Friedrich Lienhard
Wege nach Weimar. Erster Band
Friedrich Lienhard

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Foto: Emerson

Emerson

1. Emerson und Carlyle

Das Jahr 1833 ist in der Geschichte germanischen Geisteslebens von einer sinnreichen Bedeutung. Goethe war ein Jahr zuvor gestorben; und damit schien eine Epoche beendet. Wo wird nun diese Auffassung von der zentralen Bedeutung der Persönlichkeit weiterleben?

Der damals achtunddreißigjährige Schotte Thomas Carlyle, schwer mit dem Leben ringend, einsam mit seiner tapferen Gattin im kleinen Craigenputtock hausend, war in eben jenem Jahre auf einem toten Punkt angelangt, wovon er zunächst kein Weiterkommen sah. Für sein erstes Buch (Sartor Resartus) wollte sich kein Verleger finden; von weiteren Essays wollte der neue Leiter der Edinburgh Review nichts wissen; sein Meister und Freund Goethe war tot; und einige Monate zuvor war auch Carlyles herber, arbeitsamer Vater aus dem Leben gegangen: beides in ihrer Art für den schwerblütig veranlagten Einsiedler herbe Verluste.

Da fuhr eines Tages ein Wagen vor: ein junger Amerikaner, der eine Reise durch Europa machte – nicht zum wenigsten, um Carlyle zu sehen – trat bei ihm ein, um ihm herzlich zu danken für tiefe und starke Anregungen, die er von Carlyles Aufsätzen empfangen hatte.

Es war der damals noch ganz unbekannte Emerson, dem aus einigen Zeitungsaufsätzen Carlyles Bedeutung sofort aufgeleuchtet war. Er brachte nun dem einsamen Ehepaar diese Auffrischung, diesen Widerhall aus der sonst so toten Außenwelt. Beide, Carlyle sowohl wie Frau Jane, empfanden diesen Besuch aus so weiter Ferne wie einen Engelstrost. Carlyles Gattin hat später nur mit Tränen der Dankbarkeit von diesem vierundzwanzigstündigen Aufenthalt eines begeisterten und sympathischen amerikanischen Idealisten gesprochen. Emerson stärkte in dieser Tiefstimmung ihrem Manne das Bewußtsein, daß seine Worte dennoch nicht verloren waren. Denn den Widerstand der stumpfen Welt hat ja Carlyle bitter und lange genug erfahren. Bis zu seinem zweiundvierzigsten Lebensjahre blieb ihm der Erfolg fern. Das Ehepaar hatte mit dringender Not zu kämpfen; ihr gewöhnliches Nachtmahl war Hafergrütze; die Essays fanden keinen Widerhall. Erst die »Geschichte der französischen Revolution« und die Vorlesungen, die er 1837 begann (nach der Londoner Vorstadt Chelsea übergesiedelt), drangen durch.

Jener August-Tag, den Emerson in Carlyles Landhäuschen zubrachte, war der Beginn einer lebenslangen Freundschaft zweier verschieden gearteter, aber auf gleichem ethischen Grunde aufrichtig und wahrhaft emporwachsender Angelsachsen. Emerson war um acht Jahre jünger, war die weiblichere, die sonnigere, geistigere Natur; Carlyle ist historischer und realer, ist wuchtiger und monumentaler. Emerson könnte man mit Goethes Wesen, Carlyle mit Schillers Temperament vergleichen. Beide haben nahezu gleichzeitig – Carlyle 1881, Emerson 1882 – wieder die Erde verlassen. In John Ruskin schuf ihr Geist weiter. Seit einigen Jahren ist nun auch John Ruskin tot. Und damit hat eine geistige Entwicklungslinie einen vorläufigen Schlußpunkt gefunden, deren Anfänge in Weimars geistiger und sittlicher Kultur gegründet sind. Denn von uns, von Deutschland (Goethe, Kant, Schiller, Jean Paul, Fichte, Novalis, Romantik) hat Carlyle seine entscheidenden Anregungen gewonnen. Seine ersten Vorlesungen (1837) waren Vorträge, über deutsche Literatur.

Man treibe nun einmal Zahlenspiel und beachte folgendes: um 1820, eben in jener Zeit, als drüben Carlyle und Emerson zu wirken begannen (Emersons erster Essay »Natur« erschien 1836), setzte bei uns, gleichzeitig mit Goethes Abscheiden und dem Niedergang der Romantik, die Kritik »Jungdeutschlands« ein. Es war, als hätte uns der Geist »heroischer Lebensführung«, wie Ruskin sich ausdrückt, unterirdisch verlassen, um dort drüben aufzutauchen in jenen drei Denkern. Zugleich begann statt dessen, zum ersten Male wieder seit Lessing, ein starker französischer Einfluß, besonders von der politischen Seite her. Heine und Börne lebten meist in Paris. Auch der Materialismus eines Comte, Littré, Taine (»Milieutheorie«) drang nach und nach ein. Die Bühne wurde erst vom Sittenstück, dann vom Naturalismus beschlagnahmt. In der wachsenden Presse hielten ein kokettes Geistreicheln und trivialer Kleinkram immer mehr Einzug. Der mächtige, ethisch und religiös gegründete Idealismus jener drei Propheten der germanischen Welt wurde als »Heroenkult« abgelehnt. Das Ankämpfen unserer mittleren literarischen Talente von Gesundheit – in den fünfziger Jahren die gesunde deutsche Richtung, der ein Keller, Freytag, Scheffel, Storm, Mörike angehörte, auch Hebbel, Ludwig, Gotthelf – war nicht von siegreichem Einfluß. Wagners Musikdrama zwar siegte nach und nach, aber doch mehr der technischen, dekorativen, theatralischen Seite nach; an Schopenhauer bemerkte man wesentlich nur den Pessimismus und Quietismus; Nietzsche erhielt Modejünger, vor denen er noch höher in die Berge flüchten würde.

Das 19. Jahrhundert, durchaus politisch, technisch und sozial, lebte in den Außendingen. Es war im Sinne der Schiller-Kantschen Gedankenwelt, die wir später einmal darlegen werden, gänzlich unschöpferisch.

So erklärt sich Carlyles düstrer Prophetenton. Was bedeutete diesem Jahrhundert der Massen die »Innenwelt«? Seine Kritik des erregten Jahrhunderts faßt denn auch Carlyle in bitterem Tone dahin zusammen:

»Über drei Dinge scheinen Götter und Menschen, wenigstens englische Götter und Engländer, einig geworden zu sein) alle drei bestimmt, Ereignis zu werden, und sind bereits auf sichtbarem Wege, in Erfüllung zu gehen. Diese drei Dinge sind:

»1. Daß die Demokratie zum Siege gelangt. Da sie in voller Ausdehnung ihres Laufes zum Bodenlosen oder in dasselbe hineinrennt, so ist jetzt keine Macht vorhanden, dem vorzubeugen oder sie auch nur beträchtlich aufzuhalten, – bis wir gesehen haben, wohin sie uns führen wird, und ob dann noch Umkehr möglich ist oder nicht. Die Parole lautet nämlich: Völlige ›Freiheit‹ für alle Menschen; Entscheidung durch Kopfzahl als göttlicher Obergerichtshof in jeder Frage und Angelegenheit der Menschheit; Kopfzahl, um schließlich nach eigenem Herzenswunsche ein Parlament zu wählen; um mit Pennyzeitungen in der Hand dazusitzen und dasselbe sorgsam zu überwachen; und besagtes Parlament, das so gewählt und so bewacht ist, hat dann zu tun, was als Lappalie von Gesetzgebung und Verwaltung noch erforderlich sein mag in einem solchen England mit seinen hundertundfünfzig Millionen, von denen jeder mehr und mehr die ›Freiheit‹ hat, seiner eigenen Nase als Wegweiser in dieser mißlichen Welt zu folgen.

»2. Daß in einer begrenzten Zeit, sagen wir in fünfzig Jahren, die Kirche, alle Kirchen und sogenannten Religionen, die christliche Religion nicht ausgenommen, sich in ›Gewissensfreiheit‹, Fortschritt der Meinungen, Geistesfortschritt, philanthropische Bewegung und andere wässerige Rückstände schaler, übelriechender Art zersetzt haben müssen; – und sie, wie auf dem Boden vergossenes Wasser, hinfort niemanden mehr ernstlich beunruhigen, sondern sich in aller Gemächlichkeit verflüchten sollen.

»3. Daß an Stelle dessen Freihandel im vollsten Sinne und in weitester Ausdehnung, unbeschränkter Freihandel bestehen soll, was manche so auffassen, daß freies Wettrennen bald auch mit unbegrenzter Eile auf dem Wege des ›Billig und Schlecht‹ darunter zu verstehen sei; – diese schöne Bahn, die nicht bloß für Handelsgüter, sondern für alle irdischen, geistigen und ewigen Dinge großmütig geöffnet sein soll, weit wie die Tore des Weltalls, so daß jedermann frei mitrennen darf und überall ›durch erleuchtetes Vorurteil‹ der Rennpreis dem Schnellen gehören und das hohe Amt dem zufallen soll, der am geschicktesten ist, wenn nicht es auszuüben, dann wenigstens zur Ausübung desselben gewählt zu werden.« (Sozialpolit. Schriften, Berlin, Wigand, I, S. 154.)

