Jonas Lie
Hof Gilje
Jonas Lie

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Zwölftes Kapitel

In den ersten Tagen des März kam ein Brief von Inger-Johanna:

»... Dies kommt so bald nach meinem vorigen, weil ich soeben einen Brief von Rönnow über eine Angelegenheit erhalten habe, worin ich gern wünschte, liebe Eltern, daß Ihr auf meiner Seite stündet, wenn Ihr, wie ich voraussehe, ausführliche und eindringliche Vorstellungen und Gründe in entgegengesetzter Richtung von Tante erhalten werdet.

»Rönnow betrachtet es seinem Briefe nach als sicher und abgemacht, daß wir im Sommer, im Juni oder Juli, Hochzeit halten. Tante will, daß sie bei ihnen stattfinden soll, und hofft, daß Ihr, oder jedenfalls Du, lieber Vater, dazu hierherkommt.

»Rönnow führt so viele liebenswürdige Umstände an, die dafür sprechen sollen, und ich zweifle keinen Augenblick, daß Tante in ihrer überströmenden Güte dafür Sorge tragen wird, das durch einen vier Seiten langen Brief voll Gründe noch weiter auszuführen.

»Und gegen das alles habe ich nur einen Einwand zu erheben: daß ich damals, als ich meine Einwilligung zu Rönnows Antrag gab, eine solche Hast nicht im mindesten voraussah, die mir gewissermaßen keine Zeit und Luft mehr läßt.

»Möglich ist es ja, daß andre dieses Gefühl nicht verstehen werden, und daß es, wie Tante findet, just nicht den Grad von Innigkeit der Empfindung beweist, wie sie Rönnow wohl zu erwarten das Recht habe. Allein auf dies letzte, eigentlich von all dem vielen, was sie anführen kann, das einzige, was eine Antwort verdient, will ich nur entgegnen, daß es unmöglich Rönnows Absicht sein kann, mich in meinen innersten Empfindungen zu kränken, wenn er erst sieht, wie ich darüber fühle.

»Nur um einen kurzen Aufschub bitte ich, zum Beispiel bis zum nächsten Winter, denn ich möchte so gern dieses Jahr, wenigstens den Sommer und Herbst, in Ruhe und Frieden verleben. Es gibt doch noch mancherlei zu bedenken, u. a. auch wegen meiner zukünftigen Stellung. Auch die französische Grammatik muß ich im Sommer noch einmal durchnehmen, am liebsten zu Hause und allein; überhaupt muß ich mich noch vorbereiten. Das ist doch nicht nur so, als ob man ein neues seidenes Kleid anzöge.

»Ach, könnte ich es doch so einrichten, daß ich den Sommer in Gilje verlebte! Ich habe gestern den ganzen Tag daran denken müssen, wie herrlich es voriges Jahr im Hochland war.

»Nein, Tante und ich würden auf die Dauer nicht gütlich miteinander auskommen. Ihre allerinnerste Eigenschaft – mag sie auch noch so sehr in Liebenswürdigkeit und sanfte Redensarten gehüllt sein – ist doch, daß sie tyrannisch ist. Deshalb will sie nun über meine Hochzeit bestimmen und – das empört mich und thut mir so wehe, daß ich keine Worte dafür habe – hat sie in diesen Tagen meinen gütigen (aber just nicht besonders starken, das zu sagen, wäre Sünde) Onkel dazu gebracht, die wenig ritterliche Handlung zu begehen, Grip seine Stellung in der Amtsstube zu kündigen, und das heißt so viel, als ihm die Hälfte dessen zu rauben, was er hier bedarf, um leben und seine Studien fortsetzen zu können, und aus keinem andern Grunde hat sie es gethan, als weil sie seine Ansichten nicht vertragen kann.

»Ich habe ihr offen gesagt, was ich davon denke: daß es sowohl herzlos als auch unduldsam sei; denn ich war ganz empört!

»Aber weshalb sie ihn zum siebten und letzten so heftig verfolgt – denn bei Tante ist immer alles zum siebten und letzten – das möchte ich wirklich wissen.«

Natürlich mußte man auf Inger-Johannas Wünsche, die Hochzeit aufzuschieben, Rücksicht nehmen, und es begann nun ein eifriges Hinundherschreiben. Aber dann kam Rönnows neue Ernennung, und damit fiel die überwiegend praktische Erwägung in die Wagschale, daß er sein Haus zur Umziehzeit im Oktober einrichten mußte.

