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Die Kreuzigung

Welch ein Passahfest!

Ein windgeschüttelter Wald, Männer und Frauen, Greise, Knaben und Mädchen – in brausendem Gedränge umtoste das die Gerichtsstätte! Jerusalem hob sich vor Erregung. Tausend Fäuste reckten sich gegen die Säulen des Prätoriums.

 

»Ein Räuber, ihr Brüder, ein Goï, ein Ahab, ein Aussätziger,« schrie ein jüngerer Zelot, »ein Beelzebub handelt nicht schlimmer als er. Ein Räuber läßt den Tempel in Ruhe – er nicht! Ein Räuber scheut Moses und sein Gesetz – er nicht! Ein Räuber fürchtet Gott, ob er auch die Menschen hasse – er nicht! er nicht! er nicht!«

»Ruhig, Benjamin!« beschwichtigte ein ebenso aufgeregter alter Mann und packte den Burschen am braunen, hageren Halse. »Willst du ruhig sein, Benjamin? Benjamin, willst du ruhig sein und sprechen lassen das Gericht?«

»Ich will nicht ruhig sein«, tobte der Zelot. »Ich will, daß der Volksbetrüger, der gesagt hat, klar hat er's gesagt, gesagt hat er: ›Siehe, ich bin der Messias, ich werd' Israel erlösen!› – Hat er's gesagt? Nathan, red' ein Wort! Hat er's gesagt oder hat er's nicht gesagt? Samuel, Bruder, hat er gesagt: ›Siehe, ich bin der Messias und werd' Israel erlösen›? – Hat er's gesagt oder hat er das nicht gesagt?«

»Er hat's gesagt«, ächzte Samuel unter den Griffen des unbändigen Volksgenossen.

»So hat er gelogen!« schrie jener. »Seht hinauf! Sie führen ihn heraus! Sie führen den Lügner heraus! Zerlumpt, zerrissen, geknebelt führen sie ihn heraus, der gesagt hat: ›Ich bin der Messias.›«

Und die Hände an den Mund haltend schrie er sein heiseres »Kreuzige ihn!« Und der Ruf, der schon den ganzen Morgen wie das Grollen der Sturmsee immer wieder in Wellenstößen über das Menschenmeer rollte, – wieder schlug ein vieltausendstimmiges »Kreuzige ihn!«, von allen Seiten her anschwellend, donnernd an das Richthaus an.

Einige beschwichtigten, aber sie regten sich dabei mehr auf als die Erregten selber. Andere standen in morgenländischer Teilnahmlosigkeit, aus innerem Gegensatz zu dem umgebenden Lärm, standen stumpf und starr, hatten die Arme kreuzweis in den Mantel gewickelt und stierten Richter und Räte an. Wieder andere, Römer und Griechen, lachten über das Gebaren dieser fremden Nation, vernahmen mit arischem Spott das hebräische Geschrei und schauten dann wieder verwundert nach dem Angeklagten. Hier und da traf man weinende Frauen. Abseits lag eine Orientalin in reichem Festgewande auf den Ellenbogen und raufte sich die glänzend schwarzen Haare. Etliche Schritte weiter reckte sich ein patriarchalischer Jude, Haar und Bart lang und weiß; unter lauten Verfluchungen schüttelte der alte Eiferer beide Fäuste nach dem Prätorium, und Träne auf Träne rann ihm in den betauten Bart. Ein Knabe, der im Gedränge sich krampfhaft an dem Mantel des Alten festhielt, war über das Benehmen seines Großvaters, über das Toben rund umher so entsetzt, daß er am ganzen Körper zitterte und mit lauter Stimme zu den Flüchen des Greises weinte. An einer Gartenmauer, weitab von der rohen Menge, lehnte bleich und still eine Griechin; neben ihr kauerte ängstlich ihre schwarze Dienerin. Von hier aus, wo nur noch leise Wellen der Unruhe anbrandeten, sah man nicht mehr das umdrängte Richthaus. Die hohe Frau, stumm und aufrecht, schaute mit zuckenden Lippen, die Hände auf die Brust pressend, in die wütende Rotte hinunter, um dort auf den Gesichtern abzulesen, was mit dem Meister und Heiland geschehen möge.

