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VI.

Die ganze elternlose Brut der Hauptstadt – da draußen in den Straßenausläufern und den Schlupfwinkeln der Vorstadt, auf die niemand Anspruch hat und niemand Anspruch erhebt, die sich dort unten tummelt, sozusagen nur ein Stockwerk höher als der Fischlaich, der im Wasser willenlos zwischen den Brückenpfeilern umhertreibt, ein Stockwerk höher als die Fischbrut, die sich auch einmal zu großen Fischmännlein und -weiblein entwickeln soll – was wird aus dieser Großstadtbrut?

Im zartesten Alter fahren Krankheiten mit breitem Besen durch sie hin; der Hafen verschlingt sie, die Straße mit ihren lockeren Lebenswegen oder ein unstetes Landstreicherdasein verschlingt sie, oder Rettungshaus, Polizeistation, Gefängnis und Zuchthaus. In späteren Jahren schließt auch die Arbeit sie in großen Mengen in ihre Arme – die Tore der Fabriken stehen weit offen!

Leute, die dann und wann einen Anfall von Gewissensbissen bekommen Existenzen gegenüber, an deren Vorhandensein sie möglicherweise nicht ganz schuldlos sind, können erleichtert ausatmen. Die Verantwortung ist insofern verringert, als nunmehr Chancen dafür vorhanden sind, daß sie jetzt an das erziehliche Tretrad der Arbeit gestellt werden – und damit ist die Sache ja dann gewissermaßen aufs moralische Gebiet übergeleitet!

Da saß sie nun, die reifere Brut der Stadt, reihenweise oben in den Sälen, in der großen Fabrik der Firma Wejergang, und bediente die schnurrenden Spulen, Knäuel und Rollen – die schwedische Lina und Stina und Kristofa und Kalla und Josefa und wie sie alle hießen; hätte jemand sie nach ihren Eltern gefragt, es würde hier und da mit der Antwort gehapert haben.

Am äußersten Ende des Saales wurde gar eifrig geschwatzt; und das Geplauder wurde mit Blicken und Mienen fortgeführt, sooft diese oder jene kontrollierende Persönlichkeit ihre Schritte dieser Ecke zuwandte. Sie mußten gestikulieren, nicken, mit großem Stimmaufwand sprechen; aber am besten ging es, wenn sie die Köpfe zusammensteckten in all dem Gebrause, wo die Riemenscheiben, jede für sich, ihrer Kraftabzweigung zuschnurrten, wo die Fußbodenplanken von der Erschütterung der Zentrale zitterten und bebten, und der Wasserfall draußen im Sonnenschein donnerte und mit betäubendem Getöse das große Wasserrad unter seiner gelbweißen, kraftstrotzenden Pracht vergrub.

Es war lauter jugendliche Unbeständigkeit, Mädel von knapp sechzehn, siebzehn, höchstens zwanzig Jahren, die dort oben ihr Wesen trieben; mehr oder weniger Neulinge ohne Übung, die sich noch bemühten, die nötige Fertigkeit in die Finger zu bekommen. Und jene dort, die schwarzhaarige, zarte mit den Sommersprossen, den niedergetretenen Schuhen und dem großen Paraffinfleck auf dem Kleide war Silla Holman. Sie hustete und fragte und fragte und hustete, während die Augen wie zwei kleine, dunkle, rollende, runde Feuerkugeln schimmerten, und die magere Brust sich hob und senkte vor lauter Anstrengung, sich beim Sprechen verständlich zu machen. Sie saß zwischen den jüngsten; die Finger arbeiteten zwischen den Spulen, und ab und zu blickte sie wie ein Vogel auf.

Eben fielen sie gerade in hitzigem Streite über Josefas Jacke her – die neue mit dem Schnürenbesatze. Wollte sie etwa jemandem weismachen, sie habe das Geld dazu von ihrer Stiefmutter erhalten? Nein! das möge glauben, wer da wolle – jedenfalls glaubten Gunda und Jakobine es nicht! Darauf hatte Kristofa ihr merkwürdiges Abenteuer von letztem Sonntag erzählt – sie erlebte immer merkwürdige Geschichten, ganz wunderbar interessante, wenn auch nicht immer entsprechend wahre Geschichten, in denen feine Damen und Herren die Hauptrolle spielten, und in die sie zufällig eingeweiht worden war.