In Gilje war große Hausreinigung oben und unten, innen und außen. Die oberen Zimmer wurden geweißt und alles in stand gesetzt, damit die Neuvermählten, die nach der Hochzeit im Sommer kommen und den ganzen Juli dableiben sollten, würdig aufgenommen werden konnten. Und wenn Inger-Johanna eintraf, sollte ihr eine Ueberraschung bereitet werden: der ganze Hauptmannshof wurde mit Beziehung auf das Armeedepartement mit Mennige glänzend rot gemalt, nur die Fensterrahmen erhielten einen weißen Anstrich.

Des Hauptmanns Werktagsrock sah aus wie eine Karte des gestirnten Himmels von all den Flecken, die er bei seinem beständigen Umherlaufen unter der Malerleiter erhalten hatte, wenn er die Arbeit beaufsichtigte – zuerst das Grundieren und nun den zweiten Anstrich, dann kam als Vollendung der dritte und letzte. Ein frischer Frühlingswind wehte, so daß die Wege zusehends trockneten.

Ab und zu hatte er ja bei diesen Vorgängen einen kleinen Schwindelanfall gehabt, und er mußte still stehen und sich besinnen, aber das hatte seinen guten Grund darin, daß ihm in diesem Jahre, wo er so viel wohlgenährter geworden war, der Kantor nicht genug Blut abgezapft hatte, und dann trieb er das Ganze wohl etwas zu eifrig, denn er sehnte sich nach seiner Tochter, daß es eine Art hatte.

Er sprach nur von Inger-Johanna, ihren Aussichten, und wie Ma gar nicht in Abrede stellen könne, daß er schon gesehen habe, was in dem Mädchen steckte, als es noch ganz klein war.

Nur dachte Ma in ihrem stillen Sinne, während er so geräuschvoll und vergnügt umherging, daß er doch magerer und gesünder gewesen sei, damals, als er noch reichlich Aerger gehabt hatte und die Welt schwerer nehmen mußte. Sie hatte ihn in Tante Alettes Bedenken in Hinsicht auf Jürgens Anlage zum Studieren eingeweiht.

»Ich habe es in der letzten Zeit nicht lassen können, lieber Jäger, darüber nachzudenken, ob Jürgens wahres Lebensglück nicht Schiffbruch leidet.«

»Schiffbruch leidet! Wieso denn? Soll er etwa Schuster werden und vor uns auf den Knieen herumrutschen, um uns, und vielleicht noch andern Leuten, das Maß zu nehmen? Ach was, nein,« er richtete sich im Bewußtsein der Richtigkeit seiner Ueberzeugung hoch auf, »wenn wir die Mittel dazu haben, ihn studieren zu lassen, dann studiert er, und damit Punktum! Mancher, der dümmer ist als er, ist schon Pfarrer und Vogt geworden.«

Eines Tages sonderte der Hauptmann eilig einen Brief von Tante Alette aus seinen dienstlichen Postsachen aus und warf ihn Ma zum ruhigen Durchlesen auf den Tisch. Gäbe es etwas Besonderes, könne sie es ihm ja sagen, rief er zurück, während er die Treppe zur Dienststube hinanstieg. Er war doch in der letzten Zeit ein ganzes Teil dicker und kurzatmiger geworden und mußte sich mehr am Geländer festhalten.

»Christiania, 1. Mai 18..

Innig geliebte Gitta!

Mit einem gewissen wehmütigen, stillen Gefühl schreibe ich diesmal an Dich, ja, ich hätte beinahe Lust, es mit einem noch stärkeren Ausdruck zu bezeichnen. Meinen alten Ohren will es scheinen, als ob ein Jammerschrei darüber emporstiege, daß so viele lichte Hoffnungen das Haupt zur Erde beugen, und ich finde nur den Trost, den ich mir in meinem langen Leben erworben habe, daß nichts geschieht, was nicht durch eine höhere Weisheit gefügt wird.

