Detlev von Liliencron
Der Maecen
Detlev von Liliencron

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Poggfred, Anfang des Dezembers.

Seit gestern bin ich in meiner Einsamkeit. Außer Marcs nahm ich meinen dunkelbraunen Hühnerhund Flambeau, meine Dächsel Männe und Herr Diedel, meinen Pudel »Olle Söhn« und meinen Papagei Glokko mit. Wir sind schon eingeschneit.

Betracht ich mir vom Fenster aus die Landschaft: Totenstille, weiße Decken überall; den einzigen schwarzen Fleck bietet ein Rabe, der sich, in sich zusammen gedrückt, auf dem Zweige, an einen Ellernstamm drängt. Es ist mir, als wenn ich seine glänzenden schwarzen Augen sähe, wie sie nach Raub ausspähn. Er wendet beständig den Schnabel nach rechts und links. Nur ein Baum ist klar sichtbar; es ist eine Eiche in Mittelgröße, die im Sommer dem Vieh Schatten gibt. Sonst, wenn auch in leichten Wellenlinien, alles eine Ebne, die nur durch Knicks unterbrochen wird.

Marcsen hab ich, wie hier stets, einen jungen Knecht aus Schmeerstedt, dem nächsten Dorfe von Poggfred aus, zur Gesellschaft und als Aushilfe gegeben. Die jungen Leute drängen sich zu dem Posten, weil sie ein tüchtiges Stück Geld dabei erobern. Augenblicklich sind, unter Gelächter, Frohsinn sechshundert Männer aus meinen Dörfern beschäftigt, den Weg von Poggfred nach Schmeerstedt frei zu machen. Der muß offen sein. Denn wenn mich Despotenlaunen anwandeln, wenn mich die Schwere der Einsamkeit niederdrücken will, lasse ich in Schmeerstedt ansagen: »Heute Abend Ball im Blauen Auge«. Und dann strömen sie herbei, auch aus andern Dörfern. Das geschieht einmal zum mindesten, wenn ich mich längere Zeit in Poggfred aufhalte. Und dann tanze ich mit den Töchtern des Landes.

Meine beiden Zimmer hier hab ich mir höchst gemütlich eingerichtet. In meinem Arbeitsraum steht ein riesiger Schreibtisch, neben diesem eines jener breiten Bismarck-Sofas. Auf einem Gestell stehen die Bücher, die ich auf allen meinen Gütern und Liegenschaften, wo es sei, zu finden wünsche. Unter ihnen die einzige Dichterin, die Deutschland gehabt hat: Annette von Droste. O du mächtiges, lebensstarkes Frauenzimmer; ständest du vor mir, fiel ich aufs Knie und küßte, überströmend, dir die Hände und dankte dir für dein großes, gütiges, liebeschweres, edles, geheimnisvolles Herz.

In persische Stoffe hab ich mich von jeher verliebt, und so ist auch hier alles mit ihnen behangen und belegt.

Ich schickte die an meinem Abfahrtstag in Gadendorp angekommnen Bücher mit den andern Sachen hierher voraus. Sie lagen schon, ausgepackt, auf meinem Schreibtisch: Es sind »Adam Mensch« von Hermann Conradi und neue Dichtungen der beiden Schlesier: Theobald Nöthig und Paul Barsch. Von Paul Barsch fand ich sofort ein reizendes Poem:

Mittag.
        Kein Ton, kein Hauch. Das Bergtal ruht
In greller Mittagssonnenglut.

Und Gras und Blumen, Strauch und Baum
Umfängt es wie ein tiefer Traum.

Da plötzlich – aus dem Blumenflor
Blitzt jäh ein Schlangenhaupt empor.

Es starrt zur Ferne unbewegt,
Als ob sichs leise dort geregt.

Nur Täuschung wars. Die Schlange neigt
Sich still zurück. Die Heide schweigt.

Wie Traum liegts auf dem Blumenflor,
Und Frieden ist es wie zuvor.

Das Gedicht könnten Storm oder Keller geschrieben haben. Es hat mich entzückt. Diese brennende Stille; kein Hauch. Und plötzlich hebt eine Schlange das Haupt aus dem Grase, wie erschreckt durch ein Geräusch. Sie sieht sich um, sie züngelt – und fällt in den Schlaf zurück. Die Bewegung in der ungeheuern Ruhe, die plötzlich entstehende und wieder ersterbende Bewegung ist es, die dies kleine Gedicht so warm macht.

