Friedrich Lienhard
Wege nach Weimar. Erster Band
Friedrich Lienhard

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Aus Emersons Werken

Freundschaft

(Aus den Essays; gekürzt)

Freundlichkeit gibt es weit mehr, als je in Worte gefaßt worden ist. Trotz aller Selbstsucht, unter der die Welt wie unter schneidenden Ostwinden erschauert, ist die ganze Familie der Menschheit mit einem Elemente der Liebe wie mit einem feinen Äther durchtränkt. Wie viele Personen treffen wir hier und dort in den Häusern, mit denen wir kaum jemals ein Wort wechseln, für die wir aber dennoch Hochachtung empfinden und deren Hochachtung wir uns erfreuen! Wie manche gehen auf der Straße an uns vorüber oder sitzen neben uns in der Kirche, deren Gegenwart uns unausgesprochenermaßen wohltuend berührt! Versuch es nur, die Sprache der umherwandernden Blicke zu verstehen! Das Herz weiß sie zu deuten.

Man hat in der Poesie wie auch im allgemeinen Sprachgebrauche die Regungen gegenseitiger Zuneigung und Wertschätzung mit den wesentlichen Eigenschaften des Feuers verglichen: so schnell wie dieses, oder vielmehr noch weit schneller, geschäftiger, herzerquickender sind diese inneren Ausstrahlungen. Von der Empfindung höchster leidenschaftlicher Liebe bis zur gleichgültigsten des Wohlwollens sind sie es, die die Lieblichkeit des Lebens ausmachen.

Unsere geistigen Fähigkeiten und unsere Tatkraft wachsen mit unserer Zuneigung. So setzt sich ein Schüler zum Schreiben hin, und aus all den Jahren des Nachdenkens will ihm kein einziger guter Gedanke, kein einziger glücklicher Ausdruck kommen; aber gilt es einen Brief an einen Freund zu schreiben, so fluten Scharen freundlicher Gedanken von allen Seiten und in den treffendsten Ausdrücken auf ihn ein.

Was ist so süß wie ein rechtes, tiefes Sich-finden zweier Menschen in einem Gedanken, einem Gefühl? In dem Augenblick, wo wir uns unserer Liebe bewußt werden, ist uns die Welt verwandelt; es gibt nicht Winter noch Nacht mehr, aller Jammer, alle Langeweile, ja alle Pflichten sogar verschwinden; auf ewige Zeit hinaus sehen wir nichts als die lichtumflossenen Gestalten geliebter Menschen.

Heute morgen wachte ich in dem Gefühle frommen Dankes gegen meine Freunde, die alten wie die neuen, auf. Soll ich Gott nicht den Gott der Schönheit nennen, wenn er sich mir täglich in seinen Gaben offenbart?! Ich fliehe die Gesellschaft und gebe mich der Einsamkeit hin, und doch bin ich nicht so undankbar, die Weisen, die Anmutigen, die Edelgesinnten zu übersehen, wenn sie von Zeit zu Zeit an meiner Tür vorüberschreiten. Wer mich hört, mich versteht, wird mein – mein Eigentum auf immer.

Ungesucht sind meine Freunde zu mir gekommen. Der große Gott war es, der sie mir gab. Durch das älteste Recht, durch die göttliche Verwandtschaft, die Tugend und Tugend verbindet, finde ich sie, oder vielmehr nicht ich – das Göttliche in ihnen und mir lacht der breiten Wälle, die uns bisher so viel bedeuteten, als da sind: individueller Charakter, Verwandtschaft, Alter, Geschlecht, Umstände, – räumt sie hinweg und macht aus vielen eins. Warmen Dank schulde ich euch, ihr vortrefflichen Liebenden, die ihr mir neue und edle Regionen in der Welt eröffnet und die Bedeutung aller Gedanken vertieft!

Werden auch diese oder doch ihrer etliche sich wieder von mir trennen? Ich weiß es nicht, aber ich kenne keine Furcht; denn meine Beziehungen zu ihnen sind so reiner Natur, daß wir durch einfache Verwandtschaft aneinander hängen, und da der Genius meines Lebens so geselliger Natur ist, wird diese Anziehung jedem gegenüber in Kraft treten, der diesen Männern und Frauen an Wert gleichkommt, sei es, wo immer es auch sei.

Hier muß ich einschalten, daß meine Natur in dieser Hinsicht besonders zart besaitet ist. Ein neuer Mensch, der in mein Leben tritt, bedeutet für mich ein Ereignis, das mir den Schlaf raubt. Die Vorzüge meines Freundes müssen mein Stolz sein, als hätte ich ein Eigentumsrecht daran, als gehörten seine Tugenden mir mit. Wird er gelobt, so wird mir so warm ums Herz wie dem Bräutigam beim Preise seiner Braut.

Aber unsere Freundschaften eilen einem kurzen, raschen Ende zu, wenn wir sie zu einem Gewebe von Wein und Träumereien gemacht haben, statt sie aus den starken Fiebern des menschlichen Herzens herzustellen. Die Gesetze der Freundschaft sind streng und ewig, aus gleichem Gespinst wie die Gesetze der Natur und Moral. Wir aber sind einem schnellen und oberflächlichen Gewinn nachgejagt, um uns an einem vorübergehenden Wohlgeschmack gütlich zu tun. Wir wollen im Fluge die langsamst reifende Frucht des ganzen Gottesgartens haschen, welche zu ihrem Ausreifen vieler Sommer und vieler Winter bedarf. Wir suchen unseren Freund nicht wie etwas Heiliges, sondern mit einer tempelschänderischen Leidenschaft, die nur begehrt, ihn sich zu eigen zu machen.

