Detlev von Liliencron
Der Maecen
Detlev von Liliencron

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(Venus Anadyomene.)

Die Ostsee wogt nicht eine Stunde von Gadendorp entfernt. Dennoch ist nur in seltnen Fällen ihr »Atem« zu hören. Es mag dies an dem zwischen ihr und dem Schlosse stehenden Walde, der das Geräusch auffängt, liegen.

Wir hatten stürmisches Wetter gehabt. Ein heftiges, kurzes Gewitter schloß den Tanz. Und dann war wieder die Hitze eingebrochen. Ich konnte nicht schlafen in der schwülen Sommernacht. Wenn ich die Augen schloß, schoß ich sofort wieder in die Höhe, als wenn mir die Luft weggehn, das Herz stillstehn wollte. Jedermann kennt solche Nächte. Ich hatte weder aufregende, anstrengende Lektüre gehabt, denn die mächtige Poesie des Propheten Jesaia, in dem ich gelesen, hatte mich gehoben, noch waren mir durch zu spät eingenommenes Essen Unbehaglichkeiten entstanden: nach sechs Uhr hatte ich keinen Bissen verzehrt, keinen Trunk getan.

Solche Schlaflosigkeit, dies Hin- und Herwälzen liegt im Blut; wir müssen es ertragen.

Durch die offen stehenden Fenster hörte ich die tote See. Nach dem heftigen Sturme war sie, wie so oft, zurückgeblieben. Wohl die tiefe, windlose, nächtliche Stille machte es, daß ich das Rollen der Wellen vernahm: wie das ferne brodelnde Geräusch einer Großstadt klang es; auch wie das Summen zahlloser Fliegen, wie wir es hören, wenn wir in einer glühendheißen Stunde in der schattenlosen Haide gehen und plötzlich still stehen.

Ich richtete mich im Bett auf. Es fiel mir ein, ein Bad zu nehmen. Gedacht, getan. Und ich bin schon mit Taps und den beiden Dachshunden unterwegs.

Am Strande angekommen, betrachte ich mir die See. Die langen, schaumlosen, glatten Wogen ziehen geräuschlos, brechen nicht in sich zusammen. Nur wenn sie das Ufer erreichen, zerfließen sie, wie Schnee, murmelnd auf Kies und Kieseln. Über der See ruht das Licht des halben Mondes und der Sterne. Ich stehe mit untergeschlagnen Armen. Taps sitzt vor mir zwischen meinen Stiefeln und schaut tiefernst aufs Meer. Männe und Herr Diedel haben sich mir zu beiden Seiten postiert.

Die Frische und Kühle des Ufers tut mir unendlich wohl.

Plötzlich ward vor mir das Wasser unruhig, immer unruhiger. Die Wellen krönten sich mit Schaumspitzen, wie in einem Strudel wirbelt es zusammen, wirbelte, senkte und hob sich; und es stand vor meinen Augen die »Emporgetauchte«, Venus Anadyomene. Na, so was. Ich war wie geblendet, wandte meinen Oberkörper, meinen Kopf halb nach rückwärts, mit den Händen abwehrend. Ich sah meine Hunde, diese Helden, mit eingekniffnen Schwänzen dem nahen Waldrande zulaufen. Wartet, ihr Feigen! Aber nun . . . ich drehte ohne Furcht, ohne auch nur eine Spur von Furcht, die Stirn wieder der Schaumgebornen zu.

Es war ein hoheitsvolles Weib: so hoheitsvoll, daß mir ein Schauer durch die Seele ging. Sie wrang sich, und das nahm sich nicht schön aus, als wenn eine Wäscherin ein Stück Zeug auswringt, die Tropfen aus dem Haar und – ging dann, aus dem Wasser, dem Ufer, mir zu. Mit jedem Schritte ward sie bekleideter, und hielt endlich vor mir an in einem schwarzen Kleide, mit einem hellgrauen, sich anschmiegenden, eng anliegenden Jäckchen. Die fast übergroße, strenge, hoheitsvolle Venus Anadyomene hatte sich in die kleine, blonde, hübsche Lene Dethlefs verwandelt. Lene Dethlefs war eine jener flüchtigen Bekanntschaften gewesen, an die ich längst, längst nicht mehr gedacht hatte. Ich hielt sie umschlossen, und so, als wenn wir mit der Linken (übrigens sehr unschön verglichen) einen großen Laib Brotes halten, um mit der Rechten ein Stück »abzusäbeln«. Das Mädchen hatte die rechte Schulter, während ich sie an mich zog, gegen meine Brust gelehnt. Dann aber bog sie sich in meinen Arm zurück. Zwei sehr liebe, freundliche, gute Augen schauten mich an, ihre Lippen öffneten sich ein wenig, als wenn sie trinken wollte, und ich verschloß ihr den roten Mund.