Hat Carlyle wirklich so sehr übertrieben? Von seinem Standpunkt aus nicht im geringsten; die Entwicklung hat jene Worte, die 1867 gesprochen worden sind, bestätigt. Wohl hebt H. St. Chamberlain hervor: »In diesem Jahrhundert ist enorm gearbeitet worden. Während die Werkstätte der großen gestaltenden Ideen ruhte, wurden die Methoden der Arbeit in bisher ungeahnter Weise vervollkommnet. Unser Jahrhundert ist der Triumph der Methodik« (Grundlagen des 19. Jahrhunderts, 5. Aufl., Einleitung). Wir wissen das und schätzen das. Aber wenn wir die ganze Welt gewönnen und nähmen doch Schaden an unserer Seele – an der Verbindung mit der Gottheit – so haben wir nichts gewonnen als Schatten und Rauch. Denn es fehlt dann die Kraft der Beleuchtung und Durchwärmung aus übergeordneten Sphären.

Das ist es, was uns Carlyle, der Historiker, und was uns ganz besonders Emerson, der Essayist, zu sagen hat.

2. Emersons häusliches Leben

Im Herbst 1834 zog der einunddreißigjährige Emerson mit seiner Mutter nach Concord und nahm zunächst im Pfarrhause Wohnung. Seine theologischen Ahnen hatten hier gewirkt; Boston mit seinen Bibliotheken war in der Nähe, und ein Bruder Emersons wohnte bereits im Städtchen. Dies bestimmte die Wahl. Concord ist fortan mit dem Namen Emerson unzertrennlich verbunden.

Die kürzlich von Emersons Sohn herausgegebenen Tagebücher und sonstigen Erinnerungen (Deutsch von Sophie von Harbou; Minden, Bruns' Verlag) gestatten uns einen Einblick in das Alltagsleben des dichterischen Denkers.

Aus dem Giebelzimmer des Pfarrhauses sendet er den Feldern einen ersten Gruß, der wie ein Programm klingt:

Concord, den 16. November 1834.

»Heil den ruhigen Feldern meiner Väter! Möge ich nicht ohne den Beistand übernatürlicher Freundschaft und Kunst hierher kommen. Segne meine Absichten, so sie rein und tugendhaft sind! Coleridges köstlicher Brief stimmt aufs beste zu den Gedanken, welche mich bewegen. So sei es: fortan will ich keine Rede halten, kein Gedicht, kein Buch veröffentlichen, das nicht vollkommen und bis ins einzelne mein Werk sei. Bei öffentlichen Vorlesungen und dergleichen will ich von Dingen sprechen, über die ich um ihrer selbst willen nachgedacht habe, nicht über solche, die ich im Hinblick auf diese Gelegenheit zuerst näher betrachtet habe.«

In jenem Winter hielt er, wie überhaupt fortan, zahlreiche Vorträge (von Vortragsreisen bestritt er seinen Lebensunterhalt), predigte auch noch häufig. Bei guter Gelegenheit erstand er ein neues und gut gebautes Haus mit einer kleinen Scheune und etwas Land, und führte gleich darauf sein junges Weib heim.

So nistete sich nun Emerson ein und widmete sich fast ein halbes Jahrhundert hindurch dem stillen Ausbau einer inneren Welt.

Sie flossen ihm zu, seine Erkenntnisse, er bemühte sich nicht darum. Oft erhob er sich mitten in der Nacht, um sich einen Einfall zu notieren; und auf seinen Spaziergängen, wobei sein Bestes entstand, begleiteten ihn oftmals Stift und Papier, oder er schrieb seine Gedankenbeute unmittelbar nach der Heimkehr auf. Nachher ordnete er alle Einfälle unter bestimmte Gesichtspunkte, in unermüdlichem Fleiße.

Ganz besonders der Wald war das Studierzimmer dieses philosophisch dichterischen Impressionisten.

»Alle meine Gedanken sind Kinder des Waldes. Ich kenne kaum eine Träumerei, zu der das Rauschen der Tannen nicht erklungen wäre, und um die sie nicht ihre Schatten gewoben hätten.«

Schön formt er das in einem seiner Gedichte, dessen erste Strophe uns wie ein Leitwort über Emersons Leben und Schaffen anspricht:

»Glaub mich nicht lieblos und kalt,
Wenn ich streife durch Forst und Feld!
Ich suche Gott in dem Wald
Und bringe sein Wort der Welt ...«

Der Zauber des Waldes überwältigte ihn immer von neuem. Im Spaziergang durch die Wälder lag für ihn eins der Geheimnisse, Spannkraft zu behalten und das Altwerden zu beschwören. Wie ein Prosagedicht liest sich das folgende Blatt:

An den Wald.

»Wer deine Pfade betritt, liest immer die gleiche, ruhige und heitere Weisheit, er sei ein Kindlein oder ein Hundertjähriger. Ob er in guten Tagen zu dir kommt oder in bösen, immer redest du die gleiche Sprache, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Immerdar erzeugt die Tanne ihre Nadeln und läßt sie wiederum zur Erde fallen, gleichwie es der Eichbaum tut mit seinen Eicheln; die Ahornbäume färben sich rot im Herbst, und um die Fichte und Kiefer knospet allezeit der junge Nachwuchs und schlägt seine Wurzeln in den Boden zu ihren Füßen. Was den Menschen Schicksal und Zeit heißt, dir ist es fremd. Es gebricht den Menschen an Worten, um deines Lebens auch nur einen Augenblick zu schildern. Wenn du mir etwas darbietest, wovon ich singen soll, so lehre mich auch die Weise, wie ich es singe. Eine Melodie leihe mir, wie sie deinen Winden eigen, deinen Bächen und deinen Vögeln, denn der Menschen Lieder veralten, wenn sie gar zu oft gesungen werden; dein Lied aber ist niemals das gleiche, ob es ein Mensch auch höre siebzig Jahre, immer ist es jung und neu, wie die Zeit selbst und die Liebe.«

Wichtig war ihm aber auch sein Garten, der sich allmählich zu einem Besitztum von neun Morgen erweitert hatte. So war sein Studierzimmer eingebettet in grüne Stille. Einige Arbeit mit Hacke oder Spaten gehörten in seinen Tagesplan; erst später, als ihn die Gartenarbeit zu zersplittern drohte, nahm er einen Gärtner. In drolligem Ärger schreibt er (1847):

»Mit gefurchter Stirn, mit festen Vorsätzen gehe ich sinnend im Garten auf und ab. Ich bücke mich, um ein Unkraut auszureißen, welches das Korn zu ersticken droht, und finde, daß ein zweites gleich daneben steht; dicht dahinter wächst ein drittes, schon strecke ich nach einem vierten den Arm aus; ach, und hinter dem vierten stehen noch viertausend und eins. Ich werde erhitzt und verstimmt und wache endlich aus meinen blödsinnigen Träumen von Vogelmiere und Feldwicke auf, um zu der Erkenntnis zu kommen, daß ich mit all meinen eisernen Vorsätzen selbst nichts anderes bin als Vogelmiere und Feldwicke ...

»In einer unglücklichen Stunde riß ich meinen Zaun nieder, um M. Warrens Stück Gartenland an das meine anzufügen; kein Land ist schlimm, aber Land ist schlimmer. Wenn ein Mann Land besitzt, so besitzt das Land ihn. Ja, laß ihn nur einmal vom Hause fortgehn, wenn er's wagt! Jeder Baum und jedes Pfropfreis, jedes Melonenbeet, jeder Streifen Korns, jede Gruppe Buschwerks, – alles, was er je getan hat oder zu tun gedenkt, steht ihm im Wege wie eine Barrikade, wenn er nur eben seinem Hause den Rücken kehrt. Dann erscheint mir dieses nahe Verwachsensein mit Weinstöcken, Bäumen und kornbewachsenen Hügeln beengend und Gift ausströmend.«

Gelegentlich zwar, wenn Regen drohte, lief auch Emerson mit auf die Wiese, um das Heu zusammenbrechen; im Garten aber beschränkte er sich wesentlich auf seine Obstbäume, die sich nach und nach als eine hübsche Einnahmequelle erwiesen. Er veredelte sein Obst, wie er Menschen veredelte; etwas vom Gärtner haftete ja immer diesem Kulturerzieher an; das Wachsen und Werden zu fördern, war das eigentliche Ziel seiner Menschenkultur.

