllt, darbrachten. Seine trüben Ahnungen aber erfüllten sich – nie wieder sollte sein Fuß den Boden Polens betreten. Die Folgen der wenige Wochen später, am 29. November ausbrechenden polnischen Revolution hielten ihn, obwohl er selbst nicht an derselben beteiligt war, für alle Zukunft von seinem Vaterlande fern. Er konnte sich nicht entschließen, es anders wiederzusehen, als er es verlassen hatte. Lieber erduldete er freiwillig hinfort das harte Los der Verbannung, mit der Heimat zugleich der Geliebten und künftigen Gefährtin seines Lebens beraubt. Zwei Jahre später reichte Constantia einem andern Manne die Hand. Ihm aber hat das Schicksal niemals ein Glück geboten, wie er es an ihrer Seite geträumt hatte. Auch eine andere, der er nachmals sein für weibliche Reize tief empfängliches Herz schenkte: die ihm seit ihrer Kindheit vertraute Schwester seiner Jugend- und Pensionsfreunde, der drei Brüder Wodzinski, neigte seiner Werbung zwar ihr Ohr, wurde jedoch später die Gattin des Grafen Skarbek. Der Segen besitzender Liebe und eines häuslichen Herdes gehörte zu den Gütern, die das Leben dem vom Ruhm Gekrönten versagte.

Bis Wien war er gekommen, als ihn die Kunde von dem für sein Vaterland so verhängnisvollen Ereignis ereilte. Seinen Wunsch, sofort heimzukehren und sich am Feldzug zu beteiligen, mißbilligten seine Eltern. Auch den Plan, nach Italien zu gehen, gab er nun auf und dehnte seinen Aufenthalt in der österreichischen Hauptstadt bis in den nächstfolgenden Sommer aus. Doch nur zweimal während dieser langen Zeit gab er dem Publikum Gelegenheit ihn zu hören. Verstimmt mußte er, der Reizbare, leicht Verletzte, gewahren, daß das ihm früher von seinen Kunstgenossen bezeugte Interesse erkaltet sei. Er hörte Thalberg – der, wie er schreibt, »famos spielt, aber nicht mein Mann ist« – desgleichen Döhler, Hummel, Aloys Schmitt, trat mit Carl Maria von Bocktet, Czerny, Abbe Stadler, mit dem Geiger Slavik, dem Cellisten Merk, dem Musikhistoriker Kiesewetter und vielen anderen in Verkehr, besuchte, seiner Neigung und Gewohnheit gemäß, viel Gesellschaften; aber er erregte nicht das Aufsehen, das zu erwarten er berechtigt war. Deckte doch die Einnahme des Konzerts, das er kurz vor seiner am 20. Juli 1831 erfolgenden Abreise veranstaltete, nicht einmal die Kosten.

In Paris gedachte er sein Glück zu versuchen. Da die Ausfertigung eines Passes dahin zu eben dieser Zeit großen Schwierigkeiten begegnete, ließ er sich denselben nach England visieren. » Passant par Paris à Londres« lautete er. Über München, wo er am 28. August zum letzten Male in seinem Leben öffentlich auf deutschem Boden spielte, und Stuttgart nahm er seinen Weg und traf Ende September in Paris ein – freilich nicht » en passant«, wie er oft scherzend sagte, sondern für immerdar, wie es sein Schicksal gewollt. Nur zu natürlich scheint es, daß die von den verbannten Polen mit Vorliebe aufgesuchte französische Weltstadt mit ihrer geistigen wie sinnlichen Verfeinerung, mit ihrem Reichtum an künstlerischen Berühmtheiten, ihrem Zusammenfluß an Bildungs- und Genußmitteln mannigfaltigster Art, ihre Anziehungskraft übte auf den empfänglichen Künstlergeist. Die Konzerte, die er nach seiner Ankunft veranstaltete, gewannen ihm die lebhafte Bewunderung der eleganten Gesellschaft sowohl als seiner Kunstgenossen. Sein erstes Erscheinen im Pleyelschen Saal am 26. Februar 1832 schon begrüßte, wie Liszt als Augen- und Ohrenzeuge erzählt, ein wahrer Beifallssturm. Er spielte eines seiner Konzerte – das von Karlowicz mitgeteilte Programm bezeichnet dasselbe nicht näher – und seine Mozart-Variationen. Enthusiastisch hieß man ein Talent willkommen, das nach der ideellen, wie nach der formellen Seite seiner Kunst hin eine neue Phase zu begründen versprach, und gänzlich übertönt wurden vereinzelte Stimmen, die, wie Field, von einem » talent de chambre de malade« sprachen, oder gar, wie Kalkbrenner, dem fertigen Meister anrieten, noch einen dreijährigen Kursus bei ihm durchzumachen.

Sofort nahm er als Pianist wie als Lehrer einen der bevorzugtesten Plätze ein. Den Ersten seiner Kunst trat er nahe. Cherubini, Rossini, Paër, Baillot, Kalkbrenner, Liszt, Berlioz, Bellini, Mendelssohn, Hiller, Franchomme u. a., die Musiker mit großer Vergangenheit oder großer Zukunft, erkannten in ihm einen ihres gleichen. Auch seine Landsleute, die sich in Paris gegenwärtig fanden, beeilten sich, Chopins Bekanntschaft zu suchen und ihm die entgegenkommendste Aufnahme zu bereiten. Bald stand er in nahem und häufigem Verkehr mit dem Hause der Fürsten Czartoryski, Lubomirski, der Gräfinnen Komar, Plater und anderen, meist der polnischen Aristokratie angehörigen Männern und Frauen, unter welch letzteren vor allen die Gräfin Delphine Potocka zu nennen ist, die, um ihrer Schönheit und geistvollen Anmut willen, als eine der bewundertsten Erscheinungen der vornehmen Welt gefeiert wurde. Ihr, deren Stimme und Talent einen unwiderstehlichen Zauber auf ihn übten, widmete er sein zweites Konzert in F-moll, für dessen Adagio er selbst immerdar eine besondere Vorliebe bezeigte und das in Wahrheit zu den schönsten und erhabensten seiner Eingebungen zählt. Und ihre Stimme auch war es, die den Sterbenden noch entzücken sollte, als er Abschied von Kunst und Leben nahm.

Selbst Aristokrat in Gewohnheiten und Neigungen, so daß man ihn, wie es heißt, unwillkürlich wie einen Fürsten behandelte, von früher Jugend auf mit der eleganten Ausdrucksweise des Salons vertraut, mit dem ausgebildetsten Geschmack und einem erstaunlichen Erfindungsreichtum begabt, blieb Chopin, der die Salonmusik höheren Sinnes um eine Reihe ihrer auserlesensten, feinduftigsten Blüten vermehrte, der Liebling und Mittelpunkt aristokratischer Kreise, den die Frauen zumal mit ihrer Gunst freigebig beschenkten, wie sie auch mit Vorliebe seine Schülerinnen wurden. »Ich bewege mich in der vornehmsten Gesellschaft – unter Gesandten, Fürsten und Ministern«, schreibt er im Januar 1833 einem polnischen Freund. Im Gegensatz zu anderen seiner Kunstgenossen, bildeten die Triumphe, die er feierte, nicht die Klippe, an der zu scheitern er Gefahr gelaufen wäre. So glänzend sie waren, sie vermochten doch keinen Augenblick ihn zu blenden oder zu berauschen; ohne Stolz, aber auch ohne falsche Bescheidenheit nahm er sie hin. Dennoch hinderte er selbst ihre öftere Wiederholung, indem er der Öffentlichkeit nur selten Gelegenheit bot, ihn zu hören. Während der ersten Jahre seines Pariser Aufenthaltes bis 1835 trat er häufiger auf. Dann verstummte er für eine Reihe von Jahren, und die in seiner letzten Lebenszeit gegebenen Konzerte belaufen sich auf wenig mehr als ein halb Dutzend. Alle, die ihn jemals zu hören das Glück hatten, stimmen in der entzückten Schilderung der wundersamen, weltentrückenden Wirkung seines Spiels überein, und wie der ihm wahlverwandte Liszt von der idealen Macht seiner Töne zeugt, bekennen auch die ihm fernerstehenden deutschen Meister Schumann und Mendelssohn, denen nur flüchtige Begegnungen mit ihm vergönnt waren, sich hingenommen von der »grundeigentümlichen, einzigen« Art seiner persönlichen wie künstlerischen Erscheinung. »Es bestand eine solche Übereinstimmung zwischen seiner Person, seinem Spiel und seinen Werken, daß man sie, wie es scheint, nicht mehr voneinander trennen kann, wie die verschiedenen Züge desselben Gesichts«, schreibt Ernest Legouv. » Soixante Ans de Souvenirs«, teilweise verdeutscht von S. Bräutigam. Leipzig, Breitkopf & Härtel. Selbst der ironische Heine äußert begeistert: »Die Einflüsse dreier Nationalitäten machen seine Persönlichkeit zu einer höchst merkwürdigen Erscheinung. Polen gab ihm seinen chevaleresken Sinn und seinen geschichtlichen Schmerz, Frankreich gab ihm seine leichte Anmut, seine Grazie, Deutschland gab ihm den romantischen Tiefsinn. Die Natur gab ihm eine zierliche, schlanke, etwas schmächtige Gestalt, das edelste Herz und das Genie. Wenn er am Klavier sitzt und improvisiert, ist er weder Pole, noch Franzose, noch Deutscher; er verrät dann einen weit höheren Ursprung, man merkt alsdann, er kam aus dem Lande Mozarts, Rafaels, Goethes, sein wahres Vaterland ist das Traumreich der Poesie.«