»Nicht zu liebeln leis mit Augen,
Sondern fest uns anzusaugen
An geliebte Lippen . . .«

Und sonderbar, während wir uns küßten und also nicht sprechen konnten, hörte ich neben mir, zweimal in kurzen Zwischenräumen, die Worte: »Sie sind sehr gütig, Sie sind sehr gütig . . .«

O Lene, kleine Lene Dethlefs, was hab ich in diesem Augenblick für eine Sehnsucht nach dir.

Und dann war Alles verschwunden, und ich starrte auf die langen, glatten Wellen der toten See. Am Waldrande empfingen mich meine Hunde. Männe und Herr Diedel, als wenn sie sich entschuldigen wollten, wedelten und wanden sich um meine Füße wie Schlangen. Der alte Taps aber hielt das nicht für nötig: er trabte wie ein hoher, greiser Würdenträger hinter mir her. Einmal sah ich mich noch nach der See um: ganz in der Ferne zog, mit leisem Geräusch, das Dampfschiff Kiel-Korsör. Die Lichter verschwanden aber bald wieder.

* * *

(Max Semmelbrott.)

Ich muß nämlich offen gestehen, daß ich lieber zwei Meilen Trab reite auf einem guten Pferde, oder Whist spiele, oder eine Nacht mit lustigen jungen Leuten durchtrinke, oder auf die Hühnerjagd gehe, oder einem Wettrennen zuschaue, als daß ich über neue Gedichte lese. Es kann mich von »den neusten Erscheinungen« selten etwas erwärmen. Vor einiger Zeit bin ich auf eine sonderbare Art (wie wir in Schleswig-Holstein sagen) »dazu« gekommen.

Auf einer langen, langweiligen Eisenbahnfahrt kaufte ich mir auf einer Haltestelle aus Verzweiflung eine Zeitung. Nachdem ich sie flüchtig durchgesehen hatte, legte ich sie weg. Durch was immer gezwungen, rafft ich sie noch einmal an mich und nahm, wunderbar, aber es war so, die Spalte vor: »Kunst, Theater und Literatur.« Da entdeckte ich denn zuerst in dieser Abteilung, daß der Justizrat Abelmeier ertrunken sei. Abelmeier. Abelmeier? Wer war Herr Abelmeier? Wie kommt Herr Abelmeier in die Spalte: »Kunst, Theater und Literatur«? Gleichviel. Ich forschte weiter: . . . »Ehret die Frauen, sie flechten und weben himmlische Rosen ins irdische Leben«, stand als Überschrift. Ah, also doch. Aber es kam, zu diesen Worten gehörend, eine Gesundheitversprechung für kranke Nieren, namentlich den Weibern empfohlen: es wurde Warners Safe Cure angepriesen. Kunst, Theater und Literatur? »Kunst, Theater und Literatur« . . . Nun folgte:

Central-Viehmarkt
        Sengschweiue 39–40 Mark,
Beste dänische Versandware 00–00 Mark,
Mittelware 39–40 Mark,
Sauen 30–41 Mark,
Ferkel 40–41 Mark per 100 Pfund.

Kunst, Theater und Literatur? »Kunst, Theater und Literatur.« Endlich, immer unter dieser Überschrift, in derselben Abteilung, erschaute ich die Besprechung einer eben erschienenen Gedichtsammlung. Der Dichter hieß Max Semmelbrott. Der Besprecher hatte sich mit einem »w.« begnügt. Ich las und las und brach schließlich in lautes Gelächter aus. Ein mir gegenüber sitzender Engländer erwachte. Zuweilen aber hatte ich beim Durchlesen die Stirn gerunzelt über einige Schändlichkeiten, die sich der Verfasser der Beurteilung erlaubte. Es ging mir durch den Kopf: vielleicht kennt der Besprecher den Dichter nicht und erlaubt sich, weil er sonst so manche Rücksicht zu nehmen hat, einmal seinen Lesern zu zeigen: Seht, was für ein strenger, unparteiischer Richter ich bin. Es war vielleicht auch die unbezähmbare Lust, einem Anfänger, der ihm noch nicht schaden kann, auf die Finger zu klopfen. Ei, ei, Herr Kritikus.

Abends kam ich an meinem Endziel an. Es war zu spät, um auszugehen. Ich griff, nachdem ich gegessen hatte, in den Wust von Tagesblättern, der vor mir auf einem Nebentischchen durcheinander geworfen war.