Anmutige Züge spielten aus dieser lebendigen Natur mannigfach herein, z. B.:

»Vor langer Zeit schrieb ich einmal über das Schenken und vergaß eines ausgezeichneten Beispiels zu erwähnen. John Thoreau jr. hängte mir eines Tages ein Meisenkästchen an meine Scheune, vor fünfzehn Jahren etwa mag es gewesen sein, und da hängt es noch immer, und Sommer für Sommer beherbergt es eine sangesfrohe Familie, die dem Platz zur Zierde gereicht und des freundlichen Gebers Lob singt. Da habt ihr ein Geschenk, das dem Spender kein Geld kostete; und doch hätte er mit Gekauftem keine größere Freude machen können.«

Und weiter, echt Emerson:

»Mitunter bin ich mit meinem Hause unzufrieden, weil es an der staubigen Landstraße liegt, und weil seine Grundmauern und sein Keller sich fast in dem Wasser der Wiesen befinden. Schleiche ich mich aber hinaus in die Nacht oder in die Morgenfrühe und sehe, welche holde Schönheit mich täglich an ihr Herz nimmt, wie nahe mir jedes erhabene Geheimnis der Liebe und der Religiosität der Natur ist, so wird es mir klar, wie gleichgültig es ist, wo ich esse und schlafe. Selbst diese Straße voll Hökereien und Schenken vermag der Mond in ein Palmyra umzuwandeln; denn niemand ist ein so mächtiger Verklärer wie der Mond, er küßt die Ulmen und verbirgt jede Gemeinheit in einem silberumrandeten Dämmerschein. Dann nimmt mir der gute Flußgott die Gestalt meines wackeren Henry Thoreau an und offenbart mir die Schätze seines beschatteten, von den Sternen erleuchteten Stromes; so liegt eine köstliche neue Welt ebenso unmittelbar und ebenso unentdeckt neben dieser jämmerlichen Alltäglichkeit der Straßen und Läden, wie der Tod neben dem Leben, die Poesie neben der Prosa liegt. Durch ein Feld gingen wir zu dem Boot, und dann ließen wir alle Zeit, alle Wissenschaft, alle Geschichte hinter uns und waren mit einem einzigen Ruderschlag mitten in der Natur. ›Nimm dich in acht, guter Freund‹, sagte ich, als ich westwärts in den Sonnen-Untergang uns zu Häupten und zu Füßen sah, und er – den Blick dorthin gewandt – gerade darauf zuruderte: ›nimm dich in acht, du weißt nicht, was du tust, wenn du dein hölzernes Ruder in dieses verzauberte Naß tauchest, in dem sich alle Schattierungen von Rot, Violett und Gelb mischen, und das unter dir und hinter dir erstrahlt!‹«

Die Vollkraft der Persönlichkeit Thoreaus war ihm sehr liebenswert. Man hat unrecht, wenn man den Träumer und Waldsiedler Henry Thoreau von Emerson abhängig glaubt. Das war ein gleichzeitiges Auftauchen seelenverwandter Lebensanschauungen. »Wenn ich ihn lese, begegne ich den gleichen Gedanken, dem gleichen Geist, der in mir lebt, aber er geht einen Schritt weiter und beleuchtet durch meisterhafte Bilder, was ich nur in träumerischer Allgemeinheit weitergeben würde ...«

Ein Mann, der so sein vibrierendes Abstandsgefühl hatte und in jedem Nebenmenschen den göttlichen Funken achtete, mußte sich auch in der Enge des Haushalts bewähren. Gegen Dienstboten war Emerson ebenso voll zarter Rücksicht wie gegen die Freunde. Niemals ließ er die Verpflichtung vornehmer Ausdrucksweise und guten Beispiels Untergebenen gegenüber außer acht, ob es sich nun um ihre Feiertage und Ruhestunden, oder um religiöse Überzeugungen handelte. Und von seiner Knabenzeit bis in sein hohes Alter war er gern unabhängig von den Dienstleistungen anderer: er holte sich oft selber Holz zur Feuerung, er trug seine Reisetasche gern selbst zur Bahn; er hatte immer Maiskolben zur Hand, um sein Pferd selbst einzufangen, wenn er in die Nachbarschaft kutschieren wollte. »Ich glaube, die Dienstboten empfanden alle eine liebevolle Verehrung für ihn«, bemerkt sein Sohn, der uns diese kleinen Züge berichtet.

Dem entsprachen auch seine Gewohnheiten in Essen und Trinken; er war hierin von spartanischer Einfachheit. Zu einem besonderen Dogma – etwa der Vegetarier und Temperenzler – vermochte er sich seiner ganzen bildsamen, immer flüssigen Natur nach nicht zu verhärten. Doch ließ er sich auf jede dieser Anregungen, unser Leben geistiger zu gestalten, bereitwillig ein und nahm davon, was ihm in seine Lebenshaltung zu passen schien. So hielt er es auch in der Gastfreundschaft: liebevoll, aufmerksam, aber einfach. »Er setzte seinen Gästen Wein diskreten Alters vor und trank mit ihnen, jedoch selten mehr als ein Glas, und allein trank er niemals Wein. Rauchen hatte er als Student gelernt, und diese Gewohnheit nahm er mit etwa fünfzig Jahren in sehr bescheidenem Maße auf, wenn er in Gesellschaft war) in späteren Fahren rauchte er gelegentlich einige Züge mit großem Behagen und legte dann die Zigarre ›für ein andermal‹ beiseite.«

So war auch in den Kleinigkeiten des Lebens alles auf Harmonie gestimmt. Seine Kleidung war sorgsam und unauffällig; in der Stadt trug er einen schwarzen Anzug mit Zylinder, auf dem Lande dunkelgrau mit einem weichen Filzhut. Man denke sich dazu die hochgewachsene Gestalt und das freundliche, gesundfarbene Gesicht mit der bedeutenden Nase und dem schmalen Mund, den Scheitel im glattgestrichenen dunkelbraunen Haar, die schmalen, herabfallenden Schultern – und man hat die wundervoll-freundliche und bescheiden-vornehme Gestalt vor sich, als ein Spiegelbild des feinen, guten und großen Denkers.

Hatte Lachen und Humor in dieser Persönlichkeit Platz? Der Humor – ja, Emerson hatte sogar einen ausgesprochenen Sinn für den versteckten Humor, von dem die Weltgeschichte wie das Tagesleben für den Philosophen durchsetzt sind. Sein Sohn erzählt in dem genannten Buche einige Alltagsbemerkungen, die das bestätigen. »Da ist Elise, die sich erkältete, als sie zur Welt kam, und mit deren Erkältung es seitdem nur immer schlimmer geworden ist« – diese einzige Wendung verrät den innerlich freien Geist, der sich mit einigen gelassenen Randglossen über verdrießliche Kleinigkeiten zu erheben vermag. Doch hielt er lautes Lachen für ein Zeichen schlechter Erziehung und versuchte sein Gesicht zu beherrschen, was seinem Mienenspiel oft ein drolliges Ansehen gab.

Emersons letzte Lebensjahre waren sehr glücklich. Sein Heim und das geistige Reich, das er sich erschaffen hatte, gewährten ihm warme Befriedigung. Eine fast seelsorgerliche Korrespondenz verband ihn mit Menschen über die halbe Welt hin. Noch immer war er der tägliche Waldwanderer, mochte auch das Auge schwächer und die Gestalt gebeugter werden.

Im rauhen April 1882 erkältete er sich und verschlimmerte den Zustand durch einen Spaziergang im Regen. »Mehrere Tage lang quälte ihn eine unangenehme Heiserkeit« (so erzählt sein Sohn, der Arzt), »und am Abend des 19. April schien er mir etwas fiebrig, so daß ich am folgenden Tage wiederkam. Er lag auf dem Sofa seines Arbeitszimmers und schlief; und als er aufwachte, ergab es sich, daß das Fieber gestiegen war und er ein wenig verwirrt schien ... Aber wenngleich er manchen geistigen Eindrücken gegenüber stumpf geworden, war er doch für eins bis zuletzt völlig lebendig, und während selbst die ihm so vertrauten Gegenstände seines Studierzimmers ein fremdes Ansehen gewannen, deutete er lächelnd auf das Porträt Carlyles und sagte: ›Das ist mein Mann, mein guter Mensch!‹ Am folgenden Tage stellte sich eine einseitige Lungenentzündung heraus, und er schien weit kränker als tags zuvor. Augenscheinlich fühlte er selbst, daß er sterben würde, und strengte sich aufs äußerste an, noch ein oder das andere Wort der Ermahnung an seine Kinder zu richten. Kranksein war ihm ein völlig unbekannter Zustand, und er äußerte den Wunsch, sich anzukleiden und in sein Arbeitszimmer zu setzen. Und da wir gesehen hatten, wie lästig ihm jeder Versuch, sein Tun zu beeinflussen, war, und ihm die Gründe für ein derartiges Vorgehen in seinem jetzigen Zustand nicht begreiflich zu machen waren, so schien es mir nicht der Mühe wert, ihn zu beunruhigen und zu hindern, wie man es vielleicht bei einer jüngeren Persönlichkeit, die noch mehr am Leben hängt, getan haben würde. Frei hatte er gelebt: nun war sein Leben fast abgeschlossen, wie hätte man es ihm während seiner augenscheinlich letzten Krankheit durch irgendwelche nicht absolut gebotene Bevormundung verbittern sollen. Er litt nur wenig, nahm seine Nahrung ohne Widerstreben, aber empfand traurig seine Unfähigkeit, die Worte, deren er sich zu bedienen wünschte, zu finden. Er kannte seine Angehörigen und seine Freunde, doch glaubte er, sich in einem fremden Hause zu befinden. Er saß fast die ganzen letzten Tage in einem Stuhl am Kamin und blieb nur die letzten vierundzwanzig Stunden im Bett. Während seiner Krankheit freute es ihn sichtlich, seine Frau möglichst in seiner Nähe zu haben, und an einem der letzten Tage gelang es ihm, trotz der Schwierigkeit, die ihm das Finden der richtigen Ausdrücke bot, ihr zu sagen, wie lange und glücklich ihr Zusammenleben gewesen sei. Der Anblick seiner Enkelkinder verklärte sein Gesicht jedesmal mit einem sonnigen Lächeln. Am letzten Tage sah er einzelne Freunde und nahm Abschied von ihnen. Schmerzen hatte er nur zu allerletzt, und auch diese linderte eine Äthereinspritzung, unter deren besänftigendem Einfluß er in einen ruhigen Schlaf fiel, während dessen er leise und sanft die letzten Atemzüge tat. Er starb am Abend des siebenundzwanzigsten April 1882 ...«

Er wurde begraben unter einer von ihm selbst gewählten Tanne, nicht weit von den Gräbern seiner Mutter und seines Kindes.