 
15. Dezember.

Von Nöthig fand ich folgendes, das mir ins Herz wuchs:

Der Ärmste.
          »Weswegen gab sich dieser Narr den Tod?
Das deutsche Reich hat jetzt doch Lohn und Brot
Selbst für den ärmsten Karrenschieber?«
Er war noch ärmer, war ein Musensohn,
Und schwebte gern in höherer Region,
Drum, Freund, hing er sich lieber.
Verwandlung.
              Wie der Falke kaum merkbar höher kreist,
Wie der Wind, der die Rosen erwachen heißt,
Wie Meeresleuchten auf schlummernder Flut,
Wie über den Wassern schwebte der Geist.
So hat mir im Herzen die Liebe geruht.

Noch jetzt, da ich alles, alles verlor,
Der lachende Garten ein trauriges Moor,
Ist treu mir geblieben das alte Bild
Mit seinen Gestalten noch wie zuvor,
Und doch verwandelt so schaurig und wild.

Wie der Falke, der die Taube zerfleischt,
Wie der Nachtwind, der schmerzlich im Rohre kreischt,
Wie züngelnder Blitz auf brandendem Meer,
Wie der Geist, der den Sohn von Abraham heischt,
So macht nun die Liebe das Herz mir schwer.

Vergeben.
        Sie warf zurück die dunklen Locken,
Mich pressend an die volle Brust,
Und lachte, als ich froh erschrocken
Ihr Auge leuchten sah voll Lust:
»Ich habe dich zum Schatz erkoren,
Mein blonder, blöder Troubadour,«
Sprach sie »doch sei dabei geschworen
Kein heil'ger, unlösbarer Schwur.

»Ich kann nicht an die Treue glauben,
Die man beim ersten Kuß gelobt.
Ein Narr ist, wer die Glut der Trauben
Im Most, nicht erst im Wein erprobt.
Die Liebe folge jenem Drange,
Der frei den Vogel singen ließ,
Sie sei nicht listig wie die Schlange,
Die uns betrog ums Paradies.

»Wie rührend preist man treue Minne!
Ich habe sie noch nie geschaut.
Vielleicht werd ich des Wunders inne,
Wann mir die Auferstehung graut.
Für Sterbliche hat sie nur Fesseln;
Ob für ein Herz du glühend brennst,
Es kommt ein Tag, wo fast als Nesseln
Der Liebe Rosen du erkennst.

»Ich beichte dir, magst du auch grollen,
Daß die Natur mein rotes Blut
Dem Bergstrom gleich läßt flüchtig rollen,
Und Ebbe wechselt schnell mit Flut.
Noch bist du frei, zertritt den Funken,
Bevor das Dach gerät in Brand.«
Als Antwort küßt ich wonnetrunken
Den Mund, der solches mir gestand.

So wie verwöhnte Kinder fassen
Bald andres Spielzeug, so hat auch
Mich bald das schöne Weib verlassen;
Die Liebe schwand wie Frühlingshauch.
Doch aus der Wüste Zauberbronnen,
Gesprengt durch ihren Mosesstab,
Entperlen heute noch mir Wonnen,
So daß ich ihr schon längst vergab.

 
16. Dezember.

Ich habe meine Reiserichtung für das nächste Jahr vorläufig festgesetzt: gleich nach Neujahr zwei Monate in Berlin, dann, bis ich die Depesche erhalten »Die Waldschnepfe ist da,« nach Paris, wie ich das seit Jahren gehalten habe. Die vierzehn Vorfrühlingstage der Schnepfenjagd auf meinem Hofe Orstedt in Seeland. Das sind so glückliche vierzehn Tage immer: nur Waldmensch. Dann einige Wochen in Unteritalien und Sizilien. Den Sommer hindurch in Gadendorp. September: Ostende. Oktober: Schweiz oder einige Tage nach New-York. November und Dezember: Ripen und Gadendorp (Poggfred). Das sind meine vorläufigen Reisepläne. Wer weiß, ob sie ausführbar sind. Jede Stunde kann uns Hindernisse bringen. Jede Stunde kann uns der Tod einen Klotz zwischen die Füße werfen, daß wir auf die Nase fallen.

Nächsten Sommer erwarte ich vielen Dichterbesuch auf Gadendorp. Jeder lebt da nach seinem Geschmack. Diner um sechs Uhr abends. Dann sind wir meistens alle versammelt. Lebhafte Gespräche bei Tisch lieb ich. Feuer entzündet sich aus Funken, und Funken knistern, springen aus Flammen.

