Jonas Lie
Hof Gilje
Jonas Lie

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Zweites Kapitel.

Einige Tage vor dem heiligen Abend wurde Stor-Ola und der Rappe mit dem Frachtwagen von Christiania zurückerwartet. Zweimal im Jahre, zu Johannis und kurz vor Weihnachten, machten sie die Reise dahin und holten Vorräte für das Haus.

Heute war der neunte Tag nach der Abfahrt, aber wie die Wege jetzt waren, wo das Pferd bei jedem Schritte tief versank, konnte man nichts Bestimmtes wissen.

Im Sturmlauf von den Kindern und dem auf einem Auge blinden Paßauf unten in den glatten Anhöhen begrüßt, traf der Lastwagen am späten Nachmittag endlich ein, und trotz der Mühseligkeiten auf den steilen Bergwegen wieherte und keuchte der Rappe vor Verlangen, wieder im Stalle an der Seite seines braunen Freundes zu stehen. Er war mit seiner Reise vollständig zufrieden und arbeitete sich schweißbedeckt im Geschirr ab, um die letzte Höhe vor Gilje zu überwinden.

Marit, die Köchin, und Torbjörg standen draußen im Beischlag vor der Küche; die drei kleinen Mädchen und Jörg umdrängten voll Neugier den Wagen und das Pferd, und der Hauptmann selbst erschien auf der Haustreppe.

»Na, Stor-Ola, wie ist's mit dem Rappen gegangen? Er schwitzt und ist etwas mitgenommen, wie ich sehe. Hast du die Uniformknöpfe bekommen? – Na, schön! – Hast mir doch den Tabak nicht vergessen und auch die Rechnung mitgebracht? Na, dann führ den Rappen in den Stall; er soll heute eine Extraration Hafer erhalten. Was? Was hast du denn noch?«

Stor-Ola hatte außer der Rechnung aus seiner inneren Westentasche noch einen in ein besonderes Papier geschlagenen Brief zum Vorschein gebracht. Einen Augenblick sah ihn der Hauptmann überrascht an: die Aufschrift zeigte die Hand und das Siegel das Wappen der Frau Stiftsamtmann, und ohne ein Wort zu sprechen, eilte er ins Haus zu seiner Frau.

Die Ankunft des Wagens mit den Waren – das große, alle halbe Jahr wiederkehrende Ereignis – nahm des ganzen Hauses Aufmerksamkeit in Anspruch. Sein Inhalt interessierte alle, nicht bloß die Kinder, und wenn Stor-Ola später am Abend in der Küche saß, wo ihm aus Anlaß seiner glücklichen Heimkehr etwas besonders Gutes aufgetischt wurde, und von seiner Reise in die Stadt, vom Rappen und sich selbst erzählte, welche Wunderthaten sie an dem und dem Berge ausgeführt hätten, und daß der Wagen einen Zentner mehr gewogen habe als das letztemal, dann stand er groß da, und auch auf den Rappen fiel ein Streiflicht des Glanzes, der ihn umgab.

Der Hauptmann hatte sich ins Haus begeben und wanderte wohl schon eine Stunde lang mit dem blauen Brief der Frau Stiftsamtmann in der Hand in seiner Stube auf und ab. Er schaute Ma ganz entrüstet an, weil sie mehr an die mit dem Wagen gekommenen Sachen, als an seine Vorlesung zu denken schien. Sie müßten das alles später am Abend ruhig besprechen, hatte sie erwidert.

»Alles das – alles das, Ma! Daß Inger-Johanna für den nächsten Winter dorthin eingeladen ist, und dafür sind wir Rönnow zu Danke verpflichtet. Das ist doch klar, sollte ich denken. Was? Was?« brauste er ungeduldig auf. »Ist dir das nicht klar? Oder hältst du noch mit etwas hinterm Berge?«

»Nein, lieber Jäger.«

»Ja, dann solltest du aber das Abladen des Wagens nicht mit deinen stillen, bedeutungsvollen Seufzern und heimlichen Bedenken aufhalten, die mich immer ganz wirr im Kopfe machen. Du weißt, ich kann das nicht ausstehen! – Ich gehe immer gerade aufs Ziel los.«

»Ich habe nur an deinen Uniformrock gedacht, ob der Schneider wohl die Reste vom Tuch mitgeschickt hat. Du weißt ...«

»Da hast du recht, da hast du recht, Gitta!« und er schoß eilig hinaus.