Er aber, dem die ungeheure Erregung galt, stand in zerrauftem und bestaubtem Mantel, die Hände auf den Rücken gefesselt, bleich und hoheitsvoll auf den Steinplatten des Palastes. Wenige Jahre hindurch hatte dieser Fremdling aus höheren Ländern eine Saat auf die verwilderte Erde gestreut, die kein Wetter mehr ausrotten wird, und ob Hagel auf Hagel über diesen stürmevollen Planeten fahre. Er hatte, in der unscheinbaren Hülle eines wandernden Rabbi, von Galiläa bis Judäa Wundertaten getan und Wunderworte gesprochen. Sie hatten seiner unerhörten und doch so schlichten Sprache zugejauchzt, die Volksherzen vom See Genezareth bis zu den angekränkelten Nikodemusseelen in Jerusalem. Sie hatten noch am Sonntag vor Ostern, als er in Jerusalem einzog, Palmen auf seinen Weg gestreut, hatten in jüdischer Überschwenglichkeit ihre Kleider seinem Reitesel unter die Hufe geworfen. Und durch ganz Jerusalem war die gewaltige Ahnung gezuckt: »Der ist unser und aller Welt Heil. Der ist Messias. Hosianna dem Sohne Davids!«

Aber die Pharisäer, die Führer des Volkes, geistig eingeengt durch ihre künstlichen Satzungen, verstanden nicht diesen Mann der erhaben-einfachen Ruhe. Sie überfielen den Verkünder ewigen Lichtes in Nacht und Nebel und schleppten ihn vor ein verständnislos Gericht ...

Und die Menge ward irre. »Dies der Messias, der uns die Königreiche der Welt erobern soll? Schmach über uns, ein Wahn hat uns gröblich betört!« Sie schämten sich ihrer Begeisterung von gestern; ihre Scham ging in Zorn über, ihre Enttäuschung wuchs zu Wut und Schmerz. Sie sahen sich zurückgestoßen in das alte, grenzenlose, hoffnungslose Warten auf den Messias, und dies alles faßte sich zusammen und entlastete sich in dem wild-wahnsinnigen Wutschrei: »Kreuzige ihn!«

* * *

Kalt und gleichgültig saß der Prokurator Pilatus auf seinem Richtsessel, die sehnigen Arme wuchtig auf die Stuhllehne gelegt, den kurzgeschorenen Kopf gebeugt. Mit unsäglicher Verachtung sah er hinab in diese knechtische, von Leidenschaft gerüttelte Masse.

Zwischen Legionären stand Der Königliche Angeklagte. Der Mörder Barrabas saß, gleichfalls gefesselt, kaltblütig auf der Steinbrüstung und betrachtete mit stumpfer Neugier die edeln Leidenszüge des seltsamen Rabbi.

»Sagt mir doch,« begann der Prokurator und hob sein hartes, fahles Gesicht zu den jüdischen Räten, die ihn umgaben, »warum seid ihr Priester auf seine Verdammung erpicht? Sagtet ihr nicht, dieses Mannes Verbrechen sei politischer Art?«

»Landpfleger, in Israel ist Gottesverehrung und Staat und Familie verbunden miteinander, wie im lebendigen Menschen verbunden ist Blut und Fleisch und Gebein! Tastet dieser Rabbi das Gesetz an, siehe, so tastet er den Staat an! Lästert er aber den Staat, siehe, so lästert er das Reich! Lästert er aber das Reich, so lästert er den Kaiser! Bist du des Kaisers Freund? Pilatus, lässest du den Kaiser lästern?«

»Das ist deine Deutung, Kaiphas«, versetzte Pilatus kalt und verächtlich. »Ich schlage einen Mittelweg vor. Diesen da, den Barrabas, geb' ich euch zum Feste frei. Den andern lass' ich euch geißeln ob seiner ›Lästerung› und sich alsdann in seine galiläischen Winkel verkriechen. Seid ihr zufrieden?«

»Nein! nein! nein!« Die Juden lärmten wider den vermittelnden Vorschlag. Die Entrüstung dehnte sich aus; ein erneutes »Kreuzige ihn!« bekundete den unumstößlichen Willen des hartnäckigen Volkes.