Ich habe bisher versucht, Dir alles, was Inger-Johanna betrifft, so klar vorzustellen, wie ich es selbst sehen konnte, denn ich halte es für am richtigsten, Dir den Kampf nicht zu verheimlichen, den sie augenscheinlich gegen ein Gefühl durchkämpft, aus dessen Macht, wie ich hoffe, sie der glückliche Umstand noch befreien kann, daß es noch keine Zeit gefunden hat, klar zu werden oder in ihr zur Reife zu gelangen. Vorhanden ist es, und es thut weh, aber ich hoffe, es handelt sich mehr um eine Möglichkeit, die noch nicht hinreichend Wurzel geschlagen hat, als um eine Wirklichkeit, um ein lebendes Gewächs, das nicht, ohne ihr innerstes Wesen krank zu machen, unterdrückt oder erstickt werden könnte.

»Aber niemals haben listige Berechnungen einen kläglicheren Triumph gefeiert, als da die Stiftsamtmännin ein Gegenmittel im Fernhalten des Betreffenden glaubte gefunden zu haben und ihn schließlich sogar verfolgte, um es ihm unmöglich zu machen, sich hier in der Stadt zu halten. Wenn man in Betracht zieht, daß Inger-Johanna während der Behandlung, die Grip um seiner Ansichten willen erduldet, augenscheinlich Teilnahme für ihn empfunden, ja, sich fast für ihn ereifert hat, dann war die Wirkung doch wohl nicht schwer vorauszusehen.

»An einem kalten Frosttage im Anfang des Winters kam Inger-Johanna voller Aufregung hier heraus, denn sie hatte durch Jörgen etwas über seine Verhältnisse gehört. Auf ihre Veranlassung hin hatte Jörgen ihn ja auch gebeten, ihm viermal wöchentlich Nachhilfestunden zu geben.

»Mir ging bei dieser Gelegenheit ein Licht über etwas auf, was ich bisher nur geahnt hatte, was aber den scharfen Augen Deiner Schwägerin nicht entgangen war: daß Studiosus Grip, ohne daß sich Inger-Johanna dessen bewußt geworden ist, sie innerlich als eine immer anziehender werdende Persönlichkeit beschäftigt hat.

»Das vertuschen zu wollen, kann gar nichts nützen – es ist eine Krisis, die durchgekämpft werden muß, bevor sie schließlich einem andern angehört, wenn ihre Stellung nicht von vornherein ganz falsch werden und sie ihr ganzes Leben daran tragen soll.

»Daß die Nachricht von ihrer Verlobung wie eine niederschmetternde Enttäuschung einer (wenn auch nur entfernten) Hoffnung auf den jungen Mann gefallen ist, sehe ich durchaus nicht für unwahrscheinlich an.

»Ich werde gewiß nie die zwei jungen, ernsthaften Gesichter vergessen, die sich einen Augenblick gegenüber standen und einander ansahen, als sie sich eines Nachmittags bei mir trafen. Viel gesprochen wurde dabei nicht.

»Sie wisse, daß ihm Unrecht geschehen sei, sprach sie leise.

»›Möglich, Fräulein,‹ entgegnete er in schneidendem Tone, indem er die Hand auf die Thürklinke legte, ›es platzt ja so manche Seifenblase.‹

»Inger-Johanna blieb mit zu Boden gesenkten Augen vor ihm stehen, als ob in dem Augenblick eine völlige Veränderung mit ihr vorgehe, und vielleicht stieg auch ein gewisses Verständnis für seine Empfindungen in ihr auf.

»Seine Entlassung aus der Schreibstube des Stiftsamtmanns war für manche der Häuser, wo er Unterricht gab, eine willkommene Veranlassung, denn sie kündigten ihm wunderbar rasch danach seine Stellung als Lehrer. Ein Mensch mit so auffallenden, vom Gewöhnlichen abweichenden Ansichten wurde schon längst nicht mehr gern gesehen, und nun war ja das gewünschte Beispiel gegeben.

»Ich bot ihm aus aufrichtig teilnehmendem Herzen ein Darlehen an, das ihn in stand gesetzt hätte, ein paar Monate in Ruhe zu leben, bis seine Unterrichtsstunden wieder im Gange gewesen wären, aber entweder war er empfindlich und stolz, oder er glaubte, Inger-Johanna habe etwas mit seiner Entlassung zu thun gehabt.

