Jonas Lie
Hof Gilje
Jonas Lie

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Vierzehntes Kapitel.

Ueber zwanzig Jahre waren dahin gegangen, und die Verhältnisse da unten beim Krämer und Gastwirt hatten sich zeitgemäß umgestaltet, sowohl in Hinsicht auf die Baulichkeiten, als auch auf die Waren. Im Sommer kamen seit einiger Zeit sogar Vergnügungsreisende und zogen thalaufwärts.

Der Schnee wurde vom Winde umhergewirbelt und lag jetzt an einem Sonntagnachmittag hoch auf der Treppe, aber in dem kleinen Zimmer hinter dem Laden herrschte ein lustiges Treiben. Er war wieder da, er, der spaßhafte Grip, und saß nun mit dem Ladendiener, dem Knechte des Untervogts und dem Pfändungsgaul zusammen.

Laßt ihn nur erst etwas trinken!

»Prost, du alter Pfändungsgaul,« ertönte Grips Stimme, »wenn ich an alle die denke, denen du das Fell über die Ohren gezogen hast, ohne etwas vom Braten zu bekommen, dann kann ich ein gewisses Mitgefühl für dich nicht unterdrücken ... wir sind beide geleimte Seelen.«

»Ich habe mir allerdings die Gelehrsamkeit und die Kenntnisse nicht zugelegt,« begann der alte Grauhaarige in etwas gereiztem Tone, »aber ich behalte mir ...«

»Ja, ja, ›alles Gesetzliche vor‹, das kennen wir schon. Sei deswegen unbesorgt, Rejerstadt! Bedenke nur, daß die Gelehrsamkeit das Meer der Unendlichkeit ist, und einige Tropfen mehr oder weniger machen es weder größer, noch kleiner. Sieh nur ein wenig in die Sternennacht hinaus, dann wird dir eine Ahnung aufgehen, daß der Planet, worauf du in einer winzigen Ecke pfändest, mein Freund, weiter nichts ist als eine Erbse in der Suppe ... Suppe, sag' ich ... ist alles eins. Nicht wahr, Herr ... Herr Simensen?«

Er wandte sich an den Ladendiener, der mit seinen kleinen Schweineäuglein sehr überlegen und geschmeichelt lächelte.

»Und aus Veranlassung der letzten Erleuchtung müßten wir eine Kleinigkeit zur Verstärkung des Oels auf der Lampe haben, Herr ... wie heißen Sie doch gleich?«

Der Pfändungsgaul hatte das erste Getränk bezahlt, eine Schoppenflasche Branntwein. Er empfand von alters her noch eine gewisse ehrerbietige Achtung vor Grip und wußte, daß dieser mal zu den höheren Kreisen gehört hatte und daß er selbst jetzt noch, wenn er wollte, beim Vogt und dem alten Doktor Rist vorsprechen durfte, Leute, die er nie ohne eine Verbesserung seiner äußeren Erscheinung verließ.

»Ich will dir ein Geheimnis anvertrauen, Rejerstadt! Wenn wenig im Kopfe steckt, muß man trinken, wenigstens war das in meiner Zeit wahr! Damals herrschte eine große Verwüstung auf diese Weise, siehst du, von wegen des luftleeren Raums. Merkst du was?«

»Hi, hi, hi, hi,« kicherte Simensen.

»Ja, Sie verstehen, was ich meine, Simensen. Ein gutes Glas Punschextrakt in dieser Kälte – von Eurem hier im Laden, das thäte gut, was? Mir ist im Augenblick der Mammon ausgegangen, aber wenn Sie die Güte haben wollten, es anzuschreiben ...«

Simensen wußte natürlich, wo Bartel den Most holt.

»Na, denn zu!« rief er.

»Wie man schmiert, so fährt man, wissen Sie, mein lieber Simensen ... und ... na, da kommt das göttliche Naß. ... Wollen Sie wissen, weshalb man trinkt?«