Jetzt schwoll dem Römer die Stirnader. Er sprang auf. »Kaiphas,« rief er, »was dieser absonderliche Rabbi lehrt, geht eure Religion an, nicht mich! Euch aber gestattet das Gesetz kein Todesurteil, darum kommt ihr zu mir. Nun soll Rom euer Diener und Henkersknecht sein? Wo aber hat dieser Mann Aufruhr entfacht? Wo hat er seine Legionen? Zeig' mir doch seine Mitverschwörer! Wollt ihr jeden Irrlehrer, der euch unbequem zwischen eure Satzungen tritt, vor mein Prätorium schleifen? Ich finde keine Schuld an ihm.«

»Du verurteilst ihn nicht?« Kaiphas trat rasch heran, unheimlich ruhig. Ein pfiffiger Zug überflog sein Gesicht. Er winkte dem Römer beiseite. »Willst du auf etliche Atemzüge mit mir in den Schatten deines Hauses treten, Prokurator Pontius Pilatus?«

Der Landpfleger erschrak. Er zauderte einen Augenblick, dann folgte er mit raschen, kurzen Schritten; er stand bei dem Hohepriester, die Hände auf dem Rücken, immer tiefer den gedrungenen Nacken beugend, während mit immer eindringlicherem Händespiel der beredte Gegner die erregt geflüsterten Drohungen begleitete.

Ein Legionär sorgte für ein spaßhaft Zwischenspiel. Am nahen Garten wuchsen Dornen, die ließen sich leicht zu einem Kranze flechten. Heimlich schlich er sich an den Rabbi heran, und unter dem Jauchzen der Menge fuhr dem Heiland der Dornenkranz in die Stirne. »Hosianna dem König der Juden!«

Der Gottessohn zuckte schmerzlich zusammen. Aber er schwieg. Nur zwei Tränen traten in seine Augen. Er wandte sich langsam um und schaute mit dem unendlichen Glanz dieser nassen Augen den Kriegsknecht an ... Der Söldner erbebte. Kein Vorwurf war in diesen Augen, keine ohnmächtige Wut. Nur ein grenzenloser Schmerz. Ein Schmerz, der jener Gruppe dort im Torweg die unaufhaltsamen Tropfen ins Auge trieb, wenn dieser Blick des umtobten Meisters die Verlassenen traf.

Dort ragte die Gestalt eines Mannes mit hoher Stirne, krausem Bart und fest auseinandergepreßten Lippen. Ein eiserner Mann! Aber jetzt, als der Dornkranz in das feine Haupt fuhr, obwohl keine Bewegung seine Gefühle verriet, kein Wort den gepreßten Zähnen entfuhr, jetzt schoß dem abseits Stehenden ein Bach von Tränen über das verhärmte Gesicht. Und unfähig, sich länger zu beherrschen, stöhnte er laut auf. Aber er sagte nichts. Er hatte schon zu viel gesagt heute. Er hatte die vier Worte gesagt: »Ich kenne ihn nicht.«

Neben Petrus stand Johannes. Er hatte die Arme an die Kalkwand gelegt, preßte die Stirne darauf und wußte sich, der sonst so schriftgelehrte, nur des einen, immer und immer wieder gestöhnten Psalmwortes zu erinnern: »O Herr, nimm meine Seele von mir!«

Pilatus und Kaiphas hatten ihre Unterredung beendigt; ihre ragenden Gestalten traten wieder im Richtsaal auf. Die Mehrzahl der römischen Provinzbeamten hatte Verwaltungssünden aus dem Gewissen; auch Pilatus. Dies wußte der Hohepriester.