In der Küche herrschte eine gewaltige Thätigkeit. Vor dem großen, in viele Fächer geteilten und mit zahlreichen Schiebladen versehenen Vorratsschrank wurden die Waren ausgepackt und eingeräumt: Rosinen, Zwetschgen, Mandeln, verschiedene Sorten Zucker, allerhand kleine Gewürze und Zimmet, alles wurde an den dafür bestimmten Platz gethan. Dabei fiel ab und zu ein kleiner Zoll, eine Zwetschge, zwei Mandeln, drei Rosinen für die kleinen Mädchen ab – kurz, die Ankunft des Wagens brachte eine kleine Vorfeier des Christfestes mit sich.

Auch der Hauptmann nahm zuerst lebhaften Anteil an der Sache. Er packte die Tintenkrüge, den Tabak und die »kräftigen Flüssigkeiten« aus, die in den Keller gebracht werden sollten, und als das besorgt war, rannte er ein und aus, mit einer oder der andern Rechnung oder einer eingetauchten Gänsefeder in der Hand, um jene mit der Gesamtrechnung, die seine Frau an die oberste Thür des Vorratsschrankes genagelt hatte, zu vergleichen.

»Ma! Hast du schon jemals eine so schlechte Addition gesehen?« Er blieb plötzlich vor der Rechnung stehen, die schließlich immer richtig befunden wurde, und wandte sich dann bedächtig wieder ab, indem er seine Feder an der fuchsigen Wochentagsperücke abtrocknete.

Sein vollblütiges, erregbares und etwas fahriges Wesen geriet immer außer sich, wenn er eine Rechnung erblickte; sie hatte eine ähnliche Wirkung auf ihn, wie ein rotes Tuch auf einen Stier, und sobald, wie im gegenwärtigen Augenblick, alle Halbjahrsrechnungen auf einmal auf ihn einstürmten, fing er an geradezu zu toben. Für seine Frau war das eine alte Geschichte; sie hatte sich im Laufe der Jahre eine merkwürdige Fertigkeit angeeignet, den Stier bei den Hörnern zu fassen.

Sie ließ ihn gewähren, und die Kränkungen, die ihm demzufolge nicht widerfuhren, schienen trotzdem einen wachsenden Sturm des Zornes heraufzubeschwören. Mit einem kräftigen Schlag auf die Thürklinke und mit verschobener Perücke trat er plötzlich ein.

»Vierundsiebzig Speziesthaler, drei Ort und siebzehn Schillinge! – Vierundsiebzig – Spezies – drei Ort – und siebzehn Schillinge! Das ist ja zum Tollwerden! Also Succade hast du bestellt! Succade!« Er war so wütend, daß ihm die Stimme überschnappte und er im Fisteltone sprach und vor Aerger lachte.

»Hi, hi, hi, hi! Haben wir denn die Mittel dazu? Und nun gar Mandelseife fürs Gastzimmer!« Dies letzte sprach er in tiefen, gedampften, unheimlichen Baßtönen. »Es geht wirklich über meinen Verstand, wie du darauf verfallen bist!«

»Aber lieber Mann, die Mandelseife hat der Kaufmann ja als Zugabe gegeben!«

»Zu–ga–be? Hm, so, als Zugabe? Ja, da kannst du sehen, wie sie uns betrügen? ... Vierundsiebzig Spezies, drei Ort und siebzehn Schillinge – das ist, um toll darüber zu werden, reinweg toll! Wie soll ich denn das Geld schaffen?«

»Aber du hast's ja bis jetzt immer beschafft, Jäger – schweig doch vor den Leuten!« flüsterte sie ihm hastig zu, und darin lag die Bitte, den Rest seines Zornausbruches aufzuschieben, bis sie am Abend allein waren.