Viele Jahre zuvor (1857) hatte Emerson einmal in sein Tagebuch die Worte geschrieben: »Als ich erwachte, sagte ich mir: noch einige Male Schlafengehen und Wiedererwachen, dann werde ich Krank auf diesem Lager liegen und bald darauf tot, und durch das hintere Portal meines Hauses wird man mein Gebein hinaustragen zur letzten Ruhe. Wo werde ich selbst dann sein? Ich erhob mein Haupt und sah das fleckenlose gelbrote Morgenlicht jenseits der dunklen Hügel emporflammen und das weite Erdenrund erfüllen.«

3. Wohin führt uns Emerson?

Am 25. Mai 1803 wurde Ralph Waldo Emerson als Sohn eines amerikanischen Predigers zu Concord geboren, ist also in theologischer Luft groß geworden. Emersons Familie, die im Anfang des 17. Jahrhunderts in Amerika eingewandert war, wies durch acht Generationen hindurch Geistliche auf. Wie der Theologensohn Nietzsche ist auch Emerson nach seines Vaters frühem Tode von Frauen erzogen worden, freilich sehr tapfer und ohne alle Weichlichkeit. Wie Nietzsche ist auch Emerson nach Niederlegung seines theologischen Berufes einer der wahrhaft freiesten Geister Amerikas geworden, frei allerdings nicht im Sinne eines Schlagwortes, frei im Sinne festen Gebundenseins in einer alles durchdringenden Weltseele.

Sein äußeres Leben bietet nichts Auffallendes. Emersons beide älteren Brüder starben in jüngeren Jahren; der eine war vorübergehend geisteskrank; ein anderer Bruder blieb zeitlebens schwachsinnig. Auch Emersons erste Gattin, die er mit ihren blühenden siebzehn Jahren kennen lernte und ein Jahr darauf heiratete, starb nach kurzer Ehe. Sie war eine ungewöhnliche Schönheit, auch geistig reich begabt. »Sie hat mich nie und durch nichts enttäuscht, außer durch ihren Tod«, schreibt Emerson. Im Jahre 1835 vermählte er sich zum zweiten Male mit einer weiter nicht hervortretenden Frau, die ihm drei Kinder schenkte. Der älteste starb mit acht Fahren, der zweite ist Arzt in Concord. Ebendort ist Emerson gestorben am 27. April 1882. Außer einigen Reisen in Europa und mehrfachen Vortragsreisen in Nordamerika wurde das gleichmäßige Leben dieses vornehmen Philosophen und Schriftstellers nicht bedeutsam unterbrochen.

Innerlich aber um so mächtiger wuchs sein geistiges Leben. »Die feinste Blüte geistiger Kultur Amerikas«, schreibt Eduard Engel (»Engl. Literaturgesch.«), »erwuchs in einem vor seiner Glanzzeit sowenig wie Weimar vor der seinigen bekannten Städtchen: Concord, nahe bei Boston; und der Mittelpunkt jenes, auch sonst mit den großen Weimarer Menschen zu vergleichenden Kreises heißt Emerson, der Weise von Concord. Dem Städtchen fiel ein besonderes Los: es war während eines Menschenalters Amerikas wahre geistige Hauptstadt, und sein Friedhof, auf dem Emerson, Thoreau und Hawthorne ruhen, ist ein Wallfahrtsort für Nachgeborene.«

Da weilte der bedürfnislose Einsiedler und Träumer Henry Thoreau, der Verfasser des eigenartigen Buches »Walden«, worin sich gedanken- und stimmungsreich sein Leben in einer Blockhütte des Urwaldes widerspiegelt. Da war die bedeutende Frau Margaret Fuller, der die Amerikaner eine der besten Schriften zur Frauenfrage und die erste Übersetzung von Goethes Gesprächen mit Eckermann verdanken. Da war der Erzähler Nathaniel Hawthorne, die Schriftstellerin Louisa Alcott, ihr Vater Bronson Alcott, einer von Emersons nächsten Freunden. Auch mehrere tüchtige Abgeordnete und Künstler hat übrigens das Städtchen mit seinen kaum 2000 Einwohnern in das amerikanische Geistesleben abgegeben. Bedeutende oder nur neugierige Besucher, auch aus Europa, fehlten nicht. Das alte Ulmenstädtchen war in fast greifbarem Sinne die magnetische Stätte, an der sich die geistige Kraft des überlärmten, rastlosen Amerika wie auf unterirdischen Wegen und Adern sammelte, um geläutert wieder herauszusprudeln und durch Generationen ein Segen zu werden.

Nur langsam drang Emerson durch. Von seinem ersten Buche, dem stimmungstiefen Essay »Natur« (1836), wurden in 12 Jahren nur 500 Stück verkauft. Heute ist er einer der verhältnismäßig meistgelesenen Schriftsteller. Etwa 1860 stand er auf der Höhe seines Ruhmes: die erste Auflage seiner Essay-Sammlung »Lebensführung« war in zwei Tagen vergriffen. Der Amerikanismus zwar mit all seinem Getöse rollt breit und laut und voll Tatkraft weiter; das sichtbare Bild Amerikas wird durch Weise und Philosophen nicht verändert, ebensowenig wie Carlyles oder Ruskins Seherworte das moderne England sichtbar umfärbten. Aber diese idealen Geheimkräfte sind doch wenigstens in fester Form vorhanden, sind doch wenigstens an der zunächst stillen Arbeit. Sie werden eines Tages in entscheidenden Stunden als Macht heraustreten oder unmittelbar mitwirken, niemand kann wissen wie und wo. Das gilt auch für uns.

*

Will man unsere Titelfrage kurz beantworten, so kann man sagen: Emerson führt uns zu innerer Ruhe.

Es geht mir persönlich mit Emerson ähnlich wie mit Goethe: will ich mich aus Zerfahrenheiten moderner Welt zurückrufen, sammeln und beruhigen, so les' ich ein Stündchen in Goethes Werken, gleichviel wo. Und die gesammelte Hoheit, zu der sich Goethe erzogen hat, verbreitet sich nach und nach auch über den Leser. Oder will man ein höheres Buch der Sammlung, so nehme man das erhabene Johannes-Evangelium, besonders Kap. 14 bis 17: und man hat die Grundstimmung, die ich mir gern als die Atmosphäre eines zukünftigen großen Dichters und der gereiften Menschheit überhaupt denke.

So bildet Emersons stille Kraft eine Gegenstimmung zum lauten Amerikanismus.

Die ersten Ansiedler waren auf einem Schiff, das den schönen Namen »Maiblume« trug, vor religiösen Verfolgungen aus der alten Heimat entwichen. In dieser kleinen Truppe, dem Keim des jetzigen Amerikas, war ein starker religiöser Trieb. Das vergesse man nicht, wenn man an die Entstehung des heutigen Amerikas denkt. Dieser willensstarke Kern wirkte nun auch in der nach und nach durch Indianerkämpfe, Bürgerkriege, Kolonisation und Industrie eintretenden Umhüllung innerlich weiter.

Emersons Ahnen waren Theologen; er selbst erweiterte die Form und wurde Weltweiser und Lebensdeuter, Schriftsteller und Redner. Man könnte Symbolisches hierin erblicken: so wie diese Pilgerväter der »Mayflower«, so kamen wir Menschen überhaupt auf der Erde an, mit einem göttlichen Lichtkern; dieser verdüsterte sich, umhüllte sich, aber immer wieder tauchten und tauchen Männer auf, die den Funken hell entzündet in sich tragen und auch ihre Mitmenschen zum Leuchten bringen.

Dies war Emersons Mission. Er trug seine Laienpredigt in Form von »Essays« vor – ein von Montaigne geschaffenes Bescheidenheitswort, das eigentlich nur »Versuche« heißt –, ganz zwanglos, indem er die einzelnen Gedanken, die ihm seine Stille zutrug, unter bestimmte Titel ordnete. Seine Bücher sind daher, trotzdem sie in Aufsatzform gestaltet sind, eigentlich Aphorismen. Und wenig Schriftsteller vertragen, ja brauchen für breitere Leserkreise so bedeutende Kürzung und Zusammenziehung wie Emerson. Zwischen Stellen, die uns wenig sagen oder die wir in ihrer Unbestimmtheit nicht recht prüfen können, weil der Verfasser selber noch im Suchen war oder weil sie auf amerikanische Verhältnisse anspielen, tauchen immer wieder wahrhaft glänzende Sätze oder Abschnitte auf, von gedrungener Stilistik, die uns unmittelbar eingeht, oder von zarter Anmut, die wie Poesie und Musik wirkt.

Seine Worte haben etwas Freies und Sicheres. Sie wirken ohne Wenn und Aber. Zwar hat er viel gelesen und gedacht: aber nur zur Bestätigung zitiert er oder zur Abwechslung, nicht weil er Stelzen braucht. Denn seine Gedanken sind geworden und gewachsen, nicht gemacht.

