Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XI.
Im Zeichen des Orlow

Lieber Oberinspektor,

Sonnabend, den 3. April. – Ich leite meinen Rapport ein mit dem Telefongespräch, das wir beide heute vormittag hatten. Du warst so liebenswürdig. Du danktest für meine Arbeit und für die Unterhaltung, die ich Dir durch meine Berichte geboten habe und Du bewilligtest, ohne weitere Umstände zu machen, den von mir erbetenen Nachurlaub. Aber Du warst auch gespannt auf weitere Resultate.

Ich sagte dir bereits, daß ich Karlsens Rapport mit einem Boten sandte. Er muß gegen vierzehn Uhr heute mittag auf Deinem Schreibtisch gelegen haben. Weiter sagte ich Dir, daß meine weiteren Berichte erst im Laufe des Nachmittages kommen würden, weil ich sie noch nicht ins Reine geschrieben habe.

Du batest mich darum, Dich aufzusuchen, aber leider bin ich durch dienstliche Gründe daran verhindert.

»Spürst Du immer noch dieser Geschichte nach?« fragtest Du. »Was hast Du bisher erreicht?«

»Karlsen hat seine Theorie, und ich die meine,« antwortete ich. »Wenn die meine zutrifft, werde ich die Sache noch im Laufe des Nachmittages aufgeklärt haben, und ich werde Dir die Sensation als Bettlektüre servieren.«

»Und der Orlow?« fragtest Du. »Und der Mörder?«

»Der Orlow ist bereits in Sicherheit und den Mörder kann ich jeden Augenblick fassen. Er wird mir nicht entgehen, wenn, wie gesagt, meine Theorie richtig ist. Vorläufig kann ich Dir nicht mehr sagen.«

»Wer wird es nach Deiner Meinung, und ganz unter uns gesagt, sein?«

Da wurde die Verbindung so undeutlich. Aber Du hörtest sicher noch, daß ich sagte, ich könne es jetzt einfach noch nicht sagen. Damit warst Du zufrieden.

Mit dem jetzigen, das ich gerade geschrieben habe, es ist jetzt achtzehn Uhr, leite ich meine letzten Berichte über den Orlow ein. Selbstverständlich sind sie bereits fertig geschrieben. Es fehlt nur der Anfang und der Schluß.

*

Wir müssen in der Zeit etwas zurückgehen. Es war noch im Solfjell-Hotel. Ich hatte gerade, wie ich annahm, die vorläufig letzten Punkte gesammelt und konnte mich endlich meinen Wünschen als Privatdetektiv hingeben, da ja Karlsen nun offiziell im Fahrwasser war.

Das erste, was ich tat war, daß ich auf den Boden ging und mich in den Winkel stellte, wo der Polizist und ich die Nacht vorher gestanden hatten. Ich hatte das Zimmermädchen gebeten, sämtliche Zimmertüren im zweiten Stockwerk der Reihe nach zu öffnen und zu schließen. Jedesmal, wenn ich in die Hände klatschte, schloß sie eine andere Tür.

Die einzigen Türen, die nicht knarrten, waren die Türen zum Zimmer von Harrington und Iversen.

Merkwürdig.

Die übrigen hatten denselben Laut, den wir in der Mordnacht vernommen hatten. Sowohl die Türen zu Fink-Martens, Mr. Davis, Martiers, Nina Newas Zimmer wie auch die meine knarrten. Vielleicht hatte Maja doch die Wahrheit gesagt, als sie uns erzählte, daß Frau Harrington sie gebeten hätte, die Tür zu schmieren, weil sie das Geräusch nicht vertrüge. Bisher hatte ich meine Zweifel in dieser Beziehung. Ich hatte angenommen, daß sie nur Iversens Tür geschmiert hatte. Aus welchem Grunde, ist ja erklärlich.

Ich zog daraufhin meinen Sportanzug an und setzte eine unbekümmerte Miene auf. Nun wollte ich Ferien halten, ich wollte feiern, weil jetzt die Leitung der ganzen Geschichte und alles hier oben mich nichts mehr anging.

Durchs Fenster entdeckte ich Frau Martier.

