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II.

Es ist in gewisser Weise ganz gut, daß der, der es in seiner ersten Lebenszeit schlecht hatte und vernachlässigt wurde, sich daran nicht erinnert – wenngleich vielleicht doch etwas hängen bleibt!

Wenigstens behauptete das Madam Holman. Sie konnte vom ersten Tage an, da sie den Knaben ins Haus nahm, ganz deutlich merken, daß er in einer richtigen Gaunerhöhle aufgezogen war! Seine Augen waren so klug und scharf, und er konnte so listig, verschlagen und trotzig sein – schon lange bevor er zu sprechen imstande war! Sie behauptete, er sei geradezu boshaft: ganz dösig und ruhig, bis sie gerade eingeschlafen wäre; aber dann finge er an zu brüllen wie ein Nachtwächter.

Aber das sahen ja nun alle ein, die Blockmachers auch nur oberflächlich kannten: wenn sie auch nicht so ganz einen Glücksgriff mit dem Jungen getan hatten, er hatte doch auf alle Fälle Glück gehabt, daß sein Weg ihn zu ihnen geführt hatte. Darüber war nur eine Stimme und eine Meinung, eine wie ordentliche und pflichttreue Frau die Blockmachersgattin war. Hoch gewachsen war sie, dürr und sauber durch und durch; schon das lederfarbene Gesicht mit den wasserblauen, temperamentlosen Augen bewies, daß sie nicht danach geschaffen war, sich zu unbesonnener Heftigkeit hinreißen zu lassen.

Und die paar Male, die Barbro jährlich den Jungen besuchte – es war für sie jetzt nicht mehr so leicht fortzukommen, da Wejergangs das ganze Jahr draußen auf dem Lande wohnten –, konnte sie sich selbst zur Genüge überzeugen, wie nett und sauber und akkurat er gehalten wurde. Von dem Augenblick an, wo sie kam, bis sie wieder ging, redete Frau Holman ihr ins Gewissen, wie schwierig es sei, die Klempnerbeulen, all das, was von Anfang an in unverantwortlicher Weise verdorben war, wieder auszuglätten ... vor allem dieser Trotz! Er konnte – wahr und wahrhaftig! – ein ganz langes Stück laufen; aber nein: krabbeln – immer nur krabbeln wollte er! und natürlich, wenn sie nur einen Augenblick die Augen abwandte, saß er mal hier, mal da, bald am Kessel und den Schüsseln, bald am Eimer; oder er machte sich auch an den Gewichten der Uhr zu schaffen. Und alles riß er herunter und warf es um – und vollschmieren tat er sich, wohin er kam; – gestern schwamm das ganze Katzenfutter auf dem Fußboden! Deshalb hatte sie jetzt die Rute tiefer gehängt, damit er die stets vor Augen hätte. Denn der nötige Schreck mußte ihm eingejagt werden, und Achtsamkeit und Strafen gehörten, weiß Gott, dazu. Und Barbro wisse wohl selbst, daß es keine Kleinigkeit sei, anderer Leute Kinder zu warten – zumal bei so einem Kuckuckskinde, das aus solche Weise zur Welt gekommen sei! ...

Barbro mußte ihr von A bis Z recht geben ... es stimmte, wie sehr auch die Worte sie peinigten und sie deshalb antrieben, möglichst schnell wieder fortzukommen.

– Dieser widerspenstige Sinn blieb während der ganzen Erziehung in dem Bengel stecken. Er war nicht auszutreiben trotz der Arbeit der Blockmachersfrau und trotz der Hilfe, die der Blockmacher selbst mitunter leistete! Dies geschah freilich immer erst, wenn sie ihm die moralische Notwendigkeit vordemonstriert hatte, diesen seinen Anteil an den häuslichen Pflichten zu übernehmen.

