Jonas Lie
Hof Gilje
Jonas Lie

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Dreizehntes Kapitel.

Der Hauptmannshof stand in seinem frischen roten Anstrich den ganzen Sommer oben auf der Bergspitze und schaute auf die Gegend hinaus, für die er eine wahre Zierde geworden war. Aber Stor-Ola wußte gar nicht, wie das war. Seit der Malerei glich der Hauptmann sich selbst nicht mehr; es war nicht der rechte Segen dabei. Einmal übers andre kam er heraus, und dann hatte er vergessen, was er eigentlich wollte, und mußte wieder umkehren. Nicht ein böses Wort kam ihm mehr aus dem Munde. Sah ihm das ähnlich? Auch zur Arbeit trieb er nicht mehr.

Der Hauptmann machte sich dieses Jahr solche Sorgen wegen seiner Schwindelanfälle. Beim Umhergehen blieb er beständig stehen, und Inger-Johanna mußte ihn immer auf seinen verschiedenen Gängen begleiten, stehen bleiben, wenn er stand, weiter gehen, wenn er ging.

Es war, als ob ihm der Anblick ihrer schlanken Gestalt Stärke gäbe und als ob er das Bedürfnis empfände, sich immer von neuem zu überzeugen, daß sie sich nicht grämte.

»Meinst du, es würde ihr Vergnügen machen, zu reiten oder zu fahren?« fragte er Ma draußen in der Speisekammer. »Sie steht da im Garten und pflanzt und gräbt, aber daran ist sie doch gar nicht mehr gewöhnt, siehst du, Ma. ... Mir scheint, als ob sie so ernsthaft aussähe. ... Aber hast du eine Ahnung, was aus ihr werden soll? ... Hu!« stöhnte er. »Ja, ja, das sag mir 'mal.« Er schöpfte sich einen Löffel voll Molke aus der Bütte. »Molke trinken, das verdünnt das Blut und verlängert das Leben, sagt Rist, dann kann sie so lange als möglich Hauptmannstochter hier auf Gilje sein. ... Ich habe mir die Sache überlegt, Ma. Ich werde nächsten Donnerstag nicht zum Geburtstag des Vogts hinunterfahren. ... Thinka kommt ja bald hierher und ... ach, das thut gut, wenn man so durstig ist,« – –

An dem erwähnten Donnerstag ging der Hauptmann noch schweigsamer und wortkarger als gewöhnlich umher. Nicht eine Silbe sprach er beim Mittagessen von dem Augenblick an, wo er sich gesetzt hatte, bis er sich wieder erhob und verstimmt die Treppe hinaufstieg, um sein Mittagschläfchen zu halten, wobei er jetzt sitzen mußte und das auch nur ein paar Minuten dauern durfte.

Er wußte nicht, ob er die Augen geschlossen hatte oder nicht; es konnte das eine oder das andre sein.

»Ich kann mir sehr gut vorstellen,« sprach er, aus der Thür seines Arbeitszimmers tretend, »wie sie jetzt zusammenschwätzen, der Scharfenberg und die andern ... genau so, als ob man Spießruten durch den ganzen Bezirk liefe, wenn man da hinunterfährt.«

Ganz in Gedanken versunken stand er vor dem großen Kleiderschranke auf dem Gang, als Inger-Johanna heraufkam.

»Suchst du etwas, Vater?« fragte sie.

»Deine Schaftstiefel, die du getragen hast, als du noch ganz klein warst.«

Für Haushaltsarbeiten hatte sie zwar keine besondere Neigung, aber sie entwickelte einen großen Eifer für das Aeußere. Vorläufig hatte sie Pläne für die Erweiterung des Gartens; es waren neue Beete abgesteckt und umgegraben, und das neue Stück sollte eingezäunt werden, noch ehe Thinka zum Besuch heraufkam. Mit dem Strohhut auf dem Kopfe stand sie vom frühen Morgen an im Garten, denn es brachte ihr Frieden, wenn sie in der frischen Luft arbeiten und die Näherei, wobei sie so viel denken mußte, im Stich lassen konnte.

Der Hauptmann empfand in diesem Jahre eine große Scheu vor den Exerzierübungen. Ma hatte mehrmals vorgeschlagen, Rist rufen zu lassen; nun aber beschloß sie, nach einer Besprechung mit Inger-Johanna, Ernst damit zu machen. Der Corpsarzt brachte immer Beruhigung mit sich, wenn er kam.

Gewiß sollte er auf die Heide, meinte er, ein kleiner Parademarsch in Reih und Glied nahm das Fett so prächtig weg und brachte das Blut ordentlich in Umlauf, wie es gehen müßte. »Auf dem Exerzierplatz hast du auch nie über Schwindel geklagt, Jäger! Das ist just die richtige Kur für dich, wenn davon die Rede sein soll, daß wir Weihnachten wieder ein Glas Punsch bei dir trinken.« – –

Während Gülle seine Dienstreisen machte, kam Thinka zum Besuch nach Hause. Nun gingen die Schwestern wieder zusammen im alten Heim umher und plauderten, wie in vergangenen Tagen, aber keine von ihnen wunderte sich mehr, was da draußen in der Welt vorgehe. Sie wußten das beide nur zu gut!

Er fühle sich so behaglich, meinte der Hauptmann, wenn er Thinka mit ihrem Strickzeug und ihrem Roman draußen auf der Treppe oder im Zimmer sitzen sähe.