Habe Achtung vor der Naturlangsamkeit, welche zur Erhärtung des Rubins einer Million Jahre bedarf und in einem Zeiträume wirkt, in welchem die Alpen und Anden kommen und gehen gleich Regenbogen! Der gute Geist unseres Lebens hat keinen Himmel, den man durch Schnelligkeit gewinnt. Liebe, der Ausfluß von Gottes Wesen, ist nichts für die Flatterhaften, sondern etwas, was nur den vollwertigen Menschen zukommt. Laßt uns nicht kindische Genüsse im Auge haben, sondern den strengsten Wert!

Es ist nicht meine Absicht, in irgend welcher weichlichen Art über Freundschaft zu reden, vielmehr habe ich vor, sie fest anzupacken. Wahre Freundschaften haben nichts von einem Glasgespinst oder vom Rauhreif an sich, sie sind das Festeste, was wir kennen.

Nur ein hochherziger Charakter ist zu solch einem Bündnis geeignet, ein Mensch, der dessen gewiß ist, daß man mit Güte und Größe am weitesten kommt, einer, der nicht zu schnell damit bei der Hand ist, sein Glück selbst gestalten zu wollen. Laß dem Diamanten seine Jahrtausende des Werdens; versuche nicht die Geburt dessen, was ewig ist, zu beschleunigen! Freundschaft erfordert eine religiöse Behandlung. Ehrfurcht ist ein großer Teil der Freundschaft. Betrachte deinen Freund wie ein Schauspiel: er hat selbstverständlich Vorzüge, die du nicht hast und die du nicht würdigen kannst, wenn du ihn zu nahe an deine Person gedrängt hältst. Stehe abseits! Gib diesen Verdiensten Raum, laß sie wachsen, sich ausbreiten! Bist du der Freund von deines Freundes Rock oder der Freund seiner Gedanken? Einem großen Herzen wird der Freund in tausend Kleinigkeiten immer ein Fremder sein, damit er ihm auf heiligstem Grunde begegnen kann. Einen Freund als Spezialeigentum zu betrachten und ein kurzes, alles verschlingendes Vergnügen aus dem Verhältnisse zu ziehen, das überlasse Knaben und Mädchen!

Diese hohe Sache erfordert große und edle Menschen. Sie müssen durchaus zwei Menschen für sich sein, ehe sie eins zu werden vermögen. Freundschaft ist ein Bund zwischen zwei großen, einander Ehrfurcht einflößenden Menschen, die einander betrachtet und gefürchtet haben, bevor sie das tiefe Einssein, welches sie – unbeschadet aller Verschiedenheit – verbindet, erkennen.

Laßt uns nur durch eine lange Probezeit den Eintritt in diese Zukunft erkaufen! Wie dürfen wir edle und schöne Seelen entweihen, indem wir uns ihnen aufdrängen?!

Die Edlen sehen wir wie in weiter Ferne, und sie sind unnahbar für uns. Warum sollen wir uns ihnen aufdrängen? Spät, sehr spät erst erkennen wir, daß keinerlei Verabredung oder Empfehlung, kein Brauch noch geselliges Herkommen uns irgendwie zur Herstellung solcher Beziehungen verhelfen kann, wie sie uns wünschenswert erscheinen, – sondern einzig und allein ein Erheben unserer Seelen zu dem Niveau der ihren. Dann werden wir ineinanderströmen wie Wasser und Wasser; und sollten wir ihnen dann nicht begegnen, – nun, so bedürfen wir ihrer auch nicht, denn dann sind wir sie selbst. Im letzten Grunde ist Liebe nur das Spiegelbild des eigenen Wertes in einem anderen Menschen.

Wir gehen einsam durch die Welt. Freunde, ganz wie wir sie wünschen, sind Träume und Fabeln. Aber ein treues Herz hat immer den Trost einer erhabenen Hoffnung, daß irgendwo in anderen Regionen des Universums Seelen jetzt leben, leiden und wagen, die uns lieben können. Wir können uns nur dazu Glück wünschen, daß die Periode unserer Nichtigkeit und Torheit, unserer Irrungen, unserer Schmach in Einsamkeit verbracht wird, und wenn wir zu vollkommenen Menschen herangereift sein werden, so werden wir mit Heldenhänden Heldenhände ergreifen.

*

Heroismus

(Aus den Essays; gekürzt)

Wir brauchen Bücher von herber Tugend, mehr als Bücher über Staatswissenschaften und Haushaltungskunde. Das Leben ist nur für den Weisen ein Fest. Jeder Frevel, den unsere Vorfahren und unsere Zeitgenossen an den Gesetzen der Natur begangen haben, wird auch an uns gestraft. Die Krankheiten und Mißgestalten um uns her bezeugen zahllose Verletzungen natürlicher, geistiger und sittlicher Gesetze, und Versündigung auf Versündigung muh sich gehäuft haben, um solch ein kompliziertes Elend zu erzeugen. Unglücklicherweise existiert in dieser Welt kein Mensch, der nicht irgendwie Teilnehmer an der Sünde geworden wäre, und sich so auch einen Anteil an der Sühne geschaffen hätte.