Und wieder spielte mir der Zufall, wenn ich nicht irre, in den »Allerneuesten Nachrichten« »Kunst und Wissenschaft« vor die Augen. Sofort fiel mir der Name Max Semmelbrott auf. Was finde ich nun wohl über diesen hier? Unbegreiflich, aber es steht da: Herr Max Semmelbrott ist ein zweiter Shakespeare. Ich brach wieder in Gelächter aus. Der Kellner kam herbeigesprungen: »Der Herr befehlen?« . . . »Bitte, eine Flasche Rüdesheimer.« Im stillen sagte ich: die deutschen Dichter und Besprecher will ich leben lassen.

Neugierig geworden, griff ich zu andern und immer andern Zeitungen: und richtig, ich fand in allen eine mehr oder minder lange »Kritik« über die Gedichte Max Semmelbrotts. Aber jede war grundverschieden. Die eine gemein: ich dachte mir, der Besprecher hat sich gewiß mit dem Dichter als Schüler einmal geprügelt, und ist von diesem tüchtig durchgewalkt worden; nun rächt er sich. Oder was ihn sonst bewogen hat. Möglich, daß er den Dichter nur schlägt und will den von ihm gehaßten Verleger oder des Dichters »Schule« treffen.

Die nächste Kritik war katzenbuckelig, die dritte: ganz augenscheinlich war das Buch gar nicht von dem Besprecher verstanden worden, vielleicht rührte sie her von einem Nüchternen: philisterhaft und langweilig-belehrend klang Alles; eine vierte: ein Witzbold gab sein ledernes Bestes; eine fünfte: »wir begrüßen in diesem Dichter endlich einmal wieder ein Original . . .«; eine sechste: » . . . Langweiligeres, mehr Althergebrachtes als in diesen Versen, die auch nicht eine Spur von Ursprünglichkeit verraten, ist uns nie vorgekommen . . .«; eine siebente: nur zwei oberherrliche Worte in unausstehlich hochnäsigem Tone; eine achte, und so fort, und so fort.

Ich stieß in Ermangelung eines Zechgenossen mein Glas an die Flasche an und sprach vor mich hin: »Max, Du sollst leben. Sieh, das sind Deine Beurteiler; möge sie alle der Teufel an den Beinen aufhängen. Das aber rufe ich Dir zu, Mäxchen, in dieser Mitternachtsstunde: kehr Dich nicht daran; schreibe, wie Dirs ums Herz ist, lösche die Gluten, wenn Du brennst, was geht Dich die Ästhetik der Akademiker an, was Deinen Schönheitssinn entzückt; hältst Du es nicht länger aus: nimm die Feder und schreibe, jauchze Dich aus auf dem Papier. Hast Du eine Freude gehabt, einen Schmerz, quält Dich etwas, weißt Du nicht vor Glückseligkeit nach einer süßen Stunde, wohin: schreib Dich nur aus, für Dich. Ob das dann andre schön finden, ist ja gänzlich Wurst. Bist Du was, so bleibst Du was, und aller Neid und alle Bosheit und Gemeinheit, und alles Todschweigen (ein berühmtes und bewährtes Mittel in Deutschland), um Dich zu ersticken, hilft nichts. Gehörst Du zu der großen Zahl derer, deren Gedichte nichts taugen, dann nützen Dir alle Lobredner der Erde nichts. Brüderle, halt aus! Behalt den Pust: denn Du hast als Dichter das Unglück, ein Deutscher zu sein.«

Das, was ich über Max Semmelbrott in den Zeitungen las, hat doch im großen und ganzen nur einen bestimmten Leserkreis, der eben nur jahrein, jahraus dies eine »Organ« hält und hineinblickt. Dieser Leserkreis nimmt nun Max Semmelbrott für das, als was er von dem Beurteiler, der oft auf Jahrzehnte der gleiche, hingestellt ist. Er gilt also nun dem betreffenden Leser als: der Lächerliche, der Langweilige, der Herrliche, der Ursprüngliche, der Anempfinder, der Edle, der Rohe, der Neuerstandene, der Wegmitihm und so fort in tausend Schattierungen. Nur wenn der Schriftsteller »Mode« wird, hebt er sich in einer einzigen stechenden Farbe vom dumpfen Grau des Hintergrundes ab; dann ist er bei Lebzeiten Gemeingut seines Volkes geworden.

Hat Max Semmelbrott Geld, zeigen sich der erstaunten Welt Max Semmelbrotts Dichtungen in zweiter Auflage; etwa mit der Empfehlung: »daß eine zweite Auflage in so kurzer Zeit nötig geworden ist, beweist, daß unser Dichter &c.«

Hat Max Semmelbrott Geld, so würde ich ihm empfehlen, die Anzeigen seiner Gedichte zwischen die Butter- und Bohnenpreise immerwährend einrücken zu lassen und in die Börsenberichte. Das erachte ich als das einzige Mittel, wenn der deutsche Dichter auf sich aufmerksam machen will. Denn die Butter- und Bohnenpreise liest das deutsche Volk, Kritiken nicht.