Der Blockmacher war ein schweigsamer Mann mit einem paar stiller, blanker Augen. Er ging und kam morgens und abends, wusch und putzte sich und stand, ehe er eintrat, mit diesem oder jenem Gerät oder einem Sturzblock in der Hand, zögernd an der Tür. was er etwa von seiner Ehe denken mochte, war ihm äußerlich schlecht anzusehen. Eins war sicher: – eine Frau wie Madam Holman war ein Schatz, über allen Preis erhaben; ja, wurde er auch, mit Respekt zu sagen, so etwas wie eine Schlafmütze, so sah doch jeder ein, daß es in dieser Ehe so sein mußte, wenn das Gleichgewicht nicht gestört werden sollte.

Um so auffallender war es, daß er dann und wann an der Haustür in einem unzurechnungsfähigen Zustande angetroffen wurde, wie man ihn bei einem so glücklich verheirateten Manne eigentlich nicht erwarten sollte.

Nachdem das Wunder geschehen war, daß die Frau selbst ein kleines Mädchen bekommen hatte – nach dieser großen, einschneidenden Veränderung im Hause wurde es ja erwogen, ob es nicht das beste wäre, die Wohnung von fremdem Nachwuchs zu säubern. Aber teils war es doch ein gutes, sicheres Geld, teils konnte sie ihn mit der Zeit an der Wiege gebrauchen.

Es war die leichteste Arbeit in der Welt! ... sitzen und den Wiegengängel treten – wie geschaffen für einen kleinen Jungen ... nichts weiter als eine Übung für ihn.

Aber auch in diesem Punkte sollte sie traurige Erfahrungen machen! Er saß an der Wiege, wenn sie ausging; aber wenn sie heimkam, stand er im Fenster oder oben auf der Kellertreppe und glotzte und gaffte nach den Kindern, die draußen auf dem Platze spielten. Ja, sie ertappte ihn sogar ganz draußen – die Tür offen! Ihm war alles gleichgültig, wenn er nur aus dem Keller heraus und von seiner Pflicht fortkommen konnte!

Na, der Taugenichts mußte auch dafür büßen – alles, was auf seinen sündigen Rücken draufgehen wollte!

Und dem Mädchen, das den Kopf hereinsteckte, um zu hören, was der kleine Schelm wieder ausgefressen hätte, daß er so fürchterlich brüllte, versicherte sie obendrein, daß alle ihre Strafen und alles, was sie schon versucht hätte – kein Abendessen und Einsperren –, daß alles umsonst sei: er war und blieb trotzig und unzuverlässig!

Jetzt hatte sie ihn damit bange gemacht, daß der Teufel in der Ecke hinter dem Bette säße und aufpaßte, ob er die Wiege losließe!

Er war vor Angst außer sich und glaubte immerfort, der unheimliche Böse strecke den Kopf hinter dem Kopfkissen in Frau Holmans Bett hervor. Zwischendurch konnte er es trotzdem nicht unterlassen, dann und wann einmal zum Fenster hinzuschielen; – draußen auf dem Platze spielten sie. Und – wie es nun kam: plötzlich stand er dort, bis ihm wieder einfiel, was hinter ihm seiner harrte. Dann schoß er wie ein Pfeil wieder an seinen Platz, saß da und starrte in Todesangst in die Ecke.

Von seiner nützlichen Tätigkeit an der Wiege avancierte Nikolai im Laufe der Jahre zu der ebenso nützlichen, die kleine Ursilla draußen vor der Kellertreppe zu behüten. Ein Schritt zu weit – bis zu den Bäumen etwa, drüben auf der anderen Straßenseite – war ein todeswürdiges Verbrechen. Das Bewußtsein dafür, was es heißt, die Grenzen zu überschreiten, war ihm mit aller Macht eingebleut. Wie sollte sie sonst wohl sicher sein, daß er Silla nicht bis zum Becken am Springbrunnen laufen ließ, wo alle die wilden Straßenjungen mit Schissen spielten und schrien und lärmten? Für jedes Mal, wo er der Versuchung erlegen war, hatte sein sündiger Leib so viel blaue und gelbe Striemen bekommen, daß schließlich die Grenze in seiner Angst wie ein unsichtbares Eisengitter vor seinem Instinkt stand. Eines Fußes Breite darüber hinaus galt seiner Phantasie als die schwärzeste Untat, als ein Verbrechen, das schwerste Vergeltung über ihn herausbeschwor.