»Na, das wird wohl nicht so schwer zu erraten sein.«

»Nein, nein ... aber vielleicht kann man das doch in eine höhere Beleuchtung stellen, was ein Mann, wie Sie, anzuerkennen nicht unterlassen wird. Sie wissen ja, daß im allgemeinen eine große Abneigung gegen neue Beleuchtungsflüssigkeiten besteht! ... Sehen Sie, Herr!« Er setzte sich zurecht. »Man lebt in einem dünnen Rocke in der Kälte und in beschränkten Verhältnissen ... schämt sich in seine Seele hinein ... fühlt sich von Tag zu Tag als Mensch tiefer sinken. ... Wird gestritten, dann darf man seine Meinung nicht verfechten, sitzt man an einem Tisch, dann wagt man nicht zu reden ... aber nun ... kaum zwei Schnäpse, und eins, zwei, drei, changez, marche, wie die Taschenspieler sagen, die ganze Welt sieht anders aus, alles nur durch zwei Gläser Fusel als Brille, durch die man sieht. Man blinzelt sich selbst an, fühlt sich wieder gesund und kräftig, so wie man dereinst zu werden bestimmt war. Selbstgefühl, Stolz und Derbheit kehren zurück, die Rede fällt leicht von den Lippen, die Gedanken glänzen, die Menschen bewundern. ... Die zwei Gläser ... nur die zwei Gläser – ich weise übrigens ein drittes, viertes, fünftes oder sechstes keineswegs zurück, Prost! – machen den gewaltigen Unterschied, – Sie wissen doch, was für ein Unterschied zwischen einem gesunden und einem kranken Menschen ist, Simensen? – Während der Mann, den die Welt tot schlug ... na, ja ... aber die zwei Gläser führen ihn immer weiter ... unerbittlich weiter, sehen Sie ... bis er auf dem Armenhof endet. ... Das war ein etwas schwieriger Vernunftschluß, wie?«

»Ja, das war es allerdings,« rief Simensen, dem Pfändungsgaul zublinzelnd, »der hat eine halbe Flasche gekostet.«

Grip saß auf seinem Stuhle und murmelte etwas vor sich hin. ... Die starken Getränke begannen augenscheinlich mehr und mehr auf ihn zu wirken. Er war den ganzen Tag in der Kälte gewandert ... seine Stiefel waren durchnäßt und zerrissen, aber er trank trotzdem, und er war es fast allein, der die Flasche mit Punschextrakt geleert hatte.

»Na, na, werden Sie nur nicht langweilig, sonst gibt's nichts mehr,« brummte Simensen.

»Nein, nein ... nein, nein. Meinen Sie noch mehr Vernunftschlüsse ... etwas, was auch Rejerstadt versteht?« Er schüttelte das schwere Haupt in stiller, dumpfer Selbstbetrachtung. »... Habe da ein bleiches, abgemagertes Kind getroffen, das ging da unten umher und weinte so übermäßig hilflos ... weißt du, Rejerstadt ... wenn einer einmal Ohren für Musik hat und hat dann nicht einen Strom von Thränen zur Verfügung ... na, dann trinkt man, trinkt ... her mit der Flasche!«

»Am besten wäre es, ihn jetzt zu Bett zu bringen, drüben in der Bauernstube,« meinte Simensen.

»Vielleicht ist das Schwein voll!« stammelte Grip.

Am Montag morgen, ehe der Tag graute, war er wieder verschwunden, ohne etwas zu sich genommen zu haben, denn früh morgens, ehe er den ersten Schluck getrunken hatte, der sein Zittern beseitigte, war er menschenscheu.

Grip befolgte seine eigene Taktik. Er war hier im südlichen Teile des Landes ziemlich allgemein bekannt. Wie er seine Anfälle hatte, wo er trank und umherstrich, so hatte er auch Zeiten, wo er ganz nüchtern in der Hauptstadt lebte, arbeitete und Stunden gab, und dann erregte er wieder und wieder die größten Hoffnungen bei seinen alten, dort lebenden Kameraden und Freunden. Ein Mann, mit einer solchen Gabe, zu lehren und einer so merkwürdig scharfen Auffassung für Sprachwurzeln und -gesetze – nicht nur in Hinsicht auf Griechisch und Lateinisch, sondern sogar hinauf bis zum Sanskrit – dürfte es vielleicht doch noch zu etwas bringen, meinten sie, und als er sich während drei bis vier Monaten aller geistigen Getränke vollständig enthalten und überhaupt eine gewaltige Selbstbeherrschung bewiesen hatte, da sprachen sie bereits davon, daß sie versuchen wollten, ihm eine Anstellung an einer höheren Lehranstalt zu verschaffen – als es mit einemmal ganz unerwartet verlautete, daß er wieder aus der Stadt verschwunden sei. Dann tauchte er nach Verlauf einiger Wochen, von allem entblößt, in einem der Landbezirke auf, zitternd, abgemagert und hart mitgenommen vom Trinken, vom Wetter, vom Uebernachten in Scheunen und auf Heuböden, wobei er selten aus den Kleidern oder in ein ordentliches Bett gekommen war. – –


Später, an besagtem Montagmorgen, zeigte er sich noch auf dem Hofe des Vogts.