Oder es müßten über Max Semmelbrott jene geheimnisvollen Ausrufe erlassen werden, wie wir sie in den Zeitungen und an den Litfaßsäulen lesen. Z. B. »Max Semmelbrott kommt« oder: »Max Semmelbrott ist da«. Dann wäre die Neugierde erregt. Endlich platzt die Bombe: Max Semmelbrott wird in einer langen Anzeige an den Litfaßsäulen und in den Zeitungen zwischen den Bohnen- und Butterpreisen als der »berühmte Dichter« angepriesen. Alles lacht natürlich, aber – sein Name ist doch bekannt geworden. Das wäre am Ende . . . na, die »hehre Muse« . . . o Gott, die »hehre Muse« in Deutschland . . . .

* * *

Meine kleine arabische Schimmelstute mit dem wenig morgenländischen Namen: »Hab dich nicht« ritt ich. Sie ist seit einem halben Jahr mein Lieblings-Reitpferd. Ich hatte sie zäumen lassen, als solle sie einen reichen Beduinenfürsten tragen. Ich selbst trug, wunderlich im Gegensatz stehend zu meinem südländisch aufgeputzten Gaule, ein schwarzes Samtwams, das ein breiter, hellbrauner Ledergurt hielt. An diesem Gurte hing das dolchartige, phantastisch geschnitzte Elfenbeinmesser, das mir meine Mutter vererbt hat. Als Kopfbedeckung führte ich wie immer meinen uralten, riesigen, ruppigen, grauen Filz mit der kurzen Sperberfeder. Der Hut paßt mir so gut, daß ich auch im Winde oder bei schnellern Gangarten ihn nicht besonders zu befestigen brauche. Was die lieben Menschen über meine Person, über meine Kleidung, Gewohnheiten, Eigentümlichkeiten sagen, ist mir stets gleichgültig gewesen. Auf meinen Besitzungen kennt mich zudem jedes Kind, so daß es nicht mehr auffällt.

Die feurige adliche Stute ist andrerseits das sanfteste Tier, das ich je geritten habe. Ich habe sie nur mit Zucker gezogen. Sporn und Peitsche würde sie so übel empfinden, daß sie vor Scham, so lächerlich das klingen mag, sterben könnte. Die wenigen Unarten hab ich ihr bald abgewöhnt. Ein merkwürdiges Tier: es kommt mir stets vor, als wüßte sie, daß alle Welt sie liebt und hätscheln müßte. Sie vertraut jedem. Sie hält alle Menschen für liebe gute Geschöpfe, weil sie selbst ein so gutes, treuherziges Geschöpf ist. So spricht man eigentlich nicht von einem Pferde. Was gehts mich an. Willkommen ist mir jener schnelle Schritt, den die Pferde gern annehmen, wenns nach Hause geht. Das ist dann wie das rasche, gleichmäßige Ticktack einer Stutzuhr.

Ich reite in diesem Schritt, bei dem »Hab dich nicht« den Hals auf und nieder bewegt, und mal rechts, mal links den Kopf ausbiegt, als wenn sie nach dem Zügel beißen will. Wir ziehen durch eine Tannenallee, deren Bäume schon vor Jahrhunderten gepflanzt sind.

Über mir liegt ein schleswig-holsteinischer Himmel gespannt, also grau, und ein ganz, ganz klein wenig langweilig (Pardon.). Die Luft steht gleichsam still heut. Es ist wie Sonntagsluft. Sonntagsluft würde ich nicht schreiben, wenn ich deutscher »Schriftsteller« wäre. Da würden mir die Herren Kritiker schön die Wahrheit sagen.

Während wir noch im Baumweg sind, klingt von Zeit zu Zeit ein Gelächter aus dem Waldkrug: »Kiek ut«. Ich reite auf ihn zu. Es ist so, als wenn in einer Schule, unter deren geöffneten Fenstern wir sitzen, stehen oder vorbei gehn, der Lehrer leise etwas vorsagt, das wir nicht vernehmen: plötzlich fällt dann brüllend, laut die ganze kleine Herde mit dem Stichwort ein. So kommt mir das Gelächter vor: einer muß dort eine Geschichte erzählen, in die mit kurzer stürmischer Heiterkeit die übrigen einbrechen.