Daß Silla ein ungewöhnliches, ein außerordentliches Wesen war, sozusagen ein Wesen höherer Art – das hatte er auf so mancherlei Weise eingeprägt bekommen, daß dieser Satz ihm über allem Zweifel erhaben feststand.

Trotz all der Leiden, die er um ihretwillen ertragen hatte oder – ein sonderbarer Widerspruch! – gerade wegen der Opfer, die er ihr gebracht hatte, war das Gefühl, daß die Fürsorge für sie seine Pflicht sei, höchst entwickelt bei ihm. Er bewunderte sie unbedingt – mit ihrer blauen Schleife und einer alten, roten Stoffrose auf dem Hute fand er sie mehr als bewunderungswürdig! – und er unterwarf sich einem Eigensinn, der ebenso despotisch war wie jener der Blockmachersfrau selbst, wenn er lange genug dagesessen und sich Sand in die Haare hatte werfen lassen, verlangte sie, er solle ihr Schuh und Strümpfe ausziehen. Tat er's, so bekam er Prügel; tat er's nicht, so fing sie an zu schreien, und er kriegte auch Prügel!

Die Unsicherheit war sozusagen der Erdboden, aus dem er lebte, und die Art und Weise, wie er gleichsam gewohnheitsmäßig hastig und scheu nach dem Kellereingang hinblickte – selbst dann, wenn sein oft schuldbeladenes Gewissen sich völlig rein fühlte –, war nur die Frucht täglicher Erfahrungen.

Man könne ihm schon von weitem das böse Gewissen ansehen, sagte Frau Holman; und das stimmte; – der rasch spähende Aufschlag der grauen Augen suchte immer zu erforschen, welcher Sünden er sich nun wieder schuldig gemacht hatte.

Man hatte sich im Hause an das ewige Schreien und Heulen des nichtsnutzigen Jungen gewöhnt, wie man sich an das Üben auf dem Klavier oder an das Brausen einer Fabrik gewöhnt, tröstete sich vielleicht auch damit, daß es ganz gut sei, wenn ein moralisch so verdorbenes Kind in Zucht und Lehre käme.

Wenn der Nikolai und die Silla sich wie gewöhnlich aus dem Bürgersteige vor der Kellertreppe umhertrieben, nickten die Hausbewohner dem Mädel wohl freundlich zu. Nikolai auf diese Weise aufzumuntern, würde fehlerhaft gewesen sein.

Maren, die Köchin, die am letzten Ziehtag oben im Hause in Dienst getreten war, hatte natürlich noch keine Ahnung von dem strengen, rechtlichen Charakter der Blockmachersfrau und war gewiß wegen eines Vorfalls zu entschuldigen: Eines Abends ging sie, ein Licht in der Hand, in den Keller hinab, um Kohlen und Brennholz zu holen – wie gewöhnlich auf der Treppe unter der Last des Eimers schnaufend und prustend; sie knickte infolge ihrer Gicht in beiden Hüften ein und schwankte wie ein Bootsmast bei unruhigem Wetter von einer Seite zur andern.

Vom Holzverschlage aus hörte sie plötzlich etwas wie ein Jammern weiter drinnen im Dunkel. Es war, als ob jemand seufzte und weinte und zwischendurch in tiefen Zügen krampfhaft schluchzte, ohne einen Laut herausbringen zu können!

Die Stimme klang so trostlos verzweifelt, daß Maren aufhörte, Holz in ihre Schürze zu packen, und lauschend am Hackeklotz stehen blieb ... Es schien aus einem der Kohlenkeller drinnen in dem dunklen Gange zu kommen. Schließlich nahm sie das Licht und tastete sich vorwärts; sie mußte sich Klarheit verschaffen, was das war!

