Friedrich Lienhard
Wege nach Weimar. Erster Band
Friedrich Lienhard

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Wo liegt Weimar?

Zur Einführung

Was ist denn Glaube? Die Erzählung einer Begebenheit für wahr halten, was kann mir das helfen? Ich muß mir ihre Wirkungen, ihre Folgen zueignen können. Dieser zueignende Glaube muß ein eigener, dem natürlichen Menschen ungewöhnlicher Zustand des Gemütes sein.
Goethe

Jede Erscheinung ist ein Vielfaches und kann mit gleichem Recht von mehreren Gesichtspunkten aus betrachtet werden. Ich kann mich zunächst an die räumliche Sichtbarkeit halten; ich kann sodann zur Idee vordringen; ich kann endlich die Wirkung untersuchen.

Betrachte ich das Wort »Weimar« nach der räumlichen Vorstellung, die es in mir weckt, so ist Weimar ein anmutiges Residenzstädtchen im Ilmtal, zwischen Parkbäumen und sanft ansteigenden Feldhügeln gelegen, von den Sonnenuntergängen des thüringischen Gebirges angeglüht.

Betrachte ich dieses nämliche Städtchen nach seiner historischen Idee, so tut sich ein neues Bild auf. Hier wirkten zwischen bedeutenden Männern und Frauen unsere größten dichterischen Denker der Neuzeit: Goethe, Schiller, Herder. Von hier aus hat sich eine vornehme Geistesgemeinde gesammelt, denen der Name Weimar ein Symbol geworden für feinere Kunst und Kultur.

Und damit gelangen wir zu dem Gesichtspunkt, den ich hier anstrebe. Das landschaftliche und das historische Weimar sind mit all ihrer Schönheit doch nur Ausgangspunkt und Beispiel. Es ist mir nicht um den Ort und nicht um das Wort zu tun. Das eigentlich Wertvolle und Lebendige ist Weimars Wirkung. Das Wort »Weimar« erhält erst – wie die Worte »Wartburg«, »Sanssouci«, »Hellas« – Leben und Sinn, wenn es in jedem von uns ähnliche Kräfte erzeugt, wie sie dort lebendig gewesen. Und so bedeutet uns denn dies magische Wort nur das Verständigungszeichen für einen feiner-menschlichen Zustand: und zu diesem den Aufweg zu versuchen, ist der wahre Weg nach Weimar.

Demnach ist der Weg nach Weimar ein Weg in die schöpferische Stille. Der Weg nach Weimar ist ein feines Abstandhalten von der Körperlichkeit der Erscheinungswelt und doch eine innige Anteilnahme am Ergehen und Wesen der Mitmenschen und an dem bunten Spiel der Schöpfungskräfte.

Darüber werden wir uns in diesen Blättern unterhalten. Wir werden mit Ausläufern wie Heinrich von Stein oder Emerson beginnen und dann in den eigentlich klassischen Kreis vordringen.

Gräfenroda (Thür.)

Herbst 1905


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