Hören wir allerdings die tiefinnerliche, seine ganze Seele zum Ausdruck bringende Weise seines »zugleich keuschen und leidenschaftlichen« Spiels schildern, so begreifen wir gern seine Abneigung, mit diesen seinen besten Gaben vor ein großes Publikum zu treten, dessen kleinster Teil den Wert derselben auch nur zu ahnen imstande war. Er war kein Virtuos im gewöhnlichen Sinn, er gab ein Stück seines Herzens, wenn er spielte. Und er wußte sehr wohl, daß seine Darstellungsweise keinen Eindruck machte auf die Menge, daß sie die Massen nicht packte und nur in den Kreisen auserlesener Hörer verstanden werden konnte, die es vermochten, ihm in die idealen Sphären der Kunst zu folgen, in denen sein Genius heimisch war. Seine Arena war nicht der weite Raum des Konzertsaals, für den es ihm an physischer Kraft, für den es seinem samtweichen, zarten, äußerst nuancenreichen Ton an Macht und Größe fehlte. Der Salon war seine natürliche Sphäre, ein engerer Kreis von Dichtern, Künstlern, Kennern war die ihm gemäße Zuhörerschaft. So äußerte er eines Tages zu Liszt: »Ich eigne mich nicht dazu Konzerte zu geben; das Publikum schüchtert mich ein, sein Atem erstickt, seine neugierigen Blicke lähmen mich; ich verstumme vor den fremden Gesichtern. Aber Du bist dazu berufen, denn wo Du Dir das Publikum nicht gewinnst, hast Du die Kraft, es Dir zu unterwerfen.« Es gebrach ihm, dem Zartorganisierten, von früh auf nur zu sehr Verwöhnten, an der Energie, deren gerade der Musiker zur öffentlichen Ausübung seiner Kunst bedarf. Er besaß die Fehler seiner Tugenden. »Wo er auf Hindernisse stieß,« sagt Karasowski, »wich er zurück, statt sie zu besiegen. Er liebte den Frieden mit sich und anderen – und das Leben, vor allem das des Künstlers, will Kampf.« Und gleichwohl hat es den Anschein, als ob die Beifallsbezeigungen der wenigen auserlesenen Hörer ihn nicht zu entschädigen vermochten für den Mangel an Popularität, an lebendiger und allgemeiner Teilnahme an seinen Leistungen; als ob er nicht ohne Bitterkeit auf das Glück des Künstlers verzichtet hätte, seine Schöpfungen widerklingen zu hören in tausend und aber tausend Herzen! Es war dies wohl einer der ihn am tiefsten verwundenden Dornen seiner Künstlerlaufbahn. Genug, wir finden Chopin bald nach seiner Ankunft in Paris in dem stillen Wirken eines Lehrers seiner Kunst begriffen, das seiner zurückhaltenden Natur sympathischer erschien als jegliches Hinaustreten in das geräuschvolle öffentliche Leben. Bis nahe an sein Ende erteilte er, trotz seinem oft so leidensvollen Gesundheitszustande, während der Saison täglich und mit ebensoviel Gewissenhaftigkeit als Befriedigung Klavierunterricht. In gesunden Tagen gab er vier bis fünf Stunden, für deren jede er ein Honorar von 20 Frs. empfing. Er legte das Hauptgewicht auf Ausbildung des Anschlags und die Unabhängigkeit der Finger. Im Fingersatz war er ein kühner Reformator. Durch einen eigentümlichen Pedalgebrauch erzielte er überraschende Nuancen, neue Effekte. Vollendete Glätte und Geschmeidigkeit, Schönheit des Tons, Wahrheit und Wärme des Ausdrucks – Eigenschaften die sein eigenes Spiel in seltnem Grade auszeichneten – suchte er auch seinen Schülern anzubilden. Heiliger Kunsteifer durchglühte ihn, jedes Wort von seinen Lippen wirkte anregend und begeisternd. »Spiele wie du es fühlst,« pflegte er zu sagen. »Sie müssen singen, wenn Sie spielen wollen,« empfahl er einer Schülerin und riet ihr den häufigen Besuch der italienischen Oper, als notwendig zur Ausbildung eines Klavierspielers.

Eine so große Anzahl Lernbegieriger umdrängte ihn, daß es schwierig war, Aufnahme bei ihm zu erlangen. Nichtsdestoweniger gingen keine weltberühmten Virtuosen aus seiner Schule hervor. Nicht von fern läßt sich seine pianistische Nachkommenschaft, die als bekanntere Namen nur den frühverstorbenen Karl Filtsch, Karl Mikuli, George Mathias, Adolf Gutmann nennt, derjenigen Liszts vergleichen, die nahezu alle hervorragenden Klavierspieler seiner Zeit umfaßt. Mehr Dilettanten als Künstler gingen bei Chopin in die Lehre; unter ihnen waren es wiederum seine Landsleute, denen er vorzugsweise das Geheimnis seiner Spielweise zu offenbaren liebte. Als seine Lieblingsschülerin und als diejenige, die am treuesten ihres Meisters Traditionen bewahrte, bezeichnet man, neben Marie von. Kalergis-Mouchanoff, die Fürstin Marcelline Czartoryska, der Chopin, ebenso wie ihrem Gatten und der Gräfin Potocka, eine fast leidenschaftliche Anhänglichkeit widmete. Chopins Freundschaft war ja wie seine Liebe eine Art Leidenschaft. Aus seinen Briefen an Titus Woyciechowski spricht eine fast weibliche Zärtlichkeit. Dennoch hat er sich wohl keinem jemals ganz erschlossen. Das Weh seines Herzens verbarg er hinter der Heiterkeit der Resignation. Ja seine Zurückhaltung ging so weit, daß er in späteren Jahren sogar jede Korrespondenz, außer der mit seinen Angehörigen, nach Möglichkeit vermied. Stolz und herrschsüchtig, intolerant, selbst schroff auf der einen, edel, uneigennützig, zartfühlend bis zur Sensitivität auf der andern Seite, mischten sich in ihm wunderliche Gegensätze. »Halb großartig, halb kleinlich« nannte George Sand sein Naturell. Immer zum Spott, zur Satire geneigt, mit scharfem Blick für die Eigentümlichkeiten und Schwächen anderer ausgerüstet, konnte er doch, wie Hiller sagt, nicht allein sein; vornehme Geselligkeit war seine Lebenslust. Ästhetik, Literatur kümmerten ihn wenig, und mehr als alle Schönheit der Natur interessierten ihn die Menschen und ihr Tun.

Exklusiv wie im Leben zeigte er sich auch in seinem musikalischen Geschmack. Beschränkter in seinen Sympathien wie ihn finden wir wohl keinen anderen unserer großen Tondichter. Seine Lieblinge waren in erster Linie Bach und Mozart. Beethoven, ebenso Weber und Schubert verehrte er nicht unbedingt, nicht im ganzen und großen, sondern nur in einzelnen Werken. »Das Löwenmark, das sich in jeder musikalischen Phrase Beethovens findet, war ihm ein zu substantieller Stoff«, wie Liszt bemerkt. Als Klavierkomponisten bevorzugte er Hummel, Field, Moscheles. Auch Liszt ließ er von seinen Schülern spielen. Dagegen fand Thalberg keine, Mendelssohn sowie Schumann wenig Gnade bei ihm. Berlioz und Meyerbeer waren ihm zuwider, Rossini, Bellini bewunderte er. Mit Recht sagt Liszt: »Bei den großen Meisterwerken der Kunst fragte er einzig nach dem, was seiner Natur entsprach. Was sich derselben näherte, gefiel ihm; dem aber, was ihr ferner lag, ließ er kaum Gerechtigkeit widerfahren.«

Übrigens war Chopin selbst gegen Liszt, der sich ihm von Anbeginn als guter Freund und Kamerad bewährte, auch wiederholt in Konzerten mit ihm spielte, nicht frei von Bitterkeit, was wohl auf dessen unvergleichlich größere Virtuosenerfolge zurückzuführen ist. Als Liszt in liebenswürdiger Kollegialität die Absicht aussprach, über ein von Chopin (im April 1841) veranstaltetes » concert de fashion« in der Gazette musicale zu berichten, entfuhr Chopin die bezeichnende Äußerung: »II me donnera un petit royaume dans son empire« Ein Verdacht, den Liszts Kritik natürlich glänzend Lügen strafte.