»Ist da jemand?« rief sie an der Tür, hinter der das Schluchzen hervordrang.

Es wurde plötzlich vollkommen still.

Sie klopfte mit einem Holzklotze dagegen; aber da erscholl drinnen ein solcher Angstschrei, daß Maren aus ihrer Schürze das Holz zu Boden warf und die Haspe herausriß, die mit einem Pflock verschlossen war.

»Wer hat denn den armen Jungen hier eingesperrt? – in solcher Kälte und Finsternis!«

Nikolai starrte sie im Lichtschimmer mit wild verzerrtem Gesichte an.

»Ich dachte, der Teufel ... ich ... der Teufel klopft an die Wand! ... ja, er ...«

»Junge, red' doch nicht! Man verliert ja den Verstand vor Angst, wenn du so was sagst!«

»Frau Holman hat's gesagt!« – und mit einem kurzen, forschenden Blick auf Maren fügte er hinzu: »Aber ich glaube, sie sagt's nur, damit ich nicht an ihren Zucker gehe?«

»Haben sie dich deshalb hierher gebracht?«

»Ich habe ihr keinen weggenommen! aber wenn sie's sagt, muß ich welchen genommen haben, ob ich's tue oder nicht! – Bloß, weil ich die Zunge in die Düte gesteckt und ein bißchen geschleckt habe, als ich letzten Montag ein halbes Pfund holen sollte. Aber jetzt will ich naschen, daß sie nur die leere Düte übrig behält! ... alles nehm' ich! ... stehlen will ich!« – kam es zähneknirschend. – »Nein – nicht weggehen!« jammerte er und hängte sich an ihre Röcke; – »wenn's dunkel wird, kommt er und packt mich mit seinen Klauen!«

Was sollte Maren tun? Sie wußte sich keinen Rat; sie konnte doch den armen, verängstigten Schlucker nicht da im Kohlenkeller stehen lassen! Und die Augen vor ihrem eigenen Entschluß schließend, brach sie aus:

»Dann muß du mit mir in die Küche 'raufkommen und heute nacht da auf der Bank schlafen!«

Dieses Mal erwog Nikolai die verschiedenen Wahrscheinlichkeiten, was die Blockmachersfrau sagen oder tun würde, nicht; er klammerte sich nur noch fester an den Rock. Und den Knaben dicht hinter sich im Kielwasser, wackelte Maren die Küchentreppe wieder hinauf.

Während sie einige von ihren alten Tüchern und Unterröcken zusammensuchte, um ihn hineinzuwickeln, auch aus ihrer eigenen Bettstelle allerlei Entbehrliches herbeischleppte und es so schön und warm, wie es ging, auf der Küchenbank zurecht machte, schien Nikolai seine Widerwärtigkeiten vergessen zu haben.

Auch Maren war endlich nach all dem Ziehen und Reißen, das ihr die Gicht jeden Abend vor dem Einschlafen in ihren ermüdeten Hüften bereitete, eingeschlummert. Sie erwachte von einem wilden Schrei.

»Was gibt's – was ist los? Nikolai! ... Nikolai!« Sie entzündete den Lichtstumpf. Da saß er und hielt die Arme schützend über sich.

»Sie reißen mir den Kopf ab!« erklärte er, als er endlich zu sich gekommen war.

Als Maren sich wieder niedergelegt hatte, wurde es ihr so recht klar, wie gut es war, daß sie für kein Kind zu sorgen hatte. Jeder hat sein Päcklein zu tragen, und sie hatte nun diese Gicht ...

Aber am Morgen entlud sich ein tüchtiger Orkan über sie, als Madam Holman sie in Anwesenheit der Mädchen aus dem ersten und zweiten Stock auf der Küchentreppe zur Rede stellte, weshalb sie ihre Nase in Dinge steckte, die sie nichts angingen! Es wurde ihr ein für allemal Bescheid gegeben, weshalb Madam ihn eingesperrt hätte, und was sie tagtäglich mit dem Bengel durchzumachen hätten, so daß Maren ganz kleinlaut wurde. Das könne Madam Holman, bei Gott! wohl von sich sagen: wäre jemand im Hause, der Unordnung und ungehöriges Betragen nicht dulde, so sei sie es! Lieber züchtige sie darauflos, als daß ihr nachgesagt werden könne, sie ziehe unter ihren Augen Schande und Verworfenheit groß!

