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III.

War eine gefährliche Ecke, wo die große, breite Straße zur Lateinschule die schmale kreuzte, die zur Volksschule führte; und an den Tagen, wo zufällig der Nachmittagsunterricht in der letzteren just dann begann, wenn die Lateinschule ihren langen Vormittag beschlossen hatte, konnte es sich ereignen, daß die losgelassene übersprudelnde Laune derer, die aus der Schule kamen, mit der finsteren und bitteren Laune derer zusammenstieß, die gerade hingehen sollten.

Mit einem seinen Seehundsranzen aus dem Rücken war Ludwig Wejergang nun bereits mehrere Jahre diesen Weg tagaus, tagein einhergetrabt. wegen seines kleinen Kopfes mit der Vogelnase, seines langen Halses, seines haarlosen Nackens und seines Ganges hatten sie ihm den Spitznamen »Vogel Strauß« gegeben, wenn er Nikolai traf, tat er, als kenne er ihn nicht, und Nikolai seinerseits pfiff und klapperte mit seinen Holzschuhen vorüber.

In dem Rinnstein entlang ging die neue Schlitterbahn der Volksschüler noch ein gutes Stück in die Lateinschulstraße hinein. Eine Woche lang hatten zahlreiche Füße gemeinschaftlich daran gearbeitet, und der Zufall wollte es, daß Nikolai an der Spitze einer langen Reihe von Kameraden schreiend und johlend gerade in dem Augenblick auf ihr angeschlittert kam, als Ludwig Wejergang mit einigen Begleitern um die Ecke bog. Der junge Wejergang bekam einen Stoß, so daß sein Lederkasten zu Boden fiel und die Federn, Bleistifte und Halter über die Erde hin verstreut wurden.

»Alter Flegel! nimm es auf!« schrie er Nikolai zu, der ihn angerannt hatte. »Ich werde es zu Hause sagen ... darauf kannst du dich verlassen! Nimm's sofort auf, oder ...«

Als Antwort flogen ihm ein paar lockere Schneeklumpen, von einem Fußtritte herrührend, entgegen.

»Ich will dich schon klein kriegen, wenn dich danach verlangt! Heute noch werde ich's Vater sagen, daß du der Anführer des Straßenpöbels hier in der Stadt bist – und wenn's keiner deiner Mutter sagen will, dann tu ich's, und wenn sie noch so toll jault und heult!«

»Soll ich dir deinen Straußenschnabel umdrehen?«

»Versuch's nur mal! – Du weißt wohl nicht, daß wir für dich beim Blockmacher bezahlen? Aber ich werde schon dafür sorgen, daß er dir dein Fell in Fetzen gerbt, bis du um Verzeihung bittest! – So einer, der nicht einmal weiß, wer sein Vater ist ... und dessen Mutter immer bloß wünscht, daß er nicht existiert!«

Kaum war das letzte Wort aus seinem Munde, da stürzte sich Nikolai mit ein paar Fäusten wie Eisenhammer auf ihn und drosch in wenigen, knappen Sekunden jegliche Spur von Geburts- oder Standesunterschied fort ... Da solle er »seinen Vater und seine Mutter« zu fühlen kriegen!

Es wurde einer der denkwürdigen und berühmten Tage der Volksschule, an dem Ludwig Wejergangs Straußennase im Schnee zur Ader gelassen wurde; und zwei oder drei Schulklassen von interessierten Zuschauern standen noch am folgenden Mittag und suchten die Spuren der roten Blutflecken in dem Schneehaufen am Laternenpfahle.

Nikolai selbst aber ging auf dem Heimwege immer langsamer. Der Gedanke, was seiner harrte, beschwerte ihm die Füße immer mehr; und als er sich schließlich von seinem letzten Kameraden trennte, machte er plötzlich halt und bog bei dem Höker um die Ecke, wo der Weg von Haus fort und nicht heimführte ...

*

Dies sei nun die dritte Nacht, wo Nikolai nicht zu Hause gewesen, erklärte Madam Holman draußen dem Konstabler; – und es sei nicht zu verwundern, wenn er verdienten Lohn erwarte und den Rücken schon jucken fühle ... Sich an vornehmer Leute Kind zu vergreifen! – und noch dazu an Konsul Wejergangs, seines eignen Wohltäters Sohn!

Aber wo konnte er stecken? Auf dem Lagerplatze konnte er es in dieser Jahreszeit sicher nicht aushalten. Da konnte er nicht sein ...

In der Nacht dämmerte es Holman durch seinen Rausch, daß mit Nikolai etwas nicht in Ordnung sei. Er hörte im Bette, wie es draußen im Tauwetter ... platsch! ... platsch! tropfte und tropfte! Es klang wie eine Melodie: Ni ... ko ... lai, Ni ... ko ... lai ...

Er verzichtete gern auf diesen Gruß von draußen! ...

Mit kräftigem Ruck setzte er sich aufrecht. Sollte Nikolai vielleicht auf dem Bodenverschlag über der Wagenremise unter dem alten Wagenverdeck hausen, das da zerfetzt und verschimmelt stand, mit der Öffnung gegen die Wand gelehnt?