Näher und näher schallen mir diese Ausbrüche entgegen. Endlich halt ich, doch so, daß mich die Besucher des Gastzimmers nicht sehn können, vor einer Seitentür. Aus dieser tritt mit gerötetem Gesicht und verlegnem Lächeln der junge beweibte Bauer Klaus Asmussen und entfernt sich, ohne sich umzusehn. Gleich hinter ihm her erscheint das Schenkmädchen Marie und schilt, halb zu mir, den sie schon entdeckt hat, gewendet, ohne an irgendwelche Höflichkeit in diesem Augenblick zu denken: »Dat's ja'n verheirat'ten Kerl. Wat de sick wull inbild't. Wat de mi vör'n Narr'n hol'n will«. Wie zur Bekräftigung knallt eine Lachsalve von der Trinkstube her. Ich beruhige die erregte Marie. Nachdem ich einen tüchtigen Schluck aus einem braunen Tonkrug getan habe, um den herum steht: »Peifer, Peifer, du mußt plasen, dann danzen die Pauern, als wär'n sei rasend«, und nachdem das Mädchen der Stute Zucker gereicht hat, setze ich meinen Weg fort. Vor mir verschwindet in einem Knicktor der betröpfelte Klaus Asmussen. Hinter mir hör ich immer schwächer die Lachfolgen. Das kommt davon, mein lieber Klaus Asmussen. Und ich breche selber in ein lautes Gelächter aus und singe den bekannten Gassenhauer: »Das kommt davon, das kommt davon, wenn man auf Reisen geht . . .«

* * *

In den letzten zwei Wochen zog ich aus neuerschienenen Büchern und Zeitschriften folgende Gedichte aus, die ich in meiner Sammlung niederlegen will:

Heinrich von Reder:

        Einsam sitz ich auf dem Bühle,
Sinnend blick ich ins Gefild,
Bis zuletzt die Abenddämmrung
Mir verdeckt ein jedes Bild.

Überm dunklen Tannenhange
Glüht nur noch ein roter Schein,
Mählich ist auch der erloschen,
Dunkel hüllt nun alles ein.

Tiefe Trauer füllt die Seele,
Wenn verglüht das Abendrot;
Und ich denk: verdämmernd leben
Ist noch schlimmer als der Tod.

* * *

Ferdinand Avenarius:

Ein Traum.
                Im tiefsten Innern unsrer Seele, dort,
Wo nicht des Denkens helle Sonne scheint,
Glimmt eine heiße, unbekannte Welt.
Wir wissen nicht, was in ihr webt und wühlt,
Nur manchmal dehnt sie plötzlich sich und tastet
Stöhnend am Boden unsrer Sonnenwelt
Und schüttelt ihn und reißt sich einen Spalt
Und glüht herauf. Doch vor der Sonne Licht
Schreckt sie zurück und kriecht in sich zusammen.

Nacht wars. In einem langen dumpfen Saal
Stand ich im Siechenhaus. Nur Stöhnen hört ich
Und Röcheln. Grelle Lichter warf der Mond,
Sah durch die lange Fensterreihe. Dunkel
Dazwischen lag der Pfeiler Schatten. In ihm
Die betten: ich erkannt sie nicht, trat ich
Nicht dicht davor. Da faßt es plötzlich mich
Mit diabolischer Grimasse an,
Wahnsinnig an – ein weißes Leinentuch
Umwand ich mir, und aus dem Dunkel jetzt
Trat ich ins helle Mondeslicht und nickte
Mit wüst satanischer Schauspielerei
Als Sterbegeist dem Kranken zu. Der schrie
Schrill gellend auf, warf sich empor und zuckte
Und starb. Und leise schleichend schritt ich fort
Von Licht zu Nacht und aus der Nacht ins Licht,
Von Bett zu Bett. Sie schrieen auf und starben.
Und weiter schritt ich, und sie schrieen auf und starben.
Bis endlich, endlich auch aus mir herauf
Ein Schrei sich preßte – weg von meiner Brust
Schrie er die Hölle, und im Schrei erwacht ich.

Spätfrost.
            Wie war des Lenzes erstes Träumen schön!
Wie Kindeslächeln sah es von den Höhn.
Wie eine Seele, deren warmes Hoffen
Noch nie des Schicksals kalte Hand getroffen.

Da ward es Nacht. Und grau im Osten wards,
Gelb hob der Mond sich aus der Berge Schwarz –
Mir wars, ich säh sich einen Schädel recken
Vom Sarge auf aus schwarzen Totendecken.

Und mehr und mehr belebt sich sein Gesicht
Geheimnisvoll von fahlem Geisterlicht:
Wie Wahnsinn lags, wie Durst nach warmen Tränen,
Wie Zucken drin von totgepreßtem Sehnen.

Und wie sein Vampyrblick herabgesehn,
Fühlt ich ein Schaudern durch den Frühling gehn,
Und wie sein blasses Licht die Knospen küßte,
Da wußt ich es, daß alles sterben müßte.

Die Pest.
          Einst hat ein Mann die Pest gesehn
Frühmorgens über die Felder gehn,
Die Hähne krähten nur heiser und schwach,
Mißtönig nur bellten die Hunde ihm nach.