Ich folgte ihr und holte sie ein Stück weiter im Tal wieder ein. Von tausend Dingen sprach ich. Sie freute sich, mit mir über ihr Vaterland Dänemark sprechen zu können, und wir sprachen über Kopenhagens Tivoli, von der »Langen Linie«. Sie ist übrigens keine Kopenhagenerin, sondern vom Lande, hat starke weiße Zähne, aber das interessiert dich wohl nicht.

Sie wollte nach Ostern wieder nach Dänemark zurück. Lange Jahre sei sie schon nicht mehr dort gewesen. Ihre zweite Heimat sei Frankreich, Paris.

Während wir so gingen und über diese Dinge sprachen, fragte ich plötzlich ohne Übergang und Einleitung:

»Warum geben Sie Ihrem Manne Schlafpulver, Madame?«

Sie blieb starr stehen und schaute mich entgeistert an.

»Schlafpulver?« wiederholte sie verwirrt, »das tue ich doch nicht, nein, ja doch, ich habe es einmal getan, weil er nicht schläft und es nicht liebt, Schlafmittel zu nehmen. Ich gab es ihm heimlich.«

Jetzt schaute ich sie auch an, sehr lange …

»Nein, ich will Ihnen alles erzählen, genau so wie es ist«, rief sie plötzlich laut.

»Das wird wohl das Richtigste sein«, sagte ich nur.

»Dann muß ich zunächst gestehen, daß meine Erklärung beim Verhör falsch war. Ich konnte es damals nicht sagen, aber jetzt, wo wir allein sind.

Professor Martier ist nicht mein Mann.

Wir sind nicht verheiratet, wollten uns aber trauen lassen, sobald seine Ehescheidung durchgeführt war. Ich kenne ihn seit vielen Jahren. Nun aber weiß ich, daß ich ihn nicht liebe.«

»Einen anderen also?«

Sie nickte.

»Von Mansfeld?«

Wieder nickte sie. Und plötzlich kam ein Strom von Worten, die erklärten, in welcher Hölle sie hier oben gelebt hatte. Martier beobachtete sie, wo sie ging und stand, er folgte ihr wie ihr eigener Schatten. Er war eifersüchtig und machte ihr jeden Tag gewaltige Szenen.

Sie war sich mit von Mansfeld einig geworden abzureisen und Martier für immer zu verlassen. Um ungestört mit Mansfeld sprechen zu können, hatte sie ihrem Manne zweimal Luminal gegeben. Das erstemal nach dem Mittagessen am Montag …

»Als Blankenstein ermordet wurde,« sagte ich.

»Ja,« antwortete Frau Martier, »da befand ich mich auf Egon von Mansfelds Zimmer. Martier durfte es ja nicht wissen, darum erklärte ich, daß ich mit einem Buch und einer Zeitung unten gesessen hätte. Ich wählte bei meiner Angabe mit voller Absicht einen versteckten Platz, aber ich sah sofort ein, daß er unglücklich gewählt war. Jedenfalls war ich in der ganzen Zeit bei Egon, aber ich durfte es ja nicht erzählen. Und ich war bange, daß man ihn verdächtigen würde, wenn er nicht beweisen konnte, wo er gewesen war.«

»Und das zweitemal, als Sie Ihrem Manne Schlafpulver gaben?«

»Das war Dienstag abend.«

»Dieselbe Nacht also, als Maja ermordet wurde,« sagte ich, »ein unglücklicher Zeitpunkt.«

Sie gab keine Antwort.

»Sie waren also die ganze Nacht bei Mansfeld. Es war also Ihre Spur im Kreuzgang. Wann kamen Sie zurück?«

»Es war ein Viertel nach ein Uhr. Ich schaute auf die Uhr, bevor ich mich niederlegte.«

»Können Sie sich entsinnen, ob Ihre Tür knarrte, als Sie sie öffneten?«

Ich fühlte mich seltsam befreit, denn die Spuren der Damenschuhe im Kreuzgang waren kleiner als Majas Schuhe. Ich wußte, daß eine andere Frau hin- und zurückgegangen war in der zweiten Mordnacht, aber ich hatte die größten Zweifel, wer diese Frau sein mochte. Nun hatte ich Klarheit. Wir hatten ein Rätsel weniger. Die Tür, die wir gehört hatten, war die Tür zu Martiers Zimmer und nicht die zum Zimmer des Mörders. Als sie aus dem neuen Haus kam, mußte der Mord bereits geschehen gewesen sein, und der Mörder stand irgendwo im Dunkel verborgen und sah sie kommen.

