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I.

Wie ein Prinz in der Wiege« – so sagt man ja –, »unsichtbare Feen ringsherum und der Kindheit unschuldsvollen Frieden über sich!«

Welche Fee an Nikolais Wiege stand, ließ sich schlecht sagen. Da draußen beim Klempner, in dem Häuschen mit den zersprungenen, verstopften Scheiben am äußersten Rande der Stadt, gab's mancherlei Einquartierung und Eindrücke – meistens zu nächtlicher Stunde, wenn allerlei Volk und Gesindel, um ein Obdach verlegen, auf der Landstraße stand. Da ging es hoch her mit Zechen und Saufen, manch liebes Mal! Und öfter als einmal geschah es, daß die Wiege bei einer Prügelei umstürzte oder ein Betrunkener längelangs über sie hinfiel.

Nikolais Mutter hieß Barbro und stammte aus den Heimdalsbergen, aus irgendeinem Neste, weit da droben – ein rechtes Gebirgsmädchen von echtem Schrot und Korn, rot und weiß, groß, kräftig und breitschultrig, strotzend vor Gesundheit und mit Zähnen wie der Schaum im Melkeimer. Sie hatte durch die Viehhändler, die übers Gebirge kamen, so viel von der Stadt gehört, daß etwas wie Sehnsucht und Unruhe sie gepackt hatte.

Und so war sie zur Stadt gegangen, um Dienste zu nehmen.

Dorthin paßte sie just so gut wie ein windschiefer Heuschober in eine elegante Stadtstraße oder wie eine Kuh auf eine Treppe – will sagen: ganz und gar nicht.

Und dann ging es ihr so, daß sie ihre ganze Zeit auf dem Markte bei den Heufuhren verstand. Sie mußte das Heu besehen und befühlen ... »Ach, du liebe Zeit! was war das gegen das Berggras! ... was für'n Heu! ... Das Berggras war so zart und weich ... und wie es duftete! – oha! ... nein!«

Aber die Herrschaft hatte ihr Dienstmädchen zu anderen Dingen nötig, als sie den Vormittag mit den Fuhrleuten verschwatzen zu lassen! Und so ging es von einem Dienst zum andern, immer bergab mit Lohn und Herrschaft.

Indessen hat die menschliche Gesellschaft bekanntlich eine bewundernswerte Fähigkeit, alles, selbst das augenscheinlich Sinn- und Nutzloseste, für ihren Gebrauch nutzbar zu machen, zu assimilieren und umzuformen. Und so kam es denn auch bald genug, daß die arme Barbro das einzige wurde, wozu sie in der Stadt tauglich war – nämlich Amme.

Die mannigfaltigen gesellschaftlichen Anforderungen, die eine fortgeschrittene Zeit immer mehr an die Frau des Hauses in den höheren Klassen stellt, machten sich auch hier in der Stadt geltend, und zwar in einer stets wachsenden Nachfrage nach Ammen.

Und nun kam es darauf an, für die beiden schwächlichen Neugeborenen bei Generalkonsul Wejergangs eine ganz ausgesucht gesunde, kernige Person zu finden.

Doktor Schneibel hatte ja, auf alles bedacht, für die Gnädige eine Amme bereit gehalten – geradezu ein Urbild von Gesundheit, wie sie im Volke wurzelt! Man konnte ... hm! hm! ... sagen, daß das Hochgebirge so galant war, zur Gnädigen zu kommen, da die Gnädige nicht zum Hochgebirge kommen konnte! Ihre Hautausdünstungen erinnerten vielleicht noch an den Kuhstall; aber alles in allem ergab das ja nur eine um so bessere Gewähr für die Ursprünglichkeit. »Und das ist heutzutage ein wichtiger Faktor, gnädige Frau! – heutzutage, wo die Milch sozusagen schon im Leibe der Kuh verfälscht wird! ... Ganz jung, kaum zwanzig!«

Barbro Högden ging in tiefster Erniedrigung umher, schleppte Wasser und Brennholz, stand am Rande des Eises und schlug die Wäsche mit dem Bleuel: die gewöhnlichste und gröbste Arbeit, die nur irgend etwas abwarf, mußte helfen, für sich und den Kleinen beim Klempner eine Kleinigkeit bezahlen zu können: sie hatte nicht die leiseste Ahnung davon, daß sie mit einem Schlage aus ihrer tiefsten Erniedrigung zu dem Range eines in der Stadt ganz besonders begehrten, gesuchten und angesehenen Wesens emporgestiegen war! –

Doktor Schneibel stand jetzt, den Knauf seines Stockes an der Nase, zum dritten Male drinnen beim Klempner, während sein Gig unten auf der Straße wartete. Jedesmal hatte er den Lohn erhöht, seine Argumente vermehrt und immer wieder und wieder nachgewiesen, wie schlecht sie sich bei diesem ihrem Eigensinne ständen, sie sowohl wie auch das Jungchen. Er appellierte an ihr eigenes Nachdenken! Wie könne sie sich einbilden, das Kleine großzukriegen – bei ihren drückenden, ärmlichen Verhältnissen, bei all der Schufterei und Arbeit? ... Wohingegen sie auf der anderen Seite nur einen Teil ihres hohen Lohnes an die Klempnersleute abzutreten brauchte, und sie würden gut und kräftig für den Bengel sorgen! Überdies könnte sie ja häufiger, mindestens einmal im Monat, herauskommen und nach ihm sehen; – das könnte er ihr in Wejergangs Namen versprechen; es sei überaus entgegenkommend von Generalkonsuls – jetzt, wo sie so weit draußen auf dem Lande lebten.