In einem grauen Bettlerkleid,
Gebückt, so hinkte sie über die Heid,
Nach allen Seiten langsam dreht
Ihr rotes Auge sie und späht.

Und wo ein Dorf von fern sie sah,
Still winkend stehen blieb sie da
Und nestelt hüstelnd im Gewand
Und suchte drin mit gelber Hand.

Und wedelt, wie man Mücken schreckt,
Ein weißes Tuch, von Blut befleckt,
Dreimal und schnell – und einen Fluch
Murrt sie, dann barg sie rasch ihr Tuch.

Und hüstelnd schlich sie fort am Stab,
Und wo sie trat, sprang auf ein Grab,
Wohin sie winkte, Haus für Haus,
Starb dort ein Dorf zum Abend aus.

Wipfelrauschen.
                Am alten Eichstamm
Ins Moos gestreckt,
Von Farrenfächern
Und Zweigen bedeckt,

Kann in den Wipfeln
Dem Windgesang
Lauschen ich
Stunden und Stunden lang.

Von weitem kommts her
Und senkt sich und schwillt,
Bald sanft wie die Liebe,
Wie Haß bald wild.

Stürmisch aufbrausend
Wie Jugendmut,
Leise dann knirschend
Wie dumpfe Wut.

Doch da flicht sichs dazwischen
Wie Einspruch schon
Von treuen Lippen
Im Schmeichelton.

Dann wie heimliches Weh,
Das der Lauscher erspäht,
Wenn des Schläfers Lallen
Den Traum verrät.

Dann wieder bäumts auf,
Wie ein Roß unterm Sporn
Wiehernd schäumt
In den Zaum vor Zorn –

Du Reiter, und hältst du
Es gut in Haft?
Und wirft sie nicht ab dich,
Die Leidenschaft? . . .

Und plötzlich ergreifts mich,
Daß was daher
Hoch über mir braust,
Doch in mir wär –

Daß droben tönend
Als ein Lied
Meine eigene Seele
Vorüberzieht . . .

* * *

Prinz Emil zu Schönaich-Carolath:

        Es ragt auf dunklen Eiben
Das Grafenschloß ins Land,
Auf den Türmen und in den Scheiben
Liegt der Sonne letzter Brand.

Die rotbestrahlten Zinnen
Verraten dem Wanderer nicht,
Daß ein Frauenherz dort drinnen
Um mich Verlorenen bricht.

Vorüberreitend.
            Dort wo die Wiesen abwärts gehn
Zur blauen Bergeskette,
Mag tief im rauschenden Walde stehn
Die kleine verlaßne Gloriette.

Es liegt das Schlößchen bis an den Hals
In Efeu verstrickt und verloren,
Die alten Gewaffen von Mainz und Kurpfalz
Bröckeln über den Toren.

Es klettern über den Erker stumm
Wildwein und Feuerbohnen,
Am lecken Brunnen blähn sich dumm
Pausbäckige Tritonen.

In jener verwilderten Einsamkeit,
Die Ranken umsponnen haben,
Ward zu verschollener Frühlingszeit
Einst großes Glück begraben.

Da stand, umstoben von Sommerwind,
An Hecken von Georginen,
Ein lachendes Lieb, ein glückseliges Kind
Von Sonnenglanz beschienen.

Es blühten die Nelken düsterbunt
Und ein Duft kam von der Wiese,
Doch glühte wohl süßer ihr roter Mund
Im Jugendparadiese.

Des Hirsches Brunftruf schnob vorbei,
Es war zur Mittagsstunde,
Von ferne nur scholl ein Häherschrei
Über dem schwülen Grunde.

Zuweilen die brütende Flur entlang
Zog es wie Taubengirren,
Zuweilen murrten die Bäume bang,
Rauschend in Traumeswirren.

Und um uns schloß im Dämmerschein
Der Wald sein goldgrünes Gitter;
Da brach ein Windstoß jäh herein,
Es kam ein Lenzgewitter.

Ich habe verlassen mein Heiligtum,
Um trügendes Glück zu jagen –
O goldnes Fließ, o finstrer Ruhm,
Wie seid ihr schwer zu tragen!

Mag lachen das Leben königlich
Aus allen Türen und Toren,
Ich trage Treue und Leid um dich,
Die ich verkannt und verloren.

Nun decken die Wälder in Ewigkeit
Ein Glück, das ich verscherzte,
O Jugend, wie bist du so weltenweit,
Du heilige, nie verschmerzte.

Wohl zieht bald über die Heimatflur
Der Lenz, der lachende, neue –
Doch krächzend um meiner Schritte Spur
Flattern die Raben der Reue.

Der Tag bricht an, ein Sturm aus West
Wälzt sich über die Hügel,
Dicht hinter mir, finster, in Stahl gepreßt,
Reiten Heeresflügel.

