Friedrich Lienhard
Wege nach Weimar. Erster Band
Friedrich Lienhard

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Moderne Vereinsamung

Ein Münchener Freund aus den Bezirken Friedrich Nietzsches schlug einmal, in einem Brief an den Verfasser der folgenden Betrachtungen, ein Problem an, das mich in den letzten Jahren innerlich viel beschäftigt, ja von dessen Lösung geradezu das Gedeihen unserer Kultur abhängt. Es ist das Problem der seelischen Vereinsamung des modernen Menschen.

»Wir dürfen nicht Fühlung verlieren«, äußerte sich dieser fein zurückhaltende Zuschauer, der in unserem Zivilisationschaos nicht den Punkt gefunden hat, wo sich tatkräftig einsetzen ließe. »Aber sonderbar: je wohlfeiler und schneller Briefe und Menschen reisen, desto seltener werden diese Berührungen hergestellt. Denn – wenn wir auch öfter als die Großväter einen Brief zur Post tragen oder öfter als jene reisen – es geschieht lange nicht oft genug im Vergleich zu dem unendlich gesteigerten Bedürfnis. Und zweitens: was sind das für leere, hohle, öde Dinge, diese jetzigen Briefe, nicht wert des Namens (wenn dieser auch »kurz« bedeutet, breve, man könnte auch im kurzen viel sagen). Und die Reisen erst! Wie selten gelingt wirklich ein Besuch bei einem, der zu einem, oder zu dem man gehört! ... Kommt dann mal wirklich ein Brief zustande, so ist zu fürchten, daß die schreibende Hand ungelenk und das lesende Auge stumpf geworden ist: und da gibt's dann die so unendlich lächerlich-tragische Stolperei, die man Mißverständnisse nennt. Ganz abgesehen davon, daß jeder unter ein und demselben Wort etwas mehr oder weniger anderes begreift als der andere. Ist Ihnen nicht auch schon aufgefallen, daß dieser Übelstand immer mehr zunimmt? ... Mit den in die große, fremde, wogende Masse der Menschen hineingeworfenen Blättern kommen wir zu nichts mehr. Wir müssen wieder persönlich in Berührung treten mit denen, die wir – noch nicht kennen. Wenn es einen Petroleumring, ein Schienenkartell gibt, warum sollen wir nicht einen »Trust« bilden zur Ausbeutung der noch vorhandenen inneren Schätze und Mineralquellen?« ...

Wir wollen das 19. Jahrhundert nicht schelten. Es hat im Praktischen und Materiellen Großartiges geleistet; es hat die Analyse der Wissenschaft aufs höchste gesteigert. Aber die synthetisch gestimmten Naturen suchen anderes.

Sie alle suchen Erhöhung des Menschentums: den über die Masse des Gewöhnlichen emporwachsenden reineren und feineren Menschen, den »Übermenschen«, der dem Hohen im Nachbarherzen Antwort geben könnte. Aber weithin zerrieb der Industrialismus die Herdenmenschen und achtete die geheime Würde in ihnen für nichts. Dies mit ansehen zu müssen, lieh schon den alten Carlyle aufgrollen; dies war Nietzsches und jener anderen Idealisten eigentlicher Zorn und Schmerz. Dies ist heute noch unser Problem. Dies ist der Grund des dumpfen Hasses der proletarischen Massen. Mangel an Wärmeaustausch von Mensch zu Mensch: von Seele zu Seele!

Wenn man Briefe des klassischen Zeitalters liest – etwa Goethes, Schillers, Körners, Humboldts und seiner Gattin nebst ihren Freundinnen, selbst die Briefe unbekannterer Kreise wie etwa um meinen elsässischen Landsmann Pfeffel (Madame de Gerando, Briefe der Schwestern Berckheim) oder Briefe der Königin Luise: – welche Seelenwärme! Wie ist da der seelische Apparat in Tätigkeit und wirft ein belebend Sprühwerk hin und her! Wieviel Güte und Liebenswürdigkeit, wieviel Anmut und Freude am Geist, wieviel künstlerisch freie oder herzliche Religiosität! Man möchte sagen: diese Menschen standen nicht als kalte Sachen hart und räumlich nebeneinander, wie es in der Welt der trennenden Materie zu sein pflegt. Nein, diese Geister und Seelen schwangen als freie, bewegliche Lichtsubstanz ineinander und miteinander. So ergab es Wärme, so sprühte Elektrizität; so entstand Austausch und Belebung.

