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V.
Herrenlose Schätze

Sonnabend, den 28. März.

Das Hotel flaggt. Nicht, weil die Holländer endlich angekommen sind, sondern weil Kronprinzessin Martha Geburtstag hat.

Blankenstein kam gestern abend.

Mit ihm kamen noch zwei unangemeldete Gäste, ein amerikanisches Ehepaar noch dazu!

Der Kommissar rief an und warnte. – Sie trügen Hornbrillen alle beide, sagte er. Ich dankte für die Aufklärung. Wenn es nicht mehr Amerikaner werden, kann ich die Angelegenheit gut selbst erledigen.

Selbstverständlich schaute ich alles an, was es überhaupt von ihnen zu sehen gab. Er ist untersetzt und breitschultrig mit einem jovialen, etwas fetten Gesicht. Er konnte ebensogut den Pastor einer kleinen Gemeinde darstellen, wenn er nicht diesen mächtigen karierten Ulster angehabt hätte und diese unförmlichen Knickerbocker. Dazu trug er eine karierte Sportmütze in die Stirn gezogen.

Sie war bis zur Nasenspitze in Schals und Tücher eingewickelt und trug eine blaue Brille. Das einzige, was von ihrem Gesicht vorläufig zu sehen war, ist ein schöner, gefühlvoller Mund und ein schmerzlicher Zug darum. Ich bemerkte auch ihre Hände, als sie die Handschuhe auszog. Sie waren groß, aber unendlich weiß und schön. Sie trug keine Ringe.

Das Paar hatte sehr viel Gepäck, und beide sahen aus, als wollten sie zum Nordpol.

Auch Churgin interessierte sich für die Amerikaner.

Er kam eilends aus seinem Zimmer und beobachtete sie aufmerksam. Vom Holländer, der ein wenig im Rücken der Amerikaner stehen geblieben war, schien er dagegen keinerlei Notiz zu nehmen.

Blankenstein ist ein kleiner Mann von ungefähr fünfundvierzig Jahren mit flinken und lebendigen Augen hinter einer sehr starken Brille, die seine Augen verkleinert und zu ein paar winzigen Punkten macht. Er wirkte wie ein Mann von großer Intelligenz.

Nun, das war der erste flüchtige Eindruck von den neuen Gästen. Ihre Ankunft verursachte einige Störung. Das Zimmer für den Holländer war bestellt und stand bereit, ihn aufzunehmen. Er begab sich sofort nach oben, gefolgt von dem Boy Truuls, der ihm einen schweren amerikanischen Kabinenkoffer nachschleppte.

Die beiden anderen, die ja nicht gemeldet waren, mußten mit einem Einzelzimmer vorliebnehmen, in dem noch ein Bett aufgestellt wurde.

Der Amerikaner hieß Harrington.

*

Wir sind jetzt also so weit gekommen, daß alle Beteiligten der Juwelengeschichte unter Dach und Fach sitzen.

Beim Frühstück erschienen Davidow und Churgin zusammen. Es war also anzunehmen, daß Oginsky Wache hielt.

Ich wartete sehr lange, rauchte mehrere Zigaretten, trank eine Flasche Pilsener und verlangte eine Voranmeldung an das Fremdenbüro der Osloer Polizei. Ich wartete und bekam das Gespräch – aber das alles half nichts. Worauf ich am meisten wartete und warum ich so lange hier sitzen blieb, traf nicht ein.

Nina Newa kam nicht.

Mein Telefonanruf galt den Harringtons. Ich wünschte ausführliche Erklärungen. Man versprach, sofort nach Amerika zu telegrafieren, wenn es notwendig wäre. Jetzt muß ich also nur noch abwarten.

Mein Humor war verschwunden. Ich hatte eine graue, schwere Stimmung. Es war, als senkte sich der heute so bleigraue Himmel über uns. Zerrissene Wolkenfetzen trieben langsam und schwerfällig unten im Tal, den Fluß entlang. Wir hatten nur einen halben Grad Kälte.

