Jonas Lie
Hof Gilje
Jonas Lie

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Zehntes Kapitel.

Je rascher und stiller die Hochzeit vor sich gehe, um so erwünschter sei es ihm, meinte der Vogt. Es sei wichtig, allem Gerede und Geschwätz zuvorzukommen; mit einer vollendeten Thatsache fänden sich die Leute leichter ab. Der dritte Weihnachtstag sei gerade der rechte, allzu großem Aufsehen aus dem Wege zu gehen, und für den Vogt passe es noch ganz besonders, wenn er am Neujahrstage seinen neuen Hausstand beginnen könne.

Kathinka war natürlich über jeden dieser Punkte befragt worden, und sie fand regelmäßig alles richtig, was ihr Vater dachte.

Die Bestimmung, daß die Hochzeit beschleunigt werden sollte, entsprach vollständig den Wünschen des Hauptmanns; über den andern Punkt, sie in aller Stille zu feiern, war er ja auch mit dem Vogt und Ma einig, aber es lag nun einmal nicht in seiner Natur, daß die ganze Freude gewissermaßen gedämpft, mit einem Tuche vor dem Munde und auf den Zehen einherschleichend vor sich gehen sollte, als ob ein Leichenschmaus auf Gilje abgehalten werde, und nicht eine Hochzeit. Etwas Glanz mußte die Geschichte doch haben, das schuldete er Thinka – und auch sich selbst.

Und so kam es denn, daß er kurz vor Weihnachten eine Schlittenfahrt zum Premierlieutenant und zu den Fürsprechern Scharfenberg und Sebelow unternahm, mit denen er noch eine Abrechnung über bei Gelegenheit der beiden letzten Prozesse ausgeführte Kartenberichtigungen vorzunehmen hatte. Wenn dann von dem Gerücht gesprochen wurde, daß seine Tochter und der Vogt in der Kirche aufgeboten worden seien, dann konnte er mit der Frage antworten, ob sie nicht kommen und sich überzeugen wollten. Er werde – im Vertrauen gesagt – nur den Corpsarzt und die allernächsten Verwandten einladen, »aber,« – fuhr er mit einem schlauen Blinzeln fort – »Donnerwetter, du sollst mir willkommen sein – am dritten Weihnachtsfeiertage – nicht am zweiten, auch nicht am vierten, das merk' dir, Freundchen!«

Auch für Speisen und ganze Batterieen stärkender Getränke, die zu Hause innerhalb der Wälle aufgestapelt wurden, sorgte er, so daß die Festung klar zum Gefecht war.

Am Weihnachtsabend kam ein besonderer Bote mit einem Schlitten voll Pakete an – lauter Geschenke und Ueberraschungen für Thinka.

Zunächst und vor allen Dingen seiner verstorbenen Frau warmer Pelzmantel mit Elchhörnchenfell gefüttert und einer Muffe dazu, die von Fräulein Braun unten im Hauptort für Thinka umgeändert worden war, sodann eine goldene Uhr mit Kette, Ohrgehänge und Ringe – alles wie neu vom Goldschmied in der Stadt aufgeputzt, auch ein Wiener Shawl und endlich Eau de Lavande und Handschuhe im Ueberfluß.

Im Briefe teilte er seiner geliebten Kathinka mit, daß seine Gedanken nur ihr gehörten, bis er nun binnen kurzem durch ein stärkeres Band mit ihr verknüpft sein werde. Wenn sie erst in ihr neues Heim einträte, werde sie noch vieles andre vorfinden, das möglicherweise nach ihrem Sinne wäre, allein es sei nicht praktisch, das alles nach Gilje zu schicken, nur um es gleich wieder fortzuschaffen

Baldrian und Vigo habe er – und er hoffe, sie werde darin mit ihm einverstanden sein – diese Weihnachten nicht nach Hause kommen lassen; sie sollten das Fest diesmal bei seinem Bruder, dem Pfarrer in Holmestrand, verleben. –


Noch niemals war in Stor-Olas Zeiten ein solcher Hochzeitsstaat an Pferden und Schlitten auf Gilje gesehen worden.

Als sie am dritten Weihnachtstage durch die Berge nach der Filialkirche hinunterfuhren, war das ein Funkeln von Geschirren und Schlittenschellen, und die beiden Schwarzen vor den Breitschlitten glänzten, als ob ihnen Haare und Mähne gewichst worden wären.

Unter dem Bärenfell im ersten mit dem Jungschwarzen bespannten Schlitten saß der Hauptmann im Wolfspelz und Thinka in den Kleidern und mit den Schmucksachen der ersten Frau des Vogts; im zweiten, den der alte Rappe zog, kamen Ma und Thea, und Stor-Ola saß hinten auf der Pritsche.

