Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VII.
Jede Untat wirft ihre Schatten

Zimmer 19 war unverändert. Der Ermordete lag im letzten Schlaf auf der Chaiselongue. Die Blutflecken auf dem Fußboden waren schon ein wenig eingetrocknet.

Die Untersuchung war reichlich schwierig, da es hier oben in den Bergen kein elektrisches Licht gab, aber ich half mit meiner scharfen Taschenlampe etwas nach.

Fink-Martens war ein schweigsamer, aber sehr interessierter Zuschauer und hielt sich fast ständig im Hintergrund, weil er befürchtete, vielleicht Spuren zu verwischen.

Bei näherer Untersuchung des Toten fanden wir, daß Blankenstein an der linken Kopfhälfte, etwas oberhalb der Schläfe, von einem oder von mehreren heftigen Schlägen getroffen worden war. Er hatte mehrere Löcher und eine ungefähr drei Zentimeter lange Wunde am Hals. Ich befühlte die Wunden sorgsam und stellte dabei fest, daß auch die Schädeldecke zersplittert war. Der Schlag mußte sehr kräftig gewesen sein.

In meinem weiteren Rapport werde ich häufig auf meine Zeichnung verweisen müssen, die ich – natürlich fotografierte ich auch – vom Mordzimmer gemacht habe. Bei deiner beruflichen Übung wirst du den Vorgängen mit halbgeschlossenen Augen folgen können. Trotzdem muß ich noch mit Worten nachhelfen. Aber vorläufig will ich den Dingen nicht vorgreifen.

Ich begann also mit dem Toten.

Er war nicht ausgeplündert worden. Taschenbuch, Brieftasche und seine goldene Uhr waren vorhanden, auch ein sehr wertvoller Diamantring. Der Raub galt also in erster Linie dem Orlow, und der Mörder hatte dabei wahrscheinlich derartige Eile, daß er alle Vorsicht vergessen hatte.

Dann untersuchte ich umständlich alle Blutflecke, – es waren drei Lachen da und eine Reihe von Tropfen, wie du aus der Zeichnung ersehen kannst. Daß es Blut war, konnte man mit dem bloßen Auge erkennen, aber um ganz sicher zu gehen, – du weißt ja, wie eine Verhandlung sein kann und wie der Verteidiger fragt, nahm ich eine Analyse vor. Das Filterpapier zeigte deutlich blaue Färbung. Dann zeichnete ich eine Skizze von jedem einzelnen Tropfen, um sicher zu gehen, falls die Fotos nicht genügten.

Darauf untersuchte ich jeden Fleck des Fußbodens mit meinem Taschenmikroskop. Das Resultat war sehr mager. Das einzige, was ich fand, waren zwei Haare. Ein langes helles und ein dunkles kürzeres. Dann etwas Tabakasche. Ich tat die kleinen Funde in einen Briefumschlag und bezeichnete darauf die Stelle, wo sie gefunden wurden.

siehe Bildunterschrft

Zeichenerklärungen.
Blutlachen = 7, 8, 14
Bluttropfen = 3-6, 9-13
Blutflecken = 2
Weißer Handschuh = 1

siehe Bildunterschrft

Das Aussehen der Bluttropfen

Das Einzige, was außer dem sichtbaren Befund vielleicht noch von Bedeutung sein kann, ist, daß sämtliche Aschenbecher des Zimmers leer und unbenutzt waren. Es fanden sich auch keine Streichholzreste.

Um ganz sicher zu gehen, bat ich Fink-Martens, hinunterzugehen und die Mädchen darüber auszufragen. Außerdem sollte er einen braunen Aschenbecher mitbringen, den Harrington benutzt hatte, als er seine Schachaufgabe löste.

Fink-Martens war voller Eifer und kam bald zurück. Er berichtete, daß das Mädchen die Aschenbecher gegen 14 Uhr gesäubert hatte. Zu der Zeit befand sich Asche darin. Im braunen Aschenbecher, den Fink-Martens mitbrachte, lag ein halbzerkauter Zigarrenstummel. Diesen brachte ich auch in einem Briefumschlag unter.