Doktor Schneibel sprach sowohl gütig wie streng, wohlwollend und scharf; fast wie ein Vater war er!

Barbro überkam jedesmal, wenn sie ihn die Straße heraufkommen und längs des moosbewachsenen, morschen Bretterzauns in das Gäßchen einbiegen sah, eine lähmende Angst. Sie beobachtete ihn so wachsam wie ein Vogel, der vom Neste aufgescheucht wurde, und wenn er die Tür öffnete, saß sie weit hinten an der Wand, wo es am dunkelsten war, mit der Wiege hinter sich. Selber zu antworten, vermochte sie nicht – höchstens mit einem Seufzer. Das übernahm die Klempnersfrau mit »Gott behüte, ja!« und »Gott behüte, nein!« und »in der Beziehung, Herr Doktor!« in solch redseligem Überfluß, daß Barbro nur dasaß und darauf sann, ihr Kind auf den Rücken zu nehmen und ihrer Wege zu gehen.

Heute aber hatte der Doktor so überaus freundlich zu ihr geredet und ihr so viel Geld geboten! Er hatte so geradeswegs an ihr Gewissen appelliert, hatte das Kind gestreichelt und gemeint, wenn's zum Klappen käme, würde sie doch nicht eine so hartherzige Mutter sein, einem solch lieben, kleinen Jungchen schwere Tage zu bereiten ... es Mangel leiden, an seinen kleinen, strammen Beinchen frieren lassen! – wenn der Schelm es da in seiner Wiege gut und warm und wie ein Prinz haben könnte!

Dem war nicht zu widerstehen, sie war überwältigt; es entschlüpfte ihr etwas wie eine halbe Zusage.

Nachher kam die Nachbarin herein und war genau derselben Meinung; sie wußte von all den kleinen Kindern zu erzählen, die in den letzten zwei Jahren bloß dort in den Nachbarhäusern in Mangel und Verwahrlosung gestorben waren, weil die Mütter den ganzen Tag auf Arbeit gehen mußten und nicht Geld genug hatten, für sie mitzubezahlen. Und dann überboten sie und die Klempnerfrau sich mit ihrem Geschwätz – immerfort von demselben – immer dasselbe!

Barbro saß und hörte es und beschäftigte sich mit ihrem Kinde. Es war, als ob das Herz ihr brechen sollte ... Einen Augenblick dachte sie daran, zusammen mit ihm heimzugehen – heim, nicht ins Gebirge ... sondern in eine andere Heimat.

Es war wie eine Versuchung!

Als sie am Morgen der Nachbarsfrau half, die Wäsche am Bach zu spülen und auszuwringen, hielt ein Einspänner draußen am Wege. Der Kutscher – Tressen am Hute und Litzen am Rocke – stieg ab und ging zum Klempner hinein.

Also jetzt war es soweit!

Sie ging ins Haus und legte das Kind trocken; ihr war, als sei sie weit fort und fühle das Kleine nicht unter ihren Händen.

Sie sah den Diener der Klempnerfrau sechs Taler bar auszahlen. So steif und schlank und vornehm er auch war mit seiner großartig herrschaftlichen Nase, so knickte er doch jedesmal gleichsam zusammen, wenn ihre Blicke ihn streiften, und dann versicherte er:

»Hat keine Eile ... gar keine Eile! Bei Generalkonsuls wachen wir nie vor neun auf; ... wir haben also noch reichlich Zeit!« – Und dann blickte er auf die Uhr.

Und so oft er nach der Uhr sah, schaute sie hastig auf ihren kleinen Liebling, den sie jetzt verlassen ... dem sein Stündlein schlagen sollte ...

Er war wieder eingeschlafen. Erwachte er, dann wußte sie nicht, was –; denn dann würde sie es nicht über sich gewinnen, von ihrem Jungen zu gehen!

... »Eilt nicht – keine Eile!« – Er zog wieder die dicke silberne Uhr aus dem knopfbesetzten Rock.

Doch jetzt war sie es, die so eilte und hastete, daß sie sich nicht die Zeit nahm, zurückzuschauen, ehe sie draußen in dem Einspänner saß und der lange, steifnackige Gallonierte sie ihren vom Schicksal vorgeschriebenen Weg dahinfuhr!

– Im Sommer reiste sie mit Generalkonsuls in ein Bad.

Da ging sie und schob den Kinderwagen mit den beiden Kleinen durch den Sand, und mehr als einmal hörten Wejergangs geschmeichelt die Vorübergehenden ausrufen: »Was für eine prächtige Amme!«

Aber auch mit ihr sollte man Widerwärtigkeiten haben ... Anfälle von Schwermut, denen sie sich widerstandslos hingab und die sie fast völlig unmöglich machten! Sie saß ganz rot und verwirrt an der Wiege, sehnte sich nach ihrem Kinde und wollte weder essen noch trinken.