An der Kirchenthür standen die Unteroffiziere in Uniform und begrüßten die Ankommenden mit militärischen Ehrenbezeigungen, und drinnen in den Kirchenbänken erhoben sich die Lieutenants Dunsack, Frisack, Knebelsberger und Knobelauch in großer Uniform.

Ja, ja, der Vogt sollte merken, daß man hier auch verstand, einer solchen Sache Glanz zu geben!

Nach beendeter Trauung ging es heimwärts – und jetzt saß der Hauptmann mit seiner Frau und Thea im ersten und das junge Paar im zweiten Schlitten, und dann kam ein so großes Gefolge, daß des Vogts Wunsch, seine Hochzeit in aller Stille zu feiern, schwerlich als erfüllt angesehen werden konnte.

Auf Gilje erwartete sie das festliche Mittagsmahl.

Unter den entwickelten Streitkräften des Bataillons vom jüngsten Lieutenant bis hinauf zum Hauptmann war die Tapferkeit beim Angriff auf die Flaschenbatterieen so groß, und die Angreifer dachten so wenig an die Folgen, daß darin für den Vogt eine Mahnung zu weiser Vorsicht lag. Sie alle wollten mit der Braut und dem Bräutigam trinken – wieder und wieder.

Der Vogt saß zufrieden und ein wenig vornübergebeugt mit seinem großen, dünn behaarten Schädel über der gewölbten Stirn da und erwog sorgfältig jedes Wort, um nur die witzigsten und für das Ereignis passendsten zu wählen. Solange es aufs Reden ankam, war er unbedingt der Meister, wenn er auch im Corpsarzt einen gefährlichen Nebenbuhler hatte, dessen tiefe satirische Bemerkungen um so bedenklicher wurden, je mehr er trank. Aber bis jetzt richteten sich die kleinen blinzelnden Augen mehr und mehr umnebelt und zärtlich verschleiert ausschließlich auf die Braut. Sie müsse Turmtorte und Weincreme essen – ihm zu Gefallen – er wolle nicht mehr trinken, wenn er es vermeiden könne – ihr zu Gefallen. – »Ich versichere dich, deinetwegen ... nur deinetwegen.«

Mit wachsender Lustigkeit wurde das Einhauen auf die verschiedenen Eßwaren und noch mehr die Getränke bis tief in die Nacht fortgesetzt, als ein Teil der Schlitten im Sternenschein und Nordlichtschimmer mit ihrem halb bewußtlosen Inhalt, von nüchternen Pferden gezogen, heimwärts fuhr, während so viele, als das Haus beherbergen konnte, über Nacht blieben, um das Hochzeits- und Weihnachtsfest am nächsten Tage fortzusetzen. –


Zu Neujahr war das Haus endlich von den letzten Fremden geräumt, der Vogt und Kathinka in ihrem Heim eingerichtet, und der Hauptmann fuhr mit Thea hinunter, um das Neujahrsfest bei ihnen zu begehen. Ma war völlig erschöpft und mußte es aufgeben mitzufahren. Jetzt, wo das Arbeitsrad zum Stehen gekommen war und sie am Tage nach Neujahr allein zu Hause saß, fühlte sie erst, wie ungeheuer schwer es gewesen war, das alles zu besorgen: die Aussteuer während des ganzen Herbstes und die Wirtschaft vor dem Doppelfest, Hochzeit und Weihnachten, und dann all der Kummer! So war es aber immer gegangen, so weit sie zurückdenken konnte. Es war gerade, wie wenn man einen Strumpf aufriffelte: je länger sie zurückdachte, desto länger wurde der Faden ... bis zu den Zeiten, wo sie die Entdeckung gemacht hatte, daß die Tage, die sie im Wochenbett lag, eine Erholung für sie waren!

Aber das war nun schon lange her!

Sie saß in der Dämmerstunde in der Sofaecke, halb schlummernd, und hielt das Strickzeug müßig in der Hand.

Aslak und ein paar von den Mägden hatten die Erlaubnis erhalten, zum Neujahrstanz hinunter auf den Skrebergshof zu gehen, und außer der alten Torbjörg, die mit dem Gesangbuch in der Küche saß und abwechselnd schlief und sang, war niemand im Hause.

Da erklangen Schlittenschellen, und Stor-Ola kam mit dem Breitschlitten und dem alten Rappen zurück, nachdem er den Hauptmann und Thea beim Vogt abgesetzt hatte. Er trat sich auf dem Flur den Schnee ab und schaute zur Thür hinein. Beim Vorbeifahren am Posthause war der Postmeister mit den für den Hauptmann angekommenen Briefen herausgetreten.