Unsere Bildung darf daher das Waffnen des Menschen nicht unterlassen. Laßt ihn beizeiten hören, daß er zu beständigem Kampfe geboren ist, daß das allgemeine Wohl und sein eigenes verlangen, er dürfe nicht in den Festgewändern des Friedens dahintänzeln; sondern gewarnt, selbstbewußt und gelassen, den Donner weder fürchtend noch herausfordernd, muß er beides, Ruf und Leben, in seine eigene Hand nehmen.

Gegen all jene Übel, mit welchen die Außenwelt ihn bedroht, nimmt der Mensch im Innern der Brust eine kriegerische Haltung ein und empfindet und behauptet die Kraft, einzeln es mit dem unendlichen Heer von Feinden aufzunehmen. Dieser kriegerischen Haltung der Seele geben wir den Namen Heroismus. Seine roheste Form ist jene Verachtung für Sicherheit und Bequemlichkeit, welche den Reiz des Krieges bildet. Es ist ein Selbstvertrauen, das in der Fülle seiner Energie und Kraft, in der Gewißheit, jeden erlittenen Schaden wieder gutmachen zu können, die Beschränkungen der Klugheit geringschätzt. Der Geist des Helden befindet sich in solchem Gleichgewicht, daß keine Störung seinen Willen erschüttern kann – ruhig, gleichsam fröhlich schreitet er vorwärts nach den Klängen seiner eigenen Musik, mögen um ihn her Schreckensszenen sich ereignen oder der trunkene Jubel wüster Gelage und allgemeiner Entsittlichung erschallen.

Es liegt im Heroismus etwas Unphilosophisches; etwas Unheiliges liegt darin; er scheint nicht zu wissen, daß andere Seelen vom selben Stoffe wie er sind; er ist stolz; er bedeutet die extreme Entwicklung der Individualität. Dennoch müssen wir ihn aufs tiefste verehren. Es liegt etwas in großen Taten, das wir nie ergründen können. Der Heroismus fühlt, aber klügelt nicht, und darum ist er immer im Recht; und obgleich er bei anderer Erziehung, anderem Glauben, bei höherer geistiger Kraft vielleicht etwas anderes, vielleicht das Gegenteil getan hätte, bleibt doch für den Helden die Tat, die er vollbracht, stets die höchste, und weder Philosophen noch Priestern steht es zu, ihn zu tadeln.

Das Heroische wirkt im Widerspruch gegen die Stimme der Menschheit und eine geraume Zeit auch im Widerspruch gegen die aller Großen und Guten. Es beruht im Gehorsam gegenüber den geheimen Impulsen des eigenen Charakters, und kein anderer Mensch ist imstande, so zu erkennen, was an solchem Tun weise ist, wie der Tuer selbst, denn man muß schließlich annehmen, daß jeder Mensch auf dem eigenen Wege ein wenig weiter zu blicken vermag als irgend ein anderer. Darum mißbilligen selbst die Weisen und Gerechten sein Tun, bis einige Zeit vergangen ist; dann erkennen sie freilich, daß es mit ihrem eigenen Wirken im Einklang war. Alle klugen Leute sehen klar, daß seine Handlung sinnlichem Wohlbefinden gerade zuwiderläuft, denn jede heroische Handlung findet ihren Maßstab in der Verachtung irgend eines äußeren Gutes. Wenn zuletzt der Erfolg erreicht ist, dann preisen allerdings auch die Klugen.

Selbstvertrauen ist das Wesen alles Heroismus. Es ist die Kriegsbereitschaft der Seele; und seine endlichen Ziele sind, der Lüge und dem Unrecht aufs äußerste Trotz zu bieten, und die Kraft zu erwerben, das Schlimmste, was das böse Prinzip immer zufügen kann, zu ertragen. Der Heroismus spricht die Wahrheit, ist gerecht, edelmütig, gastfreundlich und maßvoll, verachtet kleinliche Berechnung, verachtet, daß er verachtet werde. Er harrt aus; er besitzt einen unerschütterlichen Mut, eine unermüdliche Tapferkeit. Er scherzt über die Erbärmlichkeit des täglichen Lebens. Jene falsche Klugheit, welche Gesundheit und Geld mit Affenliebe hegt und hütet, ist für den Heroismus ein Gegenstand des Spottes und der Belustigung. Wie Plotinus schämt sich der Heroismus beinahe seines Leibes. Was soll er nun erst zu den Zuckererbsen und Katzenbettchen, zu den Toiletten, Komplimenten, Zänkereien, Briefchen und Eierkuchen sagen, die den Witz aller Gesellschaft so außerordentlich in Anspruch nehmen?