Und jetzt war das Geplauder auf etwas übergesprungen, das so spannend war, daß Silla es mit beiden Ohren begierig einsog! ... Am Sonntagabend sollte auf Letvindten Tanz sein; und dann ging's los von Tüchern, Schleifen und Putz, den die einen besaßen, die anderen leihen mußten – und wer am besten tanzte, und wer am nobelsten traktierte. Kristofa wußte zu berichten, daß Geige und Klarinette aufspielen und sowohl Studenten wie auch gewöhnliche Menschen und Steuerleute kommen würden.

Einige Fremde, die die Fabrik besichtigten, kamen durch den Saal. Sie blieben stehen und fragten und untersuchten. Und die jungen Arbeiterinnen saßen mit einem Schlage jede auf ihrem Platze, in ihre Arbeit so vertieft, als ob sie an nichts anderes als an Garnrollen dächten ...

Das Licht des Vormittags fiel mit dumpfer Stille durch die großen Fenster hoch oben an den Wänden auf Menschen, Maschinen und Warenballen.

Es ging auf zwölf. Die letzte Stunde schlich mit wachsend zäher Langsamkeit hin; der Ölgeruch und die Hitze von den Maschinen nahmen zu und wurden fast betäubend.

Noch einige quälend lange Minuten ... Endlich erscholl die Glocke.

Und wie mit einem Zauberschlage umgekleidet strömten die Fabrikmädchen in ihren bunten Schürzchen – ein Tuch zierlich unterm Kinn und ein zweites, gestricktes, kreuzweis über die Brust geknüpft – den Frühstückseimer in der Hand die Treppen hinab.

Die strahlende Frühlingsluft! ... Tief, tief einatmen! Silla klopfte heiß und durstig mit ihrem Eimer ein Stückchen gefrorenen Schnees, das noch am Staket saß, los und biß hinein.

All die Herrlichkeiten im Kopfe, die Kristofa ihr vom Tanze auf »Letvindten« vorgegaukelt hatte, wanderte sie Arm in Arm mit den Gefährtinnen in langer Reihe dahin ... Der Weg von der Fabrik her war gedrängt voll. Länger unten weitete er sich und war straßenmäßig gepflastert.

»Sieh mal! – Sieh, Kristofa ... Wejergang ist schon aus England zurück!« – Die jungen Mädchen pufften sich gegenseitig aufs höchste interessiert–»neuer Frühlingsüberzieher, ganz hellbraun!«

»Hah! ich sah, wie er gestern mit dem Dampfer kam ... er und ein ganzer Haufe Engländer ... Alles braun; ich habe genau sieben verschiedene ›Mordoréfarben‹ gezählt.« – Es war Josefa, die ihrer Zunge die Zügel ließ; sie hatte sich eine zeitlang in der Modebranche versucht.

»Er soll sich nur vor dem Öl in acht nehmen!« kicherte eine.

»Er ist doch mordsmäßig schick! Siehst du, wie hoch er die Nase trägt? ... oh! und das himmlische, rote Seidentuch in der Brusttasche!« flüsterte Kristofa Silla zu.

Die Reihe drückte sich ans Staket. Der Erwähnte ging gleichgültig vor sich hinsummend vorbei, den Kopf erhoben und den Spazierstock schlenkernd. All die jungen Mädchengesichter glotzten ehrerbietig einfältig geradeaus – freilich nicht ohne ein verstohlenes Schielen in den Augenwinkeln. Er verschwand in dem Strome, ihn wie ein Lachs zerteilend.

»Das Haar trägt er jetzt im Nacken gescheitelt! ... Sein Hut sieht wie 'ne Spülkanne aus ... Hustet ihn nicht an! er ist zu dünn! ... ganz der Sohn seines Vaters! ... ein schlankes Rohr!« ...

Sie hatten sich nach ihm umgewandt.