Aber wenn Maren abends beim Scheine ihres Lichtes unten auf dem Hackeklotz saß und den Jungen drinnen bei Blockmachers schreien hörte, vermochte sie nicht eher hinauszugehen, als bis das Schlimmste überstanden war. Sie meinte, sie hätte nie etwas so Herzzerbrechendes gehört – und wenn es auch um der Gerechtigkeit willen war!

Oben bei Maren fand er denn auch eine Art Nothafen. Da saß er still wie eine Maus in der Ecke beim Brennholzkasten und schnitzte sich Boote, die er unter der Bluse verbarg, wenn er das Essen zu Holman in die Werkstatt an den Kai hinuntertrug.

Indessen würde die Annahme, Nikolais ganzes Dasein spiele sich im Kohlenkeller ab oder unter den Schlägen von Madam Holmans lockeren Händen, übertrieben sein. Er hatte auch seine lichten Stunden, wo die Blockmachersfrau von Lobeshymnen überströmte, wenn auch nicht gerade auf ihn, so doch auf all das, was sie durch ihr unermüdliches Bestreben zu seiner moralischen Besserung ausgerichtet hatte.

Das geschah alljährlich zweimal – an den Tagen, wo sie das Geld für ihn in der Stadt aus dem Kontor des Generalkonsuls abholte. Dann pflegte Nikolai auch die Erlaubnis zu bekommen, mit dem Küchenwagen, der vormittags die Einkäufe besorgte, aufs Gut mit hinausfahren zu dürfen.

Und da saß er denn aus dem Wagen, der des Weges dahinrasselte, feingemacht, sauber und rein, die Haare glatt gekämmt, Gesicht und Körper blank gescheuert wie ein Kupferkessel, der mit Sand und Lauge bearbeitet ist. Stillsitzen konnte er keinen Augenblick; er schwatzte und stellte unaufhörlich Fragen über das Pferd – dieses braune, merkwürdige Pferd! –, ob es ihr bestes oder ihr zweitbestes sei, ob es die Eisenbahn einholen könne oder wen oder was es einholen könne ...

So schwenkte der Wagen, – ach! nur allzu früh! – auf den Hof vor der Küchentüre ein, und er wurde vom Diener durch den Gang ins Kinderzimmer geführt.

»Hast du dich auch abgetreten? ... So schlau hättest du auch sein können, Lars! daß du den Jungen nicht da herum hereinbrachtest ... so wie seine Stiefel aussehen!« Seine Mutter hob ihn auf einen Stuhl. Und dann bekam er Butterbrot, Kringel und Milch. Aber jetzt mußte er warten, bis sie wiederkam; sie hatte heute viel zu tun, da sie Lizzies und Ludwigs Zeug waschen mußte.

Diese beiden Altersgenossen kamen hereingestürmt. Er zog ein großes aufgezäumtes Pferd hinter sich her, sie trug zwei geputzte Puppen. Sie waren von der Gnädigen geschickt, um mit Nikolai zu spielen. Und bald ging's ringsherum im Kinderzimmer: hopp! hopp! hopp! ... immer im Galopp! – Nikolai zog, und Ludwig ritt, hopp! hopp! hüh! ... Und schließlich wollte auch Nikolai reiten; jetzt hatte er so lange gezogen! Aber Ludwig wollte nicht absteigen, und Nikolai ließ den Zügel fallen und riß ihn an den Beinen vom Pferde.

»Alter Straßenjunge – was fällt dir ein!«

»Straßenjunge? – Selber Straßenjunge!« Es endete damit, daß Nikolai aufs Bett sprang, hinter dem Ludwig sich jetzt verschanzte und heulte, während seine Schwester seine Partei ergriff und mit einstimmte.