Ehrsame Bürger, die nach den Gesetzen der Arithmetik zu denken gewohnt sind, bedenken die Unbequemlichkeit, welche die Bewirtung Fremder an ihrem Herde verursacht, und rechnen engherzig nach, welcher Zeitverlust und welch ungewöhnlicher Aufwand damit verbunden ist – die Seele von besserer Art weist solche unzeitgemäße Sparsamkeit mit Verachtung in die Grüfte des Lebens und spricht: Ich will dem Gotte gehorchen, für Opfer und Feuer wird er sorgen. Ibn Hankal, der arabische Geograph, berichtet uns von einem heroischen Extrem der Gastfreundschaft, wie es zu Sogd in der Bucharei geübt wird. »Als ich in Sogd war, sah ich ein großes Gebäude, wie einen Palast, dessen Tore offen standen und durch gewaltige Nägel an den Wänden festgehalten wurden. Als ich um den Grund fragte, erfuhr ich, daß das Haus seit hundert Jahren weder bei Tage noch bei Nacht jemals geschlossen worden sei. Fremdlinge sind in jeder Zahl willkommen. Der Herr des Hauses hat für den Empfang von Menschen und Tieren reichlich vorgesehen, und er ist nie glücklicher, als wenn sie längere Zeit bei ihm verweilen. In keinem Lande habe ich etwas Ähnliches gesehen.« Großherzige Menschen wissen wohl, daß jene, die dem Fremden Zeit, Geld oder Obdach gewähren, wenn es nur um der Liebe willen und nicht des Scheines wegen geschehen, gleichsam Gott zu ihrem Schuldner machen– so vollkommen ist die Vergeltung des Universums. Auf irgend eine Art wird die scheinbar verlorene Zeit wieder eingebracht, und die Mühe, die sie sich zu geben schienen, belohnt sich selbst. Diese Menschen fachen den Ruhm menschlicher Liebe immer neu an.

Auf dem gleichen Wunsche, seiner Würde nichts zu vergeben, beruht auch die Enthaltsamkeit des Helden. Aber er liebt dieselbe um der Grazie willen, die darauf ruht, nicht wegen ihrer Strenge. Es scheint seiner Mühe nicht wert zu sein, einen feierlichen Ton anzuschlagen und das Fleisch oder den Wein, den Tabak, den Tee, das Opium, Seide oder Gold mit Bitterkeit zu verdammen. Ein großer Mann weiß kaum, wie er speist oder wie er sich kleidet; und doch ohne lächerlich oder übertrieben zu sein, ist seine Lebensweise natürlich und voll Poesie.

Die heroische Seele verkauft ihre Gerechtigkeit und Vornehmheit nicht. Sie verlangt nicht, fein zu speisen und warm zu schlafen. Das Wesen der Größe ist die Erkenntnis, daß die Tugend für sich allein genug ist. Armut ist ihr ein Schmuck. Sie verlangt keinen Überfluß und kann recht gut auf ihn verzichten.

Aber das, was meine Phantasie an heroischen Menschen am meisten gefangen nimmt, das ist der Humor und die Heiterkeit, die sie zeigen. Auch die gemeine Pflicht kann sich recht gut bis zu der Höhe erheben, mit Feierlichkeit zu wagen und zu leiden. Aber jenen seltenen Geistern erscheint die Meinung der Menschen, der Erfolg, das Leben selbst als etwas so Wohlfeiles, daß sie es verschmähen, ihre Feinde durch Bitten oder den Schein des Kummers zu besänftigen, sondern stets nur das Kleid ihrer gewohnten Größe tragen. Scipio, des Unterschleifs von Amtsgeldern angeklagt, weigert sich, sich selber eine so große Schmach anzutun und sich zu rechtfertigen und schuldlos sprechen zu lassen, obgleich er die Rechnungen in Händen hat, sondern reißt sie vor den Tribunen in Stücke. Das Urteil, das Sokrates sich selbst sprach, lebenslänglich in allen Ehren im Prytaneum verköstigt zu werden, Thomas Mores Scherzhaftigkeit auf dem Schafott klingen nach der gleichen Weise. In Beaumont und Fletchers »Seereise« sagt Juletta zu dem wackeren Schiffshauptmann und seiner Familie:

Jul.: Merkt, Sklaven,
Es steht in unsrer Macht, euch aufzuhängen!
Hauptmann: Mag sein! In unsrer steht es dann,
Gehängt zu werden und euch zu verachten!

Das sind gesunde und ganze Antworten.

Das Interesse, das diese hübschen Geschichten für uns haben, die Macht eines Romans über den Knaben, der das verbotene Buch begierig unter der Schulbank liest, unser Entzücken am Helden, das ist für unseren Zweck das Wichtigste. All diese großen und überherrlichen Güter sind unser eigen. Wenn uns die Freude an griechischer Energie und römischem Stolze schwellt, so beweist das, daß wir bereits von der gleichen Empfindung durchdrungen sind. Schaffen wir diesem großen Gaste Raum in unseren kleinen Wohnungen! Der erste Schritt zu höherem Werte wird der sein, daß wir uns von den abergläubischen Gedankenverbindungen entwöhnen, die wir an gewisse Orte und Zeiten, Zahlen und Größen knüpfen. Warum tönen die Worte »Athener« und »Römer« so klangvoll in unsere Ohren? Wo das Herz ist, da weilen die Musen, da weilen die Götter, und nicht in irgend einer Geographie des Ruhmes. Massachusetts, den Connecticutfluß und die Bucht von Boston haltet ihr für ärmliche Gegenden, und das Ohr liebt Namen fremder und klassischer Topographie. Aber hier sind wir nun einmal, und wenn wir nur eine Weile warten, werden wir vielleicht erkennen, daß es hier am besten ist. Sieh nur zu, daß dein Selbst hier sei – und Natur und Kunst, Schicksal und Hoffnung, Freude und Engel und das höchste Wesen selbst werden dem Zimmer nicht fern bleiben, in dem du sitzest. Epaminondas, der tapfere und liebevolle, braucht nicht den Olymp, um darauf zu sterben, noch den syrischen Sonnenschein. Er ruht wohl, wo er bestattet ist. Die Jerseys waren kein zu schlechter Boden für Washington, noch die Straßen von London für die Füße Miltons. Das Land ist das schönste, das von den vornehmsten Geistern bewohnt ist.