»Die Geschichte mit der Asche darf man keinesfalls übersehen«, bemerkte ich. »Intelligente Verbrecher, die nach einem genau festgelegten Plan arbeiten, dazu mit kaltem und klarem Kopf, machen oft eine Pause bei ihrer Tat und zünden sich eine Zigarre oder Zigarette an, um jede Erregung zu meistern. In unserem Fall kann man natürlich auch annehmen, daß die Asche von Blankensteins Zigarre stammt. Wir wissen, daß er rauchte und die Asche kann schon längere Zeit von der Zigarre gefallen sein und ist liegen geblieben.«

Daraufhin untersuchte ich umständlich Tisch und Bettkante und den Fußboden um die Leiche herum mit meiner Lupe. Sehr lange untersuchte ich, und Fink-Martens wurde langsam ungeduldig.

»Sie spielen ja den reinen Sherlock Holmes«, sagte er. »Ich glaubte, man träfe nur bei Conan Doyle auf herumkriechende Detektive.«

»Jeder Mord wirft seinen Schatten, gibt Spuren«, antwortete ich, »es gilt, diesen Schatten zu studieren mit Verständnis und auch mit Phantasie. Manchmal erzählt er uns dann sehr genau von dem Vorgefallenen.«

»Sie glauben also, daß uns diese wenigen Spuren hier im Zimmer schon den Vorgang erzählen können?« fragte er ungläubig und mißtrauisch.

»Das weiß ich sogar«, gab ich kurz zur Antwort.

»Zunächst: der Mörder ist ein Mann und keine Frau. Das gefundene Haar stammt von einem der Mädchen; beide sind blond. Natürlich ist es möglich, daß im Augenblick der Tat eine Frau zugegen war. Aber in diesem Fall war sie Mittäter, und ich glaube kaum, daß der Täter sich der Gefahr aussetzte, eine Frau schreien zu hören, und das hätte sie sicher getan. Es war ja sicher kein erfreulicher Anblick. Das Entscheidende ist aber der Schlag, der mit großer Kraft geführt wurde. Eine Frau besitzt diese Kraft nicht.«

»Das klingt alles sehr nett und leicht faßlich«, sagte Fink-Martens und lächelte etwas ironisch.

»Das ist nur der Anfang.«

Ich wollte erst den Mund halten, hielt es aber im Interesse der Untersuchung für wichtiger, weiter zu sprechen. Außerdem kommen oft, während man seine Eindrücke mitteilt, noch kleine Dinge dazu, die man vorher vielleicht als unwesentlich angesehen hat.

»Blankenstein«, begann ich also wieder, »ging nach dem Mittagessen sofort nach oben. Wir wollen annehmen, daß wir um 15 Uhr und 5 Minuten mit dem Essen fertig waren. Ich entsinne mich deutlich, daß er sofort ging, ohne sich irgendwo aufzuhalten. Er hat sein Kissen aus dem Bett genommen, um auf der Chaiselongue Mittagsruhe zu halten. Die Tür hatte er nicht verschlossen. Einen Augenblick muß er auch schon gelegen haben; das beweist der Eindruck im Kissen. Man sieht deutlich die Kopfform. Und dann – ja dann – hat es an der Tür geklopft – – –«

»Blankenstein ist nichtsahnend aufgestanden und dem Mörder einige Schritte entgegengegangen. Daraus ergibt sich, daß er den Mörder wenigstens dem Aussehen nach gekannt haben muß. Er wäre sonst wohl keinesfalls auf ihn zugegangen. Dann hat der Mörder zugeschlagen. Es war ein Schlag, der sofort den Tod herbeiführte. Die Waffe ist eine Keule oder eine Eisenstange von ungefähr 30 Zentimeter Länge gewesen, außerdem muß eine scharfe Kante vorhanden gewesen sein oder eine Metallkugel. Daher rührt das Loch oder besser der Riß in der Haut. Ein Totschläger oder Gummiknüppel würde nie ein Loch schlagen.«

»Aber warum 30 Zentimeter lang?« fragte der ungläubige Fink-Martens dazwischen.