Den Verkehr mit seinen Kunstgenossen stellte Chopin – wie Stephen Heller, Marmontel u. a. dies bedauernd aussprachen – mehr und mehr hinter den mit aristokratischen Häusern und zumal mit seinen polnischen Freunden zurück, in deren Mitte er sich am wohlsten fühlte und bei denen der ohnehin wählerische anspruchsvolle Mann eine sich fast bis zur Vergötterung steigernde Verehrung genoß. Da auch die neu ankommenden Polen sich beeilten, ihn aufzusuchen, ward ihm solchergestalt ein steter lebendiger Verkehr mit dem Vaterlande vermittelt, und wie man ihm jedes Vorkommnis daselbst getreulich berichtete, blieben ihm auch die heimischen Kunsterzeugnisse nicht fremd. Insbesondere erregten die neuen polnischen Gedichte, die man mitbrachte, seine Teilnahme. Nicht selten geschah es dann, daß er eins derselben in Musik setzte und die von ihm erfundenen, vielfach im Volkston gehaltenen Weisen sich traditionell fortpflanzten, bis sie den Weg in die Heimat fanden und dort von Mund zu Munde gingen, ohne daß doch zumeist der Name ihres Urhebers bekannt geworden wäre. Chopin gedachte sie zu sammeln, aber es kam nicht dazu. Erst nach seinem Tode wurden »Siebzehn polnische Lieder« op. 74 aus den Jahren 1824-1844, als die einzigen von ihm gedruckten Gesangskompositionen herausgegeben.

An öffentlichen Fragen und Diskussionen – namentlich wenn sie die ihm unsympathische Politik betrafen – pflegte Chopin sich nie zu beteiligen; entbehrte doch seine Natur zu sehr der inneren Ruhe, um nicht die Aufrechterhaltung der äußeren wenigstens zu erstreben. Nur in Sachen seiner Kunst verzichtete er nicht darauf, sein Urteil rückhaltlos auszusprechen und seinen Einfluß energisch geltend zu machen. Sein »vielleicht kühner, aber edler Vorsatz war, eine neue Kunstära herbeizuführen«, wie er an seinen Lehrer Elsner schrieb. Als im Jahre 1832, kurz nach seiner Ankunft in Paris, sich in der Musik, wie in der Literatur und Malerei, eine neue Schule bildete, die, die politische Gärung jener Zeit auf das Gebiet der Kunst verpflanzend, mit Ungestüm das Joch der alten Formeln abschüttelte und die Romantik auf die Tagesordnung setzte, schloß sich an Hector Berlioz, den kühnsten und genialsten französischen Repräsentanten dieser Richtung, gleich Liszt auch Chopin an. Freilich behauptete er, dank seinem individuellen Geschmack, dabei einen äußerst exklusiven Standpunkt. »Er nahm«, wie Niecks sagt, »die Grundsätze der romantischen Schule an, mißbilligte jedoch fast alle die Kunstwerke, in welchen dieselben verkörpert waren; oder vielmehr er schloß sich ihrer negativen Lehre an, indem er wie sie die Fesseln toter Formeln zerbrach; gleichzeitig aber verwarf er das Positive ihrer Lehre und wandelte abseits von ihnen. Er zeigt uns das seltsame Schauspiel eines durch und durch romantischen, ausgesprochen unklassischen Komponisten, der weder mit Berlioz und Liszt, noch mit Schumann und anderen Führern der Romantik sympathisierte und für welchen Mozart, dieser reinste Typus der Klassizität, der Gegenstand beharrlicher und glühender Liebe und Bewunderung war.«

So selbständig sich übrigens Chopin inmitten der geistigen Strömungen und Bestrebungen der französischen Hauptstadt verhielt, diese stärkten seinen Unabhängigkeitsgeist und verhalfen ihm dazu, seine Individualität nach ihrer ganzen Fülle zu entfalten. Insbesondere mochte er Liszt für manche tiefgehende Anregung und Einwirkung verpflichtet sein, wie dieser auch umgekehrt von ihm lernte. Herrschte in Chopins früheren Arbeiten ein virtuosenhafter Stil vor, so tritt in seinen späteren ein mehr dichterischer zu Tage. Seine Werke überraschen durch ihre geniale Nichtachtung althergebrachter Formen und Gesetze, durch die kühne Selbständigkeit, mit der sie an die Stelle des Alten Neues setzen, der Idee allein das Recht zugestehend, Form und Gesetz sich selber zu bedingen. Nicht aber ein revolutionärer Geist war es, der ihn dazu inspirierte, sondern der Glaube an den ewigen Fortschritt der Kunst und das stolze Bewußtsein des Genies, das Regel und Gesetz in sich selber trägt. Ihm war die Kunst ein heiliger Beruf, dem er sich mit frommer Begeisterung weihte. Darum auch fühlte sich sein reizbares, auf das Ideale gerichtete Künstlergemüt leicht verletzt durch die profanen Äußerungen Verständnisloser, und den indiskreten Versuchen, sein Talent auszubeuten, denen der Künstler so häufig begegnet, wußte er sehr scharfe Zurechtweisungen entgegenzusetzen. So, als eines Tages, nach einem Diner, das in der voreiligen Rechnung auf sein Talent und den durch dasselbe zu gewährenden Genuß eines seltenen musikalischen Desserts veranstaltet worden war, der Wirt ihn aufforderte, seinen Gästen diesen erwarteten Genuß zu verschaffen, weigerte er sich anfangs; als aber die Bitten immer zudringlicher wurden, sagte er mit fast erstickter Stimme, wie um die Wirkung seiner Worte noch zu verstärken: »Ach, mein Herr, ich habe ja fast nichts gegessen!«

Die Jahre 1835-37 fanden Chopin mehrfach auf Reisen. Nach fünfjähriger Trennung sah der inzwischen Berühmtgewordene im Sommer 1835 seine Eltern in Karlsbad wieder, wo sein Vater – er starb 1844 – die Kur gebrauchte. Dann verweilte er in Dresden und Leipzig, woselbst er auch im nächsten Jahre nach einem Aufenthalt in Marienbad flüchtig einkehrte. An letzterem Orte spielte sich ein Roman ab, der sich im September des vorausgehenden Jahres in Dresden angesponnen hatte: Chopins Liebe zu Gräfin Maria Wodzinska, über der jedoch – es wurde schon früher gesagt – kein glücklicher Stern leuchtete. Er verlobte sich mit ihr – einer talentvollen Schülerin Fields, von der er ein Thema in seinem Es-dur-Walzer op. 18 verewigt hat – am 11. September 1836 in Dresden, unter Zustimmung ihrer Mutter, die ihn »wie einen Sohn liebte.« Auch empfing er von dieser und seiner Braut, die sein (später lithographiertes) Bildnis in Aquarell malte, R1 Es ist dieser Skizze vorangestellt. mehrere von Karlowicz veröffentlichte Briefe. Maria heimzuführen aber war ihm nicht beschieden, da »ihr Vater das Los seines geliebten Kindes nicht an das Leben des kranken leidenden Musikers binden wollte.« »Temperamentloser, passiver Natur«, fügte sich die Achtzehnjährige seinem Willen, und ihr Verlöbnis löste sich, noch ehe es ein Jahr lang bestanden hatte. Nach Chopins Tode fand man in seinem Schreibpult Marias Briefe, von einem rosa Band umwunden, mit der Aufschrift vor: »Mein Leid«. Wir erfahren dies durch das von Kornelia Parnas herausgegebene »Liebesidyll Maria«, das ein von Chopin seiner Braut gewidmetes Musikalbum reproduziert und in einem Geleitwort die Mitteilungen von Karlowicz ergänzt Leipzig, Breitkopf & Härtel, 1910.