»Er ist lange nicht so zurückhaltend, wie er aussieht; aber hier bei der Fabrik, verstehst du, muß er so steif sein wie eine Kerze ... Johanna Sjöberg – die aus der französischen Wäscherei – hat ihn beim Maskenball auf dem Jahrmarkt erkannt; sie hat's mir selbst erzählt.«

»Es kommen nämlich«, fiel Jakobine ein, »viele feine Leute auf die Tanzsäle. Man denkt, man walzt mit einem ganz einfachen Menschen, und dann ist er womöglich der Sohn des reichsten Mannes in der Stadt! ... Aber wenn man nur ein bißchen aufpaßt, kann man es leicht merken – am Tanzen selbst oder an der Uhr oder am Kragen, oder weil sie so feinen Tabak kauen ...«

»Hast du wohl gemerkt, er hat uns angesehen?« flüsterte Kristofa Silla eifrig ins Ohr.

»Ja, – weil er mich kennt!« sagte Silla ein wenig verwirrt, daß er die Augen auf sie gerichtet hatte.

Sie brachen in ein Gelächter aus.

»Will das schwarze Krähenkücken auch gackern?«

Das Krähenkücken erglühte unter seinem Tuche, antwortete aber nicht. Sie wußte ja, daß er sie kannte; er war im Kontor gewesen, als sie mit ihrer Mutter draußen beim Generalkonsul gewesen war, um sich eine Stellung in der Fabrik zu suchen.

Ein Strom von Arbeiterinnen aus einer anderen Fabrik ergoß sich wie ein Nebenfluß in den ihren, und durch Zweigstraßen und -gassen verlor sich das Ganze dann wieder im unteren aus Holz erbauten Stadtteil – durch schmale Eingänge und enge Treppen, in braune, rote, weiße und graue Häuser, Häuser mit Schieferdächern, mit Rasen- und Ziegeldächern und in neue Häuser, die kaum unter Dach waren.

Silla schlich sich durch ein enges, feuchtes Tor. Die Sonne fiel durch die morschen Ritzen der Holzplanken mit ihren verbogenen, rostigen Nägeln, und stoßweise rann ein schmutziges Bächlein unter der Pforte hervor und verschwand draußen im Graben.

Sie machte einen Augenblick halt, als sie drinnen die Mutter ihrer berechtigten Indignation mit der allzu wohl bekannten, trockenen, wohl erwogenen Betonung Luft machen hörte.

Nur mit gedrückter Miene und zögernd öffnete Silla die Pforte, hinter der Frau Andersens Dienstmagd stand, über und über rot und außerstande zu Worte zu kommen, während Madam Holman, den Rock aufgeschürzt und die Beine über den Rinnstein gespreizt, Zeug spülte und auswrang. Sie arbeitete langsam und besonnen; nichts in ihren lehmgrauen Augen verriet Erregung.

... »So schlau hätte Frau Andersen wohl sein können, sich zu überlegen, daß man so lange getragene Sachen nicht in einer Woche fertigbringen kann ... Das kannst du meinetwegen der Gnädigen gerne von mir bestellen. Ich für mein Teil bin übrigens trotz meiner bescheidenen Stellung auch nie gewohnt gewesen, das Zeug ungestopft und ungeflickt in die Wäsche zu geben ... und ich kann wohl sagen, daß sowohl Mutter Nilsen von nebenan als auch die Leute hier im Hause sich darüber wundern, mit was für Zeug eine, die sich Frau Viktualienhändler schimpft, ihren Mann und ihre Kinder herumlaufen läßt! ... Nein, du brauchst mir nicht zu widersprechen, Mädel! wenn ich etwas sage, dann ist es so! – Und die Strümpfe! ... reden wir lieber nicht davon; der eine Hacken war mit Bindfaden zusammengebastelt, und es ist eine Schande, so etwas waschen zu sollen, wenn die Leute noch so großartig tun – ihre Wäsche verrät sie!«

Mit langsam erdrückendem Gewicht wandte sie sich dann an die Tochter:

»Wärst du etwas früher gekommen, hättest du mir viel Arbeit ersparen können ... Aber, es ist ja auch gleich; je eher sie mir das Leben nehmen, desto besser! ... habe mir ja sowieso nie mehr zu leben gewünscht, seit dein Vater seiner Wege ging!«

»Ich will schon mit zufassen und dir wringen helfen, Mutter!«

»Jetzt, wo's fertig ist? Vielen Dank! Bedeutend schlauer wäre es gewesen, wenn du dich ein bißchen beeilt hättest, um mir helfen zu können; du hast ja da oben in der Fabrik doch nur gesessen, während ich hier den ganzen Vormittag habe stehen und hart arbeiten müssen!«

»Dank für den Bescheid, Frau Holman!« – Frau Andersens Magd hatte endlich die Sprache wiedergefunden; »ich glaube, Sie werden sich in Zukunft nicht mehr über unsere Wäsche zu ärgern brauchen! – Sie ist für so hohe Betrachtungen gewiß zu gering und bescheiden!« Sie knickste und verschwand dann eiligst aus der Tür mit den Worten:

»Wenn Ihre Lauge bloß halb so scharf wäre wie Ihr Mundwerk!« ...

