Detlev von Liliencron
Der Maecen
Detlev von Liliencron

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Poggfred, August

Über dem schlafenden Schleswig-Holstein liegt eine herrliche Sommernacht. Es ist eine Nacht, von der Eichendorff sagt:

Sie singen von Marmorbildern,
Von Gärten, die überm Gestein
In dämmernden Lauben verwildern,
Palästen im Mondenschein,
Wo die Mädchen am Fenster lauschen,
Wann der Lauten Klang erwacht,
Und die Brunnen verschlafen rauschen
In der prächtigen Sommernacht.

Der alte gute deutsche Freiherr mit dem treuen Königs- und Volksherzen. Sein Name wird unser Vaterland begleiten bis in seine letzten Tage. In Eichendorff war kein Falsch. Bis auf den Grund deutsch war er wie Uhland. Uhland und Eichendorff bleiben mir für immer ans Herz gewachsen.

Am heißen Nachmittag, als ich in Stendhal las, flog eine Fliege durchs Fenster zu mir. Es war nicht die gewöhnliche Zimmerfliege, auch nicht jene, die sekundenlang still zu stehen scheint, um dann mit großer Schnelligkeit fortzuschießen. Es war eine Fliege, wie ich sie nie gesehen hatte. Meine Fliege flog, ganz bestimmt mit unnennbarer Grazie wie eine Fee, wie eine Sylphide, wie eine Tänzerin vor mir hin und wider. Sie tanzte ganz bestimmt vor meinen Augen. Sie war, das weiß ich ganz bestimmt, Tänzerin am Stadttheater in Mainz gewesen. Die ganze Fliege, dies putzige Ding, hatte ziegelrote Farbe mit schwarzen Ringen. Und sie tanzte, tanzte, tanzte . . . und ich legte Stendhal beiseite, und sah ihr lächelnd, ja zuletzt entzückt zu . . . Und sie tanzte, tanzte, tanzte, und dann hörte ich ein feines Stimmchen: »So, Herr Graf, nun haben Sie mich genug bewundert. Es hat mich gefreut, Sie einmal wieder gesehen zu haben. Erinnern Sie sich noch? Ich empfehle mich Ihnen. Es geht mir übrigens gut.« Und dann tanzte, flog, flog, tanzte dies zierliche Geschöpf wieder zum Fenster hinaus, und ich nahm wieder meinen Stendhal auf, nachdem ich meinen mir im Schoße liegenden Dachshund, Herrn Didel, beruhigt, dem eine ganz gewöhnliche Stubenfliege die Nase gekitzelt hatte.

Ich las in Stendhals »Physiologie der Liebe«. Warum nannte er sein Buch nicht »Psychologie der Liebe«? Stendhal gehört zu den Schriftstellern, die erst fünfzig Jahre nach ihrem Tode entdeckt und gelesen werden. Er hat das selbst von sich voraus gesagt. Ich fand ein vorzügliches Wort von ihm:

»Es ist eines der Leiden des Lebens, daß jenes Glück, den geliebten Gegenstand zu sehen und mit ihm zu sprechen, keine deutliche Erinnerung zurückläßt. Die Seele ist augenscheinlich zu erregt von ihren Empfindungen, um darauf zu achten, was sie hervorruft oder begleitet.«

Da hat Stendhal das ausgesprochen, worüber ich mir vergeblich so oft den Kopf zerbrach, um die Erklärung zu finden. Bis zur Stunde sind mir Gesichter im Gedächtnis geblieben, die ich nur auf kurze Zeit, während einer Fahrt auf der Bahn, gesehen habe, vielleicht vor zwanzig Jahren. Ich habe mit diesen Menschen nicht ein Wort gewechselt, und doch stehn sie noch heute haarscharf vor mir.

* * *

Überreicht man in Deutschland einem einen Band Gedichte von sich, so ist man, so weit sind wir jetzt, einer Pistolenforderung gewärtig. Ich kann froh sein, nie einen Vers geschrieben zu haben.