Gülke war der einzige der Angestellten aus früheren Zeiten, der jetzt noch im Amte war. Sogar Rist hatte den Abschied genommen und ließ sich von seiner sorgsamen Gattin, die ihn ständig mit Wohlbehagen und mit vielen sichtbaren und unsichtbaren Kissen umgab, pflegen.

Grip wußte sehr wohl, was er that: er wollte die Frau treffen, während der Vogt noch auf dem Amt beschäftigt war.

Mit dem Strickzeug in der Hand und dem »Ewigen Juden« vor sich, saß sie in der Wohnstube hinter den Doppelfenstern, während ihre Schwester Thea, die unverheiratet geblieben und jetzt weit über dreißig Jahre alt war, draußen in der Küche fürs Mittagessen sorgte.

Thinka führte jetzt nach Fräulein Gülkes Tode selbst die Oberaufsicht im Hause und war ihres alten Gatten Stab und Stütze und den ganzen Tag über unermüdlich. Und diese fettigen, abgegriffenen Romane mit der Nummer auf dem Rücken, die aus der Stadt kamen, sie waren der kleine, grüne Zweig, der ihr geblieben war und sie an ihr eigenes früheres Herzensleben erinnerte. Wie so manche der Frauen unsrer Zeit, denen das wirkliche Leben keinen andern Ausweg gelassen hat, als einen beliebigen Mann zu nehmen, der sie versorgen kann, führte sie in diesen Romanen inmitten der Alltäglichkeit, die nur Mißtöne für sie hatte, in ihrer überspannten Einbildung ein zweites Leben. Dort gab es Leidenschaften, die sie selbst hätte empfinden können, dort wurde geliebt und gehaßt, dort erlebte sie es, daß zwei edle Herzen, aller Schwierigkeiten zum Trotz, glücklich vereinigt wurden, oder sie tröstete bildschöne Helden, die voll Verzweiflung mit Selbstmordgedanken trübe Fluten anstarrten. Dort, in den Wolken setzte sie mit dem unstillbaren Durst des Herzens und des Geistes ein Leben fort, dem die Wirklichkeit keine Gelegenheit gegeben hatte, festen Fuß zu fassen, und dort verwandelte die stattliche, gemütlich runde Frau, die schmale, schlanke Thinka von dereinst, ihren immer noch unvergessenen Ohs in einen Helden nach dem andern – aus einem Geschöpf Emilie Carléns in eins von James, aus einem Ritter Walter Scotts in einen Bulwers, aus einem Musketier Alexander Dumas' in einen modernen Mann Eugen Sues.

Hinten auf dem Platze ihrer häuslichen, fleißigen Schwester lag die Näharbeit auf dem Stuhle, von einem Streifen des hellen Sonnenscheins getroffen. Der dunkle, eingelegte Nähtisch war Theas Erbe von Ma, und den alten, innen und außen abgenützten Fingerhut, diese oben am Rande etwas gesprungene und verbogene Hülse benutzte und bewahrte sie, weil ihre Mutter sie ihr ganzes Leben lang benutzt hatte. Sie stand da, wie ein Denkmal Mas – ein Erinnerungszeichen an all die mühseligen Stiche, die sie gemacht und – erhalten hatte, in ihrem ehrenvollen, opfervollen – ja, kann man das Leben nennen? – –

Mehr infolge eines Druckes, als nach einem ordentlichen Klopfen öffnete sich die Thür der Wohnstube, und Grip trat vorsichtig ein.

»Sie, Grip ... nein, nicht an der Thür, nehmen Sie dort am Fenster Platz! Meine Schwester soll Ihnen ein kleines Frühstück bringen ... ein Butterbrot und Pökelfleisch können Sie doch wohl essen? ... Nein aber, so sind Sie also wieder hier oben, Grip?«

»Ich suche Stunden, sage ich Ihnen, Frau Vogt,« antwortete er ausweichend. »Sie haben also Nachricht von Jürgen aus Amerika?« beeilte er sich hinzuzufügen, um von diesem verfänglichen Gegenstand abzulenken.

»Ja, denken Sie nur, Jörgen ist ein wohlgestellter, reicher Werkstättenvorsteher drüben in Savannah. ... Er hat kürzlich zweimal geschrieben und wünscht, daß seine älteste Schwester hinüberkomme ... aber Inger-Johanna trachtet nicht mehr nach Glück,« schloß sie mit einer gewissen Betonung, und dann trat Schweigen ein.