In Leipzig begrüßten namentlich Schumann und Wieck den polnischen Meister als den Auserwählten, der er in Wahrheit war. Im Jahre 1837 führte ihn ein rascher Ausflug für elf Tage nach London. Im selben Sommer auch genoß er zum ersten Male, und zwar mit Liszt und der Gräfin d'Agoult gemeinsam, die Gastfreundschaft George Sands in Schloß Nohant. Geschah es doch zu Anfang eben dieses Jahres, daß die geniale Schriftstellerin, schon damals eine der gefeiertsten Erscheinungen von Paris, in sein Leben trat und den tiefgreifendsten Einfluß auf dasselbe gewann. Sie hörte den ihr befreundeten Liszt voll enthusiastischer Bewunderung von Chopin sprechen und sein »poetisches Genie« preisen; sie lernte seine Werke kennen und, begierig auf seine Bekanntschaft, bat sie Liszt, dieselbe zu vermitteln. Chopin fühlte sich dagegen durch eine seltsame Scheu von ihr zurückgehalten. Er behauptete, er liebe schriftstellernde Frauen nicht, noch verstehe er, mit ihnen umzugehen. Nachdem Liszt sie ihm nichtsdestoweniger eines Abends zugeführt hatte, besiegte sie bald sein anfängliches Vorurteil. Ihre eigenartige Schönheit, ihr seltener Geist übten auch auf ihn, wie auf so viele andere bedeutende Männer, eine unwiderstehliche Anziehungskraft. So grundverschieden ihre Naturen waren: die seine mehr weiblich zart, die ihre mehr männlich energisch angelegt, gerade diese Gegensätze erhöhten den Reiz ihres Verkehrs. »Chopin«, sagt sie, »war das Resumé von wundervollen Inkonsequenzen, die zu schaffen Gott allein sich gestattet und die ihre eigentümliche Logik haben. Seinen Grundsätzen nach, war er bescheiden, seiner Gewohnheit nach sanft. Dabei aber war er herrisch aus Instinkt und von einem berechtigten, wenn auch ihm selbst unbewußten Hochmut erfüllt.«

Sie traten in nahe Beziehungen zueinander, und bald sehen wir George Sand mit dem Recht einer Freundin – sie nennt ihre Liebe zu ihm »une sorte d'adoration maternelle très vive« – den bisher so zurückgezogenen Meister einem weiteren Kreise zugänglich machen. Eine Anzahl der berühmtesten seiner Zeitgenossen, Repräsentanten der verschiedensten Künste, fanden sich bei ihm ein, um seinen musikalischen Offenbarungen zu lauschen. Liszt, Heinrich Heine und Adolphe Nourrit, Ferdinand Hiller und Meyerbeer, Eugene Delacroix und Ary Scheffer, Mickiewicz, Niemcewicz und Witwicki, die Poeten seines Vaterlandes, der polnische Maler Kwiatkowski, von dem mehrere der besten Porträts seines großen Landsmanns auf uns gekommen sind, versammelten sich neben George Sand und der schönen Gräfin d'Agoult um seinen Flügel und bildeten die auserlesene Zuhörerschaft, die ihm eine enthusiastische Verehrung zollte.

Schon am 28. März 1837 hatte George an Liszt geschrieben: »Sagen Sie Chopin, ich lasse ihn bitten, Sie nach Nohant zu begleiten; Marie [Gräfin d'Agoult] kann ohne ihn nicht leben, und ich bete ihn an.« Und er folgte ihrer Lockung. Da ward im Herbst des Jahres 1837 Chopin von den beängstigenden Anfällen einer Brust- und Herzkrankheit heimgesucht, die, wohl ein Erbe seines Vaters, ihn vorzeitig dem Leben entrückte. So ungern er sich sonst auch dazu verstand, Paris und seine Gewohnheiten zeitweise aufzugeben, der Arzt riet ihm zu einer Reise nach dem Süden, und George Sand, deren Sohn einen Aufenthalt auf der Insel Majorca nehmen sollte, erhörte gern Chopins Wunsch, ihn mit ihren Kindern dahin zu begleiten. Sie trafen sich in Perpignan und landeten, nach kurzem Verweilen in Barcelona, in der ersten Hälfte des November 1838 in Palma. »Ich befinde mich unter Palmen, Zedern, Kaktus, Aloe und Oliven-, Orangen-, Zitronen-, Feigen- und Granatbäumen«, schreibt Chopin am 15. November an seinen Freund Jules Fontana. »Der Himmel ist wie ein Türkis, der See wie Lapis Lazuli und die Berge wie Smaragden. Die Luft ist ganz wie im Himmel ... In der Nacht hört man überall Gitarrenspiel oder Gesang. Die Stadt, wie alles hier, weist nach Afrika. Mit einem Wort: ein reizendes Leben ... Ich bin dem Schönsten auf dieser Welt nahe, – ich bin ein besserer Mensch.«

Leider nur war diese Befriedigung von kurzer Dauer. Das Landhaus, das die Reisenden bezogen, schützte sie so unzulänglich vor Wind und Wetter, daß Chopin bald erkrankte. Die furchtsame Bevölkerung betrachtete den an einem Bronchialkatarrh Leidenden einfach als Schwindsüchtigen, von dem der Insel die Gefahr der Ansteckung drohe, und der Besitzer der Villa setzte durch, daß seine Mieter dieselbe schleunigst verlassen, zuvor aber die Kosten für Reinigung und Übertünchung des ganzen Hauses erlegen mußten, das, wie er behauptete, durch Chopin verseucht worden sei. In einer einsamen, romantisch gelegenen Karthause, Valdemosa mit Namen, fanden sie im Dezember für 1000 Frs. eine ihnen zusagende, überaus originelle Unterkunft. Doch bei allem poetischen und landschaftlichen Reiz bot dies klösterliche Obdach dem bedürfnisreichen Künstler zu geringe Bequemlichkeit. Seine Krankheit nahm zu, sie wurde lebensgefährlich und heischte die sorgsamste Pflege seitens seiner Reisegefährtin. Tagebuchblätter, die er zu jener Zeit, wie später in Paris, Nohant, Stirling-Castle in Schottland, aufgezeichnet haben soll und die die »Neue Musikzeitung« im Januar 1907 veröffentlichte, stellten sich, schon zufolge der in ihnen enthaltenen unrichtigen Daten, als gefälscht heraus. Dagegen vernehmen wir das unmittelbare Zeugnis George Sands, wenn sie aus Majorca über Chopin schreibt: »Es kann keine edlere, zartfühlendere uneigennützigere Seele, keinen treueren Genossen, keinen glänzenderen, witzigeren Geist, keine ernstere, innerhalb ihres Bereichs vollkommenere Intelligenz geben – aber ach! auch keine ungleicher gestimmte Natur, keine umschattetere, fieberhaftere Phantasie, keine empfindlichere Reizbarkeit, keine unmöglicher zu befriedigenden Herzensansprüche. Doch war dies nicht seine Schuld, sondern die seiner Krankheit. Sein Gemüt war wund, die Falte eines Rosenblatts, der Schatten einer Fliege machten es bluten. Außer mir und meinen Kindern war ihm alles antipathisch .. Er war ein unleidlicher, bis zur Verzweiflung kleinmütiger Kranker.«

Genug, der winterliche Aufenthalt auf der mit allen Wundern des Südens ausgestatteten Zauberinsel erwies sich für ihn, nach George Sands Worten, als »ein entsetzliches Fiasko«. Noch ehe er Palma im Februar 1839 verließ, erlitt er einen »furchtbaren Blutsturz«. Zu langer Ruhe sahen sie sich infolgedessen in Marseille gezwungen. Erst Ende Mai konnten sie nach Nohant, der Besitzung George Sands, aufbrechen, nachdem es ihnen zuvor vergönnt war, auf einem kurzen Ausflug zu Schiff nach Genua wenigstens mit einem Blick Italien zu streifen.

Nur teilweise wiederhergestellt, war Chopin aus dem Süden zurückgekehrt; geheilt von seinem Leiden war er nicht. Seine Gesundheit blieb unablässigen Schwankungen unterworfen, seine Nervosität wuchs beständig. Einzig während der Monate, die er allsommerlich in Nohant bei seiner Freundin zubrachte, mit der er in den Jahren 1840-47 auch in Paris die Wohnung teilte, fühlte er Linderung. Dort, in dem Musenhof der Romantik, wo sich die bedeutendsten Zeitgenossen Stelldichein gaben und die apartesten Unterhaltungen ersannen – wo man u. a. auf der kleinen Hausbühne nach hinter der Szene angeschlagenen schriftlichen Skizzen allerlei Dramen und Komödien improvisierte, die Chopin, wie früher Liszt, auf dem Klavier mit Humor und Genie musikalisch illustrierte – sammelte er frische Kräfte. Mochten auch manche der sich dort zusammenfindenden Elemente seinem aristokratischen Sinn wenig zusagen, sein Schaffenstrieb schien auf dem Land belebter, so daß er stets mit einer ansehnlichen musikalischen Ausbeute heimzukehren pflegte. Mit jedem Winter aber steigerte sich sein Leiden, umso mehr als er sein aufreibendes geselliges Leben trotz ärztlichen Verbotes nicht aufgab.