* * *

Haus Gadendorp.

Es ereignete sich in einer schwülen Julinacht. Ich spielte im gelben Gartenzimmer seit zwei Stunden Chopin. Ich hatte ihn lange nicht genossen.

Zum gelben Gartenzimmer gehört ein Balkon. Dieser ruht auf zwei Säulen. In meiner Knabenzeit kletterte ich einmal an einer dieser hinauf, um meine Mutter, die am Flügel saß, zu erschrecken. Ich kam unbemerkt ins Zimmer und überraschte sie mit einem lauten Schrei. Sie war vor Schreck einer Ohnmacht nahe. Mein Vater gab mir dafür die Reitpeitsche. Es ist das einzige Mal gewesen, daß er mich geschlagen hat.

Wie erschrak ich selbst bis zum Bleichwerden, als mich, während ich ganz vergessen in der schwülen Julinacht Chopin spielte, ein Fall auf den Fußboden auffahren ließ. Ein Mann, von unten bis oben in eine weiße, scheinbar Sträflings-Uniform gekleidet, war heraufgeklettert an einer der Säulen und stand nun mitten im Raum. Er ging ruhig an einen mit einer Lampe bestellten Tisch, setzte sich und sagte mit dumpfer Stimme: »Spielen Sie weiter«. Ich war wie gelähmt, ich konnte mich nicht erheben. Der weiße Mann wiederholte, ebenso ruhig, aber lauter, bestimmter: »Spielen Sie weiter«. Ich starrte ihn noch immer an. Da ergriff er die schwere Lampe, nahm sie in die Höhe und brüllte, in der gleichen Ruhe: »Spielen Sie weiter«.

Ich wußte längst, daß ich einem entsprungenen Irren gegenübersaß. Ich hatte meine Besinnung wieder. Ich überlegte blitzschnell: erst wieder die Finger auf die Tasten. Ich begann den As-dur-Walzer. Der weiße Mann setzte sich.

Plötzlich sprang er auf, blieb aber an der Stelle. Er schrie mich an: »Aufhören, Sie Garnichtskönner. Sie haben keine Idee vom Klavierspiel. Hören Sie mich. Wissen Sie, daß ich der Vetter Robert Schumanns bin? Robert Schumann und ich sind auf der Sonne geboren; wir sind Sonnenkinder. Sie, mein Herr, sind der erbärmlichste Stümper, der mir je vorgekommen ist. Platz da. Weg da vom Flügel!«

Er kam auf mich zu. Ich hatte meine Fassung wieder. Meine Rettung blieb vorläufig: den Wahnsinnigen gewähren lassen. Ich trat ein wenig zurück. Er ging, mich höhnisch und verächtlich anschauend, ans Instrument, setzte sich und spielte mit unendlicher Zartheit Schumanns »Abendmusik«. Ich dachte indessen nur, wie ich mich aus meiner Lage befreien könne. Kaum hatte er geendet, als er plötzlich in rasende Wut ausbrach. Mit beiden Fäusten hämmerte er auf die Tasten. Er zerschlug sich die Haut. Das Blut lief ihm aus den Händen. Vor seinem Munde stand Schaum. Er fiel ohnmächtig vom Sessel. In diesem Augenblick, durch den Lärm gelockt, traten zwei meiner Diener ein. Wir brachten den Unglückseligen aufs nächste Bett. Es stellte sich richtig heraus, daß es ein entsprungener Irrsinniger gewesen war.

* * *

Ein nasser Tag. Der Regen rinnt unaufhörlich. Oft wird er stärker, oft schwächer. Eine halbe Stunde setzt er aus. In dieser Zeit klatscht es in den Bäumen und unter ihnen. Es ist der Nachtropfenfall von Blatt zu Blatt. Nun beginnt er wieder. Der Wind ist eingeschlafen. Senkrecht fällt der Wolkensegen. Durch das offenstehende Fenster gähnt die Ruhe herein. Ganz hinten im Garten erklingt eine mir unbekannte, glockenhelle Vogelstimme. Es sind immer drei Töne mit einem Vorschlag.

