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XII.

Der Winter verstrich langsam.

Es war Anfang Februar, auf dem Jahrmarkt. Die Straßen wimmelten von Menschen, und der Schnee war im Tauwetter unter dem Verkehr zu Puder geworden.

Eine bunte Reihe von Buden zog sich von Markt zu Markt. Dumpfer Lärm und Musik drang bis zum Fabrikviertel hinauf ... abends strahlte die Stadt unten in verstärktem Lichtschimmer.

Etwas wie ein Rausch lag in der Luft – und manche ungeduldig sehnende Seele ging oben, von strengen Augen bewacht, umher, während ein Menschenstrom von der lockeren Sorte hinabflutete.

Schon am zweiten Markttage kam Kristofa, vor Eifer glühend; ... sie hatte die Lösung gefunden für sich und Gonda und Silla: Geld für Eintrittskarten und für Kuchen! – für alle drei!

Sie gebärdete sich höchst geheimnisvoll – sprach fortwährend von einem gewissen Jemand, den sie – um keinen Preis der Welt – nennen dürfe.

Silla war noch nie dabei gewesen, hatte höchstens draußen unter den neidischen Zaungästen gestanden, die sich damit begnügen mußten, die farbigen Lampen anzusehen und der Musik zu lauschen. Endlich war auch ihr die Möglichkeit gegeben ... Ach! – wenn sie dürfte!

Den ganzen Vormittag ging sie unruhig umher mit zwei roten, runden Flecken auf den Wangen.

Zur Mittagszeit kam ihre Mutter müde und atemlos aus der Stadt herauf: sie hatte Antonisens versprechen müssen, ihnen die Woche über unten auf dem Marktplatze in der Kuchenbude beim Verkauf behilflich zu sein! – Schluß gemacht würde erst um Mitternacht, so daß sie die Nächte unten bleiben müßte ...

Es brauste und sauste vor Sillas Ohren – war das nicht, als ob sich die Tür ihr von selbst erschloß? Jetzt konnte sie, wenn sie wollte ...

Ihr wurde beinahe bange zumute.

Als sie nach dem Mittagessen einen Pack Wäsche forttragen sollte, schlenderte auf der Straße der junge Wejergang ganz dicht an ihr vorüber.

Fast hätte sie laut aufgeschrien. Er war also wieder zurück! ...

Sie wagte nicht aufzublicken und fühlte, daß sie rot wurde, hatte aber im Vorbeieilen den Eindruck, daß er lächelte und sie fest anschaute und dann nickte.

Sie war fest überzeugt, von ihm stammten die Eintrittskarten!

Ihr Herz pochte und arbeitete in der Brust wie ein Vogel mit seinen Flügeln, bald schnell, bald langsam, in unregelmäßigem Takte ...

Am Abend des dritten Markttages wanderte Nikolai beim Schein der Lampen zum Fabrikviertel hinauf. Er war auf eigene Faust zum Markte gegangen, hatte einen Nähkasten – mit Spiegel an der Innenseite des Deckels – gekauft, mit dem er Silla überraschen wollte; und heute nachmittag hatte er ihn hübsch beschlagen und ein feines Schloß daran angebracht.

Irgendwie würde es ihm wohl glücken, sie zu treffen und ihn ihr zu zeigen. – wie prachtvoll das Schloß am Deckel schnappte! ...

Und Schere und Nadelbüchschen hatte er hineingelegt. Sie sollte den Schlüssel in Verwahrung bekommen; er selbst wollte den Kasten bei sich zu Hause aufheben.

Er hatte ihn in ein Tuch eingeschlagen und oben zwei Kuchen darauf gelegt; wer etwas anderes als sein Handwerkszeug darin vermutete, mußte schon mehr als klug sein!

Er schlich dicht an den Fenstern seiner Mutter vorbei, die erleuchtet waren, und guckte hinein, ob nicht Silla zufällig vor dem Fenster stand – und wanderte dann gleichgültig weiter straßauf, straßab, kreuz und quer.

Wie war es hier doch heute abend öde und menschenleer! ...

Dunkel war es überall auf der Straße, nur da hinten bei dem Laternenpfahl nicht.

Da ging jemand ... das war sie!

Er beeilte sich.

Nein, es war Jakobine, die mit Silla diesen Sommer so viel gegangen war!

Auf alle Fälle konnte es nicht schaden, sie zu fragen.