Das schöne Mädchen, das jeden Eingriff in ihr Wesen und Schicksal durch eine entschiedene und stolze Selbstwahl der Einflüsse zurückweist, so sorglos, ob sie gefalle, so eigenwillig und so erhaben – flößt jedem, der sie sieht, etwas vom Adel ihrer eigenen Seele ein. Das schweigende Herz ermutigt sie. O Freundin, streiche nie die Segel vor einer Furcht! Komme groß in den Hafen, oder fahre mit Gott über die Meere. Nicht umsonst lebst du, denn jedes Auge, das auf dich fällt, wird ermutigt und veredelt durch deinen Anblick.

Das charakteristische Zeichen des Heroismus ist seine Beharrlichkeit. Alle Menschen haben gelegentliche Impulse, Anfälle und Anläufe von vornehmer Gesinnung. Aber wenn du deinen Weg gewählt hast, dann bleibe dabei und versuche nicht schwächlicherweise, dich mit der Welt wieder auszusöhnen! Das Heroische kann nicht das Gewöhnliche sein, noch das Gewöhnliche das Heroische. Und doch haben wir die Schwäche, die Sympathie der Menschen bei Handlungen zu erwarten, deren Vortrefflichkeit eben darin besteht, daß sie über alle Sympathie hinausgehen und an eine späte Gerechtigkeit appellieren.

Der Zustand der Menschheit ist in diesem Land und zu dieser Stunde etwas besser als vielleicht je zuvor. Der Entwicklung und Ausbildung ist größere Freiheit gewährt. Man rennt heute nicht gleich gegen das Richtbeil mit dem ersten Schritt aus dem ausgetretenen Pfade der öffentlichen Meinung. Aber wer da heroisch ist, wird allezeit kritische Lagen finden, in denen er seine Schneide erproben kann. Die Wahrheit fordert ihre Kämpen und Märtyrer, und die Feuerprobe der Verfolgung hört niemals auf. Es ist erst ein paar Tage her, daß der wackere Lovejoy seine Brust den Kugeln eines Pöbelhaufens bot für die Rechte freier Rede und Meinung, und starb, da es besser war, nicht zu leben.Dieser Essay war ursprünglich eine Vorlesung, die im Jahre 1858 zu Boston zum erstenmal gehalten wurde. Wenige Tage vorher war Lovejoy im Staate Illinois, wo er eine Rede für die Abschaffung der Sklaverei gehalten hatte, ermordet worden; ein Vorfall, der ungeheures Aufsehen erregte und ein Protestmeeting zu Boston und die berühmte Rede Wendell Philipps' zur Folge hatte, durch welche die ganze Bewegung erst in mächtigen Fluß kam. Aber auch in Boston war ein großer Teil des Volkes auf Seite der Südstaaten, und ein Ohrenzeuge dieser Vorlesung erzählt, daß ein Schauder durch den Saal lief, als Emerson, der bis dahin seine theoretischen Abführungen gelesen, plötzlich eine Pause machte, die Versammlung scharf ins Auge faßte und diese Worte sprach. Ein Seitenstück zu Thoreaus herrlichem Mut!

Ich sehe für den Menschen keinen anderen Weg völligen Friedens als nach dem Ratschluß seines eigenen Busens. Er muß allzuviel Geselligkeit meiden, er muß oft sein eigenes Heim aufsuchen und sich in den Wegen befestigen, die er für die richtigen hält. Das unnachsichtliche Festhalten einfacher und hoher Empfindungen bei alltäglichen Pflichten stählt den Charakter bis zu jener Festigkeit, die, wenn es not tut, im Aufruhr wie auf dem Schafott mit Ehren besteht.

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Plato oder der Philosoph

Vorbemerkung. In gekürzter Fassung, so daß die Hauptlinie sichtbar wird, sei hier einer der besten Essays aus den »Repräsentanten des Menschengeschlechts« mitgeteilt. Jeder Biograph bekundet in der Art seiner Darstellung die eignen Ideale. So auch hier Emerson. Die große Zusammenwirkung von »Asien« und »Europa«, von Einheit und Vielheit, von Religion und Welt – ihm selber schwebte sie vor. Und hier ist die Anknüpfung an H. v. Stein, bei dem wir Ähnliches angedeutet haben.

Die Notwendigkeit der Einheit, der Sammlung, Verinnerlichung (weisen Beschränkung) inmitten der geschäftigen Vielheit ist ein Grundgedanke Weimars. Goethe hat ihn betätigt, Schiller hat für dieses Suchen mannigfaltige Ausdrücke gefunden. Es ist ein Strom, der von Plato und dem religiösen Osten her unterirdisch durch Europa geht.