Ich habe in Grillparzers Sappho gelesen. Das alte begehrliche Frauenzimmer ward mir langweilig. Ich kanns dem jungen Kerl wahrlich nicht verdenken, daß er sich hinter die kleine niedliche Zofe macht. Ich hätts grade so ausgeführt.

Und immer nur die Stille. Ganz hinten im Garten die unbekannte glockenhelle Vogelstimme mit den drei Tönen und dem Vorschlag.

Ich setzte mich an den Bechstein, aber ich mag heute nicht spielen.

Ich räkele mich im Lehnsessel, strecke die Beine weit vor, schließe die Augen. Aber die Vogelstimme, die Vogelstimme. Soll ich das Gewehr nehmen, mich anschleichen und . . . o pfui, pfui!

Was klingt heraus aus der Vogelstimme? Was will sie sagen? Wie? Was hör ich? »Verbrenn den Kram, verbrenn den Kram, verbrenn den Kram.«

Verbrenn den Kram? Was soll ich verbrennen? Und immer ruft es aus dem Garten: »Verbrenn den Kram«. Ich gehe langsam an eine geschnitzte Truhe, die ich bei einem Bauern als Haferkiste fand. Ich kaufte sie. Vom Tischler Hans Petersen ließ ich sie säubern. Er und ich standen wie ein paar neugierige Affen an der Lade: was wird sich da zeigen? Wir entdeckten eine Schrift:

So lang du in dit Schap wat hest,
Schient di de Sünn un freut sick de Gäst.

Jochim Harms unde Metta Harms. anno 1621.

Zwei Engelsköpfe und die andern Schnitzereien auf der Kiste sind von hohem künstlerischen Wert. Vielleicht hat sie nur ein armer Tagelöhner an unsrer Westküste gearbeitet.

Ich stehe an der Truhe. Der Vogel ruft immer noch: »Verbrenn den Kram«. Und er schreit wie toll: »Verbrenn den Kram«.

Ich öffne sie. Ah so . . . »Verbrenn den Kram,« hör ichs zum letztenmal; dann scheint er weggeflogen zu sein. Vor mir liegen Liebesbriefe, verjährte. »Verbrenn den Kram,« da hat er Recht.

»Aber aus Welschland . . .«

Heute ist ein Nachmittag zum Verbrennen. Und keine Rührung, kein Aufbäumen. Nicht hineingesehen in die Briefe. Ins Feuer, ins Feuer.

Ich lasse einige Eichenklötze entzünden und schließe mich dann ein.

Ich nehme das erste beste mit rotem Seidenfaden umschnürte Paketchen heraus: Stasia.

Mon cher ami!

Je m'empresse de vous donner des nouvelles, car je pense, que vous vous ennuyez, depuis si long temps, que nous nous sommes vus, on est dans ce cas bien heureux d'être à même d'épancher son coeur; afin de se consoler d'être autant éloigner. En espérant que la bonne occasion, nous rapprochera bientôt l'un de l'autre.

Je vous souhaite toujours beaucoup de bonheur. Je n'entrerai pas de trop long détails pour ce moment bien court que je vous écris ces mots à la hâte pendant l'absence de mon pêre.

Alors je finis ma lettre et je désire de votre part aussitôt une aimable

réponse

celle qui est pour la vie

votre amie

                        Stasia

Portant des longs cheveux tresés.