 
23. Dezember.

Vier Tage brauchte ich, um Hermann Conradis Roman: »Adam Mensch« zu lesen. Ich muß sagen: es hat mich angegriffen. Es ist das furchtbarste, abstoßendste, anziehendste Buch, das ich je gelesen habe. Der Dichter hatte die Güte, mich oder einen andern »Herrn der Schöpfung« nackt auf einen großen Tisch zu legen. Dann rief er seinem Oberwärter zu: »fertig!« Dieser stürzt heran, stülpt die Chloroformkappe auf die Nase des Liegenden, und ruft: »Bitte, zählen!«

Hermann Conradi, der Arzt, in Hemdsärmeln, die bis an die Ellenbogen aufgekrempelt sind, tritt heran, nimmt das denkbar schärfste Messer, und, indem er den Zuschauern und Zuhörern sagt: »Ich bitte, näher zu treten«, tut er mit größter Sicherheit, ohne auch nur einen Augenblick zu zittern und zu zögern, den ersten Schnitt. Bald liegt das Gehirn des Umstandenen bloß. Und nun erzählt Hermann Conradi. »Sehen Sie, so und so . . .«

Schließlich kommt es dann klar zu Tage, daß der Aufgeschnittene ein fürchterlicher Schuft ist. Wer? Ich? Jeder »Herr der Schöpfung«? Ja wohl, es bleibt nichts anderes.

Erbarmungslos geht Conradi vor.

Das Werk enthält außerdem zahlreiche vorzügliche Vergleiche. Die, wie hineingestreuten. Naturbilder sind meisterhaft.

Es ist ein entsetzliches Buch, schonungslos, grenzenlos, Wunden schlagend, Wunden heilend. Ein paarmal war es mir, als müßte ich es weglegen, aber dann immer sagte ich mir: Es ist von einem großen Künstler geschrieben, von einem Künstler, von einem Dichter der Kraft – und las weiter.

 
27. Dezember.

Es fällt ein sanfter Schnee. Die Flocken sind klein, bleiben liegen und hüllen alles in ein »Leichentuch«. Tiefste Stille. Von unten hör ich Marcs und Jürgen, die gedient haben, schwach herauf. Sie singen Soldatenlieder, zweistimmig. Beide haben gute Stimmen. Ist das eine beendet, beginnen sie, ohne Übergang, ein zweites. Jetzt klingt es:

An einem schönen Sommertag

In der Schweiz, in der Schweiz, in Tirol.

Männe und Herr Diedel, mit den Alligatorengebissen, liegen in sich zusammengerollt. Flambeau schläft auch. Eben hatte er den Kopf gehoben, mich angesehn, mit strengem, wichtigem Ernst sozusagen, einen Augenblick auf den Gesang gehört und war dann mit einem Seufzer wieder eingenickt.

Ich denke immer noch an Conradis Roman. Von diesem bin ich auf den Dichter selbst gekommen, und dann auf den deutschen Dichter im allgemeinen. Wie ist es doch so garstig bei uns, daß erst Jahrzehnte hingehen müssen, ehe es einem echten Dichter gelingt, durchzudringen, wenigstens in den meisten Fällen. Die Familienblätter, die seinen Namen ins Volk bringen könnten, sind ihm ausnahmslos versagt. Diese »Journale« schreiben bekanntlich für Backfische und Köchinnen. Auch nicht das geringste Blut darf in ihre Romane hinein. Schreibt der Dichter in einem »neuen Tone«, so sind ihm auch die paar besseren Zeitschriften nicht zugänglich. Und dagegen das Geschrei, Bekränzen, Betoasten, Befestessen der Pseudodichter.

Einem aber, wenn er im »neuen Tone« singt, ist, wenn er arm, und er keinen Mäcen findet, nur zu raten, sich schleunigst einen Strick zu kaufen. Denn unerträgliche Leiden und Qualen erwarten ihn. Wenn es nur die bodenlose Gleichgültigkeit seiner Landsleute gälte, müßt er es natürlich ertragen. Das ist nie anders gewesen. Kommt aber hierzu noch die Schmach der Geldnot – der Hunger ist nicht das schlimmste, so toll das klingt – dann halt ich in Deutschland den Kampf für unmöglich und aussichtslos. Ein Trost bleibt dem jahrzehntelang Kämpfenden: nach seinem Tode kommt er in die Literaturgeschichte. Ein netter Trost.

Geld verdienen wird er nur, wenn er sich dem jämmerlichen Geschmack des großen Publikums anbequemt. Von dem Augenblick an ist er als Künstler verloren. Er wird dann Handwerker. Wenn ich Dichter wäre, würd ich mir sagen: soll ich für den Sultan »Volk« schreiben? Aber das will der gute Michel Deutsch: zu ihm soll der Dichter, als Hanswurst versteht sich, kommen. Nein, nein, mein Sultan, mein guter Michel Deutsch, wenn ich ein Dichter wäre, würd ich sagen: komm zu mir. Und wenn du nicht willst, so laß es bleiben. Außerdem hast du genug und aber genug der »Dichter«, die vor dir kriechen und gehorsam Alles tun, was du willst.