»Ist Frau Holman heute abend vielleicht nicht zu Hause?« fragte er grüßend.

»Nein, sie sitzt unten auf dem Markte und verkauft.«

Die Schlußfolgerung durchzuckte Nikolai wie eine große Freude – er konnte also hingehen und Silla zu Hause treffen.

»... und,« fuhr Jakobine fort, – »ist die Katze nicht zu Haus, tanzt die Maus!« Daß der Schmiedegesell da Sillas wegen umherstreifte, war kein Geheimnis mehr, und ihrem Ärger, daß ihre drei Freundinnen Eintrittskarten bekommen hatten und sie nicht, machte sie in spöttischer Lustigkeit Luft: »Silla wird sich wohl auch einen kleinen Seitensprung in die Stadt geleistet haben!« lachte sie.

»Silla?«

»Ja, weshalb nicht? Frau Holman sitzt ja unten in der Kälte und hampelt und strampelt in ihrer Bude mit den Beinen – weshalb sollte die Tochter es nicht auf dem Jahrmarktsballe ebenso machen?« Witze waren Jakobinens Spezialität.

»... namentlich, wenn sie jemand hat, der mit ihr tanzen und für sie spendieren will!« gab sie zum besten, als Nikolai ein wenig verblüfft schien.

»Wer hat dir das vorgelogen, Mädchen?«

»Wenn ich lüge, dann lügt Kristofa! – und daß Silla mit ihr und Gonda vor ein paar Stunden hinuntergegangen ist, habe ich mit eigenen Augen gesehen ... Der, den ich meine, wird schon die Mittel haben, einen Jahrmarktsbummel für drei ebensogut wie für sechs zu bezahlen ...«

»Was schwätzt du da! Hüte deine Zunge!« stieß er wild hervor.

»Ha – ha!« lachte sie heraus, – »so ganz fremd ist er dir wohl nicht; ihr seid ja gewissermaßen verwandt ... Großartig muß es ja nun einmal sein! Wir haben's oft genug von deiner Mutter zu hören gekriegt, letzten Sommer, als sie ihn dazu brachte, das feine, schwarze Kleid zu bezahlen!« ...

Nikolai hatte genug gehört.

Seine Mutter hatte ihn bis aufs Blut gequält ... und ihn trotzdem hintergangen!

Er sah sie plötzlich im kalten Lichte der Gleichgültigkeit vor sich.

Sie war ihm nie eine Mutter gewesen – hatte sich nie einen Deut um ihn gekümmert! ... Dieses Gefühl, eine Mutter zu haben, hatte er sich nur eingebildet!

Er holte mit den Händen aus, als wische er etwas von einer Tafel fort! Der, um den sie sich kümmerte, als dessen Mutter sie sich betrachtete, war dieser ...

Er wußte nicht, ob er selber den Namen gedacht oder ob Jakobine ihn genannt hatte; aber es gellte ihm in den Ohren wie nach einem kräftigen Hammerschlag auf den leeren Amboß:

»Ludwig Wejergang!«

Die Mutter hatte er ihm von frühester Kindheit an geraubt ... sollte er ihm jetzt auch Silla entreißen?

Der Gedanke erschien ihm zuletzt allzu ungeheuerlich, und er verlangsamte seine Schritte.

Er schüttelte den Kopf. Einen Augenblick lang fühlte er sich völlig beruhigt und verfiel wieder auf die bitteren Gedanken an seine Mutter ...

Aber wenn er hinginge und sich ein wenig umsähe, wäre das ja kein Abweg.

Schon von weitem dröhnten die Pauken aus dem Vergnügungslokal als Freudenkünder durch die Luft. Aus der Menagerie daneben schmetterte eine gellende Trompete, und davor war die Straße schwarz von Menschen.

Woher es kam, läßt sich nicht sagen – aber die frühere Unruhe befiel ihn wieder.

Hier konnte er nur Schritt für Schritt weiterkommen; aber indem er sich langsam durch das Gewühl wand, schaute er spähend umher, von der Gestalt, die er suchte, brauchte er nur die Umrisse zu sehen.

Unter den draußen Stehenden war sie nicht! ...

Fast tat es ihm jetzt leid, wo er sich doch darauf vorbereitet hatte, sie zu treffen.

Schon dachte er daran, umzukehren und sie zwischen den Budenreihen zu suchen; seine Blicke schweiften nur noch gleichgültig über die Menge.