Mit dieser Erleuchtung fuhr er aus den Kissen.

Nikolai spürte die Faust des Blockmachers nicht; er schlief noch immer glücklich, während er am Rockkragen emporgehoben wurde.

Erst als er aufrecht auf beiden Füßen stand, erfaßte er die Situation, warf sich zu Boden und strampelte und trat um sich und schrie. Nach Hause wollte er nicht, lieber sollten sie ihn umbringen! ... ihm den Kopf abreißen!

Seine Hufeisen ließen nur zu deutlich fühlen, daß es ihm Ernst damit war; er war rein von Sinnen.

Hätte er ihn nur erst innerhalb seiner vier Wände, dann sollte der Rohrstock schon tanzen! – Der Blockmacher war in die fürchterlichste Wut geraten.

Madam Holman wartete mit der Lampe in der Tür. Beim Lichtschein sah sie ein grauweißes Gesicht, die Augen starr auf sie gerichtet, während es unablässig schrie: »Herein bringt ihr mich nicht ... Bin ich aus der Straße geboren, kann ich auch aus der Straße bleiben!«

Noch einen kurzen, wilden Blick aus den grauen, trotzigen Augen empfing Frau Holman – und fort war er! den Händen des Blockmachers entschlüpft – zur Tür hinaus.

*

Die Schläge aus Ludwigs Nase hatten Barbro mitten ins Herz getroffen. Aber als sie hörte, daß Nikolai von Blockmachers ausgerissen wäre und die Rede davon sei, ihn auf eine Anstalt für moralisch verwahrloste Kinder zu bringen, gab's nur ein Heulen und Klagen. Sie habe Schande genug von dem Jungen gehabt, und dieses könne sie nicht überleben! Die Gnädige müsse es verhindern! ... Sie sei sich bewußt, alle diese Jahre über ihre Pflicht und mehr als ihre Pflicht getan zu haben – die ganze, lange Zeit, wo sie Ludwigs und Lizzies Kindermädchen gewesen sei; dies aber könne sie nicht ertragen! ... dies müsse die Gnädige verhindern, sonst wisse sie nicht, was sie tue oder was daraus werden solle; sie sei imstande, nicht länger zu bleiben! ...

Barbro saß im Kinderzimmer und seufzte und weinte, daß die anderen kaum hineinzugehen wagten.

Solche Anfälle pflegten höchstens einen Tag lang zu dauern; aber diesmal währte es nun schon an die drei und störte die häusliche Gemütlichkeit! Dann bekam Frau Wejergang ihre Kopfschmerzen und mußte den Nachmittag über ruhen – ihre gewöhnliche Kur, bei der immer alles mäuschenstill sein mußte.

Mit einem Tuch um den Kopf, rot im Gesicht und völlig verweint, empfing Frau Wejergang an jenem Abend ihren Gatten; sie war schrecklich erregt, und ihre Stimme bebte.

Sie wollte nichts mehr und nichts minder, als daß er Barbro kündigen sollte!

Das sei eine Tyrannei im Hause sondergleichen ... sei es viele Jahre gewesen! ... und, wenn sie sich ohne Klagen darein gesunden habe – Wejergang wisse, daß sie nie geklagt habe! –, so wäre das nur der Kinder wegen gewesen. Aber jetzt sei es wahrhaftig nicht mehr nötig, und »das Richtigste ist, die Gelegenheit zu ergreifen; sie ist wirklich allzu übermütig, allzu selbstherrlich hier im Hause geworden!« ...

Daß die Kündigung ihr auf die zarteste und rücksichtsvollste Weise, wenn auch als unerschütterlich feststehende Tatsache, übermittelt wurde, verstand sich von selbst. Der ganze Umgangskreis der Frau Generalkonsul war sich einig, daß sie alle darauf gewartet hätten, daß Wejergangs doch einmal diesem verwöhnten Wesen den Laufpaß geben würden!

Die einzige, die über alle Maßen überrascht, die wie von einem Blitzschlag betäubt war und die ganze Geschichte lange nicht fassen konnte – daß sie, Wejergangs Barbro, fort sollte, fort von Ludwig und Lizzie, von dem Hause, in dem sie so unentbehrlich war – das war Barbro!

Sie ging tief gekränkt im Hause umher und erwartete, daß eines schönen Tages ein Gegenbefehl kommen würde. Nun wurde sie der Gnädigen gegenüber demütig, vor den Kindern weinte sie.

Aber immer nur dieselbe Liebenswürdigkeit, welche die Kündigung nur noch unwiderruflicher machte!

Und jetzt sprach die gnädige Frau von einer Gratifikation, die der Generalkonsul ihr beim Abschied bewilligen wollte ...

Empört das Band an ihrer feinsten Haube zur Schleife schürzend, erbat Barbro sich mit vornehmer Würde die Erlaubnis, in die Stadt gehen zu dürfen.

Zu welchem Zwecke – das würde die Gnädige schon zu hören bekommen, wenn sie im Laufe des Tages zurückkäme. Es bedeutete nichts Geringeres, als daß es jetzt ihr bestimmter, unerschütterlicher Wille war, ihre Dienste anderen Leuten anzubieten, die sie besser einzuschätzen verständen als Wejergangs!