»Aber Kinderlein! was ist denn los?« kam Barbro hereingestürzt. »Nikolai! schämst du dich nicht, dich so gegen die Kinder des Herrn Generalkonsuls zu benehmen! Nimm dich in acht, sage ich dir! – Nur ruhig, Ludwig! – so, so, Lizzie! – er tut euch nichts! – Hörst du, Nikolai! immer hübsch tun, was sie wollen!« ...

Und nun fing Barbro ein Gejammer über Ludwigs gestärkten Kragen an, der ganz zerknittert war. »Komm mal her, mein Purzelchen! so – komm her, gleich kannst du wieder spielen!«

Sie nahm ihn auf den Schoß ... »Bist ja mein kleiner Purzel, so 'n lieber Junge! – So, so. – Nikolai! halt seine Bluse! – sieh mal, wie zart er ist; er schimmert ordentlich! und so 'n lieber Junge, so lieb!«

»Zeig' ihm mein Sonntagszeug, Barbro, und meine Lackschuhe! ...« und Nikolai durfte, in der Kommode, alle die Kleider und Schärpen und das feine Unterzeug Ludwigs und Lizzies sehen und in den Spielzeugschrank gucken, wo sein staunendes Auge alte Trommeln und Trompeten, entseelte, kopflose Männer und Pferde und Zinnsoldaten und eine Arche Noah mit Zubehör erschaute; und das hätten sie alles gekriegt, weil sie so hübsch artig wären – sagte Barbro.

Endlich schlug die Abschiedsstunde, da er in dem Cab mitfahren sollte, das um drei Uhr den Generalkonsul aus der Stadt abholte. Die beiden hingen an Barbros Schürze, als sie ihn hinausbegleitete.

»Leb' wohl, Nikolai!« sie streichelte ihm Kopf und Wangen auf eine Weise, daß er sie halb zweifelnd ansah – »und bestell' einen schönen Gruß an den Blockmacher und an Madam Holman. Hörst du, an Madam Holman auch – vergiß es nicht! ... und – nun trittst du ja schon wieder gegen den Lack! Sitz recht brav, den ganzen Weg! – Denkst du daran, Nikolai, daß man nicht mit den Stiefeln an die feinen Wagenkissen kommen darf? Du solltest nur einmal sehen, wenn Ludwig und Lizzie fahren – wie niedlich die dann sitzen – nicht wahr, Kinderlein?«

Und fort ging es!

War das ein Festtag gewesen! und einen großen Zuckerkringel hatte er mitbekommen, und der schmeckte so prächtig! Aber wie es nun kommen mochte, aus einmal fing er auf dem Heimwege an zu weinen.

Am Tage daraus erhielt er die Bestätigung dafür, wie herrlich er es hatte. Er schlenderte bei seiner täglichen Beschäftigung, Silla zu bewachen, aus dem Bürgersteige auf und ab. Dabei fing er Bruchstücke von den Erörterungen auf, die Madam Holman drinnen im Haustor der Haushälterin von oben zum besten gab; er verlor ihre hohe Gestalt nicht einen Augenblick aus den Augen.

»... Denken Sie nur, Jungfer Damm! Zu ihren eigenen Kindern haben sie ihn mit ins Zimmer genommen; viele vornehme Leute täten das nicht – mit so einem! –

Man muß mancherlei hier auf Erden durchmachen, Jungfer Damm! – wenn man den Gossenstein rein haben will, muß man ihn scheuern, wie es heißt ... und das darf ich wohl sagen: man sah es ihm an, daß er innen und außen anständig gehalten wird. – Denken Sie nur, die Ehre! als wenn er wie jedes achtbare Kind wäre, das sie eingeladen hätten. Sein Leben lang müßte er daran denken! – ... So herrlich, wie's ihr jetzt dort geht, hat sie wohl keine Lust, hierher zu kommen und sich zu dem Jungen zu bekennen, wenn man seine Schande nur bezahlen kann, ist ja weiter nichts dabei!«

Nikolai bearbeitete mit seinem Stiefelabsatz einen abgehauenen Hühnerkopf, der im Rinnstein lag, bis er flach war wie ein Schillingstück.