Es war überhaupt Frau Holmans ebenso selbstgefällige wie starke Seite, daß sie stets nach Gerechtigkeit in dieser Welt hungerte und dürstete – anderen gegenüber! Soweit dieser Satz sie selbst betraf, war sie in der glücklichen Lage, vor ihrer Tür alles wohlgefegt zu finden. Hier hatte sie ja auch den Vorteil, Gesetz und Ausnahme selbst zu bestimmen ...

Ein jeder hat seine Glanzperiode, und daß Blockmacher Holman je existiert hatte, war eine Tatsache, die man – und vielleicht auch sie selbst – erst recht begriff, nachdem er völlig von der Bühne abgetreten war.

Es ist nämlich für einen Haushalt durchaus nicht gleichgültig, ob des Mannes Arbeit und Wochenlohn da ist, um davon zu leben, oder nicht, und um die Situation noch weiter zu verschlimmern, reckte die Selvigsche Rechnung ihres verstorbenen Mannes ihr höchst überraschendes und unwillkommenes Gesicht ins Stübchen. Daß diese Rechnung richtig sei, konnte Frau Holman nie und nimmer fassen; – er hatte doch sein festes, regelmäßiges Taschengeld gehabt!

Frau Holman erging sich in manch bitteren Worten, als sie sich der Wahl gegenübergestellt sah, Mangel zu leiden oder sich Arbeit zu suchen.

Sie hatte bis auf den Stecknadelknopf gewußt, wie sie den Verdienst ihres Mannes in ihrer Häuslichkeit anwenden wollte, und überdies Rechenschaft geführt, wie andere es in der ihrigen hätten halten müssen. Sie hatte sozusagen die ganzen Jahre gemütlich oben auf dem Heufuder gesessen und sich fahren lassen. Aber jetzt war leider der Tag gekommen, wo sie herabsteigen und selber ziehen mußte, – und dazu erwies sie sich als weniger geeignet.

In dieser kritischen Lage stellte Frau Holman fest, sollte jemals Hand angelegt werden, so müsse das jetzt geschehen; – wer es tun sollte, das ließ sie ungesagt. Zu diesem Zwecke machte sie sich ihre Bekanntschaft mit Generalkonsul Wejergang zunutze, um ihre Tochter Silla in seiner Fabrik unterzubringen. Unbeschäftigte Hände mußten etwas zu tun haben, und das würde auf alle Fälle wenigstens bis zu einem gewissen Grade den Verlust ausgleichen, den sie durch den Ausfall des Wochengeldes ihres Mannes erlitt. Wenn sie dann in ihrem Stübchen säße und gut Haus hielte, gelegentlich auch Stopfarbeit und Wäsche übernähme, sollte niemand Frau Holman nachzusagen wagen, sie wisse in schweren Tagen nicht ihre Pflicht zu erfüllen!

Und diese ihre Pflicht erfüllte sie weiter dadurch, daß sie Silla unnachsichtlich daran hinderte, ihre Freizeit zu Müßiggang zu benutzen, der für die Jugend so gefährlich ist. Nähen und stopfen und flicken, bis tief in die Nacht hinein – es konnte nichts Besseres geben, sich in Ausdauer zu üben!

Aber wenn Silla bis tief in die Nacht bei der niedrigen Paraffinlampe saß und nähte und stopfte und flickte, dann ging es in ihrem Kopfe hoch her mit schwebendem Tanz und Lustigkeit, und dann formten sich Kristofas und all der übrigen Freundinnen Schilderungen zu eigenen Erlebnissen um. Seifenblase auf Seifenblase, die eine herrlicher als die andere, schwebten empor oder zerplatzten unmittelbar vor Frau Holmans Nase, während sie strickend dasaß. Sie sah nichts, – wunderte sich nur bisweilen, was über den Hacken an einem Strumpfe zu lachen sei.


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