*

Die Russen waren den ganzen Vormittag über eifrig beschäftigt. Sie hingen abwechselnd und ausdauernd an der Telefonstrippe. Gegen 13 Uhr kam Churgin und bat mich, ihm auf das Zimmer zu folgen. Davidow, Oginsky und Blankenstein waren zugegen. Auf dem Tisch stand eine solide, große Stahlkassette.

Ich wurde dem Holländer vorgestellt mit einigen orientierenden Bemerkungen darüber, daß ich hier oben der Vertreter der norwegischen Polizei wäre.

Daraufhin teilte mir Davidow mit, daß die ganze Sache jetzt in Ordnung sei. Die Werte wären gekauft und Blankenstein übergeben worden; Blankenstein bestätigte Davidows Worte. Die Juwelen gehörten jetzt ihm, und er würde sie schon zu bewachen wissen. Selbstverständlich wäre er dankbar für die Umstände, die sich die norwegische Polizei deswegen gemacht hätte, aber nun sei wohl jede Überwachung überflüssig.

Ich erklärte ihm dagegen, daß ich nun einmal hier wäre und meine Aufgabe durchaus noch nicht als erledigt betrachtete. Auf jeden Fall könnten wir gemeinsam zurückreisen. Im übrigen hätte ich durchaus keine Eile.

Die Russen wollen bereits am Nachmittag fahren. Der Zug geht um 23,30 Uhr. Sie müssen also schon um 18 Uhr von hier fort.

Davidow schlug vor, auf den guten Verlauf der ganzen Angelegenheit ein Glas Madeira zu trinken.

*

Oginsky war schweigsam und der Holländer zugeknöpft. Nur Churgin, Davidow und ich redeten zusammen. Sie erzählten mir den Grund von Blankensteins eintägiger Verspätung. Der ihn begleitende Detektiv war bereits in Göteborg schwer erkrankt. Sie hatten die Reise unterbrechen müssen und waren die Nacht über dort geblieben. Der Detektiv hatte eine Tasse Bouillon auf dem Bahnsteig getrunken und Churgin vermutete Gift. Ein Zeichen für ihn, daß Orsini tatsächlich alles versuchte, um die Juwelen zu bekommen. Jetzt war er natürlich auf der falschen Spur und saß wohl bei den anderen beiden Russen im Grandhotel zu Oslo.

Einmal trat Blankenstein aus seiner Reserve heraus und meinte, daß er keinesfalls etwas verraten hätte. Nach den Instruktionen der Russen hatte er in Oslo eine von ihnen angegebene Adresse aufgesucht, war durchs Haus gegangen und mit einem Auto davongefahren, das auf der Rückseite des Hauses bereits auf ihn wartete. Erst auf einer kleinen Station hatte er den Zug bestiegen. Der vermeintlichen Vergiftung traute er nicht so recht. Mehr sagte er nicht.

Ich fragte ihn, ob er nicht eine zu große Verantwortung dadurch übernehme, daß er die Juwelen allein mit sich führe, aber er meinte phlegmatisch, er wäre es gewöhnt, mit großen Werten zu reisen. Schließlich gewöhnte man sich daran und das Risiko wäre durchaus nicht so groß, wie man glaubte.

Der Madeira kam und Davidow stieß an. Die Russen waren sichtlich erleichtert, daß ihre Aufgabe erledigt war. Oginsky leerte sein Glas in einem Zuge. Er machte einen nervösen Eindruck auf mich. Es war aber verständlich nach der Trinkerei des vergangenen Tages.

Plötzlich überraschte er uns mit dem Vorschlag, daß man der Ordnung halber den verkauften Gegenstand dem Repräsentanten der norwegischen Behörde zeigen sollte – natürlich wenn Herr Blankenstein nichts dagegen einzuwenden hätte.

Der Holländer war nicht gerade begeistert und auch Davidow schien Bedenken zu haben. Es entstand ein verlegenes Schweigen, das Churgin durch die Bemerkung löste, man könnte sich auf mein Schweigen sicher verlassen.