– – – Nachdem die Drohungen mit dem Butzemann und dem Teufel im Kohlenkeller abgenutzt waren, wurde eines von Madam Holmans kräftigsten Drohmitteln die Aussicht, ihn auf die Volksschule zu schicken – eine Einrichtung, die in ihrem Bewußtsein eine hohe Achtung genoß als öffentlich autorisierte Strafanstalt für die Jugend und als täglicher Exerzierplatz für die Tugend der Pflichterfüllung.

Was sich ereignen würde, wenn er in die Schule käme, davon bekam er nie einen klaren Begriff; aber daß es etwas ganz unsagbar Schreckliches sein mußte, ergab sich aus den immer wiederkehrenden versteckten Andeutungen und dem zurückhaltenden Stöhnen und Nicken, das sie begleitete.

Eines Tages schließlich wurde es Ernst. Es sollte am Montag sein!

Donnerstag, Freitag, Sonnabend und Sonntag – er zählte es an den Fingern ab – alle die Tage hatte er noch übrig ... Und wie bewachte er Silla während dieser Tage! wie paßte er auf sie! wie spielte er mit ihr! wie rannte er bei den Besorgungen pfeilgeschwind umher!

Endlich hatte er nur noch diesen einen Sonntagnachmittag.

Er saß mit Silla beim Vesperbrot und suchte aus ihren Ansichten von der Schule Trost zu schöpfen, hörte, daß er auch morgen seine Sonntagskleider anziehen sollte, weil es das erstemal wäre, und schlief in der Nacht, die Stirn in Schweiß gebadet.

Am Morgen hatte sich Nikolai indessen fortgeschlichen.

Es nutzte nichts, daß Madam Holman fragte und forschte und rief, mit vollen Händen Foltern und Vergebung gelobend, wenn er nur gleich wiederkäme; – er war verschwunden!

Unter Mittag wurde Maren oben davon überrascht, daß sie ihn aus ihrem Lagerbett hervorkriechen sah. Sie fütterte ihn gründlich und nahm ihm das feierliche Gelübde ab, daß er nach Hause gehen würde; – und das versprach Nikolai; aber erst mußte es dunkel geworden sein!

In der Abenddämmerung unternahm er einen kleinen Ausflug an den Kai hinab, vergnügte sich ein Stündchen damit, in einem Beiboote sich schaukeln zu lassen, schlich dann in dem naßfeuchten Oktoberdunkel durch die engen, vom Regen triefenden Gassen zwischen den Packhäusern umher, bis er sicher war, daß kein Licht mehr auf dem Platze war, und verbrachte endlich den Rest des Abends damit, dazuliegen und über die Bretter hin nach dem Lichtschein in den beiden Kellerfenstern zu Hause zu blicken. Er beobachtete, wie der Blockmacher vorsichtig nach Hause geschlichen kam und ein Weilchen vor der Tür stillstand, ehe er hinabstieg, und wie sie Silla ins Bett brachten. – Der Lichtschimmer der Fenster verkündete ihm, zwei glanzlosen, unbarmherzigen Augen gleich, daß, wenn er jetzt heimkehrte, die Stubenwände von einem wohlverdienten Strafgericht widerhallen würden!

Dann erlosch das Licht ...

In dem nächtlichen Sprühregen glitt der Schein einer Laterne zwischen den nassen Bretterhaufen umher, und hinter ihm lugten ein paar Augen hervor, die daran gewöhnt waren, im Finstern nach allerhand Leuten auszuschauen, die es für gut befanden, sich auf dem Lagerplatze zu verbergen. Das Licht wanderte dort zwischen den engen Reihen umher und hielt ab und zu still, während es seine forschenden rötlichen Strahlen so tief als möglich in das Bretterwerk eindringen ließ.