Doch? ... die da! ... die lachende, rote, im Garten mit dem runden Hut und der kurzen Boa – jawohl! es war Gunda! ...

Er hielt den Atem an, als erwarte er, im nächsten Augenblick noch jemand anders dort im Getümmel zwischen den Lampen zu erblicken!

»Ihr Billett? – Garten oder Ball?« wurde am Eingänge gefragt.

Nikolai hätte am liebsten ein Billett für alles genommen; aber das Geld, das er bei sich hatte, langte nur zum Garten.

Er suchte den Garten ab; aber in den dunkleren Gängen außerhalb der Hauptwege trieben sich nur einzelne fröstelnde Gestalten umher, die, wie die Motten, sehnsüchtig das Licht zu umflattern schienen ...

Da hinten in dem Gebäude, aus dem die Musik herüberschallte, auf das all die Leute zuströmten, vor dem sie in dichten Haufen gedrängt standen – dort war der Tanz!

Sein Blut hörte gleichsam mit einem Schlage auf zu rinnen, und er näherte sich langsam, zögernd, graubleich vor Angst! ...

Geraume Zeit stand er draußen und starrte durch die großen, hell erleuchteten Fenster. Dunkle Schatten bewegten sich hinter der Gardine – Kopf an Kopf in unaufhörlichem Wechsel.

Da! ... an einer Stelle, wo die Gardine ein wenig zur Seite gebogen war, sah er den runden Kopf Gundas wieder; ihr Nacken war ihm so nah, daß er wohl die Scheibe eindrücken und ihr hätte Zurufen mögen, wo Silla sei ...

Er fühlte, wie er dastand, das Beben des Bodens und die Hornmusik doppelt stark; es war, als käme ihm der ganze Ball über den Kopf gebraust!

Es erschien eine Schulter und ein halber Rücken in Überzieher – in der Tasche einen Spazierstock ... und ein Stück von einem eleganten Hutrand ...

Die Gestalt rauchte eine Zigarre und beugte sich hinab, als spräche sie ... mit wem? ... mit wem? ...

Dann dieser dünne, steife Rücken, der sich vor lauter Vornehmheit gleichsam nur ganz unten in den Hüften beugen konnte – es war Ludwig Wejergang!

Und dann die Art der Armbewegungen ... und das Augenglas ...

Jetzt war er verschwunden, ... tanzte gewiß! ...

Der klare Durchblick, den er durch den kleinen Gardinenspalt hatte, war von dem Fensterschweiß verschleiert. Nur wenn drinnen in der Wärme ein schwerer Tropfen an der Scheibe hinablief, konnte er in dem Streifen einen leisen Schimmer von drinnen erhaschen! ...

Da kam Wejergangs Schatten mit Stock und Hut wieder an seinen Platz ... und niedriger das verzerrte Schattenbild eines Frauenkopfes, der sich lebhaft bewegte.

Wieder verschwand die Figur mit dem Stocke, und Nikolai paßte noch schärfer auf.

Ein Tropfen lief gerade in einer blanken Rinne die Scheibe hinab, und im nächsten Augenblick sah Nikolai etwas von der tanzenden Gestalt – nur einen geneigten Kopf und die eine Hälfte eines Gesichtes ...

Er hatte genug gesehen ... mehr, als hätten ihm hundert Kronleuchter geleuchtet!

Und sofort war er in dem Gewühl vor der Tür.

Er überhörte alle Stichelreden und unwilligen Ausrufe ...

»Nanu! nanu!« klang es aus der Menge.

Nikolai arbeitete sich zur Tür hin ... wenn er nur erst da wäre!

»Billett?«

Nikolai antwortete nicht.

»He! Sie! ... Ihr Billett!«

Nikolai drängte sich statt dessen nur einen Schritt näher heran.

Der Beamte machte eine Bewegung, fand aber in Nikolais Gesicht etwas, das es ihm für den Augenblick ratsamer erscheinen ließ, ihn nicht anzurühren. Der schweigsame, draufgängerische Handwerker sah aus, als ob er imstande sei, zuzuschlagen! ...

Da stemmte Nikolai plötzlich seine breiten Schmiedeschultern vor und drängte mit aller Gewalt zur Tür.

Vergebens stemmte sich der Billettverkäufer mit seinem Körper – die Hände hatte er ja nicht frei – dagegen.