Ich fragte sie, ob sie in jener Nacht etwas gehört oder gesehen hätte? Ich bat sie, genau nachzudenken, denn es wäre sehr wichtig. Aber sie konnte nichts sagen.

Dann kehrten wir zurück.

Allerdings sprachen wir nicht mehr so leicht und frei zusammen, aber bevor wir auseinandergingen, versprach sie mir, mit den Schlafpulvern aufzuhören und das ganze Verhältnis zur Klärung zu bringen.

Im Grunde genommen geht es mich ja nichts an.

Es war dunkel geworden. Ich schaute in die Stube. Niemand war zu sehen. Es ist vorbei mit der Gemütlichkeit hier oben, alle halten sich jetzt zumeist in ihren Zimmern auf.

Ich zog es vor, auch nach oben zu gehen.

Auf der Treppe traf ich Truuls. Er trug eine Feile und wollte damit zur Sängerin, wie er sagte. Sie habe einen großen Nagel im Skistiefel.

Einen Augenblick später rief mich Karlsen an und Oginsky kam in mein Zimmer, aber darüber habe ich schon berichtet.

*

Ich komme nun zu den seltsamen Begebenheiten, die in der Nacht des 1. April vor sich gingen – die Nacht vom 1.4. 1931, die Zahlen, die als Quersumme die Zahl 19 haben.

Ich lag völlig angezogen auf meinem Bett und durchlebte in Gedanken noch einmal alle Begebenheiten, die ich bisher hier oben erlebt hatte. Eine Weile kämpfte ich gegen eine unwiderstehliche Müdigkeit an, aber schließlich mußte ich doch wohl eingeschlafen sein.

Gegen Mitternacht erwachte ich wieder.

Ich blieb noch einen Augenblick liegen und erhob mich dann, um mich meiner Kleider zu entledigen und jetzt endgültig schlafen zu gehen.

Warum ich eigentlich die Tür öffnete und auf den Korridor schaute, weiß ich nicht. Er war leer.

Aber plötzlich vernahm ich einen monotonen Laut – ein kratzendes, gleichmäßiges und sehr schwaches Geräusch. Es war mehr rein zufällig, daß ich es überhaupt hörte. Manchmal verschwand der Laut, dann kam er mit ungleichen Zwischenräumen wieder.

Ich schlich leise hinaus.

Vorsichtig glitt ich an den numerierten Türen vorbei in der Richtung, aus der dieser seltsame Laut kam. Häufig blieb ich stehen – ich hielt es mit der Ruhe und übereilte nichts, obgleich ich innerlich vor Spannung bebte.

Der Laut kam aus dem Zimmer Nina Newas.

›Die Feile‹ – dachte ich sofort und hielt den Atem an.

Ich blieb lange vor ihrer Tür stehen. Ich schaute durchs Schlüsselloch. Im Zimmer war Licht. Die Tür war verschlossen und der Schlüssel steckte von innen im Schloß.

Was sollte ich tun?

Klopfen würde nur Aufmerksamkeit erregen. Vielleicht würde sie nicht einmal öffnen.

Da hatte ich einen Gedanken.

Durchs Schlüsselloch konnte ich sehen, daß der Schlüsselbart senkrecht nach unten stand. Ich brauchte den Schlüssel also nur hineinstoßen und mit einem Dietrich öffnen. Aber blitzschnell mußte es geschehen.

Ich bedachte mich nicht länger. Es gibt Augenblicke, in denen man am besten alles auf eine Karte setzt.

Leise und vorsichtig stieß ich den Schlüssel heraus.

Mit einem leisen Geräusch fiel er drüben im Zimmer nieder.

Schnell öffnete ich und trat ein …

Nina Newa hatte sich im Bett erhoben. Sie war vollständig angekleidet. Ihre rechte Hand war erhoben, und ich starrte in eine Pistolenöffnung.

Ihr Gesicht drückte Überraschung und Zorn aus.

»Was in aller Welt soll das bedeuten?« fragte sie, »was haben Sie hier zu suchen? Verlassen Sie augenblicklich mein Zimmer und danken Sie Ihrem Gott, daß ich nicht sofort geschossen habe!«

Auf ihrem Bett lag ein viereckiger Gegenstand von der Decke verborgen.