Er will daher keinem Zuhörer irgend etwas »beweisen«; er sagt einfach, was er erfahren hat, sagt es ohne Gereiztheit oder Ansprüche, kennt in seinem großen Frieden gar keine Gereiztheit. »Stimmst du dem zu, was ich hier sage, so freut es mich, so ist dein Organismus von ähnlicher Beschaffenheit und deine Seele braucht solche Worte; stimmst du nicht zu – so wollen wir in Freundschaft aneinander vorübergehen und einander nicht schelten; du wirst dann bei andren das Deine finden, und meine Wahrheit – bleibt Wahrheit, ob du zustimmst oder nicht.« Dies etwa, einen seiner Grundgedanken umschreibend, ist sein Standpunkt. Und mit unerschütterlich freundlich-fester Ruhe geht dieser vergeistigte Amerikaner seinen Weg. Das ist das Wohltuende seiner Erscheinung.

Hierin liegt auch für uns die Zukunft.

*

Emersons philosophische Weltansicht steht dem Platonismus am nächsten. Die Vorstellung, daß die Einheit Gottes sich selber ausstrahle in die Vielheit der Welt, kehrt seit Urzeiten so häufig wieder, daß sie mit unsrem tiefsten Menschentum verwachsen scheint – ein Erbe aus Urzeiten, wie jener Lichtkern. Sie muß einem uns ureingeborenen Drang nach Allharmonie entsprechen. Wir finden sie in der christlichen wie in der indischen Mystik.

Aber Emerson liebt nicht nur Platos Hochflug; er hat auch eine Vorliebe für Montaigne, den etwas bürgerlichen Plauderer und ironisch-vorsichtigen Zauderer. Und ebenso verstehend, wenn auch kritisch, neigt er sich zu Swedenborg; betrachtet dann wieder Napoleon, den Mann der Tat, Shakespeare, den Dichter, Goethe, den Schriftsteller. Sie alle, diese großen Männer, waren ihm – nach Carlyles Vorgang – verschiedenfältige Ausstrahlungen der einen Gottheit. Sie waren ihm Typen und Vorbilder: »Repräsentanten der Menschheit«.Nur nebenbei: weder sachlich noch methodisch genügen Emersons »Repräsentanten« unsren deutschen Begriffen. Weder Swedenborg – trotz des tiefsinnigen Abschnitts über Naturgestaltung – noch Shakespeare oder gar Goethe werden in ihrer Fülle erfaßt; am besten Plato und Montaigne. Es sind tiefe und feine Aphorismen über das jeweilige Thema. Ein Historiker war Emerson nicht. L.

Man darf vielleicht einen Schritt weitergehen – die Leser dieser Blätter werden es verstehen – und sagen: sie sind verschiedenartige Zustände der Menschheit. In ihnen formt und versichtbart sich Wesen und Wollen einer Zeit und bringt sich in eine faßbare Formel. Sie gehen in die Überlieferung über; ihr Name symbolisiert sich; sie werden vergeistigt, das Vergänglich-Menschliche wird vergessen und fällt ab: und allmählich stehen die Großen als gewaltige Standbilder längs des mühsamen Weges menschlicher Entwicklung. Das tiefste Wollen der Menschheit hat sich in ihnen verkörpert; und es verkörpert sich von Stufe zu Stufe immer aufs neue. So erhöht die Menschheit in ihren stärksten Stunden sich selber zu Heroen: Widerspiegelungen des Besten in uns, des Willens nach Vollendung.

Darum ist es Unnatur und Krankheit, wenn eine sogenannte »demokratische« Zeit das Heroentum verhöhnt. Diese verflachenden Toren beschädigen ja sich selbst! Sie verhöhnen ja ihre eigenen Hochstunden, ihre eigenen Sonntage! Sie wissen nicht, was sie tun, wirklich nicht; denn sie gleichen dem Wahnsinnigen, der in seiner Verdüsterung den eigenen Leib zerfleischt.

Wahre Heldenverehrung und wahre Achtung vor heilig und rein denkenden Persönlichkeiten bleibt nicht am vergänglich Menschlichen des Heros haften: sie erkennt ihn als »representative man«, als einen Stellvertreter der in der Menschheit wirkenden Gottheit, die ihn ausgesandt hat. Sie erkennt ihn als Sendling der »oversoul«, der All-Seele, die den unübersehbaren Kosmos und die kleine Bewohnerschaft dieses Planeten durchflutet, beseelt und zu Taten drängt. Wir alle wissen: einem Schüler ist das Auswendiglernen grammatischer Regeln im allgemeinen eine rechte Qual; das lebendige Beispiel aber macht ihm die Regel rasch faßlich. Nun, große Männer sind anschauliche Beispiele in der Grammatik der Menschengeschichte.

Wir sind demnach keine »Heroenverehrer« und treiben keinen »Heroenkult«; denn das zu Verehrende ist ja auch dem Heros übergeordnet: wir sind Verehrer des Ganzen. Die Heroen sind bedeutende Beispiele, die uns das Ganze verdeutlichen. Der Heros ist Mittel; Erkenntnis aber des Ganzen ist Erkenntnis der Gottheit. Und das ist das Ziel. Und da kann uns jedes Kleinste zwar ein genau so angenehmes Mittel sein, uns persönlich. Wir wählen aber große Vertreter der Gattung mit Vorliebe deshalb, weil es ratsam ist, uns auf bestimmte, weithin sichtbare Zeichen zu einigen.

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Wohl mag es da nun vorkommen, daß man – in der strengen Aufwärtswanderung, die man sich selber zumutet – über die Jämmerlichkeiten der trägen Masse in Zorn ausbricht. Der stürmisch-pathetische Kelte Carlyle ist oft in diese begreifliche Ungeduld geraten; Moses hat, vom Gottesgespräch auf dem Sinai ins Tal zurückkehrend, vor Zorn die Gesetzestafeln zerschmettert, als er sein Volk um triviale Götzen tanzen sah, so übermannte den Propheten Ekel und Zorn.

Aber Emerson ist hierin beruhigter. Er hat zwar die historische Bedeutung der Persönlichkeit Jesu erkenntnismäßig sehr unzulänglich erfaßt, wie aus einzelnen Bemerkungen hervorgeht: aber praktisch ist in ihm Jesugeist. Das feste, ruhige, gütige: »Sehet die Lilien auf dem Felde an – werdet wie die Kinder!« – diese Mahnung zur Ursprünglichkeit und Einfalt ist das Urbild der Stärkungsworte dieses innerlich freien, weil mit der Seele des Alls, mit der Gottheit geeinten Edelmenschen.

Unser Ästhetentum ist geneigt, ein solches Gestimmtsein (auch bei Goethe) lyrisch und Feuer-Temperamente wie Carlyle oder auch Mose, Jesaja, Paulus, Luther dramatisch zu nennen. Aber wir erheben Einspruch; hier stehen wir jenseits von lyrisch und dramatisch. Für uns stehen Goethe und Emerson dem zukünftigen Entwicklungsziele der Menschheit näher. Jene erstgenannten Kampfgewaltigen standen in der Luftschicht der Erde, fest materialisierte, kompakte Gestalten; und da geht es nicht ohne Rauch und Staub. Geister wie Emerson sind gleichfalls willensstark, aber sie wirken aus feineren Luftschichten; sie stehen nicht in einer Parteiung, sondern weitblickend über dem Kampf. Für Carlyles Wucht ist das Zerschmettern der Tafeln typisch, und zwar unten am Sinai; für Emerson jedoch das Sprechen mit Gott, oben in der Einsamkeit des heiligen Berges. Und wenn diese Geister herunterkommen, so haben sie so viel Glanz in und um sich – kein lodernd Feuer –, daß sie nun nicht mehr toben, sondern freundlich belehrend ihre sicheren Wege gehen und sich zum Kleinsten ebenso unbefangen neigen wie zum Größten – ruhig: wie ein Licht aufgestellt wird, zu dem dann ganz von selbst die Verirrten durch die Nacht kommen.

Jesus ist das höchste Beispiel dieses Typus.

Und daher müssen wir ihn immer wieder als fernes Endziel der Menschen-Entwicklung in den Mittelgrund stellen, über die Nationen hin, weitab von aller in der Erde wühlenden Milieutheorie. Nicht als hageren und der Welt erliegenden Asketen, sondern als zwar tragisch hoheitsvollen Fremdling, aber zugleich als außerordentlich natürlichen und wahrhaftigen Menschen, um den freilich ein Glanz aus höheren Regionen ist, der alles adelt, was er tut und sagt.

Dahin führt uns Emerson.

4. Emersons Gedankenwelt

Alles in diesen Blättern drängt nach beseelender Gestaltung: nach künstlerischer Gestaltung des Lebens und nach dichterischer Gestaltung. Jeder kann ein Dichter der Tat, ein Verklärer seiner eigenen Welt und der Welt seiner Mitmenschen sein, da, wo er steht, mit den Materialien, die ihm das Schicksal an die Hand gibt.

Dahin drängt auch Emerson. Und so ist er – obwohl der Name Kant in seinen Werken keine Rolle spielt – ein praktischer Fortsetzer der auf Gestaltung drängenden Lebensphilosophen Kant und Plato. Moralische Lebensführung und Sittlichkeit kann zwar auch der Philister besitzen: hier aber handelt es sich um noch Höheres. Hier wird außerdem die sehr wichtige, schaffende Phantasie herangezogen. Hier handelt es sich um erfinderische Liebe, um künstlerische Kraft.

Ein Rundgang durch Emersons Welt bilde nun den Abschluß.