Über den Rabbi war entschieden.

»Ich bin«, sprach Pilatus dumpf und düster, »von dieses Galiläers Gefährlichkeit nahezu überzeugt. Doch laßt mich noch einmal zu ihm reden.«

Richter und Räte geboten mit Zuruf und Gebärde Stillschweigen. Und durch die tiefe Stille sprach nun Pilatus:

»Hast du dich, Rabbi Jesus von Nazareth, König der Juden genannt?«

»Du sagst es.«

Das erstaunte, entrüstete Murmeln beruhigte sich mühsam. Und abermals hörte man die Stimme des Pilatus, die zu beben schien: »Hast du ihr ›Kreuzige ihn!› vernommen? Über dies Volk, das dich verwirft, willst du König sein?«

»Mein Reich ist nicht von dieser Welt.«

»Aber so hast du doch ein Reich? So bist du also dennoch ein König?«

»Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß ich die Wahrheit zeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme.«

»Was ist Wahrheit?«

Der Römer zuckte die Achseln, lächelte bitter und brach ab. Noch einmal besah er den seltsamen Mann, der sich aufgerichtet hatte in seinen zerlumpten Kleidern, dessen Augen überirdisch glühten zwischen dem roten, rieselnden Blut, das er mit den gefesselten Händen nicht abwischen konnte. Dann wandte sich der Prokurator zu dem atemlos lauschenden Volke:

»Ich finde keine Schuld an ihm.«

Und beide Hände auf die niedere Steinbrüstung stemmend, beugte sich der Heide zu dem »Volke Gottes« und sagte, beinahe herzlich, beinahe bittend: »Soll ich denn wirklich diesen harmlosen Schwärmer töten und einen verruchten Mörder freilassen?«

»Kreuzige ihn!« war die Antwort.

Kopfschüttelnd ob solcher Halsstarrigkeit richtete sich jener wieder auf. Unentschlossen sah er nach Kaiphas und wandte dann den zögernden Blick auf Jesus. Welche erbarmungswürdige Gestalt! In einer Regung von Mitleid führte der unfreie Richter den »König der Juden« an die Brüstung.

»Sehet, welch ein Mensch!«

»Kreuzige ihn!«

Ratlos ließ Pilatus beide Arme an die Seite schlagen. Er war der Verhandlung satt. »Ein Becken mit Wasser!« fuhr er einen Diener an. Im Sonnenlicht blitzte die silberne Schale. Der Römer tauchte die Hände ein und rief in die Stille der Verwunderung:

»Ihr wollt es, Israeliten! Rabbi Jesus von Nazareth ist verurteilt zum Kreuz! Ich aber wasche meine Hände in Unschuld! Sein Blut komme über euch!«

Und er spritzte zornig die Hände über sie aus.

Langes Schweigen. In diesem Volke galt ein Fluch viel ...

Aber da rief eine scharfe Stimme deutlich und hell: »Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder!«

Und das ganze Volk schrie die Selbstverfluchung nach.

* * *

Im gelblichen Straßenstaub, unter dem stahlgrauen Gluthimmel Jerusalems, auf den zerfleischten Schultern das schwere Kreuz, schleppte sich eine Stunde später der ausgestoßene Heiland. Eine Unzahl Festvolkes wirbelte hinter ihm den Staub auf und gab ihm bis Golgatha höhnend oder schmerzlich Geleit.

Drüben aber im Tempelhof stieg die Opfersäule gen Himmel. Dort brachte Israel seine frommen Gaben dar, Erstlinge der Tiere und des Feldes. Ineinandergedrängt lagen sie dort auf den Knien, auf Armen und Gesicht. Ineinandergedrängt beteten sie ihr Massengebet zum verschlossenen Gotte. Sie rauften sich die Haare, um ihn zum Mitleid zu zwingen; sie zerschlugen sich die Brüste; sie jammerten melodisch zum Psalmengesang des Vorsängers und der begleitenden Leviten.