*

Auch Plato, wie jeder große Mann, zehrte sein eigenes Zeitalter auf. Was ist ein großer Mann anderes als ein Mensch von mächtiger Anziehungskraft, der alle Künste und Wissenschaften, überhaupt alles Erkennbare in sich als seine geistige Nahrung aufnimmt? Er kann nichts schonen und alles gebrauchen. Was nicht zur sittlichen Ausbildung taugt, ist tauglich fürs Wissen. Aber nur der schöpferische Geist weiß zu borgen, und die Gesellschaft ist froh, die unzähligen Arbeiter zu vergessen, die diesem Baumeister dienten, und hebt alle ihre Dankbarkeit für ihn allein auf.

Plato umfaßte das gesamte Wissen seiner Zeit: – Philolaus, Timäus, Heraklitus, Parmenides und wen es sonst gab; dann seinen Meister Sokrates; und da er sich einer noch gewaltigeren Synthese fähig fühlte – einer Synthese, wie sie damals und seither ohnegleichen geblieben ist –, reiste er nach Italien: um das aufzunehmen, was Pythagoras ihm bieten konnte; dann nach Ägypten und vielleicht noch tiefer in den Osten, um das andere Element, dessen Europa bedurfte, dem europäischen Geiste zu bringen. Dieses ungeheure Gebiet, das sein Geist beherrschte, berechtigt ihn, als der Repräsentant der Philosophie zu gelten.

Er wurde geboren im Jahre 440 v. Chr. Geburt, ungefähr zur Zeit, in die des Perikles Tod fiel, war von adeligem Geschlechte seiner Zeit und seiner Stadt und soll eine frühe Neigung zum Kriegerberuf gehabt haben, wurde jedoch in seinem zwanzigsten Jahre, als er dem Sokrates begegnete, mit Leichtigkeit diesem Berufe abwendig gemacht und blieb hinfort durch zehn Jahre, bis zum Tode des Sokrates, dessen Schüler. Er ging hierauf nach Megara, nahm die Einladungen des Dion und des Dionysius an den sizilischen Hof an und begab sich dreimal an denselben, obgleich er launisch behandelt wurde. Er reiste nach Italien, dann nach Ägypten, wo er lange Zeit blieb: einige sagen drei, andere sagen dreizehn Jahre. Man sagt auch, er wäre noch weiter, bis Babylon gekommen, aber dies ist ungewiß. Nach Athen zurückgekehrt, unterrichtete er in der Akademie jene, die sein Ruhm dahin zog, und starb, wie uns berichtet wird, am Schreibtische, einundachtzig Jahre alt.

Aber die Biographie Platos ist eine innerliche. Wir haben zu prüfen, wieso dieser Mann in der geistigen Geschichte unserer Rasse die höchste Stellung einnimmt – woher es kommt, daß die Menschen, je nach dem Maße ihrer Bildung, seine Schüler werden; daß so wie unsere jüdische Bibel sich dem Tischgespräch und Hausleben jeden Mannes und Weibes der europäischen und amerikanischen Nationen eingeprägt hat, so die Schriften Platos jede Gelehrtenschule, jeden Denker, jede Kirche, jeden Poeten beschäftigt haben, ja es unmöglich gemacht haben – auf einem gewissen Niveau – überhaupt zu denken, außer durch ihn. So oft ich ihn lese, überrascht mich die Modernität seines Stils und Geistes. Hier haben wir den Keim jenes Europa, das uns so wohlbekannt ist, mit seiner langen Geschichte seiner Künste und Waffen: hier ruhen alle seine Züge bereits erkennbar im Geiste Platos – und in keinem vor ihm.

Die erste Periode einer Nation, wie die des Individuums, ist die Periode unbewußter Kraft. Kinder weinen, schreien und stampfen vor Wut, unfähig, ihre Wünsche auszudrücken. Sowie sie sprechen können und sagen, was sie wollen und warum sie es wollen, werden sie sanfter. Im Leben des Erwachsenen, solange das Begriffsvermögen ein stumpfes ist, reden Männer und Frauen mit Heftigkeit und im Superlativ; lärmen und streiten; ihre Rede ist voll von Flüchen und Beteuerungen. Sobald mit der steigenden Kultur die Dinge sich ein wenig geklärt haben, und sie dieselben nicht mehr in Massen und Klumpen, sondern reinlich eingeteilt sehen, lassen sie von jener schwächlichen Heftigkeit ab und setzen ihre Ansicht ruhig und genau auseinander. Wenn die Zunge nicht zum Artikulieren geschaffen wäre, der Mensch wäre noch heute ein Tier im Walde. Aber dieselbe Schwäche, dieselbe Unfähigkeit – nur auf einem höheren Plan – begegnet uns täglich bei der Erziehung leidenschaftlicher junger Leute, Männer und Mädchen. »Ach, ihr versteht mich nicht, ich habe noch nie jemand gefunden, der mich verstanden hätte«, – und sie seufzen und weinen, schreiben Verse und gehen einsam – weil ihnen die Kraft fehlt, das, was sie denken, völlig auszusprechen. Ein oder zwei Monate später, wenn ihr guter Geist es so will, begegnen sie einem, der ihnen so verwandt ist, daß er ihrem vulkanischen Zustande zu Hilfe kommen kann, und nachdem sich die Mitteilsamkeit einmal ordentlich eingestellt hat, werden sie von nun an brauchbare Staatsbürger. Es ist immer so. Aller Fortschritt führt von blinder Kraft zur Genauigkeit, zur Glücklichkeit und zur Wahrheit.