Im Frühjahr 1847 verschlimmerte sich sein Zustand und er verfiel in eine Krankheit, von der er sich nicht wieder zu erheben glaubte. Er wurde noch einmal gerettet, doch lebte er infolge eines verhängnisvollen Ereignisses, das sich augenscheinlich im Sommer 1847 zutrug, nur mit dem Tod im Herzen weiter. Seine Freundschaft mit George Sand erlitt einen unheilbaren Bruch. Die Dichterin selbst begründet ihn in ihrer » Histoire de ma vie« durch einen Streit Chopins mit ihrem Sohne Maurice, den zu schlichten sie für recht hielt. »Er senkte das Haupt und sagte, daß ich ihn nicht mehr liebte.« Dagegen erklärte ihn Franchomme, einer der nächsten Freunde des Musikers, damit, daß Chopin, nach einem Zerwürfnis George Sands mit ihrer seit dem Mai an den Bildhauer Clesinger verheirateten Tochter Solange und zunächst mit deren Gatten, diese gegen den Wunsch ihrer Mutter bei sich empfangen habe. Scharlitt sieht, auf einem der von Karlowicz veröffentlichten Briefe Chopins fußend, den Anlaß in einem neuen Verhältnis der Sand mit Victor Borie, um deswillen sie ihre Tochter verheiratete und ihren Sohn durch eine Liebesaffäre beschäftigte, gegen welche Dinge Chopin protestierte und das Haus verließ. Jedenfalls stimmten alle Freunde Chopins darin überein, daß die geniale Schriftstellerin des immer leidenderen, überaus reizbaren und trübe gestimmten Freundes, den sie selbst »einen unausstehlichen Patienten« nennt, überdrüssig geworden war. Gewiß ist, daß sie sich, kurz nachdem sie in dem Roman »Lucrezia Floriani« sich selbst als Titelheldin und Chopin als Fürsten Karol in nicht eben zartfühlender Weise porträtiert hatte – obgleich sie selbst dem widerspricht – trennten, um sich nie wieder zu vereinigen. Chopin selbst öffnet sich seiner Schwester Louise gegenüber am Weihnachtstag 1847 mit den Worten: »Solange war in Nohant, aber ihre Mutter hat sie kalt empfangen und ihr gesagt, wenn sie sich von ihrem Mann trenne, könne sie wieder nach Nohant kommen. Sol fand ihr Hochzeitszimmer in ein Theater, ihr Boudoir in eine Schauspielergarderobe umgewandelt... Jetzt scheint die Mutter gegen ihren Schwiegersohn noch erzürnter als gegen ihre Tochter, obgleich sie mir in ihrem Briefe schrieb, daß ihr Schwiegersohn nicht schlimm sei, daß nur ihre Tochter ihn schlimm mache. Man möchte glauben, daß sie sich mit einem Male sowohl ihrer Tochter als meiner entledigen wollte, weil wir ihr unbequem waren. Sie glaubt gerecht zu sein und stellt mich als ihren Feind dar, weil ich für ihren Schwiegersohn Partei genommen habe, den sie einzig darum nicht leiden kann, weil er ihre Tochter geheiratet hat [er hatte diese, was Chopin verheimlicht wurde, zuvor verführt]; während ich mich so sehr ich konnte dieser Heirat widersetzt habe.

Seltsames Wesen bei all ihrer Intelligenz! Ein Wahn ergreift sie, sie zerstört ihr Leben gleich dem ihrer Tochter. Auch mit ihrem Sohne wird es schlimm enden, ich sehe es voraus. Zu ihrer Entschuldigung sucht sie das Unrecht bei denen, die ihr Bestes wollen, die an sie glauben, die ihr nie etwas angetan haben – die sie aber nicht um sich dulden kann, weil sie der Spiegel ihres Gewissens sind. Darum hat sie mir kein Wort geschrieben, darum kommt sie diesen Winter nicht nach Paris, darum sprach sie kein Wort mit ihrer Tochter. Ich beklage nicht, ihr die acht köstlichsten Jahre ihres Lebens, in denen ihre Tochter, ihr Sohn heranwuchsen, tragen geholfen zu haben; aber ich beklage, daß ihre Tochter, diese sorgsamst gepflegte, vor so vielen Stürmen behütete Blume, von den Händen der Mutter mit einer Unklugheit, einer Leichtfertigkeit geknickt wurde, die man wohl einer Frau von zwanzig, aber keiner von vierzig Jahren verzeihen kann... Madame Sand kann nur ein gutes Andenken an mich in ihrer Seele bewahren.«

Noch einmal, am 10. Februar 1848, berührt ein Brief Chopins an seine Familie die schmerzliche Angelegenheit: »Ich habe ein Kreuz darüber gemacht. Mag Gott sie behüten, wenn sie wahre Anhänglichkeit nicht von Schmeichelei zu unterscheiden weiß. Doch vielleicht erscheinen die andern nur mir als Schmeichler, indes ihr Glück in Wahrheit da ist, wo ich es nicht sehe ... Den Spuren einer derart kapriziösen Seele vermag niemand zu folgen. Acht Jahre eines geordneten Lebens waren zu viel. Aber vielleicht sind das die Bedingungen ihrer Existenz, ihres schriftstellerischen Talentes, ihres Glücks? Kränke Dich nicht darüber, es liegt hinter mir. Die Zeit ist ein großer Heilkünstler. Bis jetzt bin ich noch nicht wiederhergestellt. Darum schreibe ich auch nicht; ich verbrenne alles, was ich anfange. Warum muß man denn schreiben? ... Es ist so lange her, daß wir uns ohne Kampf, ohne Szene sahen! Und ich könnte zu ihr gehen unter der Bedingung, daß ich von ihrer Tochter schwiege ... Madame Sand unterhält wenigstens einen kalten Briefwechsel mit ihrer Tochter. Das freut mich, denn so existiert doch noch ein Band zwischen Mutter und Tochter.

In einem vom 19. August 1848 aus Schottland an seine Mutter gerichteten wichtigen Briefe spricht Chopin sich sodann noch im Sinne der vorerwähnten, von Scharlitt gegebenen Erklärung deutlich aus.

Nur einen Augenblick sahen sie sich, wie George Sand erzählte, im März 1848 noch einmal wieder. Sie »faßte seine zitternde, eiskalte Hand und wollte zu ihm reden – er aber wandte sich ab«. Sein eigener Bericht lautet anders.

Mit furchtbarer Schwere ward Chopin von dieser Trennung betroffen. Er fühlte und sprach es aus, daß mit diesem Freundschaftsbande der letzte Faden zerriß, an dem sein Leben noch hing. Aber bis zum letzten Atemzuge gehörte ihr sein Herz, und mit bittersüßer Selbstpein überließ er sich immer von neuem der wehmütigen Erinnerung an sie und die Zeiten vergangenen Glückes.

Im Frühjahr 1848, nach der in Paris ausgebrochenen Februarrevolution, beschloß er, eine Reise nach London zur Ausführung zu bringen. Dachte er in der Tat, wie man glaubte, an eine Übersiedlung nach England, um der beständigen Mahnung an seinen Verlust zu entrinnen? Bevor er Paris verließ, gab er am 16. Februar noch ein Abschiedskonzert bei Pleyel, und seine Freunde hörten ihn daselbst zum letzten Male.

Am 21. April kam er in London an, wo sich zur selben Zeit Kalkbrenner, Hallé, Thalberg, Berlioz, Pauline Viardot-Garcia, Jenny Lind und andere Zelebritäten befanden. Bei der Herzogin von Sutherland wurde er der Königin vorgestellt; er spielte bei Hofe, und die ersten Häuser Englands erblickten eine Ehre in seinem Besuche. Man sah ihn viel in Gesellschaft, obwohl er so schwach war, daß er sich die Treppen herauftragen lassen mußte. Er spielte mehrmals in Soireen und veranstaltete in Privathäusern am 23. Juni und am 7. Juli Matineen gegen Entree. Welche Qual ihm das Öffentlichspielen auch verursachte und wie sehr es insbesondere jetzt über seine Kräfte ging, die Notwendigkeit zwang ihn, auf eine Einnahmequelle bedacht zu sein. Auch in Manchester, Glasgow und Edinburg konzertierte er im August, September und Oktober; doch war ihm das Klima in Schottland, wo er der Gast der Verwandten seiner Schülerin Miß Stirling war, so nachteilig, daß er sich bei seiner Rückkehr von dort sehr krank fühlte. Seine Schwermut, sein Lebensüberdruß steigerten sich. »Ich habe niemals jemandem geflucht«, schreibt er im November an Grzymala, »aber jetzt bin ich so lebensmüde, daß ich nahe daran bin, Lucrezia zu verfluchen!« Und an anderer Stelle äußert er: »Ich kann nicht trübseliger werden als ich schon bin; eine wirkliche Freude habe ich seit langem nicht empfunden. Eigentlich fühle ich überhaupt gar nichts, ich vegetiere nur und warte geduldig auf mein Ende.«

Die Ärzte rieten ihm dringend, England so bald als möglich zu verlassen; dessen ungeachtet verzögerte er seine Abreise noch längere Zeit. Er spielte, obwohl, wie ein Ohrenzeuge mitteilt, »im letzten Stadium der Erschöpfung«, am 16. November noch in einem zum Besten der polnischen Emigranten veranstalteten Konzert, das mit einem Ball verbunden war, und damit gab er seinem Vaterlande ein letztes Liebeszeichen. Dennoch fand ihn der Januar 1849 noch immer in dem ihm »unerträglichen London«. Endlich entschloß er sich zur Heimreise. Bei seinem Freund und Landsmann Grzymala bestellte er sich einen der Pleyelschen Flügel, die er wegen ihres umschleierten Klanges und leisen Anschlags bevorzugte, und einen Veilchenstrauß, damit es im Salon angenehm dufte. Er mußte ja Blumen, am liebsten Veilchen, stets um sich haben. »Ich möchte«, schreibt er, »ein wenig Poesie in meinen Räumen finden; auch in meinem Schlafzimmer, wo ich aller Wahrscheinlichkeit nach für lange Zeit liegen werde.«