Ohne ein Wort zu verlieren und ohne auf die Pistole zu achten, ging ich darauf zu und riß die Decke herunter.

In dem Bett stand Blankensteins Stahlkassette. Dicht daneben lag eine grobe Stahlfeile.

Ich zeigte ohne ein Wort auf die Kassette und wandte mich Nina Newa zu.

»Ich habe mir die Freiheit genommen und bin hierher gekommen, um Madame ein wenig behilflich zu sein,« sagte ich ironisch. »Diese Arbeit ist nichts für so feine Hände. Sie werden die Kassette nicht öffnen können, obgleich Sie bereits auf dem besten Wege sind. Ich werde Ihnen deshalb helfen.«

Da bemerkte ich, daß ich zu weit gegangen war. Sie kniff die Lippen zusammen und gab keine Antwort. Ihr Gesicht war leichenblaß, sie stand an der Grenze eines Zusammenbruches. Sie war nicht mehr zurechnungsfähig und nicht länger Herrin ihrer Handlungen.

Dabei hatte sie eine Pistole in den Händen.

Es gibt Augenblicke, in denen man am besten die Situation fortredet, sie dadurch abschwächt. Es ist gleichgültig, was man redet, nur Wesentliches darf es nicht sein.

Ich nahm die Kassette, als wäre sie das gleichgültigste Ding auf der ganzen Welt, setzte mich an den Tisch und begann mit der Arbeit, während ich mich selbst leise dabei unterhielt.

Der Stahl war sehr hart, aber die Feile biß gut.

Zunächst war ich sehr aufmerksam. Meine Gedanken jagten durcheinander. Die ganze Situation war durchaus nicht ungefährlich. Nina Newa war verbittert und nervös genug, so daß ich jeden Augenblick damit rechnen konnte, daß sie die Pistole abdrückte.

Und wenn sie es sich richtig überlegte, sich Zeit dazu ließ, dann würde der Schuß auch losgehen!

Erschoß sie mich nachts um 24 Uhr auf Ihrem Zimmer, dann war der Schein gegen mich. Sie hatte also noch eine Karte in der Hand, und sie mußte es wissen, wenn sie wirklich die rücksichtslose Abenteuerin war, für die ich sie jetzt halten mußte.

Sie und ihre Bande hatten bisher keinerlei Barmherzigkeit gezeigt, warum also …?

Sie stand immer noch mitten im Zimmer und hatte die Pistole auf mich gerichtet.

Nach und nach nahm mich die Arbeit gefangen. Ich hatte den einen Bügel bereits durchgefeilt, aber das Schloß hielt noch.

›Teufel‹, redete ich mit mir selbst, ›jetzt muß es doch bald erledigt sein.‹ Ich blies den Staub von der Feile und begann aufs neue. Endlich hatte ich auch die andere Seite durch, aber aus irgendeinem Grunde hielt das Schloß dennoch. Ich war warm geworden, eifrig und aufgebracht.

»Versuchen Sie doch, es mit der Feile aufzubrechen«, schlug Nina Newa vor. Sie stand jetzt an meiner Seite und fuchtelte, ohne es selbst zu bemerken, mit der Pistole vor meiner Nase herum. Ich hätte sie ihr fortnehmen können, aber ich war so beschäftigt mit der Kassette, daß ich nicht weiter daran dachte.

»Ich fürchte nur, wir werden die Feile abbrechen, und dann stehen wir da«, sagte ich.

»Könnten wir nicht etwas anderes nehmen?« fragte sie und kam noch näher. Trotz meiner Aufregung bemerkte ich, daß sie die Pistole auf den Tisch gelegt hatte.

»Ich will es einmal mit dem Taschenmesser versuchen«, sagte ich. »Donnerwetter, da bricht das Blatt. Wir werden weiter feilen müssen.«

»Es ist so warm, warten Sie ein wenig«, und sie ging zum Nachttisch hinüber, holte ein Taschentuch und trocknete meine Stirn damit.

»Danke!« sagte ich und schaute sie an.

Und plötzlich lächelten wir beide.

»Warten Sie«, sagte sie plötzlich, »lassen Sie mich einmal probieren!«

Sie nahm die Feile, steckte sie trotz meinem Protest in die Öffnung und drückte die Feile herunter. Mit einem Knacken sprang die Kassette auf.