Und die kleine Polin Stasia stand lebhaft vor mir. Ihr Französisch, nicht einmal fehlerfrei, im Stile, wie ihn junge Mädchen in der Erziehungsanstalt lernen, hatte mich damals nicht belästigt, und viele, viele Male habe ich den Brief geküßt. Nach dem gezierten Brieflein kamen heiße, glühende. Ich entsinne mich unsers ersten Stelldicheins. Wir trafen uns zehn Minuten vor der kleinen polnischen Stadt an einem ungepflegten Felde. Der Märzwind wehte die großen, dicken weißen Wolken von der Sonne. Neben uns stand ein vergeßner Spaten. Am Rande eines Birkenwäldchens sahen wir Wildschweine, die vergnügt mit ihren Gewehren den Boden brachen. Wie reizend sprach sie ihr fürchterliches Französisch. Ein junger Weidenbusch, in dem erst sechzehn, siebzehn Jahre der Saft treiben mochte, barg uns vor der Welt. Er war über und über mit gelben Kätzchen behangen. Als wir uns zuerst geküßt hatten, radebrechte sie deutsche Worte und schlug die Arme um meinen Nacken und rief: »O Libber, Libber . . .« Die beiden langen roten Hutbänder wehten im Winde . . . Leb wohl, Stasia. Und ihre Briefe verflammten im Ofen.

Ich bin erregt; ich verbrenne heute keine Briefe mehr.

* * *

Poetenlos: ».Des Himmels Prinzen und der Erde Lumpen«, sagt Freiligrath.

* * *

Farben.

Hellblaue Husaren reiten, zu Zweien hintereinander, aus dem Ausgang eines dunklen Buchenwaldes in den hellsten Sommersonnenschein; immer mehr, immer mehr – immer reiten zwei heraus, und immer mehr, und immer nur zwei zugleich. Die hinter ihnen ziehen, die noch kommen sollen, sind nicht zu sehen.

Neulich, als ich jagte, suchte mein kurzhaariger, goldbrauner Hühnerhund in einem blühenden Lupinenfelde. Der Hund verschwand; nur sein Kopf war, fortwährend witternd (Luft ziehend) über dem Felde sichtbar. Dieses dunkle Goldbraun in den eiergelben Lupinen.

Auf dieser Jagd auch fiel mir ins Auge: Auf einem niedergelegten Knick stand ein Ebereschenbäumchen mit knallroten Beeren übersäet. Diese stachen ab von der Lilaheide, die den Wall übersponnen hatte. Rote Beeren und Lilaheide wieder von den Stoppeln, auf denen gebräunte Garben sich aneinander lehnten.

In diesem Frühjahr sah ich und behielt im Kopf: Eine dunkle Tannenwand; zwei nebeneinanderstehende Silberpappeln in der Höhe der Fichten, vor dieser. Und vor den beiden Silberpappeln, vor deren Mitte ein Buchenbäumchen mit den ersten hellgrünen Blättchen. Reizend.

Die Mutter meines Vaters, in Westindien geboren, hängt, das Bild zwei Zoll im Geviert, sehr fein, auf dem Wiener Kongreß, auf Elfenbein gemalt, über meinem Schreibtisch. Das purpurne Samtkleid ist stark ausgeschnitten, nach damaliger Sitte mit hohem Gürtel. Wundervoll gemalte Spitzen sitzen oben, glatt übergelegt, am Ausschnitt; die herrlichen Arme sind entblößt. Der linke ruht auf der Lehne eines Sessels; seine Finger halten ein halb gefallnes weißes durchsichtiges Tuch. Meine Großmutter, damals neunzehn Jahre alt, hat ein wenig schläfrige Augen; aber es ist ein entzückendes Gesicht. Der Prinz von Ligne sagte von ihr, daß sie die schönste Dame des Kongresses gewesen sei. Und dieses vornehme Großmütterchen sieht mich jetzt an. Ich habe eben einen Gräserstrauß dicht vor sie hingestellt. Und nun seh ich durch die zarten Rispen das süße Gesichtchen und Teile des purpurnen Samtkleider der Spitzen, und die leuchtenden Arme.

In einem Bronzeteller Vergißmeinnicht; in diese steckte ich einige Jasminblumen.