Blankenstein öffnete also langsam die Stahlkassette und aus dem gefütterten Innern nahm er ein weißes Etui aus Juchtenleder, verziert mit dem kaiserlichen Wappen der Romanows. Auf ähnliches war ich schon vorbereitet gewesen, darum bemerkte ich auch alles sofort. Die Hypothese, beschlagnahmtes Privateigentum, stimmte also, und das war auch die Ursache zu dieser ganzen Geheimniskrämerei. Die Furcht vor einer gesetzlichen Sicherstellung und vor Prozessen, von denen die Bolschewiken in ähnlichen Fällen bereits genug gelernt hatten, war bestimmend gewesen für ihre übertriebene Vorsicht. Ich zweifle sogar an der Richtigkeit ihrer Erklärungen über den Aufenthalt Orsinis in Norwegen. Jedenfalls waren die amerikanischen Revolverbanditen bis jetzt noch nicht in Erscheinung getreten.

Die Hände des Holländers streichelten förmlich das Etui. Die langen mageren Finger krümmten sich um das feine Leder und suchten nach dem Schloß. Mit einem leisen Knacken sprang der Kasten auf.

Auf einer samtenen Erhöhung lag ein Diamant in der Größe einer Walnuß. Sein Leuchten hatte eine faszinierende Wirkung. Das ganze Zimmer war gefüllt von seinem bunten, seltsamen und schneidendem Schimmer. Ich habe oft erlebt, daß mich ein Bild vollkommen gefangen nahm. Ich konnte mich dann davon nicht frei machen. Genau so erging es mir auch jetzt. Eine Offenbarung von Licht strahlte mir entgegen. So ungefähr mußte sich der gläubige Christ aus dem Mittelalter den Himmel vorgestellt haben oder das Licht am letzten Tage der Welt. Der Glanz des Diamanten hatte aber gleichzeitig auch etwas Drohendes, Geheimnisvolles. Ein bläulicher, harter und gesammelter Funke teuflischer Bosheit schien er zu sein.

Es war überwältigend, und wir saßen alle stumm und schauten auf den Stein.

Ich habe einmal gelesen, daß herrenloses Gold die Augen gierig macht, und sie dann häßlich und hart werden. Hier saßen wir nun – fünf Männer – um einen Diamanten, der uns alle zusammen hypnotisierte. Wir waren seinem seltsamen Zauber unterlegen. Blankenstein schaute ihn an wie ein Mann seine Geliebte. Oginskys Hände zitterten nervös, und er sah aus, als sähe er den Teufel selbst. Auf Churgins Stirn erschienen dicke Schweißtropfen, und er kaute auf seinen Fingernägeln herum. Nur Davidow schien unberührt. – Ich für meine Person war seltsam angefaßt von der ganzen Stimmung. Ich hatte das Gefühl, als erlebe ich etwas sehr Großes. Es sieht lächerlich aus – jetzt wo ich es niederschreibe – aber mir war, als stände ich Überirdischem gegenüber – Heiligem!

Blankenstein brach zuerst das Schweigen. Mit leiser Stimme, beinahe weich, flüsterte er:

» Orlow

Ich verstand das Wort nur so eben.

»Orlow«, wiederholte ich, »dieser berühmte Diamant?«

»Ja«, flüsterte Blankenstein wieder, »eines der sieben Wunder der Welt. Der seltenste Stein, den die Welt bisher gesehen hat. Er ist einzig. Ein Diamant vom reinsten Wasser!«

Wieder saßen wir schweigend.

Diesmal ergriff ich zuerst das Wort. Ich wandte mich an den Holländer.

»Ich glaube, einmal über den Stein etwas gelesen zu haben, aber leider vergißt man solche Dinge zu schnell. Warum nennt man den Stein ›Orlow‹? Woher kommt er? Gehört er nicht zu den Diamanten, die ihre besondere Geschichte haben?«

Blankenstein nickte.

»Jahrhundertelang wurde er von Priestern bewacht im Tempel des brahmanischen Kriegsgottes zu Lahore. Das Auge dieses einäugigen Gottes war der Orlow. Pilger wanderten zu ihm. Irre wurden geheilt, das stärkste Gift wurde unschädlich gemacht von dem leuchtenden Auge des Kriegsgottes. Sein Blick war härter als Eisen und Stein.