Sie schaute mich triumphierend an.

»Na, sehen Sie,« sagte sie nur und zog ein Etui aus der Kassette hervor.

Und zum zweiten Male leuchtete mir der Orlow in all seiner Pracht entgegen. Das ganze Zimmer bekam mit einem Male ein anderes Licht.

Beide saßen wir wie geblendet. Wir sprachen nicht. Wir nahmen diese herrlichen Lichtstrahlen nur gleichsam in uns auf. Sie erfüllten unsere Sinne und wärmten sie.

Dann begann Nina Newa zu erzählen. Leise und hingerissen, als spräche sie nur mit sich selbst. Der Ausdruck mag vielleicht dumm klingen, aber ich möchte sagen, daß ihre Worte mehr ein Gedicht zu Ehren des Diamanten waren, eine gedämpfte Musik, die das ganze Zimmer ausfüllte und in Schwingungen versetzte.

»Warum liegen Gut und Böse immer so nahe beieinander«, begann sie. »Warum muß die Liebe zu allem Schönen immer so teuer erkauft sein? Warum muß man sie kaufen mit Tränen, Blut und gebrochenen Herzen und traurigen Schicksalen? Muß man immer zum Verbrecher werden, bevor man den bekommt, den man liebt?«

»Ich erinnere mich eines Abends vor vierzehn Jahren«, fuhr sie beinahe wie in Gedanken versunken fort. »Es war in Tsàrskoje Selò, ein Herbstabend vor dem Kamin. Es war rauh und kalt draußen. Der Sturm hauste im großen Park, die Bäume standen nackt, ohne Schmuck und wir froren, froren immer, da erzählte mir Tatjana Romanow die Geschichte des Orlows.

In ihren Umrissen ist sie ja bekannt, aber nicht in ihren Einzelheiten. Es ist eine Geschichte von Blut und Entsetzen und von all der Leidenschaft, die wir Menschen auf dem Altar der Schönheit und der Begierde opfern, wenn es den größten und seltensten Werten gilt.

Ein Stein wie dieser war jahrhundertelang der Gegenstand heißer Wünsche und Begierden in den Herzen der Menschen. Ich glaube, alles Böse und Schlechte muß jetzt in ihm aufgespeichert sein. Er ist die kristallisierte Begierde, er ist ein Ziel in sich selbst, Schönheit und Bosheit und alle Leidenschaft der Welt birgt er in sich. Die Griechen behaupteten, der Stein könnte Freundschaft wie Feindschaft anzeigen, das tödlichste Gift ungefährlich machen und den Sinn von seinen bösesten Krankheiten befreien. Solche Kraft hatte der Stein, daß selbst die beiden gewaltigsten Kräfte der Natur, Feuer und Wasser, machtlos waren. Das einzige, was den Stein zu sprengen vermöchte, wäre das Blut eines schwarzen Bockes.«

Sie strich sich über die Stirn und fuhr dann fort:

»Es gibt eine Geschichte von dem Stein und dem Hause Romanow«, wieder machte sie das Zeichen des Kreuzes. »Die Geschichte des Orlows verliert sich weit in graue Zeitalter zurück bis in jene Tage, da die Ghasnawiden in Indien einfielen. Damals hieß er noch nicht Orlow, damals war er Jahrhunderte das Auge eines brahminischen Kriegsgottes im heiligen Tempel von Lahore.

Vielleicht ist die spätere Geschichte des Orlows nichts weiter als eine Sage von der Grausamkeit eines orientalischen Gottes und der ewigen Rache für den unrechtmäßigen Besitzer? Was wissen wir davon? Wir haben doch in unseren Tagen die unbarmherzige Rache Tut ench Amons an den Grabschändern erlebt. Wir zucken vielleicht nur die Schulter. Wir werden keinen Schrecken empfinden, und dennoch lachen wir unsicher. Man sollte aber nie über den Orlow und seine Zahl 19 lachen.«

Wieder machte Nina Newa eine Pause, bevor sie fortfuhr:

»Im Jahre 1738 wurde er aus dem Tempel in Lahore von einem französischen Deserteur gestohlen.

Die Quersumme von 1738 ist 19, und dort liegt auch der Ausgangspunkt des Ganzen.

