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VI.
Der Mord

Ich ging zum Zimmer des Holländers. Unterwegs fiel mir ein, daß er vielleicht noch unten sein könnte. Es war eben nach Mittag. Vor noch nicht einer halben Stunde hatten wir uns vom Tisch erhoben. Nina Newa war auf ihr Zimmer gegangen, um zu packen, und ich ging in mein Zimmer, um noch einige Zeilen dem Rapport zuzufügen.

Im Korridor traf ich das Mädchen Maja und fragte, ob der Holländer wohl noch unten sei. Sie bejahte es.

Zwischen dem Korridor und der Treppe ist eine Tür, die sich nach außen öffnet. Sie steht ständig offen und wird nur bei großer Kälte geschlossen.

Im ersten Stockwerk ging ich an Mr. Davis vorbei, der draußen im Flur seine Hände wusch. Ich schaute in den Tagesraum, aber kein Blankenstein war zu sehen. Der Einzige, der sich hier aufhielt, war Mr. Harrington, der am Fenster vor einem Schachbrett saß und seine Aufgabe aus der Zeitung zu lösen schien. Er kaute auf einer erloschenen Zigarre. Gott mag wissen, warum alle Amerikaner ihre Zigarren kauen, anstatt sie zu rauchen.

Ich fragte, ob er etwas von Blankenstein gesehen habe. Harrington schüttelte den Kopf.

»Spielen Sie Schach?« fragte er mich englisch.

»Etwas – aber nicht gerade hervorragend«, antwortete ich.

Er schaute mich an.

»Es ist für alle Situationen gut, seine Schachtheorien zu beherrschen, die Finessen des Spieles und dazu den letzten Zug lange vorauszusehen und dann zu planen – eine Sache zu planen. Das ist, als ob man dem Schicksal seine Geheimnisse entrisse und der Gegenwart die Rätsel – ein wahrhaft königliches Spiel, Mr. Bjelke. Es beruhigt die Nerven und lenkt die Gedanken ab. Wir beide sollten bei Gelegenheit eine Partie spielen.«

»Gern«, sagte ich gleichgültig. »Ich befürchte nur, daß ich Ihnen kein würdiger Spieler bin.«

Damit ging ich nach oben, ging wieder an Mr. Davis vorbei, der jetzt seine Hände trocknete und ging geradewegs in Blankensteins Zimmer. Die Tür zwischen der Treppe und dem Korridor stand nur halb offen. Ich weiß nicht, wie ich mir das so genau einprägte. Vielleicht nur, weil die Tür sonst immer offenstand.

Ich klopfte an Blankensteins Tür – niemand antwortete. Dann drückte ich den Griff nieder – die Tür war auf.

Langsam trat ich ein – –

*

Durch meinen telefonischen Bericht hast du ja erfahren, welcher Anblick sich mir bot. Aber die Kleinigkeiten weißt du nicht. Du weißt nur, daß Blankenstein mit einem blutgetränkten Lappen um den Kopf quer über der Chaiselongue lag.

Ermordet!

Man handelt in einer solchen Situation rein mechanisch.

Ich nahm Blankensteins Hand, die herunterhing und noch warm, aber schlaff und ohne Leben war. Ich entfernte das Tuch von seinem Kopf. Am Halse hatte er eine klaffende Wunde. Sie blutete nicht mehr. Man konnte nichts mehr für ihn tun, der Mann war tot.

Die Uhr wies auf 15 Uhr 24 Minuten.

Das Zimmer zeigte deutliche Spuren eines Kampfes. Der Tisch vor der Chaiselongue war von seinem gewöhnlichen Platz weggeschoben und stand schief in einer Ecke. Ebenso war ein Korbstuhl umgeworfen. Über den ganzen Fußboden lief eine Blutspur. Ein weißer Handschuh lag da.

Und die Stahlkassette war weg!

Das waren meine ersten Beobachtungen. Dann lief ich hinaus, um Bescheid zu geben, verschloß aber vorsichtig die Tür. Ich war kalt und ruhig. Nur in meinem Inneren zitterte ich vor Spannung. Du kennst dieses Gefühl wohl auch selbst.

Die Tür zwischen Korridor und Treppe, die ich vorher schon einmal erwähnte und die vorhin noch offenstand, war nun zugeschlagen und dazu noch verschlossen. Von hier aus konnte ich also nicht nach unten gelangen. Ich mußte über den ganzen Flur laufen und auf der anderen Seite hinunter. Ich verlor dadurch nicht viel Zeit – höchstens eine Minute, aber während ich lief, dachte ich – welcher Teufel hat die Tür hinter mir abgeschlossen?