»Daß ihn der vollständige Mangel an Mitteln zum Leben zwang, seinen Stolz und Trotz, die freie Sonntagsschule, zu schließen, die in gewissem Maße Gegenstand der gegen ihn gerichteten Angriffe war, ist ihm gewiß ungeheuer nahe gegangen und hat den Becher zum Ueberfließen gebracht. Er gehe ohne Beschäftigung umher und lebe auf Borg in den Schenken und Wirtschaften, wo er bis tief in die Nacht sitze, berichtet Jürgen.

»Daß Inger-Johanna so häufig hier außen saß, um die altmodige Stickerei mit Perlen und Goldfaden zu lernen, geschah, wie ich mir immer gedacht habe, weder um ihrer alten Tante, noch um der Sache willen, sondern weil sie von ihm hören wollte. Sie war dabei immer so ruhelos und zerstreut und fuhr in die Höhe, wenn Jürgen abends nach Hause kam und ihn – ach, leider meist vergeblich – gesucht hatte, um seine Arbeitsstunde zu nehmen.

»Ach, Gitta! Das bleiche, schmerzzerrissene Antlitz, womit sie eines Abends ausrief: ›Tante ... Tante ... Tante Alette!‹ steht mir immer vor Augen. Es war wie ein lange zurückgedrängter Aufschrei aus gequältem Herzen.

»Wo er jetzt wohnt, ist Jörgen nicht im stände, herauszubringen. Vermutlich ist ihm wegen Mangels an Mitteln seine Wohnung gekündigt worden.

»Ich berichte dies alles so ausführlich, weil ich hoffe, daß die schwerste Krisis für Inger-Johanna jetzt vorüber ist. Seit dem erwähnten Abend, wo sie sich, wie sie wohl fühlte, vergessen hatte, ist nie wieder ein auf ihn bezügliches Wort über ihre Lippen gekommen; auch hat sie, wie ich bestimmt weiß, nicht mit Jörgen von ihm gesprochen. Sie hat seinen Charakter bisher zu hoch gestellt und nun eine Enttäuschung erfahren.«

»Es ist nicht gut, so jung zu sein und so viel Leben in sich zu haben, das leiden kann! Ich sage Dir, es ist gerade wie mit den Zähnen: man bekommt nicht eher Ruhe vor ihnen, als bis sie alle im Tischkasten liegen.«

»Nein, alles das ist nichts für Vater,« dachte Ma. Stor-Ola hatte eine Brechstange in der Hand und arbeitete an einem Steine herum, der in die Umfassungsmauer eingefügt werden sollte. Die Erde hatte noch eine hartgefrorene Kruste, obgleich die Sonne schon sehr heiß stach, so daß er sich, jedesmal wenn er sich ausruhte, die Backen mit der Zipfelmütze abtrocknen mußte.

Die Unteroffiziere waren einer nach dem andern mit ihrer Löhnung in der Tasche aus dem Dienstzimmer zurückgekommen, und daß die Landwege in niederträchtigem Zustande waren, das bewiesen ihre bespritzten Wagenräder, die so aussahen, als wären sie förmlich in Schlamm getaucht.

Er machte sich eben fertig, die Eisenstange wieder anzusetzen, als er mit einemmal inne hielt. Etwas erregte seine Aufmerksamkeit ... ein Kutschwägelchen mit einem Postknecht, der nebenher ging, und einem kleinen gelben, unter dem Bauche ganz mit Kot bespritzten Pferde.

Mit Seilen statt der Zügel und zusammengebundenen Deichselarmen arbeitete sich das Fuhrwerk im Zickzack die Höhe von Gilje hinan, zwischendurch häufig Rast machend, damit das Pferd sich verschnaufen konnte. Die Sonne stach tüchtig auf die gefrorene Erde.

Ein Postfuhrwerk unten von Drevstadt! Er kannte sowohl das Pferd, als auch den alten Rumpelkasten.

Das war es indessen nicht, was seine Aufmerksamkeit so sehr in Anspruch nahm, sondern das, was im Wagen saß: ein Frauenzimmer mit Hut und Schleier. Sah er recht? Diese Haltung des Kopfes ... war das nicht ...?