Im selben Jahre, am 19. Dezember, wurde der Deserteur von den Priestern eingefangen und nach einer entsetzlichen Tortur dem Gott geopfert. Aber den Diamanten fand man bei ihm nicht mehr. Den hatte er bereits an Nadir Pascha, den mächtigen Khan von Persien, der im Kriege mit Kandahar lag, verkauft. Nadir nahm den Stein mit nach Teheran und ließ ihn in seinem Thron einfassen.

Aber am 19. Juni 1747 wurde Nadir, während eines Feldzuges gegen die Kurden, ermordet. Wieder die Zahl 19. Sowohl der 19., wie auch die Quersumme von 1747. Der Fluch begann seine Wirkung zu zeigen.

Der nächste Besitzer war ein armenischer Kaufmann, der den Stein von Nadirs Mördern kaufte und ihn nach Rußland brachte, wo er ihn Grigorij Orlow anbot. Der war der verstoßene Liebhaber der großen Katharina und brauchte den Stein als Versöhnungsgabe für die Zarewna und bezahlte ihn mit 450 000 Rubel, einem Adelsprädikat und einer Lebensrente für den Armenier. Die Rente brauchte er allerdings nicht lange zu bezahlen. Wie es genau zuging, weiß man nicht. Es waren unruhige Zeiten, aber auf jeden Fall wurde der Armenier erstochen.

Am 19.Mai 1774. Davon die Quersumme ist wieder 19!

Orlow selbst endete als Irrer. Er starb 1783.

1+7+8+3 ist 19. Wieder 19! Wie soll man das erklären?

Jetzt war der Orlow an die Geschichte der Romanows geknüpft. Und es ist eine Geschichte des Entsetzens. Blut und Tränen von Generation zu Generation. Fast in jedem Glied kehrt die Zahl 19 wieder, und der Orlow funkelte boshaft an der Spitze des Zepters.

Katharinas Todestag ist der 17. November. 1+7+11 ist 19.

Paul I. wurde 1801 ermordet. 18+1 ist 19.

Das Unglück der letzten Zarenfamilie, die 1918 verlosch, ist ja weltbekannt. Die Quersumme von 1918 ist 19.

Ich brauche Sie wohl nicht daran zu erinnern, daß Blankenstein auf Zimmer 19 ermordet wurde. Und heute haben wir den 1.4.1931, ist 19«, schloß Nina Newa mit leiser Stimme.

Sie war fertig mit ihrem Bericht. Der Stein lag vor uns und leuchtete intensiv mit einem bösen Schimmer, aber mit wunderbarer Schönheit.

Ich riß mich von der Verzauberung los und versuchte, zur Wirklichkeit zurückzukehren.

»Sind Sie sicher, daß Ihr Bericht stimmt?« fragte ich.

Sie zuckte mit den Schultern.

»Tatjana Nikolaijewna erzählte es. Übrigens können Sie den größten Teil auch in einem einigermaßen gut unterrichteten Konversationslexikon nachschlagen und den Rest aus der Geschichte Rußlands herausholen. Ich selbst habe sie kontrolliert. Tatjana erzählte noch mehr, aber ich erinnere mich im Augenblick nicht an alle Geschichten.«

»Seltsam«, sagte ich, ergriffen von der Stimmung, die diese Geschichte in mir auslöste.

Es war unmöglich, sich davon zu befreien.

Wir durchlebten die Nacht unter dem Zeichen des Orlows. Düster, schwer und schicksalsbestimmt. Was ich später erfuhr, schob nur einen Nebel zur Seite, aber mein Bewußtsein war doch umdunkelt. Ich hatte jeden Kontakt mit Alltag und Wirklichkeit verloren. Ich hatte kein Gefühl mehr von Pflicht und für meine Aufgabe, es war mehr eine müde Neugierde, die mich noch einige Fragen stellen ließ, weil ich die Zusammenhänge nicht begriff. Ich ließ mich widerstandslos treiben vom Eindruck und dachte nichts mehr.

»Wie kamen Sie in den Besitz der Kassette?« fragte ich, und wie ich mich entsinne, ohne Verwunderung.