Nikolai hatte durch die Öffnung Silla errötet, lachend und vom Tanze erregt, mit Ludwig Wejergang durch den Saal schreiten sehen; der hatte den Hut schräg ins Gesicht gesetzt, das Monokel im Auge, und blinzelte so über die Maßen leichtsinnig, als wäre solch ein Kerl in seinem ureigensten Tätigkeitsgebiete, wenn er ein junges Mädchen verdarb! ...

Es war an der Tür Lärm und Hallo entstanden ...

»Raus mit ihm! schmeißt ihn raus!« ...

Schließlich schallte der Ruf durch den ganzen Saal. Es gab ein Zwischenspiel, in dessen Verlauf das Publikum auf Tische und Bänke stieg, um etwas sehen zu können.

Nikolai würde sich blindlings brutal durchgeschlagen haben, wenn nicht die Polizeiwache dem Konstabler zur Hilfe geeilt wäre, so daß sie mit vereinten Kräften den robusten, widerspenstigen Schmiedegesellen herausschleppen konnten.

Die Musik schwieg. Erhitzt und außer Atem strömte eine Menge Menschen während einer Tanzpause heraus.

... Da kam Wejergang – und Silla, schüchtern und halb widerstrebend, neben ihm. Sie wollten ins Restaurant hinauf ...

Nikolai riß sich mit einem plötzlichen Ruck los und sprang im nächsten Augenblick aus dem Dunkel mitten zwischen sie. Silla stieß einen Schrei aus; aber Nikolai würdigte sie nur eines Blickes, schleuderte sie hinter sich – und stand dann Wejergang von Angesicht zu Angesicht gegenüber!

Der junge Ballöwe erblaßte und taumelte vor dem haßerfüllten Blick einen Schritt zurück; – aber als er seinen alten Feind aus der Schulzeit wiedererkannte, verzogen sich seine Lippen ironisch.

Diese Miene brachte Nikolai dazu, sich auf ihn zu stürzen; und Wejergang antwortete ihm, indem er ihm mit einem »unverschämter Flegel« den Spazierstock quer durchs Gesicht schlug, so daß dieser zerbrach.

»Hilfe! ... Hilfe! ... Polizei!«

Nikolai hatte Wejergang an der Brust gepackt, so daß die Knöpfe von seinem Rock abrissen, als er von drei Konstablern umringt wurde.

Ein junges Mädchen warf sich völlig sinnlos zwischen sie ...

Die schönste Jahrmarktsprügelei – noch dazu unter Beteiligung dieses langen, schwarzen Frauenzimmers!

... »So 'n verrückter Bulle von Schmiedegesell! ... Fort mit ihm, in Arrest!« stieß Wejergang wütend hervor, als er sich in Sicherheit fühlte. »Da kannst du denn Nachdenken! ... Du bist durchaus nicht unentbehrlich, mein Freundchen!« fügte er kühl und überlegen hinzu. – Das schwarzäugige Mädel wird sich auch ohne dich auf dem Jahrmärkte amüsieren!«

Kaum waren die Worte gesprochen, da hatte Nikolai sich losgerissen. Er schwang sein Bündel mit dem Kästchen darin, daß ihm niemand nahen konnte, und warf sich blitzschnell auf Wejergang, indem er zwischen den Zähnen hervorzischte:

»Das sollst du zum letztenmal in deinem Leben gesagt haben!«

Die eine Hand tastete nach Wejergangs Brust, die andere versetzte ihm mit voller Wucht einen solchen Schlag mit dem Kasten, daß er in den Schnee fiel!

Er erhob sich nicht wieder ... rührte sich nicht.

Im Publikum entstand Lärm und Geschrei.

Einzelne brüllten: »Mord!« Andere riefen nach einein Arzte ...

Während dieses ganzen Vorganges lärmte und tobte die Musik von drei Seiten.

Ein höherer Polizeibeamter versuchte, Ruhe zu schaffen, und hilfsbereite Hände trugen den Bewußtlosen zu einem Schlitten hinaus und fuhren ihn zum Krankenhaus.

Die ganze Wut und Empörung des Publikums wandte sich nunmehr gegen den Übeltäter, der unter großem Geleite hinausgeführt wurde.

Zur Sicherheit wurde er draußen vor der Tür an Händen und Füßen in Eisen gelegt, was unter allgemeiner Beteiligung des Straßenpublikums vor sich ging.