Es wurde in dieser Nacht niemand entdeckt. Unter den zahlreichen viereckigen Höhlen, die Obdach gewährten, hatte Nikolai mit einem gewissen angeborenen Instinkt die vorderste und am wenigsten verdächtige ausgewählt, eine, die halbfertig dastand mit einem Laufbrett schräg darüber. Da hockte er, in die tiefste Ecke eingekeilt, entschlummert im glückseligen Nirwana der Selbstvergessenheit, den Kopf vornüber auf die Knie gestützt, die Jacke der durchsickernden Tropfen wegen im Nacken hochgezogen und die Stiefel in dem feuchten Lehmboden – Schule und Blockmachersfrau vergessen! ...

Aber diese Nacht unter nassem Himmel mit Herrn Trondsens Planken als Bettpfosten erweckte etwas Neues in seinem Sinn: das Gefühl – Madam Holmans unermüdlicher Fürsorge gegenüber gewiß höchst undankbar! –, daß die Zimmerplätze seine eigentliche Heimat wären – gewissermaßen das Bewußtsein des Wilden, durch Selbsthilfe frei von alledem zu sein, in das man ihn sonst hineinzuzwängen für gut befand: die Schule nicht minder als Madam Holmans Kellerloch ... Das Holz der Bretter glänzte im Sonnenschein so weiß, und wenn sich die Dunkelheit herabsenkte, stand es da als ein oft erprobter, heimlicher Freund, der ihn vor dem schrecklichen Daheim bewahrte.

– Zur Schule kam er aber doch, und einer seiner ersten bescheiden forschenden Blicke galt dem Prügelbock, mit dem Madam Holman gedroht hatte. Er hatte sich vorgestellt, es ginge Schlag auf Schlag mit Rute und Rohr, unablässig, wie das Stampfen unten in der Zichorienfabrik am Platze.

Merkwürdigerweise fand sich ein solcher Bock nicht! Aber wohl gab's da andere Dinge, in die er wie der Leisten in den Stiefel hineingezwängt und gepreßt werden sollte; und er war ein harter Leisten, der manch liebes Mal nicht weiter als in den Schaft hinunter wollte; – so mußte er denn gehämmert und geklopft werden, wenn andere, die geschmeidiger waren, glatt wie die Aale hineinglitten.

Es gab Dinge, die er begriff, und solche, die er nicht begriff. Jene wurden ihm selten erklärt, diese verstand er nicht, und wenn sie noch so oft erklärt wurden. Das Resultat war ein peinliches Bewußtsein, eine ständige Differenz, ein Zukurzkommen dem Pensum und den Lehrern gegenüber, das mit Schlägen und Nachsitzen ausgeglichen werden mußte, wenn die Allgemeinheit – auch in diesem Punkte geschmeidiger – sich mit einer wahren Virtuosität aus der Klemme zog.

Aber was war ein ganzer, mit Widerwärtigkeiten bis zum Striche angefüllter Schultag im Vergleich zu den Abendstunden, in denen Madam Holman »mit eigenen Augen darüber wachte, daß er seine Schularbeiten anfertigte«, und er kaum zu Silla hinüberzuschielen wagte! ...

Was Holman angeht, so hatte die Erfahrung seine steifen, starren Blicke gelehrt, nichts zu sehen: er saß den Abend lang still und stumm. In Madam Selvigs Schenkstube fand er das Mittel, das ihn gegen jede Moralpredigt, war sie auch noch so begründet und eindringlich, unempfindlich machte. Dort erschien er Tag für Tag eine Viertelstunde nach Feierabend, pünktlich wie ein Uhrwerk, und wenn die Uhr zu ihren acht Schlägen ausholte, trollte er sich ebenso pünktlich heimwärts, eine Genauigkeit, die ihm – nebenbei gesagt – in der Schenkstube den Namen »Ordnungsgeneral« eingetragen hatte.


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