Friedrich Lienhard
Wege nach Weimar. Erster Band
Friedrich Lienhard

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Aus Platos Werken

Die Seele

(Aus Kaßners Übersetzungen; Jena, Diederichs)

Wisse: es sind der Seele die Flügel gewachsen, damit sie das Schwere zum Himmel emporhebe, dorthin, wo das Geschlecht der seligen Götter wohnt. Denn nur fliegend, nur im Fluge haben wir Anteil am Göttlichen. Alles Göttliche ist schön und weise und gut; vom Schönen und Weisen und Guten nähren sich und an diesem wachsen die Flügel der Seele, am Häßlichen und Bösen wellen sie und fallen ab.

Wenn die Seelen zum Mahle wollen, dann führt sie der Weg ganz steil hinauf bis zu den Gewölben des Himmels. Die Gespanne der Götter – sie sind stets im Gleichgewicht und leicht lenkbar – gleiten ihn eilend empor, die anderen aber nehmen die Bahn nur mit großer Mühe. Denn das Pferd aus gemeiner Zucht reißt und drückt den Wagen zurück zur Erde, wenn es vom Wagenlenker nicht abgerichtet worden war, und da hat nun die Seele ihre äußerste Not und den schwersten Kampf. Die Seelen der Unsterblichen aber, sie treten aus dem Himmel heraus, sobald sie seine Höhen erklommen haben, und stehen am Himmelsrücken, und mit den Göttern kreisen jetzt die Gewölbe, und die Götter schauen, was über dem Himmel lebt.

Kein Dichter hat je davon würdig gesungen, noch wird je ein Dichter es würdig tun. Da ich aber überall die Wahrheit will, so muß ich sie auch hier zu sagen den Mut haben. Wohin die Unsterblichen jetzt blicken, dort wohnt das große Sein: farblos und ohne Gestalt und ungreifbar, und nur der Lenker der Seele, der Geist, vermag es zu schauen, denn nur um dieses große Sein bemüht sich das wahre Wissen. Die göttliche Vernunft, mit Erkenntnis und reinem Wissen genährt, die Vernunft jeder Seele, so diese von dem gekostet hat, was ihr bekommt: sie sehen hier von Zeit zu Zeit wahrhaftig das Sein und sind heiter, sie schauen hier wahrhaftig die Wahrheit und werden ganz voll von ihr und frohlocken, bis sie den Kreis vollendet haben. Auf dieser Bahn, da schaut die Seele die Gerechtigkeit, da schaut die Seele die Besonnenheit, hier erkennt die Seele – nicht jene Wissenschaft, die stets am Gegenstande wechselt und mit dem, was wir in der Zeit wirklich nennen, spielt, nein, hier erkennt die Seele die Wissenschaft von dem, was wahrhaft und ewig da ist. Und dann erst, nachdem sie in diese Welt geblickt hat und mit der Wahrheit gespeist ward, taucht sie wieder aus dem Himmel unter und eilt nach Hause; der Wagenlenker führt die Pferde zur Krippe und wirft ihnen Ambrosia vor und tränkt sie mit Nektar.

So, Freund, ist das Leben der Götter. Von den Seelen der Menschen – ach! nur die edelste unter ihnen hebt, dem Gotte folgend als sein Gleichnis, das Haupt des Wagenlenkers über den Himmel hinaus und umkreist mit den Göttern den Himmel. Doch ist sie stets von den Pferden gestört und schaut nur erschrocken und mit Mühe das Sein. Die andere wird bald gehoben, bald taucht sie unter, die Pferde zwingen sie, und die Seele sieht darum wohl einiges, jedoch vieles entgeht ihr. Die vielen Seelen nun: auch sie streben wohl empor den Göttern nach, aber ohnmächtig bleiben sie unter den kreisenden Gewölben und treten aufeinander und fallen, denn es will stets ein Gespann vor das andere. Und so entsteht denn unter ihnen die größte Verwirrung und Streit und Drangsal. Und wo die Lenker nichts taugen, dort lahmen die Pferde, und viele Seelen brechen ihre Flügel. Alle aber eilen nach eitler Mühe und ungeweiht mit dem Anblick des großen Seins davon und zehren unten auf Erden am Scheine ...

Denn es muß der Mensch um das Allgemeine wissen und aus den vielen Wahrnehmungen vernünftig das eine zu sammeln verstehen: das ist seine Erinnerung an jene hohen Dinge, welche die Seele schaute, da sie mit dem Gotte zog und, was uns für wirklich dünkt, verachtete und den Blick zum wahren Sein gehoben hatte. Und darum trägt mit Recht nur des Philosophen Seele die Flügel. Denn im Philosophen ist stets die Erinnerung stark an alles, das da den Gott füllt. Und wer immer dieser Erinnerung mächtig bleibt, der hat die letzten Weihen empfangen, der ist wahrhaftig ein Vollendeter.


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