»Jehova, wache auf! Müde bin ich von Seufzen. Ich schwemme mein Kissen die ganze Nacht, ich netze mit meinen Tränen mein Lager.«

»Meine Sünden gehen über mein Haupt, Jehova! Wie eine schwere Last sind sie mir zu schwer geworden.«

»Ach, du Herr, wie so lange!« ...

Sie gedachten der unbarmherzigen Herrenfaust der Römer, und sie knirschten in der aufgestachelten Messiassehnsucht dieser Tage:

»Herr Gott, des die Rache ist! Herr Gott, des die Rache ist! Erscheine!«

»Sie zerschlagen dein Volk, Herr! Sie plagen deine Kinder!«

»Witwen und Verlassene erwürgen sie. Sie bringen die Waisen um.«

»Ha, daß ihnen vergolten würde, wie sie uns getan!«

»Heil ihm, der ihre jungen Kinder nimmt und zerschmettert sie an einem Stein!«

»Herabfahren wird er, der Erlöser Israels, wie der Regen auf das Feld, wie die Tropfen, die das Land befeuchten.«

»Herrschen wird er von einem Meere bis ans andere und vom Wasser bis ans Ende der Welt.«

»Alle Könige werden ihn anbeten, alle Heiden ihm dienen. Halleluja!«

* * *

Auf Golgatha war wundersame Stille. Wohl bewegten sich buntfarbene Menschengruppen. Aber die Nähe des Todes ließ alle Stimmen und Schritte leiser werden. Nur manchmal unterbrach ein Gezänk der römischen Wache oder ein Stöhnen aus dem Munde der Verurteilten die furchtbar erhabene Stille.

Dort hingen die drei Gekreuzigten.

Hager und gebrochen ächzte der zur Linken von seinem Holz herunter immer wieder: »Ich büße gerecht.« Und Trost verlangend suchte er den Blick des neben ihm Gekreuzigten.

Der andere Schächer hatte schon beim Anschlagen unbändig getobt. Es hatte verdreifachte Gewalt gekostet, den Riesen an das Holz zu bringen. Jetzt knirschte er, schäumte, schimpfte und vergeudete rasch seine Kraft. Er erlag zuerst.

Jesus hing still in der Mitte. Noch krönte den Göttlichen der Dornenkranz. Seine Augen waren geschlossen. Auf jeder Seite des Kreuzes, unter den durchnagelten Händen, war die steinige Erde rot. Am Fuße des Stammes leuchtete abermals das kostbare Rot, als wäre dieser seltene Baum und seine seltene Frucht mit himmlischem Tau getränkt.

Aber das Blut gerann rasch: sengend war die Hitze, die auf die drei nackten Körper brannte.

Welch einen Blick hatte man von diesem Hügel über die Reiche der Welt! Welche Aussicht bot sich über dich, du Stadt Gottes, die sich hob und senkte unter dem Überandrang der heiligen Osterpilger! ...

Doch keiner von den schaudernden Besuchern beachtete die Aussicht.

Ein enges Häuflein Jünger, das langsam den Mut wiedergefunden, und eine – Mutter kauerten dem gekreuzigten Meister gegenüber. Sie hatten keine Tränen mehr. Ihre Augen brannten von dem Unbegreiflichen, das sie schauten.

* * *

Über den Zacken des jüdischen Gebirges schossen Wolken aus dem Horizont. Wie eine ungeheure Nacht schoben sich Gewitter lautlos über Judäa. Sie ballten sich zu Fäusten, sie formten Schwerter und Felsblöcke, sie dehnten Heerhaufen, sie flossen endlich zu einer neuen Sintflut schwarz und massig ineinander, bereit, das ganze Land zu ersäufen.