Glühender Julimittag in einem einsamen Garten. So grell scheint die Sonne, daß kaum eine Form zu erkennen ist; alles ist getaucht in weißflüssiges Licht. Eine große, leuchtende, flimmernde Marmorsphinx liegt vor gleißenden Steinstufen. Ein ziegelroter Schmetterling, die einzige Farbe in all dem zittrigen Schimmer, umwebert unaufhörlich den Hals des Ungetüms.

* * *

Cornelius Gurlitt sagt (er spricht von der Kunst zu Peter Corneliussens Zeit): »So sank die deutsche Kunst dahin. Ihr tiefster Verfall äußert sich in einem ihrer größten Meister, in Peter Cornelius.« Mir aus dem Herzen gesprochen.

* * *

Marie von Ebner-Eschenbach, die ich so hoch verehre, sagt irgendwo, bei Betrachtung eines Bildes: »Möchte wissen, in welche Kategorie die Alleskenner und Nichtskenner den einreihen, der das gemalt hat? Ein Idealist? Ihr Herren! seht nur die Wahl des Stoffes: Eine Balgerei zwischen einem Soldaten und einem Matrosen, um die sich ein neugieriges Publikum schart. Und nun die Ausführung. Wessen ist sie? Eines Realisten? Nein, eines Künstlers, dem das Häßliche und Rohe widerstrebt, und der dennoch die Wahrheit darstellt, die höchste, in den Gluten seiner Feuerseele geläuterte Wahrheit. Der macht aus einer Prügelei, die wir in Wirklichkeit schwerlich mit ansehn möchten, ein unvergeßliches Kunstwerk!«

Ich nehme tief den Hut ab, Frau Baronin.

* * *

Vor einigen Jahren nahm in seinem engern Kreise ein wohlhabender Gutsbesitzer, Freiherr v. Heesten, Abschied, um, wie er sagte, eine Reise um die Welt zu machen. Einige Wochen später verschwand ein junges Mädchen seiner Nachbarschaft, die Tochter des Kammerherrn v. Schierensee, Felicitas. Jeder brachte dies Verschwinden in Zusammenhang mit der Reise Joachims von Heesten. Aber dieser erschien zum Erstaunen aller nach achtzehn Monaten auf seinem Gute. Felicitas blieb verschwunden.

Nach einiger Zeit entführte Joachim Anna v. Schierensee, die jüngere Schwester Felicitassens, dieser auffallend ähnlich.

Ich lasse einen Brief weiter erzählen:

Bald nach ihrer Flucht waren Joachim und Anna in Paris angekommen, wo sie sich trauen ließen. In einer eleganten Wohnung der Rue Rivoli richteten sie sich ein. Gleich nach ihrer Verehelichung hatte Joachim dem Kammerherrn geschrieben, und um die Einwilligung der Eltern gebeten. Herr v. Schierensee antwortete, daß er, wenn noch einmal ein Schreiben von Joachim einträfe, die Botschaft und die Pariser Polizei in Anspruch nehmen werde.

Als ihnen ein Söhnchen geboren wurde, fehlte zu ihrem Glücke nur die Wiedervereinigung mit ihrer Familie. Doch bald sollte Schweres kommen, das Schwerste im Leben: Geldsorgen. Gegen die riesige Kriegsdrommete der Geldnot sind alle anderen Lebenssorgen Kindertrompeten. Joachim, der sein Gut verkauft, hatte törichterweise das ganze Kapital bei einem Bankhause hinterlegt. Das Bankhaus fallierte, Joachim verlor sein Vermögen.

Der Schlag war betäubend. Aber Joachim raffte sich auf. Mit möglichster Schonung teilte er die böse Zeitung seiner Frau mit. Sie aber fiel ihm um den Hals und rief: Ich teile mit dir gute und böse Stunden.