»Warten Sie noch«, sagte ich.

»Der Mörder ist nicht linkshändig, denn der Schlag hat Blankenstein auf der linken Kopfseite getroffen. Ich nahm zuerst an, daß ein Kampf zwischen ihm und dem Mörder stattgefunden hätte, aber das ist jetzt wenig wahrscheinlich. Blankenstein ist völlig überrumpelt worden. Als er den Schlag bekam, stand er ungefähr beim Blutfleck Nummer 14, die Blutstropfen Nummer 11, 12 und B sind vom Typ eins, die beweisen, daß sie eine Fallhöhe von ein bis anderthalb Meter gehabt haben. Das Wahrscheinlichste ist daher, daß der Mörder Blankenstein sofort aufgefangen hat, damit das Geräusch vom Fall des Körpers keinerlei Aufmerksamkeit erregte. Er hat ihn dann zur Chaiselongue geschleppt und ihn darauf niedergelegt. Der Tote hat hier einen Augenblick bei Fleck Nummer 18 gelegen. Aber während des Transportes hat der Kopf sehr tief gehangen. Die Tropfen Nummer 9 und 10 gehören zum Typ zwei und haben eine Fallhöhe von höchstens zehn bis fünfzehn Zentimeter.

Hier ist der Mörder unvorsichtig gewesen. Er hat die Kassette entdeckt (– den Orlow, dachte ich bei mir selbst) und hat den Tisch so heftig zur Seite geschoben, daß der Lehnstuhl umgeworfen wurde. Vielleicht beherrschte er sich in diesem Augenblick mit aller Willenskraft und zündete sich eine Zigarre oder Zigarette an – vorausgesetzt, daß die Asche wirklich vom Mörder herrührt, was wir vorläufig ja noch nicht wissen, dann ging er weiter zum Toilettentisch, der am Bett stand und auf dem die Kassette sich befand. Die Mordwaffe trug er dabei immer noch in der rechten Hand. Sie war blutig, das sehen wir aus Tropfen Nummer 3.

Daß er in dieser Richtung gegangen ist und nicht umgekehrt, sehen wir aus der Form der Blutstropfen. Sie sind birnenförmig. Die Spitze der Birne gibt die Marschrichtung an, während der dickere Teil die Fallhöhe anzeigt. Diese Tropfen gehören auch zum Typ zwei, aber mit einer Fallhöhe von 20 Zentimeter. Ein durchschnittlich gewachsener Mann würde mit herunterhängendem Arm und geballter Faust 50 Zentimeter über der Erde bleiben – Sie können es selbst ausprobieren – danach beträgt die Länge der Mordwaffe ungefähr 30 Zentimeter. Das ist ganz einfach. Ganz genau kann ich es natürlich nicht bestimmen, aber doch einigermaßen.

Am Bett blieb er stehen und trocknete Hände und Mordwaffe an der Bettdecke ab – Fleck Nummer 2. Was er dann vornahm, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, aber wahrscheinlich hat er sich sofort der Kassette versichert – ungeduldig wie er war, aber wie er es fertigbrachte, die Kassette auf den Tisch oder den Fußboden zu setzen ohne Schrammen oder Eindrücke zu hinterlassen, verstehe ich nicht. Jedenfalls gibt es keine derartige Spuren.

Dann begab er sich wieder zu seinem Opfer.«

»Woher können Sie das wissen«, fragte Fink-Martens, der allmählich lebendiger wurde.