Im Jahre 1738 wurde er von einem französischen Deserteur gestohlen. Er mordete die Wächter und brachte den Stein zu Nadir, dem Schah von Persien, der sich gerade im Kriege mit dem Großmogul, Mohamed XIV, befand. Nadir ließ den Stein nach seinem Siege in seinen Thron einfassen. Am 17. Juni 1747 wurde Nadir ermordet und der Stein kam in den Besitz eines armenischen Kaufmannes, der ihn nach Rußland brachte, wo ihn der verstoßene Geliebte der großen Katharina, Grigorij Grigorijwitsch Orlow, für 450 000 Goldrubel bar, eine jährliche Rente von 4 000 Silberrubel und ein Adelspatent für den Armenier erwarb. Er versöhnte sich 1772 mit der Zarin und schenkte ihr den Stein. Seitdem war er im Besitz der russischen Zaren und zierte die Spitze des Zepters.«

»Er gehörte dem Volke und nicht dem Usurpatoren Nikolai Romanow«, murmelte Churgin.

Davidow lachte plötzlich heiser und gellend.

»Was ist der Stein denn überhaupt? Ein Stück kristallisierter Kohlenstoff – nichts anderes. Dumme Menschen machten daraus ein Auge für einen Götzen oder eine Zepterzierde. Es kommt beides auf eins heraus. Er ist und bleibt nichts anderes als gut bezahlter Kohlenstoff!«

Der zynische Ausbruch des rothaarigen Juden ärgerte mich.

»450 000 Rubel damals«, wiederholte ich und tat, als hätte ich nichts gehört. »Was kostet er denn heute, Herr Blankenstein?«

»Ich will mich darüber nicht auslassen«, antwortete der Holländer, »man muß jetzt mit Liebhaberpreisen rechnen und die dürfen dreimal so hoch sein wie die Summe, die Orlow für den Stein bezahlte.«

»Für die große Katharina spielte Geld keine große Rolle«, höhnte Davidow. »Es ist eine Tatsache, daß sie dem Orlow, der ihren Mann ermordete, zwei Millionen Rubel für die gut ausgeführte Arbeit gab.«

»Sie könnten ebensogut in geschmackvolleren Bildern sprechen«, bemerkte ich.

Davidow, dieser rote Jude, der weder an Gott noch an den Teufel zu glauben schien, hatte den Zauber, den der Stein ausstrahlte, zerstört. Die große Versöhnungsgabe eines Geliebten, die einmal an der weißen Hand einer Katharina geleuchtet hatte, war zu einem wirtschaftlichen Begriff geworden.

Blankenstein schloß das Etui und packte es in die Kassette.

Als wir auf den Korridor traten, stand Harrington dort und brannte sich eine Zigarre an. Er legte nur zwei Finger an seinen Mützenschirm und ging weiter.

Oginsky pfiff langgezogen.

»Aufpassen!« sagte er nur zu mir.

»Wir sprechen später noch darüber«, sagte ich zu Blankenstein, als ich ging.

*

Nina Newa kam zur Mittagsmahlzeit herunter.

Sie sah nervös und mitgenommen aus. Ihre Hände waren unruhig und in ihren Augen lag ein gejagter Ausdruck. Ich hatte den großen Wunsch, sie wieder gesund, stark und ruhig zu sehen. Aber der Wechsel ihrer Stimmungen lag wohl in ihrem Temperament begründet.

»Wo waren Sie denn den ganzen Vormittag?« fragte ich.

Bevor sie antworten konnte, fuhr Fink-Martens dazwischen:

»Wissen Sie – daß Nina beschlossen hat, abzureisen? Wir hatten ausgemacht, daß wir gemeinsam über Ostern hier bleiben wollten, und nun will sie ohne weiteres reisen.«

»Ja«, bestätigte sie mit einem unsicheren Lächeln, »ich kann auch keine plausible Erklärung abgeben. Aber es liegt etwas in der Luft, etwas Unheimliches. Ich habe das Gefühl, als ob etwas Entsetzliches geschehen müßte.«

»Aber du brauchst dich um diese Bolschewiken, die du nicht liebst, nicht zu kümmern«, meinte Frau Fink-Martens überredend.

»Es ist nicht das allein – nein – ich weiß nicht. Es mag dumm sein – aber ich will reisen. Ich muß reisen. Vielleicht ist es auch nur ein Einfall von mir –«

»Primadonnalaunen« murmelte Fink-Martens erzürnt.