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»Ich sehe keinen anderen Weg des Friedens,« so verkündet er seinen germanischen Individualismus, »als das Lauschen auf die Stimmen der eigenen Brust. Möge der Mensch allzuvielen Umgang aufgeben, viel zu Hause sein und sich in Bahnen stärken, die ihm als die rechten erscheinen. Das unentwegte Festhalten an schlichten und hohen Vorsätzen bei niederen Pflichten stählt den Charakter zu solcher Härte, daß er, wenn es nötig ist, mit Ehren bestehen kann auch im Kampfe oder auf dem Schafott!« Er empfiehlt, die Einsamkeit wie eine Braut zu umfangen, fügt aber hinzu: »Nicht örtliche Absonderung ist das Entscheidende, sondern die Unabhängigkeit des Geistes von der störenden Umgebung, und nur insofern als der Garten, das Häuschen, der Wald und die Felsen eine Art räumlicher Hilfsmittel sind, gewinnen sie ihre Bedeutung. Poeten, die in großen Städten gelebt haben, sind dennoch Einsiedler gewesen.« Ja, er erweitert diese Einsiedelei zur Zweisiedelei und Mehrsiedelei durch die Bemerkung: »Ich sage Einsamkeit, um den Charakter der Gedankenstimmung, die ich meine, zu bezeichnen, aber wenn diese Einsamkeit zwischen zwei und mehr Menschen geteilt werden kann, wird sie reicher an Freuden und nicht minder vornehm sein.« Denn die Einsamkeit ist ja nur Hilfsmittel zu einer um so mehr erweiterten Tätigkeit. »Die Einsamkeit entfernt den Zwang aufdringlicher und lästiger Forderungen des Augenblicks und läßt umfassenderen und menschlichen Beziehungen Raum. Der Heilige und der Dichter (auch der Forscher, wie er an anderer Stelle hervorhebt) suchen ungestörte Einsamkeit um der allgemeinsten und öffentlichen Ziele willen.« Es ist Gepflogenheit großer Menschen, von Zeit zu Zeit als Wohltäter unter die Menge zu treten und im übrigen der Einkehr, Einsammlung, Bearbeitung und Vergeistigung der Dinge zu leben und so nur um so mächtiger zu wirken.

Festgewurzelt Selbstvertrauen, das mit Gottvertrauen gleichbedeutend ist – denn wir sind Ausstrahlungen Gottes –, ist also eine erste Tugend bei dieser Sammlung und Einkehr. Wir sind nicht in irgend einer Vergangenheit mit schön tönenden Namen – denn auch die herrlichsten Taten der Weltgeschichte werden erst in uns lebendig –, wir sind hier. »Mit der Zeit lernen wir wohl auch, daß es hier am besten ist. Achte du nur vor allem darauf, daß du selbst hier bist!« ... »Die Stunde ausnützen, das ist das Glück! Mir sind fünf Minuten des heutigen Tages genau so viel wert, wie fünf Minuten in den nächsten tausend Jahren. Heute laßt uns im Gleichgewicht sein, heute weise, heute unser eigen!« ... Das »starke Heute betonen« und »Hochachtung vor der gegenwärtigen Stunde« – solche Wendungen kehren immer wieder. »Wenn es jemals einen wahrhaft Guten gab, so können wir sicher sein, daß es auch einen zweiten gab und noch viele geben wird« ... »Der Held muß sich überall zu Hause fühlen, wo er auch sei, und durch seine eigene Sicherheit allen anderen Wohlbehagen einflößen. Der Held darf er selbst sein« ... Ganz wie Goethe (Tasso): »Mein Freund, die goldene Zeit ist wohl vorbei, allein die Guten bringen sie zurück« – sagt auch Emerson: »Ein großer Mann macht sein Land groß in der Einbildungskraft der Menschen, und seine Luft atmen gern die edelsten Geister; das ist das schönste Land, worin die schönsten Seelen wohnen.« Ganz ähnlich Ruskin: »Das ist das reichste Volk, das möglichst viele Persönlichkeiten hat.« Und mit demselben Allvertrauen sagt Emerson: »Nach der Unsterblichkeit ist die wohlbeschäftigte Seele nicht neugierig. Es ist alles so gut, daß sie gewiß sein darf, daß auch künftig alles gut sein wird. Sie stellt der höchsten Macht keine Frage.« Oder an anderer Stelle, noch schärfer: »Sobald das Dogma von der Unsterblichkeit als etwas Besonderes gelehrt wird, ist der Mensch schon gefallen. In den Fluten der Liebe, in dem ehrfürchtigen Emporschauen der Demut wird nach keiner Fortdauer gefragt« – denn wir sind ja, hier, jetzt, immer, im Strome ewigen Lebens. Trachte du danach, deinen Zustand, dein Wesen in Einklang zu bringen mit dem göttlichen All, jetzt, hier und immer!

Dies alles ist Ausstrahlung eines starken Glaubens von erhabener Einfachheit. »Feiglingen will Gott sich nicht offenbar machen«, sagt Emerson im Essay, der von der alldurchdringenden Weltseele (oversoul) spricht, deren Einströmungen wir bloß kraftvoll und bewußt stillzuhalten brauchen. Ich will über diese Gottesauffassung Emersons nicht weiter sprechen aus Furcht, in den langen Kometenschwarm scholastischer Erörterungen zu geraten, die allemal Beweis sind mangelnder religiöser Ursprünglichkeit. Emerson ist Leben. Seine Gottesauffassung erinnert, philosophisch gewertet, etwa an Fechner, an den Pantheismus, an unsere deutschen Mystiker. Die betreffenden Ausführungen sind nur Hilfsmittel, um eine Sache klar zu machen, die nicht bewiesen, die nur erlebt werden kann. Der Glaube ist ein Zustand. Einem Aufgeregten kannst du diesen Zustand nicht »beweisen«: strahle dein Wesen aus, sei es in Dichtung, sei es im Leben, du selber bist dann Beweis! Ein Mann, in dem dies Geheimnis Macht geworden, daß ja in seinem unmittelbarsten Willensbereich Gottes Urkraft samt aller Wahrheit, Schönheit, Güte, Liebe allezeit herrlich nahe ist, nein: in ihm ist, in ihm selber wirkt und schon längst nach Aufmerksamkeit an unser Bewußtsein pocht: – der Mann solcher einfachsten und schwersten aller Entdeckungen hat sein inneres Ziel gefunden. Und so auch Emerson. Erhaben und freudig zugleich schließt sein Aufsatz von der Weltseele: »Ruhig wird der (zum Gottesbewußtsein erwachte) Mensch dem morgigen Tage die Stirn bieten, mit der ganzen Gelassenheit jenes Vertrauens, das da Gott mit sich trägt und die ganze Zukunft bereits im Grunde des Herzens hat.«

Innerste Wahrhaftigkeit ist zu solchem Einströmen höherer Kräfte nötig. Wie kann ich mich mit Eitelkeiten vor Gott verstecken, der in mir ist? Das mag in der Gesellschaft von Mensch zu Mensch schlechter Gebrauch sein, wir aber sind ja in der Einsamkeit einer offenen Sternennacht, aus der ein ganzes Weltall wie ein Gottesauge auf uns herniederfunkelt. »Wenn wir wollen, daß unser Wort und unser Tun erhaben sein soll, dann muß es wahrhaft sein und aus unserem Wesen entspringen« ... »Wenn das Leben des Menschen vorrückt, wächst sein Verlangen nach Wahrhaftigkeit, während sein Wunsch, getäuscht und unterhalten zu werden, abnimmt. Junge Leute bewundern Talente und einzelne hervorragende Eigenschaften. Wenn wir älter werden, schätzen wir das totale Vermögen und die Gesamtwirkung, den Geist, die Summe der Eigenschaften eines Menschen.« Schön spricht auch der aufrichtige Carlyle, an Goethe erzogen, von der »elementaren Herzensaufrichtigkeit« des prächtigen Robert Burns. Es ist das Entzücken kleiner Menschen und Talente, uns zu blenden, zu täuschen, ihr persönliches Ich durchzusetzen: kommt aber, sagt Emerson, der große Mensch durch diese Summe von Schein und Irrtum gewandelt, so geht ein Aufatmen durch uns alle. »Die Großen schreiten durch alle Moden hindurch, sie sind die Erlöser aus allen jenen Irrtümern, sie schützen uns vor den Zeitgenossen« ... »Der Wert des Genies liegt in der Wahrhaftigkeit seiner Berichte. Das Talent mag scherzen und künsteln, das Genie schafft neue Realitäten« ... »Wir brauchen nur viel mit einem Manne von kraftvollem Geiste zu sprechen, und wir werden uns sehr rasch gewöhnen, die Dinge in demselben Lichte wie er zu betrachten. Denn alle geistige und sittliche Kraft ist ein positives Gut, und sie geht von dir aus, du magst wollen oder nicht und nützt mir, an den du noch nie gedacht hast. Ich kann gar nicht von persönlicher Kraft irgendwelcher Art, von großer Leistungsfähigkeit hören, ohne von frischer Entschlossenheit durchdrungen zu werden« ... »Die Welt wird durch die Wahrhaftigkeit guter Menschen erhalten; sie sind es, die diese Erde gesund und heilsam machen.«

Damit sind wir zu jenem Kapitel Emersonschen Denkens gekommen, das gemeinhin allein von ihm und Carlyle bekannt ist: zu seinem »Heroenkult«, zu seiner Verehrung großer Menschen. Im obigen Zusammenhange betrachtet, ist uns diese Verehrung eine Selbstverständlichkeit. Emersons Lebensanschauung ist, wie ich schon sagte, kein System: sie ist aphoristische Ausstrahlung dessen, was in ihm lebt. Und so sind ihm auch die lebendigen Beispiele in der göttlichen Grammatik, die vorbildlichen Menschen, viel wertvoller als die philosophischen und theologischen Systeme. Der lebendige Blick auf eine Siegfriedsnatur erzieht unmittelbarer als das Auswendiglernen sämtlicher Gebote, die zu befolgen sein dürften, falls man Siegfriedsfreudigkeit erlangen wollte. Gebote belasten, Anschauung aber belebt. Der Erzieher muß zum Schöpfer, der Prediger zum Dichter werden.