Eine schmerzliche Überraschung harrte seiner bei der Rückkehr. Sein alter bewährter Arzt, Dr. Molin, starb plötzlich. Eine Art abergläubischer Niedergeschlagenheit bemächtigte sich des Kranken; er wußte, daß er verloren sei. Selbst die Kunst konnte ihm keine Erhebung, keinen Trost mehr bringen. Er war nicht mehr fähig zu spielen, zu unterrichten. Dem Schaffen hatte er schon früher entsagen müssen. Seit dem Oktober 1847 hatte er nichts mehr veröffentlicht. Peinlichste, angestrengteste Sorgfalt pflegte er von je auf die Herausgabe seiner in eleganter, zierlicher Schrift aufgezeichneten Werke zu verwenden. Er, dessen Seele ganz Musik war, dessen Phantasiereichtum in seinen Improvisationen die Bewunderung der größten Meister erregte, bedurfte – nach George Sand – sobald es sich darum handelte, die ihm ungesucht zuströmenden Gedanken in feste Formen zu bannen und das Entworfene auszugestalten, tagelanger Einsamkeit, »Der Verdruß, nicht alles, wie er es wünschte, zusammenzubringen, setzte ihn in einen Zustand der Verzweiflung. Er weinte, lief auf und ab, zerbrach seine Feder und veränderte einen Takt hundertmal. So konnte er sechs Wochen bei einer Seite zubringen, um sie schließlich so zu schreiben, wie er sie am ersten Tage auf das Papier geworfen hatte.«

Die von ihm hinterlassenen Manuskripte sollten, als unvollkommene Arbeiten, auf Wunsch des Autors unveröffentlicht bleiben. Gleichwohl wurden sie als op. 66-74 von Fontana 1855 herausgegeben. Alles unvollendet Gebliebene bestimmte er der Vernichtung. Auch eine Klavierschule, die er zu schreiben beabsichtigte, kam, wie es scheint, nicht über die ersten Anfänge hinaus.

Selbst in guten Tagen, wo ihm sein Einkommen ein behagliches Leben gestattete, war Chopin kein kluger Haushalter gewesen. Nun drohte ihm zufolge völliger Arbeitsuntauglichkeit Bedrängnis. Seine hochherzige Schülerin, Miß Stirling, die ihn seit 1837 mit Aufmerksamkeiten überhäufte, sandte ihrem Meister 25 000 Frs. Sie fielen in unehrliche Hand und gelangten erst auf Umwegen zu ihm. Doch nahm er nur einen Teil der reichen Gabe an.

Mittlerweile verschlimmerte sich sein Leiden so sichtlich, daß alle Hoffnung auf Wiedergenesung schwand. Seine älteste Schwester, Louise Fedrzejewicz, an die ihn, wie an alle seine Angehörigen, die innigste Liebe kettete, eilte auf die Nachricht von seinem trostlosen Zustande mit Gatten und Tochter von Warschau an sein Schmerzenslager herbei und blieb ihm zur Seite bis zum letzten Augenblick. Alle seine Freunde, zumal sein Schüler Gutmann und die Fürstin Czartoryska, wetteiferten, ihn mit liebevoller Pflege zu umgeben. Von Woche zu Woche lagerten sich die Schatten des Todes dichter über ihm; doch heitern Gemüts sah er demselben entgegen und die Klarheit seines Bewußtseins verließ ihn nicht bis ans Ende. Als zunehmende Atemlosigkeit ihn am Sprechen hinderte, schrieb seine Hand die letzten Worte nieder: » Comme cette toux m'étouffera, je vous conjure de faire ouvrir mon corps, pour [que] je [ne] sois pas enterré vif.« Die heimatliche Erde, die er einst bei seinem Abschied aus dem Vaterlande mitgenommen und die er neunzehn Jahre lang pietätvoll aufbewahrt hatte, sollte, so bat er, seinen Sarg bedecken, sein Herz aber dem Lande übergeben werden, »über dem die Sonne seiner glücklichen Jugend gestrahlt hatte«. So fand seine Liebe zur Heimat noch in seinem letzten Willen ihren letzten rührenden Ausdruck.

Am 15. Oktober 1849 erschien sein Zustand bedenklicher denn je und erregte die schmerzlichsten Befürchtungen seiner Freunde. Die Gräfin Potocka war von Nizza herbeigeeilt, um ihn noch einmal zu sehen. Er gewahrte sie kaum, als er sie bat, ihn noch einmal die Stimme hören zu lassen, die er so sehr liebte. Das Klavier im Salon wurde an die Tür seines Schlafgemachs gerollt und die Gräfin, obwohl von der schmerzlichen Aufregung überwältigt, hatte dennoch die Kraft, dem letzten Wunsche ihres Freundes zu willfahren und sang, während unaufhaltsame Tranen ihre Wangen überfluteten. Es war die letzte Musik, die er hienieden vernahm. Er befand sich indessen schlechter. Alle wurden von Schreck ergriffen und sanken, hingerissen von einer unwillkürlichen Regung, betend auf die Knie. Und die Nacht brach herein und ein Halbdunkel breitete seine geheimnisvollen Schatten über das traurige Bild.

Am folgenden Morgen empfing der Kranke die heiligen Sterbesakramente. Sie wurden ihm von dem ihm befreundeten polnischen Abbé Jelowicki in Gegenwart seiner Freunde gereicht. Darauf winkte er einen nach den andern derselben an sein Bett und erteilte jedem seinen letzten Segen. Unter den Tröstungen seiner Religion nahm sein tiefgläubiges Gemüt Abschied vom Leben. Der Frau, die er bis zu seiner letzten Stunde liebte und schwer vermißte, gedachte er noch kurz zuvor, indem er zu Franchomme äußerte: »Sie hatte mir gesagt, ich würde in keinen andern, als in ihren Armen sterben.« Auch George Sand hatte, wie sie in ihrer Lebensgeschichte bezeugt, das Verlangen, Chopin noch einmal zu sehen; doch die Besorgnis seiner Freunde, daß ihn dies allzusehr aufregen würde, hielt sie zurück, den Wunsch des Sterbenden zu erfüllen. »Man tat recht damit«, sagt sie, »wenn die Erregung eines Wiedersehens mit mir sein Leben um einen Tag oder eine Stunde nur hätte verkürzen können.«

Von Erstickungsanfällen gepeinigt, wurde der Kranke meist von den Armen Gutmanns im Bett aufrecht sitzend erhalten. Der Angabe seiner Biographen, daß sein treuer Schüler auch beim Ende seines Meisters gegenwärtig gewesen sei, widersprach, laut Leichtentritt, die Nichte Chopins, die bei dessen Tode anwesend war. Seine letzten Worte waren: »Mutter, meine arme Mutter!« In erster Morgenfrühe des 17. Oktober, gegen halb drei Uhr hauchte er schmerzlos seinen letzten Seufzer aus.

Lange Zeit flossen die Tränen, die man über ihn weinte, der ein Liebling vieler gewesen war. Man brachte dem Toten die Blumen, die der Lebende einst so geliebt, und wie in einem Garten schien er zu ruhen unter ihrer bunten, duftenden Blütenpracht. Am 30. Oktober 1849 fand die Leichenfeier in der Kirche Sainte-Madeleine statt. Die ersten Pariser Künstler wirkten dabei mit. Chopins Trauermarsch, der zu diesem Zwecke von Reber instrumentiert worden war, eröffnete die Feier; in Mozarts Requiem fand sie im Sinne des Verklärten ihren Höhepunkt. Meyerbeer führte mit dem Fürsten Adam Czartoryski den Leichenzug; die Zipfel des Bahrtuches trugen Fürst Alexander Czartoryski, der Maler Delacroix und die Musiker Franchomme und Gutmann. In der Nähe von Cherubini und Bellini, Des letzteren Asche wurde 1876 nach Catania übergeführt. Grétry und Boieldieu hat man dem Frühvollendeten im altehrwürdigen Père-Lachaise seine letzte Ruhestatt bereitet, die seine Freunde 1850 durch ein von Clésinger modelliertes Grabmal schmückten. Polen feierte seinen größten Tondichter zunächst mit einem Monument, das, in der Heiligen Geistkirche zu Warschau am 22. Februar 1880 enthüllt, am 6. März desselben Jahres das Herz des Künstlers aufnahm, das wie im Leben, noch im Tode seinem Vaterlande gehören sollte. Doch seine Pietät ließ sich damit noch nicht genügen. Auch Zelazowa Wola, der Geburtsort Chopins, sowie Krakau widmeten ihm ein Denkmal. Paris folgte 1896 mit einem solchen im Park Monceau. Selbst Reinerz verewigte 1897 die Erinnerung an den Aufenthalt des jugendlichen Künstlers im Sommer 1826 und sein daselbst veranstaltetes Wohltätigkeitskonzert in Stein.