»Wann seid ihr gestern abend angekommen? Thea hat doch nicht gefroren?«

»I, bewahre, wo wird sie gefroren haben! Wir waren zur rechten Zeit zum Abendessen unten. Ich soll auch viele Grüße von der jungen Frau bestellen; sie war in der Dämmerung im Stall und hat den Rappen geklopft und gestreichelt; das war noch einmal wie ein Abschied ...«

»Es steckt schon ein Licht in der Stalllaterne,« sprach Ma etwas barsch, indem sie sich erhob, und Stor-Ola verschwand wieder.

Draußen stand der alte Rappe mit dem Schlitten noch hinter sich vor der Stallthür und wieherte ungeduldig.

»Nun fehlte weiter nichts, als daß du auch den Schlüssel umdrehtest,« brummte Ola, wahrend er abspannte und mit dem Geschirr und den Schlittenschellen über dem Arme das Pferd vor sich in den Stall gehen ließ. »Ja, aber wiehert der Jungschwarze nicht auch? Das war das erste Mal, daß du hier im Stalle anständig guten Tag gesagt hast, weißt du das wohl? – Aber du mußt jetzt ein bißchen warten.«

Er striegelte, putzte und rieb den eben Heimgekommenen wie einen bevorzugten Herrn, und das war er auch, denn sie hatten jetzt gerade das neunte Jahr zusammen gedient.

Drinnen in der Küche knisterte und knatterte das Holz auf dem Herde und warf einen unruhigen rötlichen Schein auf Mas frischgeputztes Kupfer- und Blechgeschirr an den Wänden, so daß es aussah, wie sagenhafte Schilde und Waffen. Stor-Ola saß nun da und that sich am Abendessen gütlich, Weihnachtskost und Zuthaten: Butter, Brot, Fleisch, Gewürzkuchen und Pökelfleisch, und Torbjörg hatte Befehl erhalten, eine Kanne Dünnbier im Keller für ihn zu zapfen.

Ola hatte doch da unten so mancherlei munkeln hören.

»Was unsre Thinka ist, die war hinaus in die Küche gegangen, in der Absicht, den Haushalt sofort zu übernehmen. Aber da hatte sie eine getroffen, die die Zügel in den Händen behalten wollte. ... Das alte Fräulein Gülke mochte nichts davon wissen. Sie war ohne weiteres hinauf auf die Amtsstube gerannt, erzählten die Leute, und hatte ihrem Bruder den ganzen Vormittag so viel vorgeredet und vorgeheult, daß er endlich that, was sie verlangte. Und in der Dämmerung sitzt der Vogt mit seiner jungen Frau auf dem Sofa und plaudert so liebreich mit ihr. Beret, das Stubenmädchen, hat gehört, wie er sagte, er wünsche, daß sie es ganz ungeheuer gut haben und nur für ihn leben solle ... so einer! Der alte, graue Esel! Na, wir sehen ja nun, was er voriges Jahr immer hier herumzufahren hatte! ... Und damit,« schloß Ola schmatzend, während er sich ein frisches Butterbrot zurecht machte, »und damit war sie die Unbequemlichkeit los, aber die Herrschaft im Hause auch.»

»Ja, siehst du, Stor-Ola, das nützt nun mal nichts, an der Schnur zu zerren, wenn der Kopf in der Schlinge steckt.»

In der Stube hatte Ma die von Ola gebrachte Post im Feuerschein vor der Ofenthür besehen. Außer einer Nummer des »Hermoder«, des »Konstitutionellen« und einem Dienstschreiben fand sie einen Brief von Tante Alette.

Sie machte Licht und setzte sich hin, um zu lesen. Daß Jäger nicht zu Hause war, konnte in gewisser Weise als ein Glück betrachtet werden, denn mit diesen Sorgen blieb er besser verschont.

»Liebe Gitta!

»Ich habe den zweiten Weihnachtstag gewählt, um meine Gedanken über Inger-Johanna für Dich niederzuschreiben. Sie hat es jetzt, wie ich nicht leugne, so weit gebracht, mich mehr zu interessieren, als mir lieb ist, aber wenn wir schon um einer unbedeutenden Blume vor dem Fenster willen eine gewisse Spannung fühlen können, wie viel mehr dann um einer Menschenknospe willen, die in ihrer Jugend schwellender Schönheit steht, im Begriffe, aufzubrechen und ihre Lebensblüte zu entfalten. Das ist mehr als ein Roman, das ist des Allwaltenden herrliches Kunstwerk, das an Tiefe, Glanz und grenzenlosem Reichtum alles übertrifft, was sich menschliche Einbildungskraft vorzustellen vermag.