Aber als sie Miene machten, ihn in einen Schlitten zu schleppen, warf das Mädchen sich mit solcher Gewalt über ihn, daß es unmöglich war, sie von ihm loszureißen. Zum größten Gaudium der Straßenjugend fuhr sie fort, zu schreien und sich an ihn zu klammern, noch als sie ihn auf den Schlitten gebracht hatten.

Es war der Polizei unmöglich, von der Stelle zu kommen, so energisch man auch an ihr riß und zerrte ... Ja, jetzt zerriß ihr Zeug!

Die Zungen johlten.

... »Nur zu! – Reißt – reißt nur die Kleider vom Leibe!«

»Mädchen, so nimm doch Vernunft an!« mahnte einer der Konstabler.

... »Ihr dürft ihn nicht mitnehmen! ... Ihr dürft nicht!« ...

Sie riß und arbeitete an seinen Handschellen.

»Ich habe ja die Schuld! ... Kannst du ihnen das nicht sagen, Nikolai!« schrie sie schrill – und die Konstabler benutzten den Augenblick, ihre Hände loszureißen ...

Fort fuhr der Schlitten, Silla ohne Kopftuch hinterdrein, gefolgt von dem Knabenschwarm.

Sie sah, wie die Tür der Polizeistation sich hinter ihm schloß, ohne daß sie ihn erreichen oder es verhindern konnte.

Stunde auf Stunde verrann, während sie wartend und horchend draußen auf und ab ging, und die Konstabler bedeuteten ihr wieder und wieder, sie solle nach Hause gehen.

Als sie dann schließlich sich verzweifelt auf den Heimweg machte, blieb sie immerfort stehen; und oben, auf der Brücke über dem Fluß, verweilte sie lange ...

Dort unten im Dunkel donnerte es so seltsam ... so, als gehöre sie dorthin! ...

Die Nacht über wurde sie die Gedanken an das Geschehene nicht los, und sie lag und wand sich in unsäglicher Angst, wenn sie die Tragweite von Nikolais Tat überdachte.

Ab und zu entrang sich ein dumpfes Stöhnen, ein gequälter Seufzer ihrer Brust ...

Wenn er sie nur noch liebte! ... Wie lieb und mild hatte er zu ihr gesagt – zweimal hatte er es gesagt: »Geh nur heim, Silla!« ... Sie mußte weinen, wenn sie daran dachte.

Hatte sie früher gewußt und verstanden, was es heißt, jemand lieb zu haben? – Und jetzt war es vielleicht zu spät!

Dieser Gedanke peitschte sie wieder in wilde Angst hinein, und Bilder des Wahnsinns wuchsen aus dem Dunkel hervor ... Wejergang umsinkend und im Schnee ausgestreckt ... schließlich Nikolais Arme, die mit ihren Handeisen aus dem Strome bei der Fabrik herausragten! –

Den ganzen Tag brütete sie vor sich hin, bis es dämmerte.

Ihre Unruhe trieb sie zur Polizeistation hinab.

Es brannte schon Licht in den Gängen, und so viele Türen waren da, durch die kräftige Männer in Uniform aus- und eingingen. An den Eingängen standen Leute und warteten ...

Sie konnte sich kein Herz fassen, zu fragen.

Ohne Rast und Ruhe ging sie lange in dem dichten Schneegestöber rings um das Gebäude herum.

Schließlich konnte sie nicht anders: sie mußte hinein – und in einem Zustande, der sie unempfänglich für die Umgebung machte, blieb sie, in Schnee gehüllt, vor der Tür stehen, die zu den Arrestlokalen führte.

Als diese sich endlich öffnete, wollte sie hinein.

»Was gibt's?«

»Ich möchte mich nach Nikolai erkundigen.«

»Nikolai? – was für ein Nikolai?«

»Der heute nacht eingeliefert ist.«

»Bist du toll, Mädchen? ... Der Mörder! ... Bist du seine Schwester?« ...

»Nein.«

»Das ist dein Glück! – Der ruchlose Kerl hat nicht mehr lange zu leben« – er machte eine bezeichnende Bewegung mit der Hand an den Hals – »der andere ist gestorben, der ihm unter die Finger kam – heute mittag, und der Mörder sitzt jetzt hinter Schloß und Riegel!«

Wie es kam, daß die Tür sich wieder vor ihr schloß, wußte sie nicht, wußte nichts von dem Schnee, der so dicht und still herabfiel, nichts von den Lichtern, die durch den Flockenschleier den Weg hinauf leuchteten – wußte nicht, wie sie wieder auf die Brücke gekommen war.