Das war keine Kleinigkeit! ... eine Amme muß bei guter Laune erhalten werden; die Stimmung beeinflußt die Gesundheit so ungeheuer und diese wieder die des Kindes! ...

Frau Wejergang ließ vom Restaurateur die verschiedensten Leckereien zur Aufheiterung bringen; Seidentücher und Schürzen kamen herangeflattert, und zu Hause wurde die Dienerschaft ausdrücklich angewiesen, sich draußen bei Klempners nach Barbros Jungen zu erkundigen!

Lob und Preis, nichts als Lob- und Preisreden gab es zu berichten, jedesmal wenn Generalkonsuls Lars im Vorbeifahren da draußen anhielt; und Barbro war, wenn sie nur einen solchen Gruß bekam, zufrieden und fröhlich den ganzen Monat lang.

Großartig wurde sie gehalten, das fühlte sie bald. Sagte oder wünschte sie etwas, so wurde es erfüllt, als sei sie die Gnädige selbst. Und seine Kleider, immer reine Wäsche zum Wechseln – vom Essen und Trinken ganz zu schweigen! ... Was sie Arbeit zu nennen gewohnt war, fast gar nicht; ihre Hände wurden schon ganz weich und zart! – Und sie fühlte, daß sie die beiden Kleinen, mit denen sie sich Tag und Nacht beschäftigte, liebgewann.

Nachdem Generalkonsuls aus dem Bade heimgekehrt waren, befand sich Barbro eines Tages unterwegs zu den Klempnersleuten hinaus.

Ein kalter Schweiß überkam sie, daß sie nun den Jungen bald sehen sollte! ... aber so, wie es war, war es ja das beste: sie konnte doch jetzt gut für ihn bezahlen!

Als sie um den Bretterzaun bog und die bekannten, zersprungenen Fensterscheiben zu Gesichte bekam, hemmte sie die Schritte ein wenig. Plötzlich befiel sie eine solche Angst!

Und dann kam die Nachbarin heraus, der sie so manches Mal geholfen hatte, und schwatzte und berichtete; ihr Mundwerk ging wie ein Mühlrad! Im Klempnergäßchen war Nachbarfehde ausgebrochen. Und nun, wo sie Barbro selbst sah, sollte die Wahrheit an den Tag, die reine, unverfälschte Wahrheit!

Klempnermeisters brauchten sich nicht einzubilden, andere Leute hätten nicht auch Augen im Kopfe! Ihr ganzes Habe hatten sie jetzt zum Pfandleiher geschleppt; – an Blech war nur knapp noch so viel da, daß er seine zersprungenen Scheiben damit abdichten konnte! Und wovon sie lebten – daraus könne niemand in der Nachbarschaft klug werden, es sei denn von dem Gelde für den armen, kleinen, jämmerlichen Bengel, dem sie bayrisches Bier zu trinken gäben, damit er einschliefe und nicht schrie! Denn hineingehen, seitdem die Polizei ein wachsames Auge auf die Gäste hatte – das täten wohl nicht einmal gewisse Leute, die sonst nicht so zimperlich in der Wahl ihres Aufenthaltsorts wären ...

»Aber wenn du auf mich hören willst, Barbro! dann mußt du den Jungen zu Blockmacher Holmans unten am Stadtkai bringen. Das sind nette, achtenswerte Leute, und sie haben den Kleinen immer so bemitleidet, wenn ich ihnen erzählt habe, was sie hier draußen mit ihm anstellen ...«

Blockmacher Holman ... Blockmacher Holman! – Der Name klang ihr im Ohr, als sie beklommenen Herzens zu den Klempnerleuten hineinging.

Da lag er in den zerlumpten, schmutzigen Kissen, bleich, mager und verwahrlost, geradezu mit verängstigten Augen! ... Er fing an zu schreien, als sie ihn aufnahm; er kannte sie nicht, und sie ihn kaum!

Ihre Enttäuschung – alles, was sie empfand! – machte sich in steigender, wortreicher Wut auf die Klempnerleute Luft.

Aber gleichzeitig erwachte in ihr, während sie den Jungen wusch, ein Gefühl davon, wie plump und schwer und klotzig er von Gewicht und Körper war im Vergleich zu den beiden Leinen, an die sie gewöhnt war. Jetzt sah sie zum ersten Male ein, wie unmöglich es war, ihn zu behalten ...

Aber zum Blockmacher sollte er, der arme Junge! Sie wollte nicht Barbro heißen, wenn sie die Gnädige nicht dazu kriegte, es sofort durchzusetzen – gleich morgen! ...

Sie kehrte heim, das Gesicht rot und vom weinen verschwollen, und war den ganzen Abend untröstlich, bis die Gnädige aus dem Kontor mit dem Versprechen herunterkam, daß die Sache geordnet werden sollte.

Und so kam Nikolai zum Blockmachergesellen Holman!


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