Grip stellte den Teller, worauf ihm das Mädchen das Butterbrot gebracht hatte, mit stark zitternden Händen auf den Nähtisch, leerte das Gläschen Branntwein, das daneben stand, und dann zuckte es eigentümlich um seine Lippen.

»Freut mich ... freut mich ganz außerordentlich!« brachte er endlich mit einer Stimme hervor, die er kaum in der Gewalt hatte. »Sehen Sie, Frau Vogt, daß es Jörgen zu etwas gebracht hat, das rechne ich mir als einen der wenigen spärlichen Halme an, die aus meinem nutzlosen Leben aufgesprossen sind.«

Jetzt ertönte Schellengeläute von der Landstraße, und ein Schlitten bog in den Hof ein.

»Der Amtsrichter!« rief Thinka.

Grip verstand, daß er nicht mehr gewünscht werde, und erhob sich. Thinka begab sich ins Nebenzimmer und kam mit einem Thalerschein zurück.

»Nehmen Sie das, Grip ... eine kleine Hilfe, bis Sie wieder Stunden gefunden haben.«

Seine Hand zögerte einen Augenblick, ehe sie zufaßte.

»Man muß ... muß ... muß!« sprach er gepreßt, griff nach der Mütze und eilte hinaus.

Unten am Thor blieb er stehen und sah sich um; die Fenster der Wohnstube waren weit geöffnet.

»Sie lüften nach Grips Besuch!« murmelte er bitter, während er die Richtung nach dem Thale einschlug.

Mit im Nacken hochgezogenem Shawl und die Mütze, die unten im Hauptort den alten, zerknitterten Filzhut ersetzt hatte, tief über die Augen gedrückt, suchte er seine Hände gegen den kalten Ostwind dadurch zu schützen, daß er sie in die Taschen des alten, dünnen Rockes versenkte, der seine magere Gestalt umhüllte.

Der Weg, den er einschlug, war ihm nicht ungewohnt, weder auf seinen weitläufigen Sommerwanderungen im Gebirge, noch wenn er sich, wie jetzt in den düsteren, kurzen Wintertagen, mehr auf der Landstraße halten mußte. Dieser Bezirk hatte eine große Anziehungskraft für ihn, und überall, wohin er kam, lauschte und spähte er nach der geringsten Spur von Inger-Johanna, während er ihre wirkliche Nähe ängstlich mied.

»Das Fräulein auf Gilje«, wie man sie allgemein nannte, wohnte da oben in einem kleinen Hause, das sie für tausend Thaler, dem vierten Theile der Erbschaft, die ihr Tante Alette hinterlassen, gekauft hatte. Dort hielt sie Schule für die Kinder des Bezirks und gab außerdem denen des neuen Hauptmanns, des vor kurzem hierher gezogenen Doktors und des Untervogts Unterricht. Sie hatte nun viele Jungen, auf die sie aufpassen mußte, und die sie in der Umgegend untergebracht hatte, denn ihr Bestreben ging in den letzten Jahren dahin, begabte junge Leute nach der Stadt zu schicken und sie dort etwas Ordentliches lernen zu lassen.

Etwas Befehlshaberisches lag in ihrem Wesen, und sie war wegen ihres ungewöhnlich selbständigen Vorgehens häufig Gegenstand des Geredes, aber vor ihren Augen wurde ihr nichts als Ehrerbietung erwiesen. Bei ihren vierzig Jahren war sie immer noch schön und schlank, mit unvermindertem, obschon ruhigerem Feuer in den Augen und noch ganz rabenschwarzem Haare.

Sie suche nach Begabung bei den Kindern, wie nach vierblätterigem Klee in den Bergen, sollte sie geäußert haben; und wenn Grip unten bei Thinka davon gesprochen hatte, daß Jörgens glückliches Entkommen aus engen Verhältnissen einer der wenigen grünen Halme seines Lebens sei, so verschwieg er, daß ihre kleine Schule ebenfalls ein Ableger seiner Ideen war, die er ihr eingepflanzt hatte.

Am folgenden Nachmittag in der Dämmerung schlich eine Gestalt am Zaune des Schulhäuschens entlang. ... Der Drang, möglicherweise einen Schimmer von ihr zu sehen, trieb ihn näher und näher. Jetzt stand er am Fenster. Eine dunkle Gestalt bewegte sich im Innern hin und her, die von dem schwachen, aus der Ofenthür dringenden Schimmer dann und wann unbestimmt beleuchtet wurde. Licht war noch nicht angezündet, und er hörte, wie ein Knabe etwas aufsagte, was er nicht recht konnte. Es klang wie Verse. ... Vielleicht waren es die Kinder vom Compagniechefshofe.