Aber noch ein ander Denkmal ward ihm errichtet von Freundeshand, das uns sein Wesen, seine ganze Persönlichkeit in voller Schönheit vor Augen führt. Ein warmer Lebenshauch ruht auf demselben, ein stiller Glorienschein scheint über ihm zu schweben – und der Meister, dem wir dies Kunstwerk danken, ist Franz Liszt. Er, der nächst Chopin selber einst der vollkommenste Interpret der Schöpfungen des polnischen Künstlers war, hat in seinem »F. Chopin« Paris 1852. Cinquiéme Ed. Leipzig, Breitkopf & Härtel. Deutsche Ausgabe von La Mara. 1880. Ebd. 3. neubearbeitete Aufl. 1910. Auch in Volksausgabe erschienen. ein Charakterbild des Menschen und Künstlers gezeichnet, das wie kein andres Buch dazu beigetragen hat, das Verständnis des Tonmeisters der Mit- und Nachwelt zu erschließen. Wer Chopin wahrhaft kennen und verstehen lernen will, wird immerdar bei Liszt sich Rats erholen müssen, wie das Originalbild seiner Meisterhand auch zu dieser Skizze die Anregung gab.

Werfen wir noch einen kurzen Blick auf die Werke, die uns Chopin geschenkt, so gewahren wir eine Fülle des dem Schönsten Beizählenden, was die nachklassische Zeit auf musikalischem Gebiet überhaupt hervorgebracht hat. 65 Opera sind es, die zu des Tondichters Lebzeiten herausgegeben wurden; neun erschienen als oeuvres posthumes, acht ohne Angabe der Opuszahl, und diese Werke gehören, mit Ausnahme eines einzigen Lieder-Opus, ausschließlich der Klaviermusik an. Selbst wo er, wie in seinen Konzerten, dem Trio, dem Duo concertant, andere Instrumente zuzieht – für das elegische Cello hatte er eine besondere Vorliebe – geschieht dies nur begleitweise, die Prinzipalstimme bleibt dem Pianoforte zuerteilt.

Die Versuchung, sein tonschöpferisches Vermögen auch innerhalb weiterer Grenzen und Formen zu erproben, trat, wir wissen es, auch an Chopin heran. Wenigstens geht aus seinem Schreiben an Elsner vom 14. Dezember 1831 hervor, daß er ein Jahr früher an Komposition einer ihrem Stoff nach der polnischen Geschichte entnommenen Oper dachte. »Heute«, sagt er, »sind alle derartigen Hoffnungen vernichtet. Ich fühle mich darauf angewiesen, meinen Weg in der Welt als Pianist zu machen.« Auch drei Jahre später mahnt Elsner seinen ehemaligen Schüler noch einmal an eine Oper. Doch der Plan wird bald darauf wieder aufgegeben. Chopin fühlt sich, so äußert er, »für die Oper nicht gelehrt genug«. »Statt darnach zu streben, ein Shakespeare zu werden, begnügt er sich, ein Uhland zu sein.« Er bedurfte nicht der großen Mittel, um den Reichtum seines Genies kundzutun. Die Natur schuf ihn zum Meister der kleinen Formen, des Details. Für größere Formen, für die Oper zumal, fehlte seinem künstlerischen Naturell die markige konstruktive Kraft, die souveräne Herrschaft über den gesamten vokalen und instrumentalen Apparat, vor allem die Fähigkeit, sich in andere, ihm gegensätzliche Charaktere einzuleben, sie plastisch hinzustellen. Er war ein individueller Komponist, seine Tonsprache eine ausschließlich klavieristische. Seine Originalität versagt, sobald er für ein anderes Instrument schreibt als das Klavier; seine Erfindung scheint gefesselt, wenn er orchestral denken will. Das beweisen seine Konzerte, in denen sich, wie Berlioz mit Recht sagt, »das ganze Interesse auf die Klavierpartie konzentriert, das Orchester aber nichts als eine kalte, nahezu unnütze Begleitung darstellt.« Deshalb haben Klindworth und Tausig diese beiden Konzerte uminstrumentiert. Chopins Mission lag im Schaffen unnachahmlicher Klaviermusik. Voll klarer Selbsterkenntnis griff er nicht hinaus über die ihm von Natur gesetzten Schranken, sondern erblickte seine Aufgabe in Bereicherung der Tonkunst durch neue Elemente zur Darstellung feinster Stimmungsnuancen, wie sie bisher »dem Bereich des Unausgesprochenen angehört hatten«. In dieser Beziehung haben nicht nur die Klavierkomponisten, sondern alle hervorragenden Tonschöpfer, die nach ihm kamen, von seinem Genius gelernt. In den selbst gewählten Kreis hat er epochemachend eingegriffen und auf die Entwicklung desselben den bedeutungsvollsten Einfluß gewonnen. Er hat die Individualität des Pianoforte weiter ausgebildet und es zu einer Macht, einer Selbständigkeit erhoben, die es des Orchesters fast unbedürftig erscheinen läßt. Er bereicherte die Melodik, indem er eine ihm ganz speziell eigene, ebenso pikante als anmutige, vergeistigte Ornamentik in der Hauptstimme wie in der Begleitung anwendete; wie denn auch seine Passagen und Fiorituren nie willkürlich ersonnen, sondern aus der thematischen Behandlung erwachsen scheinen. Er erweiterte in kühner Weise die Harmonik, vor allem durch seine oft so überraschend wirkenden Progressionen und chromatischen und enharmonischen Wendungen. Gebrochener Akkordpassagen in weiten Lagen, verminderter Akkorde und namentlich des Septimen-Akkordes bedient er sich vorzugsweise gern und erzielt z. B. vermittelst Enharmonisierung des letzteren, durch die er den Hauptgedanken wieder einzuführen liebt, besonders schöne Effekte. Endlich verlieh er der Rhythmik, namentlich durch Einführung seines Tempo rubato, das man in dieser Weise vor ihm in der Kunstmusik nicht kannte, eine bis dahin ungeahnte Mannigfaltigkeit und Elastizität.

Aber auch verschiedene neue Kunstgattungen hat Chopins poetisches Genie der Musik erschlossen, wie er bereits vorhandene in durchaus eigenartiger Weise zu behandeln und umzugestalten verstand. Wir finden unter seinen Kompositionen Balladen und Präludien, Nocturnes und Scherzi, Impromptus und Boleros und andere bis dahin wenig oder gar nicht gebrauchte Kunstformen. Nicht minder sehen wir das Konzert und die Sonate, die großen uns aus klassischer Zeit überkommenen Formen der Klaviermusik, unter denselben vertreten. »Mehr Absicht als Inspiration« erkannte Liszt in diesen letzteren Darbietungen seines Freundes. Weniger bereitwillig eben fügt sich der kühne Flug seiner Phantasie den strengeren Formen, und das, was man thematische Arbeit nennt, war nicht Chopins Stärke. Er war kein Denker, kein Logiker, und doch – welcher Reiz, welche Anmut, welch poetischer Duft und Glanz sind über seine beiden Konzerte in E- und F-moll op. 11 und 21 ausgegossen, denen wir häufig in den Konzertprogrammen begegnen und die dem Virtuosen, in dessen Seele diese sein besaitete Musik einen unmittelbaren Widerhall findet, eine der dankbarsten Aufgaben darbieten. Das zweite und bedeutendere, das aber das früher geschriebene und inspiriertere ist, enthält das schon erwähnte, wunderbar schöne Adagio mit seinem lieberfüllten Gesang, das Liszt als »von wahrhaft idealer Vollendung« bezeichnet und das der Tondichter selbst mit Vorliebe spielte. Einer ungleich geringeren Verbreitung durften sich lange die vier Sonaten rühmen, die er geschrieben; obgleich die weitaus bedeutendsten derselben, die in B-moll op. 35 und H-molI op. 58, durch Rubinstein, d'Albert, Friedheim, Barth, Backhaus u. a. allmählich öfters im Konzertsaal gehört wurden. Einheitliche regelrechte Sonaten sind sie freilich nicht; es sind phantasiereiche Gedichte. Meint doch Schumann von der B-moll- Sonate, der Komponist habe darin »vier seiner tollsten Kinder zusammengekoppelt«. Nichtsdestoweniger ist sie das gewaltigste seiner Werke größerer Form. Originalität und Kraft wohnen jedem ihrer Sätze inne. Aus dem letzten, gespenstisch vorüberhuschenden hörte Rubinstein »nächtliches Windessausen über die Gräber auf dem Friedhofe« heraus. Der ihm vorangehende berühmte Marche funèbre ist weiter als die übrigen Tonschöpfungen des Autors hinausgedrungen in die Welt. Für die eigene Totenfeier Chopins zuerst instrumentiert, haben seine ergreifenden Klänge seitdem manchen großen Toten zur letzten Ruhe geleitet. Die überaus anziehende H-moll-Sonate enthält ihr Herrlichstes im ersten Satz, der eine Fülle edelster Tongedanken ausströmt. Minder Spontanes gibt die Cello-Sonate op. 65, obwohl auch in ihr des Schönen und Interessanten genug sprießt. Auch in die Form eines Trios (op. 8) suchte Chopin seine musikalischen Phantasien zu bannen. Es gehört zu seinen frühesten Arbeiten, bei denen der Komponist dem Virtuosen noch gewisse Zugeständnisse machte. Voll Eigentümlichkeit und Empfindungsadel, ist es jedoch sicherlich einer weitergehenden Beachtung wert, als man sie ihm geschenkt hat.