Im Anfang des Märzes schifften sie sich auf einem Dampfer der französischen Linie von Havre nach New-York ein. Als Anna den letzten Blick auf europäisches Land warf, fiel ihr nicht das Elternhaus ein, auch kein Heimatsgefühl schien sie zu bewegen. In der furchtbaren Brandung, die an der Insel Guernsey stand, sah sie deutlich eine Sphinx liegen. Sie nahm die Rechte ihres neben ihr stehenden Mannes und beugte ihre Stirn darauf. Dann starrte sie wieder, ohne die Hand loszulassen, in die Brandung.

Astoria ist eine Vorstadt New-Yorks nach Norden zu. Hier liegt, hart am East River, der die Rieseninsel von Long-Island trennt, ein einsames Haus in einem einsamen Garten. Der Besitzer war gestorben, und die Erben hatten es an Joachim vermietet. Es war einige Tage nach ihrer Ankunft. Die Tulpenbäume blühten. Vor dem Hause bedeckten die Schatten eine glückliche Familienszene. Während Anna vor der Türe stand, hatte Joachim sein Söhnchen genommen und schaukelte es so hoch, daß sich die Mutter entsetzte. Es ging ihnen gut. Zwar waren die wenigen Schmucksachen verschwunden. Sie litten keine Not.

Zwei Monate waren sie nun hier in der fremden Welt. Joachim, der seine Frau mehr als je liebte, hatte bald eine entsprechende Beschäftigung gefunden, die ihn und seine Familie vor Mangel schützte. So kam der Herbst. Joachim verlor, nicht durch seine Schuld, seine Stelle. Die erste wirkliche Geldnot trat ein. Er nahm zum Notenabschreiben seine Zuflucht und spielte abends in guten Häusern zum Tanz. So erzählte er wenigstens seiner Frau. In Wahrheit aber spielte er in elenden Kneipen und begleitete hier die Sänger und Sängerinnen zum Gesang. Er kämpfte für sein Weib, für sein Kind. Was sich ihm bot, ergriff er.

Es war am Ende des Novembers. Er hatte abends im Franklin Garden zu spielen, einem Lokal in der Nähe der Bowery.

Auf dem Thron der kleinen Bühne stand ein ältlicher Herr mit fetttriefendem Haar, schmutzig weißen Handschuhen und in einem kurzen, abgefaserten Frack, der dem Publikum verkündete, daß jetzt auftreten wörde die beröhmte Säncherin Freilein Anastasia Kampanella aus Neapel, die auf ihrer ersten amerikanischen »Tour« begriffen, diesem Lokale »zuerst« die Öhre antun wörde. Sie wörde sinchen das beröhmte Lied: Killarney. Dann machte er mit der Linken eine Bewegung nach dem vor der Bühne stehenden Klavier. Joachim begann das Vorspiel. Fräulein Anastasia Kampanella erschien: eine gänzlich verblichene Schönheit, mit verwüstetem Gesicht. Aus den matten braunen Augen sprach die herbste Gleichgültigkeit. Sie begann, das bekannte Lächeln auf den Lippen, mit trockner Stimme:

By Killarneys lakes and . . .

Dann blieb sie stecken, und ihre Augen richteten sich starr und unbeweglich auf Joachim, der ruhig, ohne aufzuschauen, die Begleitung weiter spielte.

Nun ein Sprung von der Bühne, und sie lag vor ihm, umfaßte seine Kniee, und schrie wie ein Tier, doch dumpf und leise, als müßte sie ersticken: »Joachim, Joachim; ich vergeb . . .«

Er war aufgesprungen in furchtbarer Bewegung und hatte sie von sich gestoßen. Aber sie warf sich ihm zu Füßen und umklammerte wieder seine Kniee:

»Töte mich, Joachim, töte mich.« Nun stand er regungslos. Er war aschfahl im Gesicht. »Felicitas«, sagte er tonlos.

»Voyez donc, Pierre, voyez donc: C'est drôle!« rief ein Franzose. »Kiek mal, dat's mal fein, de spelt Komedi«, sagte ein Hamburger Matrose zu seinem Nachbarn.