Er machte einige langsame, bedächtige Schritte, setzte dann plötzlich zum Sprunge an, und dann ging's mit einem Satz hinunter, daß er in einer mittelhohen Stube die Deckenbalken berührt hätte.

»Nein, aber ums Himmels willen, ist das nicht Inger-Johanna selbst!« rief er und stand unversehens beim Pferd. »Was wird der Herr Hauptm...«

Als er sie genauer ansah, stieg doch eine Ahnung in ihm auf, daß am Ende nicht alles gut sein möchte.

»Und in einem so schlechten Rumpelkasten!« sprach er entrüstet. »Ist das was für unser Fräulein?«

»Guten Tag, Stor-Ola. Ist Vater zu Hause – und Mutter? ... Nein, mir geht's nicht besonders, siehst du, aber nun wird's wohl besser werden.«

Sie verstummte wieder. Stor-Ola ging neben dem Pferde her und führte es am Zügel, als Inger-Johanna in den Hof fuhr. Da stand ihr Vater unter der Malerleiter und sah beim Geräusch der Räder auf. Jetzt beschattete er seine Augen, als ob er ihnen nicht traue und genauer sehen wolle, und dann war er mit wenigen, raschen Schritten am Wagen.

»Inger-Johanna!«

Sie schloß ihn tief bewegt in die Arme, und der Hauptmann zog sie ganz erschrocken und verblüfft mit sich in die Hausflur zu Ma, die sprachlos dastand.

»Was ist das! Was ist vorgefallen, Inger-Johanna!« brachte sie endlich mühsam heraus. – »Geh einen Augenblick in die Stube, Jäger!« bat sie, denn sie wußte, wie wenig er vertragen konnte. »Laß sie sich zuerst mit mir aussprechen, dann kommen wir zu dir hinein ... es ist gewiß noch nichts Unwiderrufliches geschehen.«

»Vater, Ma? – Warum sollte Vater mich nicht verstehen?«

»Komm, komm, Kind,« trieb der Hauptmann mit kaum vernehmbarer Stimme.

Nun saß sie da drinnen in der Stube auf dem Sofa neben ihrem Vater und ihrer Mutter und erzählte ihnen, wie sie gerungen habe, um sich selbst weis zu machen, daß sie und Rönnow eine gemeinsame Lebensaufgabe hätten. ... Sie habe sich einen ganzen Haufen von Trugbildern geschaffen. ... Aber da war ein Tag gekommen – sie wußte ihn noch ganz genau – da war es, als ob sie sämtlich verlöschten wie ein Licht. Kohlschwarz und leer war es rings um sie geworden, wohin sie auch blickte ... nichts von dem, was sie gedacht, nichts von dem, was sie geglaubt hatte ... es war, als sei sie plötzlich in eine Wüste geschleudert worden ...

»Und Tante hielt mich dazu an, daß ich Muster zu meinem Hochzeitskleid wählen sollte! ... Ich glaube, ich wäre blindlings mit geschlossenen Augen hineingegangen ... denn ich dachte an dich, Vater ... und an die ganze Welt da unten, was die sagen würde, wenn ich ohne eine Spur von Grund meine Verlobung rückgängig machte. ... Und dann schien es mir wieder, als ob ja eigentlich alles fest abgemacht wäre. Ich hatte mich ins Wasser geworfen, und ich konnte weiter nichts thun, als sinken, sinken ... ich hatte kein Recht mehr auf etwas andres, als zu ertrinken. Aber ...«

»Nun?« ein kurzes, gewitterschwangeres Räuspern; der Hauptmann saß vornübergebeugt mit auf den Knieen aufgestützten Händen auf seinem Platz und starrte den Fußboden an.

»... da,« fuhr Inger-Johanna mit leiser Stimme, noch bleicher und mit einer gewaltsamen Anstrengung fort, »... ja, Heimlichkeiten vor dir, Vater, und vor dir, Mutter, können gar nichts helfen, denn ihr würdet mich nicht verstehen ... kam eine Erleuchtung über mich, wie von einem Blitz, und ich erkannte deutlich, daß schon seit einem Jahre, oder auch zweien, alle meine Empfindungen einem andern gehörten.«

»Wem?«

»Grip,« flüsterte sie.