»Ja, sie zieht mich an, liebe Gitta, fast so, daß mein altes Herz bei dem Gedanken an den Lebenspfad erzittert, der ihrer warten mag, wenn ihre Erhebung oder ihr Fall von der Verblendung eines kurzen Augenblickes abhängen können. Was die Natur damit meint, daß sie eine Unzahl von lebenden Wesen, in denen Herzen schlagen, zu Grunde und verloren gehen läßt, ob sie nebenbei in ihrem großen Schmelztigel eine Goldprobe damit anstellt, ohne die nichts zu einer vollkommenen Entwickelung gelangen kann ... wer vermag das zu sagen? Wer vermag die Runen der Natur zu entziffern? Meine Hoffnung für Inger-Johanna beruht darin, daß der Gehalt oder die Schwerkraft ihrer eigenen Persönlichkeit, die in ihrer Natur liegen, in der entscheidenden Stunde in die Wagschale fallen werden.

»Ich schicke dir dies alles gewissermaßen als einen mir aus dem tiefsten Innern kommenden Herzensseufzer voraus, denn ich fühle mit steigender Angst, wie der Pfad unter ihren Füßen mehr und mehr geglättet wird und wie fein Deine Schwägerin ihr Netz um sie spinnt, nicht mit kleinlichen Mitteln, über die Inger-Johanna hinwegsehen würde, sondern mit tieferliegenden, hochklingenden Lockungen.

»Ihr die blendende Aussicht zu öffnen, ihre eigenen persönlichen Eigenschaften und Anlagen zur Geltung zu bringen – was kann wohl eine größere Anziehung für eine so eifrig strebende Natur haben? Man erzählt von den Engländern, daß sie mit einer Art künstlicher, buntschillernder Fliegen fischen, die sie über dem Wasserspiegel schweben lassen, bis der Fisch zuschnappt, und, wie es mir vorkommt, macht es Deine Schwägerin auf nicht minder geschickte Weise, indem sie Inger-Johannas Illusionen beständig nährt. Sie nennt nicht einmal des Betreffenden Namen, damit er gleichsam von selbst in ihr aufdämmere.

»Nimm nur einmal die neulich mir gegenüber gleichgültig, aber in Hörweite von ihr hingeworfene Andeutung, daß sich Rönnow sicherlich satt gesehen, als er unter den besten unsrer Damen nach einer Frau Umschau gehalten habe – war das nicht ganz darauf angelegt, ihren – wie soll ich's nennen? – ihren Ehrgeiz oder Wirkungsdrang zu reizen?«

»Ich würde diese Bemerkung vielleicht nicht auffällig gefunden haben, wenn ich nicht den Eindruck beobachtet hätte, den sie am richtigen Orte machte: Inger-Johanna wurde sehr zerstreut und war immer in tiefen Gedanken.

»Und doch sollte die Frage, ob man sein Herz hingeben könne, ganz einfach und einfältig sein: Empfindest du Liebe? Alles andre dreht sich bloß um – etwas andres.

»Das Unselige und Unheilschwangere ist, daß sie sich einbildet, sie könne lieben, die Pflicht zu lieben auf sich nehmen, und daß sie meint, sie könne zu ihrem unerfahrenen Herzen sagen: ›Du sollst nie erwachen!‹ Liebe Gitta! Und wenn es doch erwachte? Zu spät erwachte? ... Bei ihrer starken, gewaltsamen Natur!«

»Das ist das, was mich ganz schwindlig macht, wenn ich daran denke, und deshalb mußte ich schreiben. Mit ihr selbst zu sprechen und sie aufzuklären, das wäre ebenso weise, als einem Blinden Farben zeigen zu wollen, es sei denn, daß sie demjenigen, der sie warnte, blind vertraute. Deshalb bist Du es, Gitta, die eingreifen und ihr schreiben muß. ...«


Ma ließ den Brief in den Schoß sinken und sah noch bleicher und spitzer aus, als sonst bei Licht. Tante Alette, die prächtige Tante Alette, ihr wurde es leicht, den glücklichen Glauben zu haben, daß alles so sei – nun, wie es eigentlich hätte sein müssen. Sie hatte ihr bescheidenes Erbe, das ihren Lebensunterhalt sicherstellte, so daß sie von niemand abhängig war. ... Aber Mas Züge nahmen einen kalten, abweisenden Ausdruck an ... ohne ihre viertausend ... alt und abgearbeitet, an Jungfer Jörgensens Stelle bei der Stiftsamtmännin würde sie diese Art von Engelsbriefen wohl schwerlich geschrieben haben.