»Weil man aus der Größe des Blutflecks auf der Chaiselongue ersehen kann, daß der Tote nur einen Augenblick dort gelegen hat. Der Mörder wußte, daß Blankenstein ihn dem Aussehen nach kannte. Er wollte daher sicher gehen und sich von dem Erfolg seiner grauenhaften und gemeinen Tat überzeugen. Er zog sein Opfer etwas von der Chaiselongue herunter, aber da er befürchtete, Blut an seine Kleider zu bekommen, umwickelte er den Kopf mit einem Lappen und fügte dem Ermordeten dann den Stich in den Hals bei. Nun war der Mörder seiner Sache sicher.

Er nahm die Kassette unter den Arm und verließ ganz kaltblütig das Zimmer. Unterwegs entledigte er sich der weißen Handschuhe, die er während der Tat benutzt hat. Die Kassette ist schwer, und er konnte nicht feststellen, ob beide Handschuhe wirklich in seiner Tasche waren. Er verlor den Handschuh Nummer 1, ohne daß er es merkte. Die Handschuhe hat er getragen, um keinerlei Abdrücke zu hinterlassen. Es gibt sonst nichts Verdächtiges im Zimmer. Was ich finden konnte, stammt unzweifelhaft von dem Ermordeten. Da haben Sie meine Theorie«, schloß ich, ermüdet von dem langen Vortrag.

Fink-Martens saß lange ohne ein Wort zu sagen.

»Sie haben eine verdammt interessante Beschäftigung«, entfuhr es ihm endlich.

Ich dankte für die Anerkennung.

»Soweit wären wir also gekommen. Aber nun: der Mörder – und dann die Kassette. Finden wir erst die Kassette, dann haben wir auch den Täter oder mindestens eine bestimmte Spur, die zu ihm führt. Die Kassette ist indessen so stark gebaut, daß er wohl kaum Zeit gefunden hat, sie zu öffnen und die Juwelen zu entfernen, selbst wenn wir annehmen, er hätte Zeit genug dazu gehabt.«

In meinem Inneren dachte ich, daß es ein außerordentlich großer Vorteil für uns war. Die Kassette ist so groß, daß es schwer fallen dürfte, ein gutes Versteck dafür zu finden. Dagegen ließen sich die Juwelen, der Orlow – weit besser und schneller verstecken.

Aber ewig konnte ich die Gäste unten wohl nicht sitzen lassen. Zunächst galt es, alle Zimmer zu durchsuchen und dann eine Leibesvisitation vorzunehmen. Von der letzteren erwartete ich nicht viel, denn ich war überzeugt, daß der Mörder die Kassette noch nicht hatte öffnen können.

*

Mit dem Einverständnis aller Gäste führten wir die Visitation durch. Alle waren sehr eifrig, um zu zeigen, daß sie nichts bei sich hatten, das irgendwie mit dem Mord in Verbindung stand. Frau Mohn und Frau Fink-Martens untersuchten die Frauen. Fink-Martens und ich die Männer.

Die Untersuchung verlief natürlich ohne Resultat.

Nun gingen wir mit Todesverachtung an die Untersuchung der Zimmer. Wir suchten an allen möglichen und beinahe unmöglichen Stellen vom Fußboden bis zur Decke. Sogar die Öfen und Kamine wurden nicht vergessen.

Dreckig und speckig sahen Fink-Martens und ich aus.

Aber auch hier verlief alles ohne Resultat.

Die Bewohner der Zimmer waren bei der Durchsuchung zugegen und alle waren entgegenkommend und bereitwillig.

Wir untersuchten den Boden und die Zimmer der Mädchen.

Dann das erste Stockwerk. Hier begannen wir mit den großen Koffern des Amerikaners, von denen noch ein paar Koffer neben dem bereits geschlossenen Nina Newas standen.

»Ist das Ihr Ulster?« fragte ich Harrington, als wir mit dem Gepäck fertig waren. Ich zeigte auf das karierte Ungetüm, das an einem Garderobehaken hing.

»Oh yes«, lächelte er.

In der rechten Außentasche fand ich einen weißen Handschuh.

Es war das Gegenstück zu dem Handschuh auf Zimmer 19.

Auch Blutflecke waren darauf. Sie waren noch feucht.