Es entstand ein rasendes Klatschen, ein donnernder Applaus. Nur der Wirt des Lokals, ein Schwabe, der mit grenzenlosem Staunen die Szene beobachtet hatte, schien die Lage zu erkennen. Er ging auf Joachim los:

»Wasch isch dasch? Warum schpiele Se nit?« Als er keine Antwort erhielt, wollte er ihn schütteln. »Zurück,« rief Joachim, und sich zu dem Sänger auf der Bühne wendend, sagte er in dem alten Ton: »He, Sie da! Geben Sie mal den Hut der Dame her« – und dann ihr den Arm bietend, verließen sie den Saal.

»Arischtokrateblut« schrie ihnen der Wirt nach.

Bald war die Ruhe wieder hergestellt, und jener Sänger brüllte zur allgemeinen Befriedigung, mit stets gleich bleibender Stimme:

»Üch woiß nihcht, was sohl es bedeiten,
Taß üch so trau–au–a–rich bühn . . .«

Am andern Morgen, nachdem sie sich schwer geängstigt hatte, erhielt Anna einen Brief von Joachim durch die Stadtpost. Er enthielt nur wenige Worte.

Das Blatt fiel ihr aus der Hand. Das Zimmer drehte sich mit ihr im Kreise. Sie stürzte an das Bettchen ihres Knaben und riß ihn heraus. Sie schien wahnsinnig geworden. Endlich kam die rettende Ohnmacht; sie brach zusammen. Das Kind fiel glücklich und schlief weiter. Nach einer Stunde trat das kleine Negermädchen, ihre einzige Bedienung, hinein und trug ihre Herrin aufs Bett.

Im vierten Stock eines Riesengebäudes in der elften Avenue, wo auf jeder Etage, genau abgeteilt, vier Familien leben, wohnte Anna seit acht Tagen. Das Geld ging zu Ende. Sie kannte keinen Menschen. Wer bekümmert sich in einer großen Stadt um den andern, wer bekümmert sich in einer Mietskaserne um seine Nachbarn.

Ein wüster Schneesturm fegte durch die Stadt; es fror wie in Petersburg. Anna hatte kein Holz mehr, keine Nahrung. Ihr fiel ein, daß sie Morphium besitze, das sie für frühere Fälle gegen Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit gebraucht hatte. Sie nahm ihr Kind in die Arme, es war eiskalt, die Augen gebrochen. »Gerechter Gott« schrie sie im Wahnsinn. Sie wickelte ihr Söhnchen in ihre Kleider und in die wenigen Decken, dann nahm sie rasch eine starke Dosis Morphium und legte sich zu ihrem Liebling.

Vor ihrer Tür fiel in diesem Augenblick ein altes, betrunkenes irländisches Weib mit einem derben Fluch zusammen.

Auf einer Insel in der Nähe New-Yorks liegt der Armenkirchhof dieser Stadt. Es ist nur eine öde, sandige, schattenlose Fläche. Keine Blumen, keine Zeichen der Liebe. Jeden Morgen bringt ein Regierungsdampfer die »Namenlosen« dahin. Dort, unter den kleinen, hölzernen Kreuzen, schläft Anna. Ihr Grab hat die Nummer 12731. Das Kind gab man ihr mit in den Sarg, nicht aus Mitleiden; des billigern Preises wegen. Praktisch, praktisch muß man sein, und besonders Amerika zeichnet sich darin aus.

* * *

Eine kleine Stadt von viertausend Augen hat, was Aufpasserei betrifft, vierhunderttausend Augen. Höchst unangenehm, wirklich höchst unangenehm.

* * *

Heut erließ ich für meinen großen Schubertsaal ein Preisausschreiben zu vier Standbildern für Schubert, Schumann, Brahms und Robert Franz. Zehntausend Mark dem Sieger. Für die Denkmäler, die im Saale ihren Platz finden sollen, habe ich, für jedes, hundertundfünfzigtausend Mark bestimmt. Bindseils Gesicht!