Da ward die Stadt, die in Mittagsruhe geschlummert hatte, abermals unruhig. Die Neugierigen verließen den Galgenberg. Vom Ölberg her, vom Bach Kidron, von Gethsemane strömten Festpilger in die Stadt zurück. Alle Töne, die Rufe der Heimrennenden, die Tempelmusik, die Brandung des Stadtgewühls und die Befehlsrufe der römischen Wache – alles scholl bang und hohl unter dieser schweren, schwarzen Wolkendecke. Selbst die zurückgebliebenen Jünger erwachten aus ihrem Schmerz und drängten sich, die Frauen voran, in die Nähe des Kreuzes.

Plötzlich, ohne Übergang, fuhr ein Windstoß in diese fahle Nacht. Gewänder flogen, Staub stieg empor und sah sich nach dem Gegner um, Frauen kreischten. Die Opfersäule im Tempel, bisher stolz und gerade, zerbrach. Als Schlange des Paradieses kroch sie am Boden hin, kroch wie höhnend über das betrogene Jerusalem hinweg und schwand in schwarzer Ferne. Dann kam der erste Blitz: in grellem Zickzack flog er über das Häusermeer, jenseits hinab ins Tal Josaphat. Er zerschmetterte den Ölbaum im Garten Gethsemane, unter dem Judas Ischarioth seinen Meister verraten hatte. Und Blitze stürzten sich aus dem Himmel, Donner auf Donner hielt seine Zornpredigt, als wären die unverstandenen Propheten des Alten Bundes versammelt über den Wolken. Staub, Sand, Sturmwind erstickte die Zionsstadt. Die Sonne war erloschen, der klaffende Boden rauchte, die Häuser zitterten, – die drei Kreuze schwankten im Sturm. Qualvoll schmerzten die gezerrten Wunden; die beiden Mörder schrien in die Gewitternacht.

Auch Jesus war wach. Von seinem sturmgerüttelten Holzstamm hob er sein zermartertes Antlitz zum Himmel empor und rief in die große Nacht: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«

Sein Todeskampf hatte begonnen.

Die Jünger umklammerten den schwankenden Stamm, die Palme mit so edler Frucht, sie küßten des Heilands Füße, die Ostergewänder der Frauen wehten wie greifende Geisterhände. Und der gelbbraune Staub Golgathas zog mit dämonischen Flügelschlägen über die bang gedrängte Gruppe.

Plötzlich ward, wie auf Befehlswort, die erregte Natur totenstill. Was war das? Der Sturm schwieg, die Donner schienen tot, die Blitze ausgelöscht. Jerusalem atmete auf und sah sich um. Noch immer schwarze Nacht, soweit man sah. Aber das Unwetter schien erstorben. Da aber – vor aller Augen – mit einem Krach, als ob die Erde berste, zuckte der letzte Feuerstrahl durch die Nacht, herunter auf Morija, in die Zinne des Tempels.

Der Vorhang des Allerheiligsten ging in Flammen auf.

Eine Regenflut ergoß sich nun über die betäubte Stadt; mit leichten, spielenden, verächtlichen Blitzen zog der Engel des Wetters das Jordantal hinab, südwärts, nach dem Toten Meere, wo Sodom und Gomorrha begraben liegen.

Auch der Heiland hatte ausgekämpft. Noch einen Blick warf er auf das Land, das ihn ausgestoßen, noch einen Blick auf die treue Schar am Fuße des Kreuzes, die seinen Gottesgeist über die Welt zu tragen berufen war. Dann schloß er die Augen.

»Es ist vollbracht.«

* * *

Vier Jahrzehnte später erlag Jerusalem dem Schwert und der Brandfackel der Römer. Der Tempel des Herodes ward ein Schutthaufen; der Ölberg lag kahl; auf Golgatha standen Belagerungsmaschinen; Gethsemane wurde zerstampft. Und die nicht getötete Judenschaft wirbelte mit der Asche Jerusalems über die ganze Welt.


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