Wie ein befreiendes und reinigendes Gewitter zogen die Ausbrüche des Hauptmanns, zu denen die Rechnungen Veranlassung gaben, an jenem Nachmittage über das Haus hin. Aengstlich und scheu suchten die Kinder Schutz bei der Mutter, die das Unwetter auf sich zog, aber als sie nachher den Schritt des Vaters wieder oben im Dienstzimmer hörten, nahmen sie ihre alte Beschäftigung auch gleich wieder auf. Neugierig lasen sie die Papierdüten auf, guckten hinein und schüttelten sie, in der Hoffnung, in den Falten festgeklemmte Rosinen oder Korinthen zu finden, sie sammelten die umherliegenden Bindfadenenden, beobachteten die Wage und schnitten die Stangenseife in Stücke.

Unter all diesen Verdrießlichkeiten stand die hohe Gestalt der Frau Jäger in ununterbrochener Thätigkeit wie ein Kran über die Kiste mit Waren gebeugt, die in die Küche gebracht worden war. Krüge, Weidenkörbe mit Heu darin, kleine Säcke und eine endlose Zahl von Päckchen verschwanden nach und nach an ihren verschiedenen Aufbewahrungsorten, bis endlich das letzte, ein Sack mit feinem Weizenmehl, in die Mehlkiste in der Speisekammer gestellt worden war.

Als nun der Vorratsschrank verschlossen wurde, stand der Hauptmann zum zwanzigstenmal davor.

Mit der Miene eines Dulders, der sich nun lange genug hat quälen und peinigen lassen, klopfte er seiner Frau leicht mit den Fingern auf die Schulter.

»Ich muß mich wirklich wundern, Gitta,« sagte er leise, aber in vorwurfsvollem Tone, »daß dich der Brief, den wir heute erhalten haben, nicht mehr interessiert.«

»Ich habe an nichts andres denken können, Jäger, als an deinen Aerger über die Rechnungen. Nun meine ich, du könntest heute abend 'mal den Franzbranntwein kosten, ob er gut genug zum Weihnachtspunsch ist – der Cognak ist so teuer, weißt du.«

»Das ist ein guter Gedanke, Gitta! – Ja, ja – sieh nur zu, daß das Abendessen bald auf den Tisch kommt.«

Teller mit Hafergrütze und bläuliche Milch in dunkeln Satten wurden hereingebracht. Sie standen wie schwarze Inseln auf dem weißen Tischtuche, und ihr Anblick war nicht dazu angethan, den Wunsch nach Verlängerung des Abendessens zu erwecken.

Nachdem die Kinder zu Bett geschickt worden waren, saß der Hauptmann ganz ruhig und gemütlich an dem noch aufgeschlagenen Klapptisch mit seiner Pfeife und seinem Probegrog aus Franzbranntwein, dessen Verwandlung in Weihnachtspunsch in der Küche vorgenommen wurde, aus der auch das Brodeln eines Waffeleisens hereindrang.

»Mach ihn nur stark, Ma, nur recht stark; dann kannst du auch zum Teil gelben Kochzucker nehmen. Wenn der Grog recht stark ist, schmeckt man das nicht. – Ja, ja!« Er kostete den Punsch, den feine Frau in einem hölzernen Löffel hereinbrachte, »den kannst du dem Vogt ruhig vorsetzen.«

»Marit wird auch gleich mit warmen Waffeln hereinkommen – und dann – was ist's aber mit dem Brief von der Stiftsamtmännin? Siehst du, Jäger, ich meine, wir können doch das Kind nicht gut dahin schicken, wenn wir ihr nicht eine passende Ausstattung mitgeben. Sie muß ein schwarzseidenes Kleid zur Einsegnung, Stiefel und Schuhe, einen Hut und noch manches andre haben.«

»Ein schwarzseidenes Kleid zur Konfirm ...«

»Ja, und noch ein paar andre Kleider, die wir in Christiania bestellen müssen – und dazu haben mir kein Geld.«

Der Hauptmann fing an im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Hm, so, so ... so, so. Ja, wenn du das meinst, dann ... denke ich, lehnen wir die Einladung kurz und bündig ab.«