Es kommt ein Augenblick in der Geschichte jeder Nation auf dem Wege aus dieser rohen Jugend heraus zur Kultur, in welchem das Begriffsvermögen zur Reife gelangt und doch noch nicht mikroskopisch geworden ist, so daß der Mensch in diesem Augenblick die ganze Skala umfaßt und, während seine Füße noch auf den ungeheuren Mächten der Nacht aufruhen, mit Augen und Hirn schon Sonnensysteme und Himmelsschöpfungen erfaßt. Das ist der Augenblick der vollendeten Gesundheit, der Kulminationspunkt der Kraft.

Dies zeigt auch die Geschichte Europas auf allen Gebieten und auch diejenige seiner Philosophie. Vor Perikles kamen die sieben Weisen; und mit ihnen die Anfänge der Geometrie, Metaphysik und Ethik; – dann die Partialisten, die den Ursprung der Dinge von der Strömung oder dem Wasser, oder von der Luft, oder vom Feuer oder vom Geist herleiteten. Alle vermischen diese Urgründe mit mythologischen Bildern. Und zuletzt kommt Plato, der ordnet und einteilt, der all der barbarischen Bemalung, ihres Tätowierens und Heulens nicht bedarf: denn er vermag zu definieren. Er ist es, der Asien und mit ihm das Chaos des Überschwenglichen aufgibt; er bedeutet den Eintritt der Intelligenz und nüchternen Genauigkeit. »Der soll für mich wie ein Gott sein, der da richtig einzuteilen und zu definieren vermag.«

Dieses Definieren ist die Philosophie. Philosophie ist die Rechenschaft, die sich der menschliche Geist von dem Bau der Welt gibt. Zwei Kardinaltatsachen liegen ihr stets zugrunde: die Eins und die Zwei, erstens: Einheit oder Identität, und zweitens: Verschiedenheit. Wir führen alle Dinge auf Eins zurück, wenn wir das Gesetz wahrnehmen, das sie durchdringt, wenn wir die oberflächlichen Unterschiede und die tiefe Ähnlichkeit aller wahrnehmen. Aber jeder geistige Vorgang – selbst diese Wahrnehmung der Indentität oder Einheit muß auch die Verschiedenheit der Dinge anerkennen. Einheit und Anderheit: es ist unmöglich, zu sprechen oder zu denken, ohne beide zu umfassen.

Der Geist fühlt sich gedrängt, nach einem Grunde vieler Wirkungen zu forschen, und wenn er denselben entdeckt, nach dem Grunde des Grundes, und dann wieder nach dessen Grund, unaufhörlich ins Tiefe tauchend, in sich die Gewißheit tragend, daß er zu einer absoluten und befriedigenden Einheit gelangen muß und wird – einer Eins, die alles ist. »Inmitten der Sonne ist das Licht, inmitten des Lichtes ist die Wahrheit, und inmitten der Wahrheit ist das unvergängliche Sein« sagen die Vedas. Alle Philosophie des Ostens und Westens hat dasselbe zentripetale Bestreben.

In allen Nationen finden sich Geister, die eine natürliche Neigung antreibt, bei der Konzeption der fundamentalen Einheit zu verweilen. In den begeisterten Entzückungen des Gebets und der Ekstasen der Frömmigkeit verliert sich alles Dasein in dem einen Sein. Diese Richtung hat ihren höchsten Ausdruck in den religiösen Schriften des Ostens gefunden, insbesondere in den heiligen Schriften Indiens, in den Vedas, in der Bhagavat Ghita und dem Vischnu Purana. Diese Schriften enthalten wenig anderes außer dieser Idee, und sie erheben sich in der Feier derselben zu reinen und erhabenen Melodien.

Alles ist ein und dasselbe! Freund und Feind sind aus einem Stoff; der Pflüger, der Pflug und die Furche sind aus einem Stoff, und der Stoff ist solcher Art und so viel, daß die wechselnden Formen bedeutungslos sind. »Du bist fähig, zu erfassen« – so sagt der höchste Krischna zu einem Weisen –, »daß du von mir nicht verschieden bist. Das, was ich bin, bist du, und dasselbe ist auch diese Welt mit ihren Göttern und Helden und Menschen. Die Menschen betrachten die Verschiedenheiten, weil sie von Unwissenheit betäubt sind.« »Die Worte Ich und Mein bedeuten Unwissenheit. Was das große Letzte im All ist, sollt ihr nun von mir erfahren. Es ist der Geist – einer in allen Leibern, durchdringend, einheitlich, vollkommen, über die Natur herrschend, frei von Geburt, Wachstum und Verfall, allgegenwärtig, aus wahrem Wissen bestehend, unabhängig, hat er nichts mit den Unwirklichkeiten, mit Namen und Spezies und all dem übrigen zu tun in vergangener, gegenwärtiger und künftiger Zeit. Die Erkenntnis, daß dieser Geist, der wesentlich einer ist, derselbe ist in unserm eigenen Leibe wie in allen andern Leibern, ist die Weisheit dessen, der die Einheit der Dinge erkannt hat. So wie eine zerfließende Luft, durch die Löcher einer Flöte strömend, mit den Noten einer Skala verschieden benannt wird, so ist die Natur des großen Geistes nur eine, obgleich seine Formen, die aus den Folgen von Handlungen entspringen, vielfach sind.«