Unten im Korridor stand Mr. Dawis und war gerade im Begriff, seine Tür aufzumachen. Er schenkte mir keinerlei Aufmerksamkeit.

Frau Mohn war in ihrem Privatkontor, und sie wußte sofort, daß etwas besonderes geschehen sein mußte.

»Hier im Hotel ist ein Mord begangen worden«, sagte ich kurz. »Ich muß sofort das Telefon benutzen.«

»Du lieber Gott!« schrie Frau Mohn.

»Du lieber Gott«, wiederholte sie, »daß das auch gerade hier oben passieren muß, ich ahnte schon so etwas. Diese Ausländer sind so ganz anders als wir hier. Wir lassen uns einfach scheiden, aber die Ausländer müssen sich gegenseitig das Leben nehmen.«

Ich wurde aufmerksam.

»Was meinen Sie damit?« fragte ich. »Blankenstein ist ermordet worden.«

Frau Mohn stöhnte laut. »Ich glaubte«, stammelte sie, »es wäre der französische Professor und der Deutsche. Er war doch so oft mit der Frau zusammen, nun – nun – aber es ist ja auch so schlimm genug – –«

Ich erledigte meine Telefongespräche, unterrichtete den Kommissar und bat ihn, mit einem Polizisten und dem Distriktsarzt so schnell wie möglich heraufzukommen. Dann meldete ich auch dir den Mord. In zehn Minuten hatte ich alles das geregelt.

Frau Mohn saß unterdessen mit gebeugtem Kopf und jammerte über die nun erledigte Saison und daß es gerade vor Ostern geschehen mußte. Die Ostergäste würden alle absagen. Dann unterbrach sie sich und sprach etwas über den armen Holländer, »den schönen Mann«, und anderes ungereimtes Zeug. Sie hatte offenbar einen ernsten Schock erlitten. Ich zündete mir eine Zigarette an und versuchte nachzudenken, aber sie fiel mir auf die Nerven.

»Sie müssen sich zusammennehmen, Frau Mohn«, sagte ich absichtlich sehr streng. »Hier ist ein Mord begangen worden, gut, ich übernehme die Sache und verlange von Ihnen jede erdenkliche Hilfe. Es handelt sich um Raubmord und der Mörder befindet sich vielleicht noch im Hause.«

Aber meine Aufklärung wirkte durchaus nicht beruhigend auf sie. Ich konnte keinerlei Hilfe von ihr erwarten. Jetzt wurde ich grob. Ich befahl ihr, die Mädchen und Truuls, den Jungen hierher zu rufen und Fink-Martens davon zu unterrichten, daß ich ihn augenblicklich zu sprechen wünschte. Dann sollte sie dafür Sorge tragen, daß sich alle Gäste in der Stube versammelten »Aber sehr schnell muß das geschehen«, schloß ich.

»Aber der Mörder?« wandte sie ein.

»Gehen Sie«, war meine Antwort.

Und endlich ging sie. Durch das Fenster hatte ich eine weite Aussicht über das Tal. Nicht ein Mensch war auf der schneeweißen Fläche zu sehen.

Dann fiel mir ein, daß es vielleicht besser sei, wenn ich bewaffnet wäre. Ich ging nach oben und steckte meine Pistole ein. Als ich mein Zimmer verließ, stieß ich auf Nina Newa. Sie war fertig zur Reise angezogen.

»Es wird nichts aus der Reise, Madame«, sagte ich ohne Umschweife. Ich hatte keine Zeit für lange Erklärungen. »Es ist ein Mord begangen worden, den ich aufklären muß. Der Mann auf Nummer Neunzehn ist beraubt und ermordet worden.«

Sie wurde leichenblaß und schaute mich mit Entsetzen und einem Ausdruck von Furcht an.

»Ich hätte es vorhersagen können«, flüsterte sie. »Ermordet und beraubt?« sprach sie weiter tonlos. »Dann geht es also seinen Gang weiter, immer weiter. Er ist wohl schon weg? Der Mörder wird ihn mitgenommen haben –?«

»Wie meinen Sie das?« fragte ich scharf.

Sie gab keine Antwort.

Die Mädchen eilten wie aufgescheuchte Hühner von Tür zu Tür und langsam begaben sich die Gäste nach unten.