Unter den vier Scherzi, einer in dieser Weise erst durch Chopin ausgebildeten Kunstform, bei der sich der Scherz freilich in dunkle Schleier hüllt, haben die in H-moll op. 20 und B-moll op. 31 die weiteste Verbreitung gefunden und mit Recht. Schumann nannte das letztere »nicht uneben einem Byronschen Gedicht zu vergleichen, so zart und keck, so liebe- und verachtungsvoll,« und in Wahrheit, gibt es wohl etwas Düstereres und zugleich Holderes, etwas so glühend Schmerzenvolles und hinreißend Leidenschaftliches als dieses Tongemälde in solch' kleinem anspruchslosen Rahmen? So tief grollen und so heiß lieben, so himmelhoch jauchzen und so zum Tode betrübt sein kann nur Chopin, dieser einzige Meister. Aber selbst unter seinen Werken findet sich vielleicht nur noch die Ballade in G-moll op. 23, die, als ein ähnliches Stimmungsbild, sich jenem Scherzo zur Seite stellen ließe. Sie ist die großartigste und kühnste der meisterlichen vier Balladen, zu denen Chopin durch die Gedichte seines Freundes und Landsmannes Mickiewicz die Anregung empfing. Noch häufiger gehört und gespielt ist die dritte derselben in As-Dur op. 47, die anmutiger und gewinnender an Form, aber minder großgeartet ist. Ihnen schließt sich die zweite, als mehr idyllischen Charakters, die vierte, als die technisch schwierigste, an.

So bieten seine leidenschaft-durchglühte Phantasie op. 49, die in tiefste Schwermut getauchte Polonaise-Phantasie op. 61, die Impromptus, die Berceuse, die Barcarolle, die Variationen, die Rondos und Walzer, all' seine dem feinsten Salongenre ungehörigen Arbeiten viel des Schönen und Besonderen: allenthalben, ist es ein neuer Geist, der die alten Formen durchdringt und mit frischem Lebenshauch beseelt. Völlig poetisch verklärt zumal erscheint bei ihm die Etüde. Sie ist, ohne darum ihrer ursprünglichen Bestimmung entrückt zu sein, zum vollendeten Gedicht geworden; dabei von außerordentlicher Mannigfaltigkeit des Charakters. Man vergegenwärtige sich nur die wie im leisen Zwiegespräch der Liebe redende Etüde in Cis-moll op. 25, oder die tragische C-moll op. 10, die nach dem Fall Warschaus entstanden sein soll. Einen unvergleichlichen Schatz duftigster Poesie eröffnen uns seine Präludien und Notturnos. Das sind echte Träumereien, echte Bilder der Nacht, aus Feenzauber und Mondesglanz, aus Herzeleid und Herzensfreud zusammengewoben. Süße Lockstimmen und ernste Klagelaute, fromme Gebete und bittere Seufzer, seliges Liebesgeflüster und herbe Verzweiflungstöne klingen darin wieder: aber die reinen Harmonien überstimmen die Dissonanzen, die Schmerzen lösen sich in der geläuterten, überirdischen Atmosphäre, die darin atmet. Es scheint, als habe sich Chopin am befreitesten in eben dieser Welt gefühlt, als habe er sich gern zu ihr geflüchtet und bei ihr Vergessenheit gesucht für die Kämpfe und Nöten seines Daseins, jene Kämpfe, von denen seine Lippen so standhaft schwiegen und seine Werke doch so unverhülltes Zeugnis geben, und deren nicht geringsten einer der täglich sich erneuende Kampf war zwischen seiner Willensstärken Seele und seinem schwachen, vorzeitig gebrochenen Körper.

Und noch eine andere Welt war es, zu der seine Phantasie oftmals ihre Zuflucht nahm: die Welt seiner Vergangenheit, seiner Jugendzeit. Wie oft er zu derselben zurückkehrte, wir wissen es, auch wenn sein Mund es niemals ausgesprochen hätte – seine Werke geben es kund. Oder sind nicht die reiche Anzahl vaterländischer Tanzweisen, all die pikanten Mazurken, die glanzvoll heroischen Polonaisen, die er uns hinterlassen – Pindarische Siegeshymnen nannte sie Lenz – der vollgültigste Beweis dessen? In ihnen, köstlichen Genrebildern voll Leben und Wahrheit, erscheint Chopins Individualität am charakteristischsten ausgeprägt, die verschiedenen Richtungen und Stimmungen seines Naturells zeigen sich hier vereinigt. Die weibliche Schwärmerei und die männliche Ritterlichkeit, die sehnsüchtige Zärtlichkeit und der trotzig kühne Stolz seines Wesens, der feine Duft der ihn umgebenden Salonatmosphäre werden hier allenthalben erkennbar. Aus jeder Note tönt sein Herzschlag. In seinen Tänzen tanzt, wie George Sand sagt, der Schmerz mit der Lust. Das gilt von dem kleinsten der Walzer (man sagt, sie seien nur für Komtessen komponiert,) und Mazurken – die Mazurka senza fine, die er noch wenige Tage vor seinem Tode komponierte, war sein melancholisches Schwanenlied – wie von den majestätischen Polonaisen, deren berühmteste in As-dur unter dem Einfluß einer wunderbaren Vision entstand. In der A-dur-Polonaise sah Rubinstein, Chopins begeisterter Verehrer, das Bild von Polens Größe, in der C-moll das von Polens Untergang.

Wohl niemals vor und nach Chopin ist das Wesen des Tanzes so idealisch aufgefaßt, nie ein so tiefer Sinn und Gehalt ihm unterbreitet worden. Etwas wie eine nationale Macht ruht in diesen Klängen – Schumann nannte sie unter Blumen versenkte Kanonen –, die das darniedergeworfene und zerrissene Volk der Polen immer von neuem an seine Zusammengehörigkeit mahnen wird. Es ist eben ein Leben allein, das, unbeschadet ihrer Mannigfaltigkeit, in allen seinen Werken atmet, und dieses ist das ureigene Leben ihres Schöpfers selbst. Aber wie sein Leben an dasjenige seines Volkes gebunden war, so mußten auch in dem Spiegelbild desselben, das seine Schöpfungen darbieten, die nationalen Vorzüge wie Schwächen vereint erscheinen. Und fürwahr, wer fände in ihnen nicht jenes seltsame Gemisch von Schwärmerei und Haß, Grazie und Wildheit, Glut und Wunderlichkeit, Adel und kranker Exzentrizität, das dem polnischen Charakter eigen, und das erst in den späteren vollendetsten Erzeugnissen des Meisters zurücktritt hinter einem allgemeineren, idealen Gehalt, in dem Maße, als sein Geist, seine Anschauungen sich universeller gestalteten? »Der Künstler soll in seiner Nationalität nicht untergehen,« hat einer unserer großen Meister gesagt. Auch Chopin ist darin nicht untergegangen – er ist vielmehr aufgegangen in derselben. Und so wie wir zuweilen einen Dichter oder Künstler erscheinen sehen, der den poetischen Sinn und Gehalt seines Volkes und seiner Zeit in sich zusammenfaßt und in seinen Schöpfungen repräsentiert, so ward auch Chopin der Poet des Landes und der Zeit, die ihn geboren. Er hat dies Resultat nicht gewollt und gesucht, nicht im voraus schuf er sich ein solches Ideal, als eine freie Gunst der Natur vielmehr ist es ihm geworden. Er sang nur das, was sein Herz ihm eingab, die einfachen Empfindungen seiner Seele, die freilich mit denen seines Volkes verwachsen waren. Er ließ die glänzenden Bilder seiner Kindheit und Jugend, die bunten Traumgestalten seines Lebens lebendig werden vor seinen Blicken und indem er sie in seine Werke bannte, gab er sowohl seinem eigenen Ideal als dem seines Volkes Ausdruck. Er selber aber ist zur Idealgestalt geworden. Schon schläft er mehr denn sechs Jahrzehnte in fremder Erde, fern den Seinen, die er so sehr geliebt, und dennoch lebt er fort in ewiger Jugendschöne, ein unvergängliches Leben. Stolz nennt sein Vaterland den Namen Frédéric Chopin, als seiner treusten Söhne einen; uns aber gilt mehr der höhere Ruhm, daß er bis zum Tode treu geblieben seiner geistigen Heimat, seiner göttlichen Kunst!


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