»Die Kassette«, murmelte sie tonlos, während sich der Schein des Steines in ihren Augen widerspiegelte. »Die Kassette«, wiederholte sie noch einmal, und dann war es, als käme sie einen Augenblick wieder zu sich selbst. Sie sprach in ihrem alten, etwas aufreizenden Tonfall:

»Sehen Sie, Herr Sherlock Holmes, auch eine Frau kann etwas entdecken. Es war nur eine Idee, eine Gedankenkombination, aber sie führte doch ans Ziel. Was mich beim Tode Blankensteins einzig und allein beschäftigte, war der Gedanke: Wo ist der Orlow geblieben? In welche ungeweihten Hände ist der Stein gefallen? Und plötzlich entsann ich mich, daß ich in der Zeit des Mordes einen dumpfen und schweren Fall gehört hatte. Zuerst hatte ich angenommen, es sei der Holländer gewesen. Erst später ging es mir auf, daß der Fall in Verbindung mit dem Orlow stehen konnte. Ich kam aber erst auf den Gedanken, als Frau Mohn erzählte, daß Maja oben auf dem Boden gewesen, um den Schnee von dem offengebliebenen Dachfenster wegzufegen.

Ich ging auf den Boden und schaute mir das Fenster an.

Ich ging auf den Hof und verglich.

Das Fenster liegt genau über dem Fenster von Zimmer 19. ›Wenn nun‹, so dachte ich mir selbst, ›der Mörder den Orlow haben will und nicht weiß, wie er ihn verbergen soll, gibt es da etwas Einfacheres, als ihn im Schnee zu verbergen? Und wie konnte er vermeiden, die Kassette durch den Korridor zu tragen, wo er immer in Gefahr lief, Menschen zu begegnen? Ganz einfach dadurch, daß er sie durch das Fenster auf den Hof warf. Dann ging seine Mithelferin auf den Boden, nahm einen Besen und verursachte eine kleine Lawine. Die Kassette fiel nicht hart auf. Der Schnee war weich und der von oben kommende Schnee verbarg alle Spuren.‹

Ich wollte Sie immer in meine Gedanken einweihen, aber da kannte ich Sie noch nicht so gut wie ich Sie jetzt kenne. Er wird als Westeuropäer doch nichts verstehen, dachte ich.«

»Und dann?« fragte ich jetzt gespannt. Ich träumte nicht länger und war frei von der Verzauberung.

»In der Nacht schlich ich mich nach unten. Ich fand einen Spaten und begann zu graben. Ich stieß schon im ersten Augenblick auf die Kassette und ich hatte schwere Mühe, sie ins Haus zu tragen. Aber in mein Zimmer tragen, das vermochte ich nicht. Ich schloß sie einfach in meinen großen Reisekoffer ein, der noch unten im Flur stand. Morgens hatten Sie ihn ja durchsucht, es gab also keine Stelle im ganzen Hause, die sicherer gewesen wäre.«

»Mein Kompliment«, sagte ich bewundernd.

»Während ich noch beim Koffer stand, hörte ich jemanden kommen. Ich verbarg mich im dunklen Nebenzimmer. Es war Maja. Sie schlich vorbei. Noch blieb ich stehen. Ich hörte neue Schritte und diesmal kamen Sie die Treppe herunter. Sie gingen zur Haustür und schauten hinaus. Ich aber stand so dicht bei Ihnen, daß ich nur die Hand auszustrecken brauchte, um Sie zu berühren. Dann gingen Sie wieder nach oben.

Am nächsten Tage ließ ich den Koffer durch Truuls auf mein Zimmer bringen. Im hellen Tageslicht ging das Geheimnis an euren Nasen vorbei. Ich amüsierte mich eigentlich.«

In ihrer Stimme lag ein kleiner Nachklang des verständlichen Triumphes.

»Aber warum veranstalteten Sie alles dieses, Madame?« fragte ich. »War es nur die Zufriedenheit darüber, daß Ihre Gedankenkombination stimmte?«

»Sie fragen noch,« sagte sie mit einem Lachen, in dem etwas Hohn mitschwang, wobei sie auf den Orlow zeigte.

Ich beugte den Kopf.

»Haben Sie jemals etwas derartig Schönes gesehen?« fragte sie leise und hingerissen.

»Aber er gehört nicht Ihnen,« sagte ich brutal.