Der Hauptmann hatte geduldig dagesessen und zugehört – ganz geduldig – bis zum letzten Wort. Nun aber flog er in die Höhe und stellte sich vor sie. Er verschränkte die Hände verkehrt und streckte sie ganz fassungslos aus.

»Aber du himmlischer Vater!« rief er endlich aus, »Wo hast du denn deinen Kopf? Was denkst du denn eigentlich? ... Du willst doch wohl nicht einen Augenblick einen solchen ... solchen ... Menschen, wie diesen ... Grip mit einem Manne wie Rönnow vergleichen. ... Ich sage dir, Inger-Johanna, dein Vater ist ganz und gar ... du ... du könntest ebensogut aufstehen und mich auf der Stelle totschlagen.«

»Hör mich an, Vater,« rief Inger-Johanna, die im selben Augenblick aufgesprungen war und jetzt vor ihm stand. »Haben auch Thinka und die andern sich unterworfen ... mich tritt keiner unter die Füße.«

Ma saß da und hörte bedrückt zu, und ihr gewöhnlich schon so scharfes Angesicht sah noch schärfer aus.

»Ein solcher Wahnwitz! Bei Nacht und Nebel fort!«

Der Hauptmann schlug sich mit der Faust vor die Stirn und lief voll Verzweiflung im Zimmer umher.

»Aber jetzt sehe ich alles ein,« sprach er, stehenbleibend und vor sich hin nickend, »du bist verwöhnt worden ... furchtbar verwöhnt ... und nun kommt der Dank ... nur weil ich so viel von dir gehalten habe.«

»Die ganze Welt könnte gegen mich sein, Vater! ... ich könnte nur einen Weg gehen ... thun, was ich gethan habe ... an Rönnow schreiben ... ihm eine volle Erklärung geben und das Tante sagen; und ...« sie stützte sich an die Seitenlehne des Sofas und sah mit bitterem Ausdruck vor sich hin, als die Erinnerung an das Erlebte in ihr aufstieg, »Tante hat gethan, was sie konnte, das kann ich euch versichern! ... sie meinte, wie du, Vater, daß es der reine Wahnwitz sei ... sie hält so viel von mir, daß sie sich nicht darum kümmerte, welches Elend daraus für mich hervorgehen würde, wenn nur die Partie zu stände käme. So eitel und jung wie ich wäre, dachte sie, gälte es bloß, Grip herabzusetzen und zu verfolgen, so daß er ohne Mittel und ratlos, ohne Ausweg dastände, wie ein lächerlich gemachter Mann, der sich selbst aufgeben mußte ... ganz wie sein Vater. Das war so leicht zu machen; so allein, wie er seine Sache verfocht ... und so beifällig, wie das, wie sie wußte, überall aufgenommen werden würde! Ein wahres Heldenstück!«

Sie stand da, so in sich selbst gefestigt – wenn auch zitternd – und versunken in ihre eigenen Gedanken, mit niedergeschlagenen Augen und finsterer Stirn. Sie war mager und schlanker geworden.

»Und nun bin ich mit mehr Leiden heimgekommen, als ich euch aussprechen und erklären kann ... so voll Angst ...«

Tiefes Schweigen herrschte, und während alle ängstlich auf das warteten, was nun zunächst kommen werde, begann sich ein wunderliches Gefühl im Herzen des Hauptmanns zu regen.

»Willst du ... willst du sagen ... daß wir dich nicht lieb haben ... daß wir dir etwas Böses anthun wollen? Na ja, kann sein, daß ich später das, was du gethan hast, nicht ganz in der Ordnung finde. ... Ich meine: kann sein. ... Aber jetzt sage ich dir, daß wir, wenn du es nun einmal thun mußtest, ... dafür einstehen werden, gerade so, wie du selbst für deine Sache einstehst. Du siehst auf jeden Fall ein. ... Ach, ich glaube, du bist noch kaum dazu gekommen, dich zu setzen, Kind! ... Und schaff doch endlich einmal etwas zu essen herbei, Ma!«

Damit eilte er hinaus. Oben auf ihrem Zimmer mußte mancherlei beiseite geschafft werden, damit sie nicht bemerkte, daß es hergerichtet werden sollte. ...


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