Ma las weiter:

»Ich muß hier noch einige letzte Bedenken vorbringen, und Du wirst dies vielleicht für einen traurigen Weihnachtsbrief halten. Diesmal handelt es sich um den lieben Jörgen, dem es so schlimm auf der Schule ergehen soll. Daß er überhaupt so weit in der Klasse hat mitkommen können, haben wir dem Studiosus Grip zu verdanken, der mit großer Ausdauer und ohne von einer Entschädigung etwas hören zu wollen, die deutsche und lateinische Grammatik mit ihm durchgeht und ihm so die schwersten Steine des Anstoßes aus dem Wege räumt.

»Und wenn ich Dir nun seine Meinung über Jörgen mitteile, dann thue ich das, weil ich kein geringes Vertrauen in ihn habe und sie für begründet halten muß. Er sagt, Jörgen sei keineswegs ein beschränkter Kopf, eher das Gegenteil. Allein er ist nicht für das rein Wissenschaftliche beanlagt, und das sei die Vorbedingung für jeden Erfolg beim Studieren. Desto besser aber sei er für das Praktische begabt. Im Verein mit einem gesunden, klaren Urteil sei er geschickt und erfinderisch, so daß er ein sehr tüchtiger Handwerker oder sogar Ingenieur werden könne. In dieser Richtung werde er sich gewiß auszeichnen, während er nur Mühe, Verdruß und höchst mittelmäßige Leistungen erzielen werde, wenn er sich beim Studieren von Examen zu Examen hinquälen müsse.

»Allerdings kann ich mit Studiosus Grips anderm, etwas jugendlich überspanntem Gedanken, Jürgen zu einem Handwerker nach England (oder gar nach den Vereinigten Staaten von Amerika) in die Lehre zu geben, nicht übereinstimmen, weil hier der Handwerker beinahe mit den dienenden Ständen auf eine Stufe gestellt wird und kein geachtetes Dasein führt, wie das in den genannten Ländern der Fall sein soll.

»Dem mag nun sein, wie ihm wolle, mir scheint, daß vieles von dem, was er sagt, jedenfalls in ernstliche Erwägung gezogen zu werden verdient.

»Ich möchte manchmal an mir selbst zweifeln, ob ich, so alt ich bin, nicht doch noch zu jugendlich empfinde. Mag das nun die Frucht einer inneren Entwickelung sein, oder einfach Anziehung: die Gedanken der Jugend haben aber immer einen erfrischenden und stärkenden Einfluß auf meine Lebenshoffnung. Niemals werde ich mich mit der Behauptung aussöhnen, es sei ein Naturgesetz, daß die Ideale mit fortschreitendem Alter verblassen, schwächer werden und schließlich zerbrechen, wie andre alte Krüge.

»Und wenn ich sehe, daß ein junger Mann wie Grip von den sogenannten praktischen Menschen verurteilt wird – soweit ich es verstehe, nicht so sehr wegen seiner Ansichten über die Erziehung selbst, sondern weil er sich ihnen opfert und sie ins Werk setzen will – dann kann ich nicht umhin, ihm meine ganze Teilnahme und Achtung zu schenken.

»Jetzt hat er die Rechtswissenschaft aufgegeben und sich aufs Studium der Philologie geworfen, denn, sagt er, hierzulande nützt keine Thätigkeit, wenn sie nicht ein Aushängeschild hat, und er will nun versuchen, sich durch Ablegen eines ausgezeichneten Examens ein echt vergoldetes zu verschaffen, sich in dem unbearbeiteten Erdboden festzubeißen, wie die Zwergbirke oben im Gebirge, und nicht nachzugeben, wenn auch ein ganzer Bergsturz über ihn kommt, wie er sich ausdrückt.

»Wenn ich bedenke, daß er viel arbeiten und täglich ein paar Stunden unterrichten muß, nur um leben zu können, dann kann ich nicht anders, ich muß diesen feurigen Mut bewundern, und – ach, leider, gibt es nicht viele, die ebenso denken – ihm innerlich Glück wünschen.«

Ma blieb noch lange sitzen und dachte nach. Dann schnitt sie die Seite, die von Jörgen handelte, heraus. Das konnte doch der Mühe wert fein, es Jäger gelegentlich einmal zu zeigen ... obgleich sie in ihrer Herzenseinfalt selbst noch nicht recht wußte, was sie davon denken sollte.


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