»Wem gehört er dann?« rief sie mit funkelnden Augen. »Dem brahminischen Kriegsgott oder dem Deserteur, der ihn stahl? Den Nachkommen der Katharina oder den Bolschewiken, die ihn stahlen, Blankenstein, der ihn heimlich kaufte oder mir – Katharina Oginsky, die Romanows zu ihren Ahnen zählt? Antworten Sie mir, mein Herr?«

Aber ich gab keine Antwort.

Die Gedanken gingen wie ein Karussell durch meinen Kopf. Das Zimmer lag im Halbdunkel, aber es war, als würde es manchmal durchschnitten von dem bläulichen Schein des Steines.

Nina Newa saß so, daß sie auf den Hof hinausschauen konnte. Sie saß im Schatten. Sie konnte sehen, aber nicht gesehen werden. Sie warf einen schnellen Blick durchs Fenster.

›Der Mörder‹, dachte ich, ›wer ist der Mörder?‹

Das mußte sie auch wissen. Ich fragte sie.

Sie schüttelte den Kopf.

»Noch weiß ich es nicht,« antwortete sie. »Aber ich werde es bald wissen, denn früher oder später muß er ja kommen und die Kassette holen wollen. Er glaubt ja, sie läge noch dort. Seit zwei Nächten sitze ich hier auf diesem Platz und warte auf den Mörder.«

»Sie wissen nicht, wer der Mörder ist?« fragte ich ungläubig.

Wieder schüttelte sie den Kopf.

»Nein«, sagte sie, »ich weiß es nicht.«

Da dachte ich plötzlich an die Zigarettenhülse, die ich im Ofen des Kellers im anderen Hause gefunden hatte und die eine große Rolle in meinen Kombinationen gespielt hatte. Ich schaute sie fragend an.

»Was haben Sie im Keller des neuen Hauses zu suchen?«

»Dort bin ich nie gewesen«, gab sie sehr bestimmt zur Antwort.

»So–o«, sagte ich ungläubig.

»Glauben Sie mir nicht?« Sie war erregt.

»Hochgeehrte, vortreffliche Freundin,« sagte ich, »mein Dank würde ohne Grenzen sein, wenn Sie mir eine Zigarette geben würden. Ich habe die meinen nicht bei mir.«

Ich wollte mit dieser Zigarette eine effektvolle Schaunummer veranstalten.

»Was ist denn mit Ihnen los?« fragte sie verwundert. »Ich kann Ihnen keine Zigarette anbieten, aus dem einfachen Grunde, weil ich selbst nie Zigaretten habe. Mit Rücksicht auf meine Stimme rauche ich nie.«

Jetzt war ich an der Reihe, erstaunt zu sein.

»Sie rauchen nicht, aber ich habe doch schon eine Zigarette von Ihnen bekommen. Sie hatten eine Schachtel auf dem Tisch liegen, als ich Sie damals verhörte.«

»Es muß eine Schachtel gewesen sein, die jemand hat liegen lassen«, sagte sie gleichgültig. Sie langweilte sich jetzt offensichtlich. »Ich glaube, Oginsky hat die Schachtel vergessen, als er damals bei mir war. Vielleicht haben Sie davon eine erhalten.«

»Es war eine Bogdanoff«, sagte ich atemlos.

Sie nickte.

In mir ging ein Licht auf. Es befreite mich von manchen bösen und unruhigen Gedanken. Gott sei Dank! Ich hätte es in diesem Augenblick laut schreien mögen. Es stimmte nicht.

Nina hatte mit dem ganzen Entsetzen nichts zu tun!

Sie sah meine Bewegung.

Aber plötzlich fuhr sie zusammen und schaute aufmerksam aus dem Fenster.

»Der Augenblick ist gekommen«, flüsterte sie. »Der Mörder ist da, um die Kassette zu holen.«

Ich beugte mich an ihrer Seite nach vorne.

Ihr Haar streifte meine Wange, so dicht standen wir beieinander.

Ein dunkler Schatten löste sich von dem schwarzen Gebäude auf der anderen Seite des Hofes und glitt über die weiße Schneefläche.

Ich griff Nina Newa an den Arm.

»Nina!« rief ich erregt.

Sie schaute mich einen Augenblick an. Ihre gespannten Züge lösten sich und wurden weich.

Dann lächelte sie.

Heiße Freude durchfuhr mich.


 << zurück weiter >>