Dort in der Tiefe saß Nikolai mit seinem Handeisen und streckte die Arme empor – und schrie ... schrie nach ihr! –

Am folgenden Morgen ragte der Zipfel eines Kleides aus dem lockeren Schlappschnee am Teichrande hervor. Der Kopf war bei dem hohen Sturz von der Brücke an der Eiskruste zerschellt. –

Es war festgestellt, daß der Tod des jungen Wejergang unmittelbar durch den ihm zugefügten Schlag verursacht war, der das Gehirn verletzt hatte.

Und durch Nikolais Benehmen vor Gericht wurde der Eindruck nicht günstiger. Unbändigen Kummer um Sillas Tod in der Seele sagte er, wenn Wejergang sieben Leben gehabt hätte, würde er ihn siebenmal erschlagen haben.

Nach seinen Eltern gefragt, wollte er sie erst nicht gekannt haben; aber als sie in ihn drangen, schrie er, indem er auf eine beleibte Frau wies, die hinten auf einer Bank saß und weinte:

»Barbro heißt sie ... Sie soll meine Mutter sein ... aber, der mir mein Glück raubte, erhielt die Liebe und die Muttermilch von ihr!« –

Barbro jammerte.

Sein Vater? – Das konnte die ganze Stadt sein! – Er hielt Umschau unter den Männern des Gerichts.

Das waren Antworten, die durchaus die Ansicht bekräftigten, die übrigens in dieser Aufsehen erregenden, grausigen Mordsache auch von Anbeginn an diejenige des Publikums gewesen war, – daß hier eine freche, in der Hefe der Stadtbevölkerung schon zeitig verderbte Verbrechernatur vor den Schranken des Gerichts stand!

Die Polizei selbst hatte den Angeklagten noch in ziemlich guter Erinnerung als einen gewalttätigen Menschen.

Erst vor einem Jahre hatte er – nach der Auffassung der Zeugen – Olaves mit Totschlag bedroht; und ebenso ging aus der Verhandlung hervor, daß er dem Verstorbenen an dem fraglichen Abend unermüdlich nachgestellt und unmittelbar vor der Tat seine mörderische Absicht in der Drohung geäußert habe: »Das sollst du zum letzten Male gesagt haben!«

Ein mildernder Umstand war unbestreitbar darin zu erblicken, daß eine Liebesgeschichte im Spiele und die Handlung scheinbar aus Eifersucht geschehen war. Andererseits wurde man sich klar darüber, daß sie auch als Äußerung eines alten, schon aus der Kinderzeit stammenden Hasses betrachtet werden konnte.

Das Urteil lautete auf lebenslängliche Zwangsarbeit.

*

Unten im Wallgraben schossen Soldaten nach Scheiben ... piffpaff! ... weiter hinten auf dem Festungsplatze exerzierte ein Trupp, und ab und zu hallte ein Hornsignal durch den stillen Vormittag ...

Unter der Aufsicht von Gefängniswärtern wurde eine Abteilung gefesselter Sträflinge den Wall entlang zum inneren Gefängnishofe geführt; bei jedem Schritte rasselten ihre Eisen und weckten den Widerhall.

An einem kleinen Loch in der Mauer verlangsamte der letzte der Gefangenen den Schritt. Er warf einen langen Blick durch die Öffnung.

Der Fjord schimmerte blau in der Ferne mit zahlreichen weißen Seglern und einem Dampfer, der, eine dicke Rauchfahne hinter sich herziehend, dem offenen Meere zustrebte ...

Er holte tief Atem; die Nasenflügel weiteten sich, und das breite Gesicht verriet wilde Erregung.

Die anderen waren schon fünf, sechs Schritte weiter, und der Aufseher brüllte nach Nummer sechsundsechzig und brummte mürrisch:

»Du gäbst was darum, jetzt rauszukommen, Nikolai?«

»Ich denke, das liegt uns allen im Blute«, entgegnete dieser schroff.

»Dann solltest du dich auch so führen, daß du Begnadigung erwarten könntest!«

Nikolai schüttelte verbittert den Kopf; es zuckte ein Blitz in seinen grauen Augen:

»Käme ich raus, käme ich bloß wieder rein ... Denn, die Welt oder ich – einer von beiden gehört ins Zuchthaus ... und so wird's wohl mit mir dabei bleiben!« ...

Und die Eisen klirrten weiter ...


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