»Ich habe euch doch versprochen, bis morgen zu warten«, sagte Nina Newa bittend.

»Es wird einsam werden, wenn Sie reisen«, sagte ich. »Haben Sie sich fest entschlossen, schon morgen zu fahren?«

Sie nickte nur. Fink-Martens sprach leise mit seiner Frau.

»Wir hatten es so gemütlich zusammen«, versuchte ich mich, »und wenn Sie nicht sofort weiterreisen nach Deutschland, und wenn Sie nicht allzu beschäftigt sind, würde ich mich freuen, wenn ich Sie in Oslo noch einmal sehen könnte.«

»Mit Vergnügen«, antwortete sie. »Das möchte auch ich sehr gern. Ich bin gar nicht beschäftigt. Ich wohne im Bristol. Sie brauchen mich nur anzurufen.«

Sie lächelte und es schien, als wäre alles Drückende von ihr genommen worden. Aber plötzlich wandte sie sich mit einer seltsamen Frage an mich.

»Können Sie mir die Nummer des Zimmers sagen, in dem die beiden Russen wohnen?« Sie wies mit einer Neigung des Kopfes zu Davidow und Churgin hinüber, die am Eßtische saßen. Oginsky war nicht erschienen. »Ich meine das erste Zimmer rechter Hand vom Flur.«

»Nummer Neunzehn«, sagte ich verwundert. »Ich habe gehört, daß Blankenstein es haben will, wenn die Russen vor ihm abreisen sollten.«

Nina Newa wurde totenblaß und schaute mich mit großen, entsetzten Augen an.

»Du großer Gott!« murmelte sie. »Du großer Gott!« Dann flüsterte sie etwas in ihrer Sprache, das ich nicht verstand.

*

Sonntag, den 29. März.

Die Russen fuhren gestern programmgemäß ab. Alles wunderte sich über den schnellen Aufbruch, da man ja die Russen für Gäste halten mußte und den Zusammenhang mit dem Erscheinen Blankensteins nicht kannte. Truuls brachte sie mit dem Schlitten gegen Mittag hinunter. Ich konnte mich nur von Davidow verabschieden, als er im Kontor war, um die Rechnung zu begleichen. Frau Mohn meinte, ich hätte damit nichts versäumt. Oginsky wäre sehr wenig repräsentabel gewesen. Er hatte wieder getrunken. Nach dem Madeira von gestern morgen hatte er sich eine Flasche Portwein nach der anderen aufs Zimmer kommen lassen. Darum war er auch nicht zu Mittag erschienen.

Oginsky wollte unbedingt mit von Manfeld sprechen, aber der war mit Frau Martier unterwegs. Oginsky blieb also sitzen und trank allein weiter und zum Schluß war er so »angegriffen« – wie Frau Mohn meinte – daß seine beiden Kameraden ihm unter die Arme greifen mußten und ihn zum Schlitten führten.

*

Der gewohnte Telefonanruf vom Kommissar kam pünktlich wie verabredet. Aber es ergaben sich keinerlei Unterbrechungen des täglichen Einerleis. Im übrigen scheint es mir dumm, wenn ich vom Einerlei spreche – habe ich doch den Orlow gesehen!

Gegen Abend fiel wieder Schnee. Große, weiße Flocken kamen durchs offene Fenster ins Licht geflogen wie Nachtfalter. Morgen würde man nicht Ski laufen können.

Als das Mädchen Maja gegen Abend in mein Zimmer kam, um mein Bett für die Nacht herzurichten, trug sie eine Ölkanne mit sich herum. Frau Harrington wäre so nervös, erzählte sie mir, daß sie gebeten hätte, die Tür zu schmieren. Sie könnte das Kreischen der Tür nicht hören. Übrigens kann sie kein großes Vergnügen von ihrem Aufenthalt hier oben haben. Sie zeigt sich fast nie und hält sich immer im Zimmer auf. Ihr Mann dagegen unternimmt größere Fahrten.