* * *

Ich hatte einen fröhlichen Brief von meinem kleinen Maler aus Rom. Lachend muß ich immer noch an den Nachmittag zurückdenken, an dem ich einen Menschen glücklich machte. In Eckerts Salon in Berlin standen Bilder aus. Ich war in einem der kleineren Nebensäle auf Minuten allein. An der riesigen Leinwand eines Akademikers – irgendwie Onkel Homer und die Musen oder sonstige olle Griechen mit graden Nasen und Schafsgesichtern und flachem Fleisch, Fleisch ohne Leben, auf Marmorfliesen lungernd und sich vielleicht Ebersens »Ägyptische Königstochter« vorlesen lassend – die tadellos gezeichnet, aber ohne gute Farbe mir langweilig entgegengähnte, stand auf einem Täfelchen die Verkaufssumme: achtzigtausend Mark. Neben diesem Ungeheuer hing, von einem mir bisher nicht bekannten Maler, ein ganz kleines Gemälde: im grellsten Sonnenschein lag im Grase, platt auf dem Leibe, eine junge, nackte Frauengestalt. Sie stützte das Haupt auf den stark verzeichneten linken Arm. Den rechten hielt sie nach der Seite gestreckt; in der offenen Hand saß ein vollendet wiedergegebener Frosch, der sie anschaute, und dem auch sie das Gesicht lächelnd zuwandte. Ein Bild, dessen Vorwurf tausendmal von Idealisten und Realisten gebraucht ist; aber wie? Leben. Das war gesundes, rundes, rosiges Fleisch, vorn und hinten. Das linke Bein hatte sie im Knie nach rückwärts gebogen. Alles farben- und formenfreudig, wie bei Rubens. Hier zeigte das Täfelchen die Verkaufssumme: dreihundert Mark.

Ich war mutterseelenallein. Rasch wie der schnellmachende Dieb vertauschte ich die Summen. Dann ging ich zum nächsten Galerie-Diener und bat ihn mitzukommen. Als wir uns vor den Bildern befanden, deutete ich auf die Täfelchen. Zuerst geriet der Mann ganz außer sich, dann aber beruhigte er sich lächelnd, während er wieder die Sache in Ordnung brachte: »das wird ein Schalk getan haben«.

Ich aber ging stracks zum Aussteller und erkundigte mich nach den Verhältnissen des Malers. Da mußte ich ein trübes Geschichtchen vernehmen: daß er aus Armut nicht weiter könne, daß es sein erstes Bild sei, das er ausgestellt, daß das Publikum wütend auf den »Materialisten« sei; und daß er (der Aussteller) sich leider genötigt sähe, das Bild wegzunehmen, weil er zu viele unangenehme Worte dessenwegen habe hören müssen.

Nun eilte ich zum Maler selbst, fand ihn in fürchterlichen Verhältnissen, erzählte ihm, daß ich gesonnen sei, für sein Bild achtzigtausend Mark, wie an ihm die Summe genannt, zu zahlen. Als der junge Herr anfing, mich für verrückt zu halten, gab ich ihm den Sachverhalt. Er schrie, lachte, weinte, rief in einem fort: »Herr Graf, Herr Graf.«Am andern Tag schon packte ich ihn und seine Siebensachen nach München ein.

Heut nun erhielt ich wieder einen seiner lustigen, sprudelnden Briefe. Er hat noch immer in Deutschland mit dem »Publikum« (natürlich!) stark zu kämpfen. Aber sein Sieg rückt näher und näher.

Glücklich machen, glücklich machen; Menschen erlösen aus ihren steinernen und versteinerten Mitmenschen. Wozu hab ich denn den Quark. Helfen, helfen! frohe Gesichter leuchten sehen. Und wer ist denn der Beglücktere: Der, dem geholfen wird oder der Helfer?

* * *


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