*

Über meine ersten Maßregeln habe ich nur kurz zu berichten, daß ich Fink-Martens einweihte und ihn zu meinem Assistenten machte. Zunächst mußte ich Hilfe haben, dann war er Norweger und auch am wenigsten verdächtig.

Wie ich früher schon niederschrieb, war während der ganzen Nacht Schnee gefallen. Fink-Martens und ich schnallten die Ski unter und liefen einen großen Kreis um das Hotel herum ab. Die anderen Gäste blieben in der Stube. Niemand von ihnen war wegen des Neuschnees heute Ski gelaufen. Die meisten hatten sich mit einem kurzen Spaziergang begnügt.

Auf unserem ganze Wege zeigte sich indessen keinerlei Skispur. Nur die Spur des Schlittens sahen wir und die war noch von heute morgen. Wir konnten also mit aller Bestimmtheit festhalten, daß an diesem Tage niemand Solfjell verlassen hatte oder neu gekommen war. Wenn der Mörder nicht fliegen konnte, mußte er sich also noch im Hotel befinden.

Wir postierten Truuls mit einem Schrotgewehr auf den Hof, damit er alles irgendwie Verdächtige beobachten konnte. Erst dann begaben wir uns ins Haus. Ich nahm dankend eine der schweren Zigarren des Reeders an. Der Kommissar konnte vor 22 Uhr nicht hier sein, aber wir hatten unterdessen genug zu tun.

Draußen war es dunkel geworden. Die Schatten fielen lang und schwer über den Hof. Die Lampe in der Stube war nicht angezündet. Der Ofen war ausgegangen und niemand hatte daran gedacht, neu zu heizen. Jeder einzelne Sitzplatz war besetzt von den Gästen und dem Personal. Niemand sprach. Jeder saß auf seinem Stuhl und starrte in die Luft. Die Stimmung war niederdrückend und die Luft schwer und voller Geheimnisse. Es war fast wie bei einem Gewitter. Man wartete auf die Auslösung und unterdessen werden Herz und Lunge von einem unerträglichen Druck zusammengepreßt.

Nur hier und da warfen sich die Versammelten einen verstohlenen Blick zu. Eine gemeinsame Angst verband alle miteinander und brachte sie dennoch gleichzeitig auseinander.

Ich fühlte selbst ähnliches.

Aber meine Arbeit hinderte mich daran, diesem Gefühl nachzugeben. Ich stellte mich den Gästen sofort als Inspektor vor in allen Sprachen, die ich beherrschte. Dann unterrichtete ich sie noch einmal über das Vorgefallene, das sie im übrigen wohl alle schon kannten. Ich teilte ihnen mit, daß wir allen Grund zu der Annahme hätten, der Mörder befände sich noch im Hotel. Sollte es ein Fremder sein, dann würden wir ihn schon zu finden wissen. Wir würden jetzt das ganze Gebäude absuchen und niemand von ihnen dürfe dieses Zimmer verlassen.

Nur Frau Mohn begleitete uns. Wir durchsuchten zuerst das große, verschlossene Nebengebäude vom Keller bis zum Dach, dann das Gebäude, in dem wir wohnten. Wir durchsuchten jeden Winkel und diese Suche hatte etwas Spannendes, obgleich ich mir keinerlei Erfolg versprach. Es schien mir unmöglich, daß die Tat von einem Fremden begangen worden war. Um aber sicher zu gehen, entsicherte ich meine Pistole.

Vielleicht wäre es richtiger gewesen, wenn ich erst alle verhört hätte, aber ich hatte meine eigene Methode und meine eigene Meinung. Nicht ohne Absicht hatte ich Truuls draußen postiert.

Auch Fink-Martens schien von der Situation gefangen. Ich merkte es an seinem Wesen, während wir umhersuchten und Frau Mohn hysterische Erklärungen gab.

Wir suchten ungefähr eine Stunde, aber wir fanden nichts. Keine Spur von Menschen oder der Stahlkassette. Wir schickten Frau Mohn zu den Gästen, während Fink-Martens und ich in mein Zimmer gingen, um einen Tropfen Schnaps zu trinken und in aller Ruhe zu beraten. Ich erklärte ihm die ganze Geschichte mit dem Verkauf der Juwelen, die Gegenwart der Russen und des Holländers. Vom Orlow sagte ich hingegen nichts.