Nach dem Abendessen beschäftigten wir »vier Musketiere« – wie Fink-Martens uns scherzhaft getauft hatte – uns mit dem Glühwein und Bridgespiel. Alle hielten sich in der großen Stube auf. Nur der Holländer war auf seinem Zimmer.

Frau Martier brach zuerst auf. Sie schien vorher ihrem Manne einige erklärende Worte zu sagen. Einige Minuten später erhob sich auch von Manfeld wie zufällig und verschwand.

Es vergingen ungefähr zehn Minuten. Professor Martier wurde immer unruhiger. Plötzlich fuhr er auf und lief zur Tür. Wir lächelten alle ein wenig. Selbst der unbewegliche und schweigsame Mr. Davis lächelte. Von Manfeld hatte seine Vorliebe für die Frau nicht gerade versteckt und gemeinsam hatten sie den armen Ehemann nach allen Regeln der Kunst Karussell fahren lassen.

Ganz zufällig schaute ich auf Harringtons Hände. Sie waren kurz, dick, und brutal. Die seiner Frau waren größer, dafür aber auch weißer und gepflegter. Sie muß an einer Krankheit leiden, denn selbst in ihrem Zimmer trägt sie Schals und Tücher um den Kopf.

Ich erwähnte es einmal Nina gegenüber und sie meinte, daß Frau Harrington wohl stark unter Migräne litte und sich vor Zug fürchte.

Im Verlauf des Abends erfuhr ich auch, daß Nina Newa nur ihr Künstlername war. Ihr »nom de guerre« – wie sie selbst sagte. Aber ihren wahren Namen nannte sie nicht.

Dann hielten wir uns wieder an die Karten.

*

Montag, 30. März.

Ich schlief schlecht und träumte vom Orlow. Ich konnte im Traum nicht die Dunkelheit empfinden, nur den Schein des Steines sah ich. Er lag schwer auf meinen Lidern. Das Kopfkissen schien mir glühend heiß. Ich wälzte mich hin und her.

Ich dachte an Nina. Ihre Stimmungen, ihre Unruhe waren auf mich übergegangen. Manchmal dachte ich auch, daß alles daher rührte, weil sie morgen fahren wollte. Es waren doch schöne Tage gewesen.

Plötzlich war ich hellwach.

Ich hörte schleichende Schritte über meinem Kopf. Es mußte auf dem Boden des Hauses sein. Eine Tür knarrte, dann war wieder alles still.

Da sagte ich zu mir selbst in den vorgeschriebenen dienstlichen Formeln Dienst ist Dienst – daß sowohl Blankenstein wie auch der Orlow noch unter diesem Dache waren. Der Inspektor mußte also aus den Federn kriechen. Ich zog nur den Mantel über den Pyjama und bewaffnete mich mit meiner Taschenlampe und dem Revolver. Ich Wollte durchs ganze Haus gehen, um sicher zu sein, daß alles in Ordnung war. Das Dümmste, was man tun könnte, wäre in einem solchen Fall liegen zu bleiben und auf alle Geräusche zu lauschen. Damit malt man nur den Teufel an die Wand.

Die Tür knarrte ein wenig, als ich sie öffnete. Ich ärgerte mich, daß ich Maja nicht gebeten hatte, auch meine Tür zu schmieren, wo sie doch schon einmal dabei war. Vorsichtig schaute ich mich um. Der Flur war menschenleer. Ich entledigte mich meiner Stiefel, die ich mitgenommen hatte, um sie vor die Tür zu stellen. Ich setzte sie etwas hart vor die Tür, öffnete diese und verschloß sie wieder. Sie knarrte. Unbeweglich blieb ich im Dunkel stehen. Nichts war zu hören. Es war nur kalt.

Leise schlich ich mich vorwärts. Vor Zimmer Nummer 19, der Holländer hatte es bereits bezogen, blieb ich einen Augenblick stehen und lauschte. Kein Laut war zu hören. Ich bildete mir ein, den schlafenden Laut eines müden Menschen zu hören. Die Tür war von innen verschlossen, wie ich mich überzeugen konnte.