Fink-Martens riß die Augen auf und starrte und starrte.

»Ist das Ihr Handschuh?« fragte ich den Amerikaner.

»Ja«, antwortete er etwas verwirrt. »Ich kaufte sie einmal, Gott weiß warum, ich habe sie nie benutzt. Oh, Sally«, wandte er sich an seine Frau, »say Darling«, und so weiter, ein Strom von Worten, eingeleitet von diesem unumgänglichen »Darling«, das die Engländer bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit verwenden als eine Art von Kitt an der vielleicht etwas wackeligen Struktur ihrer Ehe.

Ich ließ ihn ruhig ausreden und bekam durch Sally die Aufklärung, daß die Handschuhe in Kopenhagen gekauft wurden.

»Wo haben Sie den anderen?«

Harrington zuckte die Achseln und meinte kalt:

»Wenn Sie ihn nicht finden können beim Durchwühlen meiner Taschen, dann befürchte ich, daß ich ihn verloren habe. Sie befanden sich in meiner Tasche, und ich habe sie, wie gesagt, nie gebraucht.«

»Sie sollten in einem anderen Ton reden«, wies ich ihn scharf zurecht. »Es liegt kein Grund für Sie vor, auf diese Weise meine Fragen zu beantworten. Sie hatten also heute die Handschuhe nicht an? Sind Sie dessen sicher?«

»Unbedingt.«

»Wann trugen Sie Ihren Ulster zuletzt?«

»Während eines Spazierganges heute morgen. Ich hängte ihn hier auf, als ich um 14 Uhr zurückkam. Wenn der andere Handschuh nicht in der Tasche ist, muß ich ihn verloren haben«, fügte er noch einmal hinzu.

»Könnten Sie sich denken, wo Sie ihn verloren haben? Denken Sie gut nach?«

»Nein«, sagte er zögernd. Er schien offenbar Unrat zu wittern.

»Wir haben ihn gefunden«, sagte ich langsam. »Wir fanden ihn im Zimmer Nr. 19, im Zimmer des Ermordeten, und dieser Handschuh hier, der sich in Ihrer Tasche befand, ist blutig.«

»Oh«, hörte ich hinter mir. Frau Martier fiel ohnmächtig in Iversens Arme.

Hinter ihr entdeckte ich von Manfelds Augen. Das lebende war genau so kalt und ohne Ausdruck wie das tote hinter dem Monokel.

*

Es war notwendig geworden, das amerikanische Ehepaar zuerst zu vernehmen.

Er behauptete, in Boston eine Fabrik zu besitzen. Einen guten Eindruck machte er nicht auf mich, aber er beantwortete jetzt alle Fragen äußerst bereitwillig. Irgend jemand mußte mit voller Absicht seinen Handschuh aus der Tasche genommen haben, behauptete er. Er wäre doch die ganze Zeit nach dem Mittagessen in der Stube geblieben. Von 15 Uhr 15 Minuten bis 15 Uhr 25 Minuten, also in der Zeit, in der der Mord wahrscheinlich geschehen war, hatte er über seiner Schachpartie gesessen.

»Aber Mr. Davis?« fragte ich.

»Er verließ gleich nach dem Essen das Zimmer, vielleicht ging er spazieren, drinnen blieb er jedenfalls nicht.«

Das war das Alibi des Amerikaners. Vollständig war es nicht.

Seine Frau erklärte, daß sie gleich nach oben gegangen wäre und sich schlafen gelegt hätte. Sie wäre erst durch das Mädchen geweckt worden. Diese Erklärung gaben fast alle Gäste ab. Weder Harrington noch seine Frau hatten ein Geräusch oder sonst Verdächtiges vernommen.

*

Es war schon recht spät geworden. Der Kommissar und der Arzt mußten jeden Augenblick erscheinen. Ich gab daher den Gästen vorläufige Bewegungsfreiheit wieder. Sie hatten alle über fünf Stunden in der Stube gesessen. Das bedeutete gerade keine kleine Nervenanspannung.