Seelische Vereinsamung: Mangel an Reibung und Austausch, an Widerhall und Weiterhall – nicht nur der geistigen Schwingung, sondern noch mehr des Herzens. Der abgesplitterte Nietzsche ruft im ergreifenden Gedicht »Einsiedlers Sehnsucht« (Ged. S. 132; Briefe, III, S. 245) nach Freunden überhaupt:

»Der Freunde harr' ich, Tag und Nacht bereit:
Wo bleibt ihr, Freunde? Kommt, 's ist Zeit! 's ist Zeit! ...
Mein Reich – hier oben hab' ich mir's entdeckt!
Und all dies Mein – ward's nicht für euch entdeckt?«

Noch markanter ist in seiner nüchternen Feststellung ein andres Wort (Brief an Peter Gast, 18. Juli 1887), kurz vor der Umnachtung: »Denken Sie, ich habe etwa 500 Taler Druckkosten in den letzten drei Jahren gehabt – kein Honorar, wie sich von selbst versteht – und dies in meinem 43. Jahre, nachdem ich 15 Bücher herausgegeben habe! Mehr noch: nach genauer Revue aller überhaupt in Betracht kommenden Verleger und vielen äußerst peinlichen Verhandlungen ergibt sich als strenges Faktum, daß kein deutscher Verleger mich will, selbst wenn ich kein Honorar beanspruche.«

So Nietzsche im Hochland. Und nicht anders Heinrich von Stein im geselligen Tiefland (Berlin, 12. November 1886): »In die bange Welt der Gespenster, in welcher ich hier verharre, klingt er (Wolzogens Gruß) als Mahnung, wo ich doch einzig und eigentlich lebe. Ach, man muß das erleben, die verlegenen Gesichter der Leute, denen man, mit Ernst und Milde, etwas hat sagen wollen! Nichts mehr davon! In jedem Falle wird es sich nun bei dieser Gelegenheit entscheiden, ob es nicht eine freche Verschwendung alles guten Wollens ist, der Sache des Ideals auf einer deutschen Universität zu dienen.«

Ein durchgehender Zug also! Wie kennzeichnen wir ihn kurz? Mangel an Liebe! Diese Idealisten – mit ihnen auch Gobineau, der Dichter des »Amadis« – leiden unter dem Herdenvolk und der Herzenskälte des eisernen Jahrhunderts; sie suchen in sich und in der Geschichte den Edelmenschen: ihn möchten sie in Kunst und Literatur der Gegenwart gestaltet sehen von bedeutenden Herzen und Geistern. Aber sie finden nur Nachahmung des Durchschnittlichen und des Untermenschlichen.

Es ist ein seltsames und tragisches Spiel: Dasselbe Jahrzehnt, das diese Gralsucher hinscheiden sah (Carlyle, Emerson, Wagner, Gobineau, Stein, Nietzsche: alle zwischen 1880 und 1890 hingegangen!), ließ in der ehemaligen Hochburg des europäischen Idealismus, im Deutschland eines Kant, Schiller, Herder, Goethe, den Naturalismus Zolas und die Gesellschaftskritik Ibsens siegreich durchdringen. Diese revolutionäre Strömung hat uns eine gesteigerte Zergliederung der Welt der Sachen gebracht; sie hat von der Materie aus auch die Seele analysiert und Psychologie und Physiologie verbunden. Sie hat das Problem der einsamen Seele nicht zu lösen vermocht; denn dies wird durch keine Naturwissenschaft gelöst. Hier setzt ein religiöses Problem ein.

Nach wie vor glüht in den Tiefen der Gegenwart die Sehnsucht nach dem Durchbruch der Seelenwärme; die Sehnsucht nach einer Reihe von vornehmen, großen, guten Menschen, die inmitten der Sachenwelt eine beglückende Seelenburg bilden könnten.

Hier und da versucht man durch Gruppenbildung und Gemeinschaftsgründung dies delikate Problem zu lösen, wobei man sich durch ein »wir« gegenseitig ermuntert und von anderen abschließt.

Aber das kann tiefere Naturen nicht beglücken; es handelt sich bei unserer Frage doch wohl um anderes.

Es handelt sich um eine Umgestaltung des ganzen Zeitgeistes.


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