Wenn die Betrachtung so nach einer erschreckenden Einheit strebt, in der alle Dinge aufgesogen werden, so strebt alle Tätigkeit in gerade entgegengesetzter Richtung zur Verschiedenartigkeit zurück. Ersteres ist die Gravitation des Geistes; das letztere ist Naturgewalt. Die Natur ist das Mannigfaltige. Die Einheit absorbiert und schmelzt oder reduziert. Die Natur erschließt und schafft. Diese zwei Prinzipien erscheinen immer wieder und durchdringen alle Dinge und alle Gedanken: die Einheit und die Vielheit. Das eine ist Sein, das andere Intellekt; das eine Ruhe, das andere Bewegung; das eine Kraft, das andere Verteilung; das eine Stärke, das andere Genuß; das eine Genie, das andere Talent; das eine Ernst, das andere Wissen; das eine Besitz, das andere Verkehr; das eine Königtum, das andere Demokratie, und wenn wir es wagen, diese Generalisationen noch einen Schritt weiter zu führen und das Endziel beider zu nennen, so könnten wir sagen, daß das Ziel des einen ist die Flucht aus der Organisation – das reine Wissen, während das Ziel der anderen Macht ist, der Gebrauch aller Mittel, die Gottheit in der tätigen Ausführung.

Jeder Forscher folgt, durch Temperament und Gewohnheit geleitet, der einen oder der anderen von diesen Gottheiten des Geistes. Die Religion führt ihn zur Einheit, die Sinne zu dem Vielen. Eine allzurasche Vereinheitlichung und ein übermäßiges Aufgehen in den Einzelheiten sind Zwillingsgefahren.

Dieser Einigkeit entspricht die Geschichte der Nationen. Das Land der Einheit, der starren, unbeweglichen Institutionen, der Sitz einer Philosophie, die ihr Entzücken an Abstraktionen hat, die Heimat von Menschen, die in Theorie und Praxis treue Bekenner der Idee eines tauben, unerbittlichen, unendlichen Faktums sind, ist Asien; in der sozialen Institution der Kaste gibt es diesem Glauben tatsächlichen Ausdruck. Der Genius Europas auf der anderen Seite ist tätig und schöpferisch; er arbeitet der Kaste entgegen durch die Kultur, seine Philosophie war stets eine Wissenschaft, es ist ein Land der Künste, der Erfindungen, des Handels, der Freiheit. Wenn der Osten die Unendlichkeit liebte, der Westen fand seine Freude in weiser Beschränkung.

Die europäische Zivilisation ist der Triumph des Talentes der Systematik, des geschärften Verstandes, der anpassenden Geschicklichkeit, der Freude an Formen, des Entzückens am Ausdruck, an verständlichen Resultaten. Perikles, Athen und Griechenland hatten in diesem Element mit der ganzen Freude des Genius geschaffen, die noch keine Voraussicht des Schadens, den das Übermaß anrichten kann, erkältet hat. Der Verstand erfreute sich seiner Blütenreife. Die Kunst leuchtete in ihrer Neuheit. Sie schnitten den Penthelischen Marmor, als wäre er Schnee, und die vollkommenen Werke ihrer Architektur und Skulptur schienen ihnen natürliche Dinge, nicht schwerer als heute die Vollendung eines neuen Schiffes auf den Werften von Medford. Die römischen Legionen, die Gesetzgebung der Byzantiner, der Handel Englands, die Salons von Versailles und die Pariser Kaffeehäuser, Dampfmühle, Dampfboot und Dampfwagen, alle zeigen sich in der Perspektive; die städtischen Versammlungen, die Stimmzettelurne, die Zeitungen und die billigen gedruckten Bücher.

Unterdessen sog Plato in Ägypten und auf östlichen Wanderungen die Idee einer Gottheit ein, in der alle Dinge enthalten sind. Die Einheitlichkeit Asiens und die Einzelheiten Europas, die Unendlichkeit des asiatischen Geistes und das Resultate liebende, Maschinen bauende, Oberflächen suchende, Singspiele aufführende Europa. Plato kam, sie zu vereinigen und die Energie beider durch die Berührung zu erhöhen. Die Vorzüge Asiens und Europas sind beide in seinem Hirn. In Metaphysik und Naturphilosophie fand der europäische Geist den Ausdruck: er legte ihnen die Religion Asiens als Basis unter.

Kurz, es war ein Geist erstanden, der das Gleichgewicht in sich trug, der beide Elemente zu erfassen imstande war.

*

Damit brechen wir den Essay ab; dieser Grundriß genügt für unsere jetzigen Zwecke. Die Übersetzung dieser, wie auch der früher mitgeteilten Proben, ist von Karl Federn.


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