Frau Fink-Martens war Nina Newas wegen aufgebracht. Da kommt dieses arme Mädel hier herauf, um sich auszuruhen, und dann muß es sich dieser widerlichen Körpervisitation unterwerfen und hier stundenlang mit gleichgültigen Menschen zusammengedrängt sitzen, vielleicht sogar mit dem Mörder, und alles wegen dieses Mordes, der sie gar nichts angeht! – Noch eine ganze Reihe böser Worte fügte sie hinzu – Worte, wie wir sie in unserem Beruf ja leider nur zu oft hören müssen, Worte von der Brutalität der Polizei, ihrer Rücksichtslosigkeit.

Aber nun solle Nina Newa sofort auf ihr Zimmer gehen, ein Schlafpulver nehmen – – –

»Ja aber«, wandte ich ein, »möglicherweise wird das Verhör fortgesetzt werden müssen.«

»Davon kann keine Rede sein«, bestimmte Frau Fink-Martens in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Sie soll jetzt ihre Ruhe haben.«

Nina lächelte schwach und sah sehr blaß aus.

»Ich möchte gern gehen, zu erzählen habe ich doch nichts.«

»Ja, ja«, sagte ich etwas verwirrt, »wir werden Ihre Erklärungen dann morgen entgegennehmen. Wir werden ohnehin kaum fertig werden mit dem Verhör in dieser Nacht. Also bitte – –«

Sie legte ihre Hand auf meinen Arm.

»Dann können Sie mich über alles ausfragen, über alle Menschen, die ich nach Ihrer Meinung – schon ermordet habe. Hoffentlich geschieht die Ausfragerei zu einer Zeit, die mir erlaubt, morgen nachmittag zu reisen, nicht wahr!«

Ich wurde noch verwirrter. Eine ganze Reihe kleiner, mir unverständlicher Geschehnisse tauchte in mir auf. Besonders der Gedanke: Sie wußte vom Orlow, sie hatte den Mord vorausgesehen. Ich schaute ihr in die Augen und sagte:

»Es wird davon abhängen, wie weit wir in dieser Nacht kommen. Sie können reisen, wenn wir den Mörder gefunden haben und den Orlow.«

Sie schaute mich lange an. Dann wurde ihr Gesicht hart und kalt. Sie schaute an mir vorbei und meinte gleichgültig:

» Orlow? Ich verstehe nicht, was Sie wollen?«

Damit ging sie langsam die Treppe empor.

*

Mit dem Doktor, dem Kommissar und dem Polizisten zusammen waren plötzlich sehr viel Menschen hier oben, und es fand sich kein Platz im alten Haus. Frau Mohn mußte also notgedrungen das neue Gebäude öffnen. Der Kommissar und der Arzt bekamen ihr Zimmer dort, während der Polizist auf meine Veranlassung das Zimmer neben dem meinen bekam. Bis jetzt war dieses Zimmer von Baron von Mansfeld bewohnt worden, aber der ging bereitwillig auf meine Bitte ein und zog ins neue Gebäude.

Die Männer aus dem Tal kamen erst um 22 Uhr. Der Arzt untersuchte den Toten und konnte nur feststellen, was wir auch schon wußten. Er war der Meinung, daß bereits der erste Schlag tödlich war.

Es war unterdessen sehr spät geworden. Wir wurden uns einig, das Verhör erst am nächsten Tage zu beginnen. Der Polizist, Fink-Martens und ich begleiteten die anderen beiden hinüber zum Zimmer des Kommissars, wo wir noch eine Weile sitzen blieben und uns unterhielten. Ich gab einen ungefähren Überblick über die ganze Sache.

»Noch wissen wir also nichts«, schloß ich. »Aber wir nähern uns der Lösung. Das Verhör morgen wird vielleicht schon ein Resultat bringen. Wenn wir erst wissen, wer die Tür zwischen Treppe und Korridor hinter mir abschloß, dann sind wir schon ein schönes Stück weiter. Entweder war es der Mörder selbst oder sein Helfer.«

»Was, glauben Sie, hat der Täter unternommen, nachdem er das Zimmer des Ermordeten verlassen hatte?« fragte der Arzt.