Wir ziehen des Wegs zum letztenmal,
Und auf dem Schild, mit Beschwerde,
Trag ich ein Kreuz von schwarzem Stahl
Nach der gelobten Erde.

Am Kaisergrabe.
          Das war ein Frühling bang und schwer,
Der über Deutschland gekommen
Und unsren Herzen, unserm Heer
Zwei Heldenkaiser genommen!

Der Märzschnee stob in grimmem Flug
Um Kaiser Wilhelms Bahre,
Dran zogen vorüber, ein Schattenzug,
Gewappnet fast hundert Jahre;

Fast hundert Jahre, die reich an Streit
Und reich an köstlicher Mühe
Um des Reiches Macht und Einigkeit,
Um Deutschlands Morgenfrühe.

Jetzt hat den neu erwachten Tag
Ein finstrer Schatten getroffen,
In Kaiser Friedrichs Sarkophag
Schläft unser stolzestes Hoffen.

Es hat uns Gottes allmächtige Hand
Mit schwerer Fügung geschlagen;
Schon ballt sich Gewölk in Feindesland –
Wir wollen doch nie verzagen.

Und müßten wir zahlen im Wasgauwald
Jedwede grüne Tanne
Mit einer stürzenden Heldengestalt,
Mit einem sterbenden Manne,

Und müßten wir geben für jeden Stein,
Für jeden Münsterquader,
Eines brechendem Auges letzten Schein
Und eine Herzensader,

Kein Zoll breit deutschen Bodens sei
Entrissen unsrem Gebiete,
Wir trotzen welschem Hahnenschrei
Und welschem Plebiszite.

Wir haben des Kaisers letzten Pfad
Betaut mit mannhaften Tränen,
Doch nichts hat solche Herzenssaat
Gemein mit Drachenzähnen.

O könnten schmücken den neuen Thron
Unblutige Lorbeerreiser,
O würde des Toten starker Sohn
Der dritte Friedenskaiser!

Wir aber wollen ohn Unterlaß
Das Totenopfer bringen:
Für ewig allen Parteienhaß
Aus unsrer Brust zu ringen.

Wir wollen am doppelten Kaisergrab
Die Einigkeit fest gestalten,
Die der Entschlafnen Geist uns gab –
Gott mög des Schwures walten.

So schließe denn über der Fürstengruft
Getrost sich Gitter und Riegel,
Die Liebe findet in deutscher Luft
Nicht leichtlich End noch Siegel.

Ein Volk, ein Herz! Seis Friedenszeit,
Seis Tag der ernsten Wehre,
Wir stehn vereint in Ewigkeit
Den toten Kaisern zur Ehre.

Einer Fremden.
        So wie man Sterne findet, deren Bahn
Den Erdkreis streift auf Nimmerwiedersehen,
Wohl deshalb nur, daß ihr Vorübergehen
Heimweh nach Gott und Schmerz uns angetan,

Zog deiner Liebe tiefe Melodie
An mir vorbei, zu Gott zurück zu schweben,
Und in der ewigen Melancholie
Meiner Gedanken ewig fort zu leben.

* * *

Peter Hille:

Törichte Menschheit, in usum Delphini liest du die Erde,
Grade den herrlichsten Satz nimmt der Magister dir weg.
Seegesicht.
        Triefendes, sonniges Blut,
Silberne Wunden der Flut.
Scheitlige Grate und plätschernde Flossen,
Krähende Pausbacks auf halsenden Rossen.
Schnaubende Augen der Wut,
Hohles Tritonengetut.
Gleitendes, kräftiges Leibesumschließen,
Wildes Bedräuen mit Zacken und Spießen,
Fleischgelbe Muschel, duftig zart,
Von Amorinen flüsternd bewahrt.
Hingegossen weiche Linien,
Grüßende, rauschende Palmen und Pinien,
Angeblühte rosige Brüste,
Lächelnde sonnengestreifte Küste.

* * *

Prinz Reuß:

Der deutsche Jäger.
        In Waldestiefen ist des Jägers Ort,
»Die Augen auf!« sein stetes Losungswort,
Der Brunfthirsch seines Schusses beste Wahl,
Der Tannenwuchs sein Schönheitsideal.

Mit Elch und Hirsch im Nordmanianaforst,
Wild, weit und tief mit manchem Hau und Horst,
Efeu im Ringkampf mit dem Eichenbaum,
So malt der Jäger sich den Wald im Traum.

Und schau den Waldbach dir im Frühling an,
Der über Feld und Wurzeln springen kann,
Der hier zu Tale braust in wilder Flut,
Das ist des deutschen Jägers frischer Mut.

Und fragst du nach des deutschen Jägers Herz,
Komm in den Wald und sieh den Wald im März.
Mit mildem Hauch zieht da die Sehnsucht ein
Und füllt des Jägers Herz mit süßer Pein.