»Siehst du, Jäger, das wußte ich. Das Dotter möchtest du wohl haben, aber ehe du das Ei entzweischlägst, überlegst du dir die Sache noch einmal.«

»Ehe ich das Ei entzweischlage? Ehe ich meinen Geldbeutel entzweischlage, meinst du wohl?«

»Nein, ich meine, du mußt einen Teil der sechshundert Thaler kündigen, die ich dir mit in die Ehe gebracht habe. Ich habe nun genug darüber nachgedacht und gerechnet. Inger-Johanna allein kommt uns dieses Jahr auf über hundert Thaler zu stehen ... und wenn wir Thinka nach Ryfylke schicken wollen, dann reichen zweihundert nicht.«

»Ueber zweihundert Thaler! Bist du denn toll? Bist du toll ... rein toll, Ma? Bei dir muß eine Schraube los sein!« Er drehte sich mit einem plötzlichen Ruck um. »Lieber soll der Brief in den Ofen wandern!«

»Du weißt doch, Jäger, daß ich alles, was du thust, für verständig halte ...«

Mit dem Briefe in der Hand und halb offenem Munde blieb er stehen.

»... und die geringe Aussicht, die Inger-Johanna vielleicht hätte, einmal später versorgt zu werden, kann nicht weiter in Betracht kommen. ... Die Stiftsamtmännin ist ja allerdings die nächste Verwandte ... und sie hat keine Kinder ... unmöglich wäre es ja nicht, daß sie das Kind 'mal zur Erbin einsetzte. ... N–n–nein, Jäger, mach du's ganz, wie's dir am besten dünkt. Du siehst in solchen Dingen klarer als ich ... und ... wenn du die Verantwortung übernimmst, dann ...« Sie stieß einen tiefen Seufzer aus.

Der Hauptmann ballte ärgerlich den Brief zusammen, warf seiner Frau einen hastigen Blick zu und stand darauf lange Zeit stille und starrte zu Boden. Plötzlich schleuderte er den Brief auf den Tisch.

»Hin muß sie!« rief er aus; »aber die Kriegskosten, Ma! Ich habe in meiner Strategie gelernt, daß die der Feind tragen muß. Und die Frau Stiftsamtmann muß natürlich für Inger-Johannas Aussteuer in der Stadt sorgen.«

»Was, die Stiftsamtmännin, Jäger? Die darf nichts bezahlen, nichts – nicht einen Pfennig – bevor sie sich entschieden hat, ob sie das Kind ganz behalten will. Bemühen, sie los zu werden, dürfen mir uns nicht, aber sie soll sich Mühe geben, sie von uns zu erhalten – und sie muß es als eine Gunst von uns erbitten, nicht einmal, sondern zwei- oder dreimal – hast du mich verstanden?«


In diesem Winter machte sich die Kälte, die draußen herrschte, drinnen weniger fühlbar. Für zwei Kinder mußten Aussteuern beschafft werden. Webstuhl, Spinnrad und Haspel spielten an den kurzen Tagen und langen Abenden die Begleitung zum Prasseln des Feuers im Ofen. Ma spann selbst all das feine Garn zu den hausgemachten Kleidern, und es wurde gestrickt, gewebt und genäht, ja selbst in Leinwand gestickt, »zwölf Stück von allem für jede.« Und in den Schulstunden beim Vater oben im Dienstzimmer wurde die französische Grammatik mit besonderem Eifer studiert.

Der alles erstarrende trockene Frost, der das Haus in seinen Krallen hielt und durch jede Spalte und Ritze drang, das war ja bloß das gewöhnliche hier im Hochland!

Der Fahrweg über das Eis des Sees hielt sich lange in diesem Jahre. Er blieb bis tief in den Frühling brauchbar, allerdings unsicher und wässerig blau mit einem braunen Schmutzstreifen darüber.

Als er dann aber aufging und das Eis unter den brennenden Sonnenstrahlen schmolz, da lagen auf dem steilen Abhang hinter dem Hauptmannshofe lange Leinwandstücke zum Bleichen, so blendend weiß, daß sie aussahen, als ob der Schnee dort vergessen habe, aus dem Wege zu gehen.


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