»Daß der Mord zwischen 15 Uhr 5 und 15 Uhr 24 begangen wurde, können wir als ziemlich sicher annehmen. Mit anderen Worten, es geschah gerade in der Zeit, in der ich mein Zimmer verließ und nach unten ging, um den Holländer zu suchen. Das wissen wir, und sicher bin ich beobachtet worden. Vielleicht hat der Mörder oder sein Helfer hinter der Tür gestanden, die ja nach außen hin halb geöffnet war. Vielleicht ging er auch hinter mir die Treppe hinauf. Anders hätte er sich verraten, und er zog es deshalb vor, die Tür zu schließen. Nun ist die Frage zu klären: Warum hat er dieses Risiko übernommen? Die Antwort kann nur sein: um Zeit zu gewinnen.

Der Mörder konnte die eine Minute, die ich benötigte, um nun die hintere Treppe zu erreichen und sie hinunterzugehen, sehr gut gebrauchen.«

Ich wartete ein wenig, dann fuhr ich fort:

»Die Folge davon ist, daß alle diejenigen, die sich in dieser entscheidenden Minute auf derselben Seite der Tür befanden, an der ich war, also in einem Zimmer, nicht verdächtig sind, während wir unsere Untersuchungen jetzt darauf konzentrieren müssen, herauszubekommen, wer in der ersten Etage war oder auf der anderen Seite der Tür. Das wird der Hauptpunkt unseres morgigen Verhörs sein müssen.«

»Müßten wir nicht eigentlich zur Verhaftung Harringtons schreiten?« fragte der Kommissar. »Er befand sich auf der anderen Seite der Tür, als der Mord begangen wurde und außerdem wurde bei ihm der Handschuh gefunden. Hinzu kommt noch, daß er gleichzeitig mit dem Holländer hier im Hotel ankam und danach vielleicht wissen konnte, daß hier Juwelen verkauft und gekauft wurden.«

»Ganz meine Meinung!« rief Fink-Martens. »Sie erzählten doch auch, daß Sie ihn vor der Tür stehen sahen, nachdem der Kauf abgeschlossen war.«

»Wir wollen nichts überstürzen«, sagte ich. »Unzweifelhaft deuten viele Dinge und nicht gerade die schwächsten auf ihn als den Mörder, aber man kann sie vielleicht auch anders erklären. Wir wollen über diese Frage ein paar Stunden schlafen. Wenn wir können …«, fügte ich hinzu.

Der Kommissar glaubte, die Verhaftung gleich vornehmen zu müssen. Ich bestand jedoch darauf, zunächst das Ergebnis des morgigen Verhörs abzuwarten.

»Aber der Handschuh!« rief Fink-Martens.

Ich zuckte mit den Schultern.

Gegen Mitternacht gingen wir drei ins alte Haus, um uns schlafen zu legen. Draußen war es kalt geworden. Der Frost hatte noch einmal eingesetzt. Die Stille hatte sich über die Ereignisse des Tages gelegt, aber vielleicht bebte die Stimmung des Entsetzens noch in manchen Herzen der Menschen nach, die jetzt hinter den dunklen Fenstern ruhten und versuchten, im Schlaf alles zu vergessen.

Wir gingen durch den dunklen, langen und halb offenen Kreuzgang, der die beiden Gebäude miteinander verbindet. Hier und da lagen kleine, hartgefrorene Schneewehen.

Plötzlich ging mir ein Gedanke durch den Kopf.

Ich blieb stehen, beugte mich übers Geländer, strich die oberste, harte Schicht vom Schnee herunter und füllte beide Hände mit losem Schnee. Ich streute die leicht gefrorenen Flocken wie einen breiten Gürtel quer über den Gang.

Mehrere Hände voll.

Der Polizist half mir.


 << zurück weiter >>