Von den meisten Zeitungskritikern, namentlich in den kleineren Blättern, wird ein solcher Neutöner, wenn das tolle Wort erlaubt ist, auf das Abscheulichste behandelt: mit Schmutz beworfen, verhöhnt, lächerlich gemacht. Diese Art Kritiker sind nüchterner und unwissender als ein Dorfkrämer. Aber ich möchte hierbei erwähnen, daß der Zeitungen- und Zeitschriftenleser mehr und mehr abgestumpft ist. Er sieht in die Hölle hinein, lacht und glaubt nichts mehr. Überhaupt bin ich der Meinung, daß die »Neutöner« schließlich nur sich untereinander lesen. Das Publikum liest die Bücher nicht. Es ist durch die Familienblätter dermaßen verseucht und versumpft, daß es gar nicht weiß, was sonst in der Literatur seiner Zeit vorgeht und geschrieben wird. Traurig, traurig.

Es ist selbstverständlich, daß der Dichter nach den gleichen Gesetzen der Moral und Wohlanständigkeit zu leben hat wie seine Mitbürger. Aber es ist ihm dennoch mehr zu verzeihen: Seine Freuden und Schmerzen sind tiefer und größer, seine Nerven feiner, seine Sinne schärfer.

Ein Dichter ist leicht erregt, leicht verliebt, hat ein leicht entzündliches Herz. Er sollte deshalb nicht heiraten. Auch aus andern Gründen nicht: er wird durch die Heirat unfrei. Jedermann wird durch die Heirat unfrei. Er verliert also das köstlichste Gut, das ihm eignet, die Freiheit. (Oder nimmt er sie sich, wenn er verehelicht ist, so ist er eben nicht verheiratet.) Die Heirat ist eine Fanggrube: wer hineinfällt, dem wird die Philistermütze über die Ohren gezogen. Ein Dichter und – ein Philister: zwei undenkbare Freunde.

Die christliche Religion hat uns die Kultur und tausend andre Segnungen gebracht. Wir liegen dankbar auf den Knieen vor ihrem herrlichen, erhabenen Stifter. Aber das Christentum tritt todfeindlich der Natur gegenüber: alle geschlechtlichen, also die unabweisbarsten, unabwendbarsten, despotischsten Neigungen haßt sie und möchte sie ausrotten. Die Einehe gibt sie mit sauersüßer Miene zu. Der Natur aber ist es gleichgültig, daß so das Christentum will. Der Natur ist das Christentum so gleichgültig wie der Mohammedanismus, der Kult der Hottentotten. Sie sagt: weg da! und tritt das ruhig mit ihrem plumpen Fuß zu Brei, was sich ihr hindernd entgegenstellen will. In spätern Jahrhunderten werden wir eheliche Verbindungen haben, die in andrer Weise wie jetzt geschlossen werden. Das ist unzweifelhaft.

Heute noch, und das ist unser teuerstes Gut, ist die Einehe die breiteste Grundlage aller guten Sitte, der Familie, des Staates, unendlichen Segens, des Friedens (wenn Mann und Frau gut zusammen passen; nach den Flitterwochen gute Freunde werden). Aber ein Dichter sollte nicht heiraten.

Wie ist mir das so rührend, wenn ich von einzelnen namhaften Dichtern lese, daß sie, sei es durch Armut oder welche Umstände immer gezwungen, aus ihrer winzigen Umgebung nie herausgekommen sind. Was erst wäre aus ihnen geworden, wenn sie mitten in der Welt gestanden hätten. Es ist oft von Goethe gesagt, es sei betrübend gewesen, daß er nicht in großen Städten: wie Hamburg, in großen Verhältnissen gelebt habe.

Ich meine, es rührt mich das: In dieser kleinen, kleinlichen, engen, engherzigen Umgebung, wo sie wie ein Taubstummer umhergehen müssen, weil sie sich mit keinem Menschen über literarische Dinge unterhalten können, über ihre Pläne, Begeisterung, Entzückungen (um das mir widerwärtige Wort einmal zu gebrauchen), wo sie stets wie Gefangne im Einzelgefängnis leben müssen – wie ihnen dann eine Wolke, ein Baum, ein Stein, eine Blume, ein Schmetterling, ein ihnen auf der Heide begegnender Bauer, ein Vogel den bescheidenen Ur- und Untergrund »liefert«, aus dem sie aufbauen. Nein! verschwenderisch soll das Leben den Dichter umgeben! Je verschwenderischer, je besser. Anregung, Abwechslung sind dem Dichter die erste Notwendigkeit!

* * *


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