Die Hausthür war offen, und gleich darauf stand er lauschend im Flur.

Er hörte eine Stimme, ihre Stimme!

»Sag du's 'mal auf, Ingeborg. ... Die Jungen sind zu dumm für so etwas!«

Es war ein Gedicht aus der nordischen Heldensage, das Ingeborgs klare Stimme jetzt aufsagte.

Wie festgenagelt stand er da, bis er wieder Inger-Johannas Stimme hörte: »Nun werde ich Licht machen und euch eure Aufgaben fürs nächstemal geben.«

Im selben Augenblick stand er wieder draußen vor dem Fenster. Er sah ihr Haupt im Scheine der angezündeten Lampe ... diese Reinheit in der Zeichnung der Augenbrauen und der Züge ... dieses unsagbar schöne, ernste Angesicht, nur noch charaktervoller ausgeprägt ... die alte, aufrechte Haltung mit dem stolzen, festen Hals! Das war das Bild, das während all dieser Jahre in seinem Innern gelebt hatte ... das Bild des Weibes, das sein hätte werden können, wenn er das im Leben erreicht hätte, was er hätte erreichen sollen ... wenn es ihm das geboten hätte, was es hätte bieten ... und wenn er selbst geworden wäre, was er hätte werden müssen. ...

Wie betäubt stand er da, und ein Schwindel erfaßte ihn, wie ein Rausch .. und als er die Kinder in den Hausflur treten hörte, eilte er mit langen Schritten weiter. Seine Füße trugen ihn von dannen, ohne daß er wußte, wie.

Jetzt war er unten zwischen den niedrigen Vorhöhen von Gilje, und der Mondschein begann die Bergspitzen zu erhellen. Er stürmte weiter, sein Blut war in Aufruhr ... er sah sie vor sich, sprach fast mit ihr.

Da kam ein Schlitten, aber der Frost dämpfte das Geläute. Es war der alte Rist, der, in seine Pelze gehüllt und von dem, was er auf Gilje genossen hatte, überwältigt, darin saß.

»Wollen Sie über den See, Grip, dann sitzen Sie hinten auf,« rief er, nachdem er ihn begrüßt und eine Weile angesehen hatte. »Wenn Sie nur das verfluchte Trinken lassen könnten, sage ich Ihnen,« begann er zu ermahnen.

So stand sie vor der Lampe, ging es in Grips Gedanken ... nun hob sie langsam die Milchglaskuppel über den Cylinder, und dann fiel der Schein auf den feinen Mund und das feste Kinn ... das dunkle, dicht geschlossene Kleid ... und die Stirn, während sie das prächtige Haupt neigte ... sie sah auf ... gerade nach dem Fenster hin ...

»Und versuchen Sie's nur ernstlich, zu widerstehen, wenn der Anfall kommt ... der ist wie der leibhaftige Satanas ...«

Grip war nicht im stande, ihn noch länger anzuhören, und so über den See zu fahren auf der luftigen Pritsche, das war kalt ... zu kalt ...

Er sprang ab und ließ den alten Rist seine Rede im Glauben fortsetzen, daß er noch hinter ihm sitze. Hu! Das war ein kalter Wind hier außen auf dem Eise! Eine Weile betrachtete er seinen eigenen Schatten, wie er, mit den Händen in den Rocktaschen, dahinglitt, während der Mond durch die Wolken segelte... die Lampe beleuchtete ihr Antlitz so warm ...


Drei Tage nachher stand Inger-Johanna am Fenster und sah hinaus. Ihre Brust arbeitete in tiefer Bewegung.

Grip war unten im Gasthof zum Löwen an einer Lungenentzündung gestorben!

Sie war unten gewesen, hatte ihn bis zuletzt gepflegt, und nun war sie heimgekehrt. Sie hatte mit ihm gesprochen, hatte gehört, wie sie in seinen wilden Fieberreden lebte, und hatte seinen letzten bewußten Blick aufgefangen, ehe sein Auge brach. ...

Der Mond stand so klar und kalt am Himmel. Die ganze Landschaft mit den Bergen und all den reinen, gewaltigen Formen erglänzte zauberhaft weiß im Frost ... weiß, wie die Gletscher der Hochgebirge.

»Die Macht des Geistes ist groß!« seufzte sie in trauervollen und zitternden Gedanken. »Er hat mir etwas hinterlassen, woran ich denken kann, so lange ich lebe!«

Ende

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