Einige Minuten blieb ich stehen. Dann schlich ich weiter und die Treppe zum dritten Stock hinauf. Jeden Tritt nahm ich vorsichtig zunächst mit dem Schuhabsatz und dann erst mit dem ganzen Fuß, um keinen unnötigen Lärm zu machen. Endlich befand ich mich auf dem Boden. Ein mächtiger, unübersichtlicher Raum in tiefster Dunkelheit. Ich konnte nur etwas weiße Wäsche schimmern sehen, die man zum Trocknen aufgehängt hatte.

Nach vorn, der Treppe zu, lagen einige Kammern. Ich wußte, daß hier die Mädchen schliefen.

Plötzlich knarrte wiederum eine Tür. Ich hielt den Atem an. Langsam öffnete sich eine der Türen. Ich hörte ein Flüstern – dann schaute ich mich um: man müßte mich unbedingt sehen. Meine Lage war geradezu ekelhaft …

Entschlossen ließ ich daher meine Taschenlampe aufleuchten. Sie warf ihren Schein auf eine Gestalt, die drei bis vier Meter von mir entfernt stand.

Es war Iversen.

Er war auch nur mit einem Mantel über dem Pyjama bekleidet. Die Tür zur Mädchenkammer wurde blitzschnell geschlossen. Iversen machte einen komischen entsetzten Sprung und blieb mit offenem Munde stehen.

»Aber Iversen«, sagte ich vorwurfsvoll.

Iversen bewies sofort, daß er seinen Verstand zu gebrauchen verstand. Er warf einen schnellen Blick auf meine mangelhafte Bekleidung, blinzelte mir zu und meinte halb vertraulich, halb triumphierend:

»Sie kommen zu spät. Ich glaube nicht, daß es für Sie noch Zweck hat.«

Ich stand stumm. Der Mann hatte von seinem Standpunkt aus unbedingt recht mit seiner Vermutung. Er konnte ja nicht ahnen, daß ich hier des Nachts sozusagen dienstlich umherschlich.

*

Heute morgen kam der Schlitten mit der Post. Für mich war nichts dabei.

Ich suchte Blankenstein sehr früh auf und fragte ihn, wann er zu reisen gedächte? – Er meinte, er hätte Lust, noch einige Tage zu bleiben, wenn es mir recht wäre? Das überraschte mich nicht wenig und durchkreuzte meine Pläne, die ich wegen Nina hatte. Aber ich faßte mich sofort und antwortete:

»Aufrichtig gesagt, Herr Blankenstein, ich habe mit der Post Anweisungen erhalten, die es nötig machen, daß ich schnellstens nach Oslo fahre. So entsteht in mir ein kleiner Konflikt zwischen Pflicht und privatem Interesse. (Das stimmte übrigens.) Wenn es Ihnen also nichts ausmacht, wäre ich Ihnen besonders dankbar, wenn Sie sich entschließen könnten, heute schon zu fahren.«

Er lächelte vielsagend und war einverstanden.

Ich erzählte diese wichtige Neuigkeit sofort während des Frühstücks Nina Newa. Sie schien sich zu freuen und Fink-Martens saß mit einem verständnisvollen Lächeln dabei und blinzelte offensichtlich seiner Frau zu. Er ist nicht immer sehr taktvoll. Aber Nina und ich taten, als bemerkten wir nichts.

*

Später: – reines Frühlingswetter. Es tropft von den Dächern. Wir haben gerade zu Mittag gegessen.

Ich sende diesen Rapport mit dem Schlitten, obgleich ich selbst nach Oslo fahre und denselben Schlitten benutze. Man kann nie im voraus wissen, was passiert. Ich bin meinen Bericht wenigstens los. Bei Blankenstein war ich auch noch und erzählte ihm, daß ich gerade mit der Polizei gesprochen hätte. Man bäte ihn, im Bristol abzusteigen, dann würde man für seine Sicherheit sorgen können. –

Wenn ich ihn und seinen Koffer bis zum Bahnhof in Oslo gebracht habe, dann können deine Leute das weitere übernehmen. Meine Arbeit ist dann wohl fertig.

Morgen bin ich also bereits in Oslo und das Abenteuer ist aus. Dann kannst du diese Epistel ruhig in den Kasten deines Nachttisches legen mit der Überschrift von deiner Hand: »Reiseschilderung – keine strafbare Handlung.«


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