So schuf er, der keine künstlerische Gestaltungskraft besaß, seine Betrachtungen über »repräsentative« Menschen: ein Wort, das man, wie schon angedeutet, verhältnismäßig am besten mit »vorbildlich« oder »symbolisch« wiedergibt. Große Menschen sind ihm ja solche Menschen, in denen die Flammenkräfte Gottes und die feinsten Kräfte der Natur ganz besonders lebendig sind. Sie teilen unserem Feuerchen mit von ihrem stärkeren oder feineren Leuchten. Darum ist »die Suche nach großen Menschen der Traum der Jugend und die ernsteste Aufgabe des Mannesalters«. Denn »wir können keinen noch so flüchtigen Blick auf einen großen Menschen werfen, ohne irgend einen Gewinn daraus zu ziehen«, sagt Carlyle. Und Jean Paul, in einem herrlichen Bilde: »Ein Mensch, den die Sonnennähe eines großen Menschen nicht in Flammen und außer sich bringt, ist nichts wert« (Hesperus). Und noch plastischer Emerson in seinem allumfassenden Pantheismus, in dem Natur und Geist eins sind: »Jeder Mensch ist ein Bündel von Blitzen. Alle Elemente strömen durch seinen Organismus, er ist Flut von der Flut und Feuer vom Feuer. Ein rechter und vollkommener Mensch müßte bis zum Zentrum des Sonnensystems empfunden werden. Aus einem großen Herzen strömen endlos geheime magnetische Ströme, die große Ereignisse heranziehen.« Emerson ist tief überzeugt von der mystischen Wechselwirkung zwischen bedeutenden Menschen und bedeutenden Ereignissen, überhaupt zwischen Einzelmensch und Schicksal. Die Religionen der Welt erzählen viele Beispiele von der magnetischen Macht des Gebets. Gebet ist verstärkter und geläuterter Wille, der sich mit dem Gotteswillen verbindet (von dem ja unser Bestes ein Teil ist) und so eine Macht wird – allerdings gerichtet auf Güter von innerem Wert. Und solche magnetische Kraft ist im bedeutenden Menschen. »Es ist unglaublich, welche Kraft unter Umständen der Wille hat,« sagt ja schon Goethe: »er durchdringt den Körper und versetzt ihn in einen Zustand der Aktivität, der alle schädlichen Einflüsse abhält.« Und Emerson: »Die Aufgabe des Menschen erhält ihn am Leben. Ein hohes Ziel ist heilkräftig. Ein hohes Ziel wirkt auf die Mittel, auf die Tage, auf die Organe des Leibes zurück.« Hier sind wir in jener geheimnisvollen Region, in der das Flechtwerk des Geistes mit dem Körper zusammenhängt. Solche Kraft ist geradezu körperlich ansteckend; sie entspringt aus dem Lebenszentrum, sie wirkt wie Elektrizität auf das Lebenszentrum des Berührten. Ihr letzter Kraftquell ist die Urkraft Gottes und des Alls. Dem gereiften Geist erscheint der große Mensch »als ein Exponent eines gewaltigen Geistes und Willens. Das dunkle Ich wird transparent: es ist durchleuchtet vom Licht des Urgrundes.« Ist das nicht der Geist des Johannes-Evangeliums, etwa Kap. 17? Dort sagt Jesus in verklärtem Gebet hoheitsvoll: »Ich habe ihnen gegeben die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, daß sie eins seien, gleich wie wir eins sind. Ich in ihnen, und du in mir!« Ja, dies ist die gewaltigste Einheit, eine konzentrische Ringbildung, wie der Baum wächst: Gott im Zentrum, dann Jesus, der »Mittler«, dann wir, die Peripherie-Menschen. »Die wahrhafte Aktion des Geistes liegt öfter in dem, was während eines Gespräches empfunden wird und ungesagt bleibt, als in dem, was gesprochen wird. Dieser All-Geist brütet über jeder Gesellschaft, und er ist es, den sie, ohne sich dessen bewußt zu werden, einer im anderen suchen« ... »Der Schöpfer aller Dinge und aller Personen steht hinter uns und wirft seine furchtbare Allwissenheit durch uns auf die Dinge« ... »Solange der Mensch nicht in Gott seine Heimat gefunden hat, werden seine Manieren, seine Art, zu sprechen, die Wendungen seiner Aussprüche es unwillkürlich verraten, er mag dagegen ankämpfen, soviel er will. Wenn er sein Zentrum gefunden hat, so wird die Gottheit durch alle Verkleidungen der Unwissenheit, eines ungenialen Temperaments und ungünstiger Verhältnisse hindurch durch ihn hervorleuchten. Ein anderer ist der Ton des Suchens und ein anderer der des Habens« ... »Diese Kraft aber strömt in das individuelle Leben nur unter einer Bedingung: der des vollständigen Besitzes. Sie kommt zu dem, der alles abzutun bereit ist, was fremd und hoffärtig ist, sie kommt als innere Erkenntnis, als ein Schauen, sie kommt als Heiterkeit und Größe. Wenn wir diejenigen sehen, in denen sie wohnt, dann lernen wir neue Grade menschlicher Größe kennen.«

Den landläufigen Irrtum, als schlösse dieser »Heroenkult« eine Verachtung der »Masse« in sich, brauchen wir nicht zu widerlegen. In uns allen steckt »Masse«; aus unseren trivialen Kämpfen, Leiden, Kleinigkeiten, Alltäglichkeiten wächst in uns, wie aus Dünger, die Edelpflanze höheren Menschentums. Die edleren Teile in uns kämpfen ununterbrochen mit den niederen Teilen und Trieben; aus solchem nützlichen Kampf besteht die Bewegung, die wir Leben nennen; es ist ein Hin und Her, ein Austauschen, ein Geben und Nehmen – langsam und sicher aber reift darin der geistliche und sittliche Mensch. So mag es wohl auch sein zwischen dem Massentum einer Nation und den Genien einer Nation: Wechselwirkung ist das Geheimnis. Wie sich die Gewitterwolke von der Erde löst und sich der Erde gegenüberstellt, herniederdonnernd und herniedersegnend, ein Feind und ein Segen, ein Sohn und ein Fremdling: so Genius und Nation.

Emerson hat diesen Gedanken nicht herausgearbeitet; es fehlt auch nicht an berechtigten Ausfällen wider die Massen der Sanscullotten und Lazzaroni (Lebensführung S. 207). Aber das Tauschverhältnis zwischen Massen und Edelmensch und überhaupt das Gesetz der Wechselbeziehung ist ihm bewußt gewesen.