Heia! ihr Mädchen, schaut ins Herz dem Mann,
Ein rauher, reicher, undurchforsteter Tann;
Durchbrecht, durchstrahlt ihn mit der Liebe Licht –
Seht ihr die Veilchen und die wilden Rosen nicht?

* * *

Franz Sandvoß:

    Ein überquellend Herz verhöhnen,
Es ist so leicht und so gemein;
Den kämpfend Lebenden zu krönen,
Wie fiel es je den Stumpfen ein?
Die Goldwage.
        Sorgsam präge das Wort und genau dann wäg es der Dichter,
Braucht er doch einzig die Goldwaage zu solchem Geschäft.

* * *

        Sprach nicht der Heiland: Wer ein Weib begehrend sieht,
Der bricht die Eh in seinem Herzen schon? Und ich,
O Gott, in diesem Sinn, wie brach mit dir ich oft
Die Ehe, die du Engelsreine treu gewahrt!
Wahrhaftig, wär in deiner Brust von gleicher Glut
Ein Fünklein je erwacht, der Teufel hätt es leicht
Bei des Infernos Ehebrechern einen Platz
Uns aufzusparen – – »Schweig, um Gottes willen schweig!
Der Teufel hat es immer leicht. Ach, wider ihn
Was sind wir Arme?« Dann mit ihren Küssen heiß
Erstickt sie ihm das Wort und hing am Nacken ihm
In Tränen lächelnd – – –

* * *

Reinhold Fuchs:

(Sonette vom Nordseestrande.)

Auf dem Hünengrabe.
        Den Geierhelm auf seinen blonden Haaren,
Zog einst, der friedlich schlummert hier im Grunde,
Im Siegesflug bis fern zum Griechensunde,
Umjubelt laut von kühnen Wickingsscharen.

Ein lustig Spiel nur deuchten ihn Gefahren;
Sein Preis erscholl aus aller Skalden Munde –
Und dennoch ist verweht von ihm die Kunde
Im Meergebrause schon seit tausend Jahren.

Aus seinem Grabe, drauf einst Roß und Sklave
Geblutet wie an Herthas Heiligtume,
Nun weiden ungestört die Hallig-Schafe.

Im Winde schwankt darauf die Heideblume,
Und gähnend streckt der Hirt sich drauf zum Schlafe; –
Sprich, Herz, begehrst du noch nach ew'gem Ruhme?

Die verlorene Quelle.
        Im öden Meere gibt es eine Stelle,
Weit draußen vor dem letzten Dünenrande,
Da sieht erstaunt beim tiefsten Ebbestande
Der Wandrer sprudelnd eine frische Quelle.

Einst war umblüht der Born, der kühle, helle,
Von rotem Klee, von grünem Wiesenlande;
Jetzt geht verloren in dem dürren Sande,
Im Salzgeschäume spurlos seine Welle.

Als dort ich stand, betäubt vom Mövenschreien,
Da schien es mir, als ob vom herben Lose
Des Dichters Quell und Sand ein Abbild seien.

Einst schlang ums Haupt ihm Lorbeer sich und Rose,
Doch heut verhallt sein Lied in der Parteien
Und in der Völker wildem Sturmgetose.

* * *

Ernst Ziel:

        Heut berühmt zu werden, kann nicht schwer,
Nein, es muß sehr leicht sein.
Eines macht, Poet, dich populär:
Was du schreibst, muß seicht sein.

Was jeder weiß und jeder kennt,
Gefällig formt es das Talent –
Sein eigenstes Wesen, weil er muß,
Gestaltet und bildet der Genius.

Sei sentimental –
Sie nennen es ideal.
Sei überpathetisch –
Sie heißen es poetisch.
Doch läßt du Grazie sehen –
Sie werden dich nicht verstehen.

Ihr wollt am Lied, weil es pikant,
Tendenz und Farbe bloß –
Allein der echte Diamant
Ist immer farbelos.

Eines kränkt die Subalternen,
Wird an mir sie ewig kränken:
Daß ich nicht wie sie konnt lernen
Subaltern zu denken.

* * *

Otto Ernst:

Dichterruhm.
        So leicht entgeht der Dichter nicht dem Ruhm!
Kann er die Gunst der Massen nicht erlungern,
So preist die Nachwelt doch sein Heldentum,
Daß ers verstand, heroisch zu verhungern.

* * *

. . . und wie sagt in »den zwei Reigen« Conrad Ferdinand Meyer:

        Doch Leben hat das Leben gern,
Und leicht gewöhnt sich Brust an Brust.
Die Toten liegen tief und fern
Und wissen nichts von unsrer Lust . . .

Kellinghusen (Holstein), 1886.


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