»Was wir bis jetzt wissen«, begann ich langsam – ich saß wohl mehr und dachte laut, während Fink-Martens schwieg und aufmerksam zuhörte, »ist zunächst die Tatsache des Raubmordes, da die Kassette mit Inhalt verschwunden ist. Dann ist der Mörder einer von den Menschen unten in der Stube, wenn er nicht einer von uns beiden selbst ist. Sodann wird der Mörder den Wert der Kassette gekannt haben. Das erleichtert unsere Arbeit ganz besonders. Solange die Russen noch im Besitz der Juwelen waren, hat er keinen Angriff gewagt. Sie waren ihm zu gefährlich und außerdem bewachten drei Mann die Kassette.

Wir müssen deshalb alle Personen verdächtigen, die sich unten befinden«, schloß ich und schwieg.

Fink-Martens meinte ernst und durchaus menschlich:

»Für meine Frau kann ich garantieren.«

»Ich spreche rein theoretisch«, sagte ich müde.

*

Wir blieben sitzen und rauchten. Es war bereits meine dritte Zigarre.

»Wir haben also«, nahm ich den Faden wieder auf, »die Frage zu stellen, wer von den Juwelen etwas wußte. Wir müssen voraussetzen, daß vorher über den Treffpunkt hier oben nichts bekannt war. Damit können wir die Anwesenden schon in zwei Gruppen teilen. Eine Gruppe, die bereits hier war, als die Russen kamen. Die andere Gruppe sind diejenigen, die nachher kamen. Gehört der Mörder zur ersten Gruppe, dann hat er rein zufällig von ihm gehört«, in der Eile sagte ich »ihm«, so besessen war ich in Gedanken schon vom Orlow – »oder er hat für selbstverständlich angenommen, daß sich bei einem Juwelier, der mit einer solchen Kassette herumreist, das Plündern lohnt.

Gehört aber der Mörder zur zweiten Gruppe, dann stehen wir ohne Zweifel einem planmäßig ausgeführten Verbrechen gegenüber. Dann müssen wir mit dem Namen Orsini rechnen. Zu dieser Gruppe gehört nur Harrington. Die anderen und auch wir beide gehören zur ersten Gruppe. Von dieser kann es höchstens von Manfeld sein, der vielleicht durch Oginsky in seiner Trunkenheit von dem Dia …«

Ich brach plötzlich ab. Nicht, weil ich beinahe Diamant gesagt hätte, sondern weil mir ein merkwürdiger Gedanke durch den Kopf ging.

Auch Nina kannte Oginsky.

Und dabei hatten beide getan, als sähen sie sich zum ersten Male. Außerdem hatte sie während der Nacht einmal seinen Besuch empfangen. Bei Tisch hatte sie von einem kommenden Unglück gesprochen und als sie vom Mord erfuhr, meinte sie sogar, sie hätte es vorausgesehen und – – –

Ich schlug mich vor die Stirn.

»Er ist wohl weg«, hatte sie gesagt. »Der Mörder wird ihn natürlich bekommen haben.«

Damit hatte sie sich verraten.

Sie wußte vom Orlow.

Fink-Martens schaute mich an.

»Nun?« meinte er fragend. »Etwas müssen wir doch jetzt wohl unternehmen?«

»Wie lange kennen Sie Nina Newa?« fragte ich dagegen.

Er erzählte, daß er sie vor drei Jahren durch ein Konzert kennengelernt hätte. Nachher waren sie verschiedentlich gemeinsam eingeladen. Seitdem war sie jedesmal bei ihnen zu Gast, sobald sie in Norwegen, weilte. Sie wohnte in der Regel auch bei ihnen.

»Wissen Sie etwas über ihre persönlichen Verhältnisse?« fragte ich.

»Nein«, er zögerte ein wenig, »sie spricht so wenig von sich selbst. Aber Sie glauben doch nicht, daß Nina mit diesem Mord auch nur das geringste zu tun hat?« fragte er etwas erregt und verärgert.

»Ich glaube überhaupt nichts«, gab ich ihm kurz zur Antwort und es schien mir, als ob Fink-Martens mich von diesem Augenblick an sehr gering einschätzte.

Aber das war seine Sache.

»Das nächste, was wir jetzt tun werden, ist die gründliche Untersuchung von Zimmer 19.«

Ich holte meine Tasche mit den Instrumenten, die für eine Nachforschung unerläßlich sind, hervor.

Für alle Fälle hatte ich sie schon mitgenommen – Man konnte nie wissen, war in Fällen wie bei diesem ›Osterausflug‹ mein Grundsatz.


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