Wahrhaftigkeit, Selbstvertrauen, Ewigkeitsvertrauen, Willenskraft – das sind Grundlagen der Emersonschen Glaubensstille. Das alles fließt eben aus geistiger Gesundheit. Carlyle schreibt einmal über Goethe an Emerson: »Ich will Ihnen mit einem Worte sagen, warum ich Goethe liebe: er ist der einzige gesunde Geist, der seit Generationen in Europa erstanden.« Und er fügt hinzu – was man mit unserer obigen Betrachtung über den steten Kampf in uns selber und mit der Umwelt in Beziehung bringen mag –: »Eines Tages werden Sie einsehen, daß dieser sonnig dreinschauende, freundlich-höfliche Goethe in sich verschleiert ein Prophetenleid trug, tief, wie das Dantes. Kein Mensch kann so sehen, wie er sah, der nicht gelitten und gekämpft hat, wie selten ein Mensch es getan.«Eine Wahrheit, die auch H. v. Stein herausgefunden hat; vgl. »W. n. W.« S. 118; und »Ästh. der deutsch. Klassiker«, S. 123: »Für Goethe weisen wir das Symbol des ›Olympiers‹ zurück. Das ist nicht der Goethe, den wir kennen, nicht der Mann der ›grenzenlosen Tränen‹, nicht der, den noch als beinahe Achtzigjährigen eine Leidenschaft wehrlos, fieberkrank auf das Lager warf. Goethe erwehrte sich seiner selbst und erschien gelassen, er erschien unnahbar. Wer aber das andere in ihm nicht als die Tiefe seines Wesens erkennt, würde nicht die große Wirkung verstehen, welche von jener seiner sicheren Haltung hier und da ausging« ... Wir haben demnach »in Goethe eine tragische Natur zu erkennen, welche sich den Rhythmus der Dichtung abgewann« und sich dadurch über die Materie erhob, als Sieger und Sager, der nun der Materie Worte gab und dadurch Seele. L. Ein so gesunder Geist ist auch Emerson, dem kaum ein Pilzstäubchen der breit über uns hinwuchernden Dekadence und Entartung anhaftet. »Nichts nährt den Menschen wie wahrhafte Freude. Die Freudigkeit des Gemüts zeigt des Menschen Kraft. Alle gesunden Dinge sind froh und süß. Das Genie schafft spielend, Güte lächelt bis zuletzt; und zwar darum, weil jeder, der das Gesetz erkennt, das die Welt durchströmt, und lenkt, niemals verzagt, sondern stets mit neuen großen Wünschen und hohen Bestrebungen beseelt wird. Wer verzagt, verrät damit, daß er das Gesetz nicht erkannt hat.« Oder, fügen wir hinzu, eingedenk der Verfinsterungen, denen selbst die Größten manchmal ausgesetzt sind: verrät damit, daß er in diesem Augenblicke den elektrischen Anschluß an die ewige Kraftquelle verloren hat. »Kraft wohnt bei den Fröhlichen; Hoffnung macht uns arbeitsfreudig, während die Verzweiflung keine Muse ist und die tätigen Energien verstimmt und abspannt. Jeder Mensch sollte das Glück des Lebens und der Natur für uns vermehren oder er wäre besser nie geboren.« Diese Freudigkeit aber ist vergeistigter Art; sie ist verfeinert und vertieft. Immer bleibt sie der Ehrfurcht vor dem Ganzen eingedenk. »Es ist zweifellos, daß die Ehrfurcht von übermächtiger Bedeutung für die Gesundheit des Menschen und die Entfaltung seiner höchsten Kräfte ist, so daß sie gewissermaßen als die Quelle seines Intellekts behandelt werden kann. Alle große Zeiten sind Zeiten des Glaubens gewesen. So oft irgend welche außerordentlichen Kräfte in Tätigkeit waren, wenn große nationale Bewegungen begannen, wenn die Künste sich entwickelten, wenn Helden auftraten, wenn Gedichte gemacht wurden: dann war es den Menschenseelen ernst um das, was sie taten, sie hatten ihre Gedanken auf geistige Wahrheiten gerichtet, mit ebenso sicherem Griff wie der Griff der Hände am Schwert, am Stift oder am Meißel. Der Genius kommt immer von den Bergen der Wahrhaftigkeit her. Alle Schönheit und Kraft, danach die Menschen dürsten, werden in diesem Hochgebirge geboren. Jeder außerordentliche Grad von Schönheit an einem Manne oder Weibe muß ein sittliches Element einschließen« ... Und, immer mit dem Blick auf den ganzen Menschen, spricht er an anderer Stelle den weimarischen Gedanken aus: »So innig ist die Verbindung von Geist und Herz, daß allenthalben mit dem Charakter auch das Talent verfällt.«

Damit sind wir auf dem Gebiet der Ästhetik. »Alle Ethik ist zentral« – das ist ein Kernsatz von Emerson; von innen her wird der gereifte, geläuterte, wohlerzogene Mensch nach allen Seiten, in alle Organe hinein, durchleuchtet. Dasselbe gilt für die Ästhetik. Es gibt nur eine Kraft durch die Welt hin; wertvoll wird das dichterische Talent erst dann, wenn der dahinterstehende Mensch durchflutet ist von dieser Kraft – ein Grundgedanke Schillers und Goethes. »Ein königlicher Zug gehört dem Dichter an: ich meine seine Fröhlichkeit, ohne die ein Mensch kein Dichter sein kann« ... »Die wahren Sänger sind immer um ihre feste und fröhliche Gemütsstimmung berühmt geworden« ... »Gesundheit ist der Zustand der Weisheit, und ihr Zeichen ist Freudigkeit, ein offenes und edles Gemüt. Niemals hat es einen Dichter gegeben, der das Herz nicht auf dem rechten Fleck gehabt hätte« ... »Die Welt ist mit Göttlichkeit und Ethik gesättigt«: der Dichter aber saugt mit seinen Fäden aus der Welt Kräfte ein, er ist allen Zeitgenossen und Vergangenheiten und der ganzen Natur verschuldet, viele haben ihm vorgearbeitet, andere rund um ihn her arbeiten mit: »ja, man möchte fast sagen, daß die Macht höchster Genialität darin bestehe, daß ihr alle Originalität fehle, daß sie vollkommen aufnehmend bleibe, alles die Welt tun lasse und nur den Geist der Stunde ungehindert durch den eigenen Geist wirken lasse.« Goethe bekennt von sich ähnliches. Ein Lauschen auf das Weben und Walten der Schöpfung in uns und um uns ist es, was den Dichter ausmacht. Das Musikalische oder das Rhythmische überhaupt, innerlich gefaßt, ist dabei vielleicht das Wichtigste. Es ist auch in Emersons Sprache eine feine innere Musik. Carlyle veranschaulicht dies heimlichste Wesen der Poesie einmal sehr schön: »Die Griechen fabelten von Sphärenharmonie; es war das Gefühl, das sie von dem inneren Bau der Natur hatten, daß die Seele aller Äußerungen und Kundgebungen der Natur vollkommene Musik sei. Poesie wollen wir also musikalisches Denken nennen. Ein Dichter ist der, der in dieser Weise denkt. Im Grunde kommt es auf die Macht des Geistes an; eines Mannes Aufrichtigkeit und Tiefe des Blicks ist es, was ihn zum Dichter macht.« [? Dem Wesen nach, ja, aber noch nicht der gestaltenden Form nach!] »Blicke du tief genug, und du blickst musikalisch, der innerste Kern der Natur ist Musik. Der dichterische Rhythmus ist eine Art Gesang. Alles, was aus der Tiefe quillt, ist Gesang.« Das gestaltende Element wird freilich bei dieser Auffassung Carlyles nicht weiter betont. Im Mittelpunkt steht bei ihm wie bei Emerson das, was in der Tat die Hauptsache sein sollte: der geöffnete Blick in die Harmonie der Dinge. »In allen großen Dichtern«, sagt Emerson, »ist eine allgemein menschliche Weisheit, die höher steht als alle ihre Talente. Das Menschliche ist es, das aus Homer, Shakespeare, Milton herausleuchtet. Die Allwissenheit strömt in den Intellekt und erzeugt das, was wir Genie nennen. Die Wahrheit ist ihnen genug. Sie wurden zu Dichtern infolge des freien Strömens, das sie der bildenden Weltseele gestatteten, die nun die Dinge, die sie selbst geschaffen, durch des Dichters Augen wiederschaut und segnet

Wir begreifen wohl, wenn einmal Emersons englischer Geistesbruder, den ich mehrfach zum Vergleich heranhole, Carlyle, undichterischen Zeiten zuruft: »Derer, die darauf Anspruch machen, Dichter zu heißen, sind viele; und einem ernsten Leser ist es ein recht trauriges, um nicht zu sagen unerträgliches Geschäft, Reime zu lesen, Reime, die keine innere Notwendigkeit hatten. Ich würde allen Menschen raten, die ihre Gedanken aussprechen können, sie nicht zu singen, und einzusehen, daß in einer ernsten Zeit, unter ernsten Menschen keine Veranlassung für sie vorliegt, sie zu singen.«

In solchen Zeiten sind bedeutende Männer, die uns in Prosaworten den Schleier von den Dingen abheben, Ersatz der Poesie. Emerson und Carlyle waren solche Männer.

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Die Beschäftigung mit Emerson ist dem deutschen Leser leicht gemacht. In der Reihe der Übersetzer obenan steht der Wiener Karl Federn, der höchstens mit Fremdwörtern etwas sparsamer sein könnte. Die von ihm (mit Thora Weigand) übersetzten Essays nebst den Repräsentanten sind in einem umfassenden Bande bei Hendel in Halle erschienen, hübsch eingeleitet, sehr billig (alle 3 Teile geb. M 2.–). Ebendort veröffentlichte Federn lesenswerte »Essays zur amerikanischen Literatur« (75 ?, geb. M 1.–). Eine weitere schöne Sammlung »Lebensführung« übersetzte er für den Verlag Bruns in Minden (M 2.50, geb. M 3.50). In demselben Verlag erschien das Charakterbild »R. W. Emerson«, von seinem Sohne herausgegeben, übersetzt von Sophie von Harbou (M 3,60). Diese Verehrerin Emersons übersetzte auch das empfehlenswerte Essaybuch »Aus Welt und Einsamkeit« (Hendel, Halle, geb. 75 ?). Stattliche Emersonbände findet man bei Eug. Diederichs, Jena: »Vertreter der Menschheit« (M 4.– geb. M 6.–) und »Essays« (Übersetzer: W. Schölermann). Beide Bände sind zu empfehlen, nicht sehr glücklich aber ist die unruhige Einleitung (Milieutheorie), die W. Mießner einem ebendort gedruckten Bändchen mitgibt. Auch Carlyles »Helden und Heldenverehrung« (Hendel, Halle, geb. M 1.50, oder O. Wigand, Leipzig, M 5.–) ist für Emersonleser ein grundlegendes Buch. –

Aber auch hier wieder, zum Schlusse dieser Betrachtungen, sei der Bemerkung Raum gegeben: Emerson und Carlyle führen zwar manchen weimarischen Gedanken in selbständigen modernen Formen weiter, aber Weimar ist das Ursprüngliche. Zudem ist Weimars Kultur nicht nur durch große Gedanken, sondern zugleich auch durch dichterische Formkraft anmutvoll gehoben und belebt. Gleichwohl bedeutet die großzügige Lebensethik jener Männer eine Fortentwicklung. Und so wird jeder, der im Sinne eines Schiller und Goethe, eines Fichte oder Lagarde Persönlichkeit sucht, solchen Geistern Wirkung wünschen.

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