Tiefgekränkt steuerte sie geradeswegs zu Amtmann Scheeles; die hatten vier Kinder und suchten ein Kindermädchen. Sie waren Generalkonsuls intimster Verkehr, und sie würde sich nur sehen zu lassen brauchen, um mit Kußhand angenommen zu werden. Wie oft hatte nicht die Frau Amtmann ihre Ordnungsliebe gelobt und herablassend mit ihr gesprochen, wenn sie Sonntags zum Mittag bei ihnen waren! Mehr als einmal hatte sie Frau Wejergang glücklich gepriesen, daß sie solch eine Perle im Hause hätte, und darüber gejammert, daß sie nicht »etwas Ähnliches« finden könne.

Aber welches Pech! – Frau Amtmann bedauerte unendlich ... sie hatten sich gerade zu einer anderen entschlossen! –

»Denk' dir, Scheele!« rief die Amtmännin ihrem Gatten entgegen, als er vom Bureau herunterkam, »bei Wejergangs ist Revolution: die allmächtige Barbro hat den Laufpaß erhalten. Sie war hier und hat sich uns angeboten ... ich möchte um keinen Preis dies verwöhnte Stück Möbel mein eigen nennen!« –

Barbro lief an diesem Tage noch lange umher, in den besten Häusern. Sie hatte vom Generalkonsul ein langes, ausgezeichnetes Zeugnis auf einem großen, dreifach zusammengelegten Bogen Papier vorzuweisen und wußte ja auch gleichzeitig, wo sie bekannt war. Aber so groß und steif und geputzt sie auch an den Türen stand, wie sie sich auch wand und drehte – niemand konnte sie gebrauchen!

Und spät am Abend – später als nötig, da sie sich nicht gern sehen lassen wollte – kam sie enttäuscht und abgespannt wieder nach Hause.

Es war wirklich, als sei ihr felsenfester, langjähriger Ruhm, ihre goldechte Rechtschaffenheit, ihr glänzender Ruf als Amme und Kindermädchen bei Wejergangs jetzt mit einem Schlage zu Luft geworden! ...

So bekümmert sie auch nach ihrem mißglückten Feldzuge umherschlich, so war doch merkwürdigerweise niemand im Hause, der sie fragte, wie es ihr ergangen sei. Aber schadenfrohe Blicke der Mitbediensteten, deren Glücks- oder Unglücksstern bei der Gnädigen so viele Jahre lang auf ihrer Person beruht hatte, gab es genug! Und jedesmal, wenn sie der Gnädigen gegenüber darauf zu sprechen kommen wollte, brach diese das Gespräch ab und ging zu etwas anderem über – ja, einmal antwortete sie sogar, Barbro müsse wissen, daß sie sich mit so etwas nicht abgebe.

Doch die Liebenswürdigkeiten steigerten sich, je näher man dem Ziehtage kam; – Barbro begannen die Augen über diese Schraube von Liebenswürdigkeit aufzugehen, die sich so sanft und gelinde drehte und sie beständig weiter aus dem Hause hinauszwang! Der Generalkonsul brachte Nikolai in einer Schmiede unten am Kran als Lehrling auf Probe unter, und von der Gnädigen erhielt sie bald dieses, bald jenes Stück als Andenken. Aber als sie dann eines Tages – vom Generalkonsul schon reichlich bedacht! – einen seiner alten Reisekoffer geschenkt bekam, ließ sie völlig überwältigt ihre große, schwere Person auf diesen niederfallen. Sie konnte es nicht fassen, hatte nie daran gedacht, daß einmal der Tag kommen würde, wo sie von der gnädigen Frau, von Ludwig und Lizzie Abschied nehmen müßte ... Darüber käme sie nicht hinweg!

Das war ein Appell an den Herrn Generalkonsul selbst. Aber die Antwort fiel nicht so aus, wie Barbro es wünschte. Er klopfte sie auf die Schulter und sagte: »Es freut mich, Barbro, wenn du einsiehst, daß du es bei uns gut gehabt hast!« –

Als sie ihren Lohn und das Sparkassenbuch im Kontor des Konsuls in Empfang nahm – es belief sich auf 114 Speziestaler, eine Summe, mit der sie, wie er sagte, vollkommen zufrieden sein könne, wenn sie die großen Ausgaben für Nikolai berücksichtige –, erklärte sie, sie habe sich entschlossen, sich einige Zeit auszuruhen, ehe sie einen neuen Dienst annähme; sie habe sich draußen aus dem Lande bei einem Hüfner eingemietet ... sie habe sich ja nun vierzehn Jahre lang für andere abgerackert ...

Der letzte Abend, vor dem ihr so sehr gegraut hatte, ging leichter hin, als sie gedacht hatte. Generalkonsuls waren nachmittags mit den Kindern zu Willocks aufs Land eingeladen, so daß der Abschied nur ganz kurz war, ehe sie in den Wagen stiegen.

Da stand sie nun allein, in den Fingerspitzen noch das feine, weiche Pelzwerk Lizzies fühlend, das sie gestreichelt hatte.


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