»Sie sieht doch wohl jetzt selbst ein, wie gut sie es hat,« sprach er zu Ma, und das wiederholte er so oft, daß man fast den Eindruck gewann, als fühle er sich innerlich doch nicht so ganz beruhigt über diesen Punkt. Die augenscheinlichen Beweise, die er durch Inger-Johannas Schicksal erhalten, hatten ihm gewissermaßen die Augen so weit geöffnet, daß er wenigstens die Möglichkeit ahnte, eine Frau könne auch bei einer sogenannten guten Partie unglücklich werden. Seine beständige Beruhigung war dann allerdings, daß das nur bei Ausnahmemenschen möglich sei, wie seine Inger-Johanna – sie, mit ihrer über das Gewöhnliche erhabenen Natur und ihrer Unfähigkeit, unter dem Willen andrer zu leben. Aber Durchschnittsmädchen hatten das doch nicht an sich, sich mit ihren Gefühlen und Gedanken in solche Höhen zu verlieren ... und Thinka war ja wie geschaffen, sich nach andern zu richten und sich zu fügen!

Und doch lag ihm die Frage wie ein böser Wurm im Magen.

»Du, Inger-Johanna,« sprach Thinka draußen auf der Treppe. »Beobachte doch 'mal Vater, wie zusammengesunken er jetzt aussieht, wenn er da am Gartenzaun entlang geht ... und in einem fort vergißt er seine Pfeife, die er nicht halb ausraucht, ehe sie wieder ausgeht.«

»Er erscheint dir also sehr verändert,« nahm Inger-Johanna beim abendlichen Gedankenaustausch oben im Schlafzimmer die Unterhaltung wieder auf. »Armer Vater! Es scheint ihm rein unmöglich, darüber hinwegzukommen ... ich war ja zum Paradepferd bestimmt. ... Aber meinst du, daß er jetzt noch einmal so etwas von uns fordern würde?«

»Du bist stark, Inger-Johanna! Und was du sagst, ist gewiß richtig. Er ist so sanftmütig geworden,« entgegnete Thinka seufzend, »und das ist es, was mich so rührt,« –

Je näher die Zeit heranrückte, um so mehr graute ihm vor den Exerzierübungen, so daß Ma schließlich zu glauben begann, es sei doch kaum rätlich für ihn, sie mitzumachen, da er selbst so wenig Mut und Lust dazu hatte. Er ging tagelang so allein umher, daß er ganz menschenscheu zu werden drohte. Das erste aufrichtige Aufleuchten, das sie seit lange in seinem Angesicht wahrgenommen hatte, erschien dort, als sie ihm den Vorschlag machte, an den Corpsarzt zu schreiben und ihn um ein Krankheitszeugnis zu bitten. Die Sache machte sich ja auch ganz glatt, nachdem sie einmal in Gang gebracht war. Aber es stieg doch trotzdem etwas wie Reue in ihm auf, als die Bewilligung seines Urlaubsgesuches wirklich auf seinem Pulte lag. Aergerlich ging er umher und dachte, wie sie jetzt alle unten zusammen wären. ... Nun schalt natürlich der Hauptmann Vorderthan seine Leute aus ... und der eine oder andre dachte wohl schon daran, daß er vielleicht mit Pension abgehen werde. Aber er wollte ihnen das Vergnügen versalzen und so lange als möglich aushalten, und wenn er das ganze Jahr nichts als Molke trinken müßte.

Die sein Gemüt so beschäftigende und beunruhigende Zeit der Exerzierübungen war endlich vorüber, und er hatte sich schon so weit mit Mas Plan einer möglichen Fahrt nach der Bezirkshauptstadt ausgesöhnt, als eine Post mit einem kurzen Briefchen Jörgens eintraf, das sie alle in tiefe Betrübnis versetzte.

Er ertrage es nicht mehr, immer als der Letzte in der Klasse dazusitzen, und habe sich auf einem Schiffe verheuert, das nach England gehe. Dort hoffe er Geld genug zu verdienen, um nach Amerika kommen zu können, wo er versuchen wolle, Schmied oder Wagner oder etwas Aehnliches zu werden. Seine lieben Eltern sollten Nachricht haben, wie sich sein Geschick gestalte.

»Du, Ma,« sprach der Hauptmann mit tiefer, zitternder Stimme, als er sich endlich ein wenig von der ersten Betäubung erholt hatte, »dieser Grip hat uns viel gekostet ... das ist weiter nichts als die Folgen seiner Lehren.«

Es war schon tief im Herbst. Mehrmals war Schnee gekommen und wieder gegangen, und jetzt hatte ihn der Wind von den glatten, gefrorenen Wegen weggefegt. Die Felder und Berge waren weiß, nur hie und da hoben sich die roten und gelben Farbentöne der vertrockneten Blätter der Laubwälder von der Umgebung ab, und der See da unten schien kalt und blau, bereit zu gefrieren.

Da rumpelte es auf dem gefrorenen Landwege, so daß es in dem stillen Oktobertage einen Widerhall weckte und die auf den Pfählen der Gartenzäune sitzenden Krähen bei dem herannahenden Geräusche krächzend aufflogen. Es waren die Räder eines Kutschwägelchens, und darin saß mit der langen Fahrpeitsche an der Schulter in Mantel und großen Ueberziehstiefeln der Hauptmann von Gilje.

Er war die anderthalb Meilen hinuntergefahren, um mit Bardon Kleven abzurechnen, und der Untervogt hatte ihn nicht wieder aus dem Hause lassen wollen, ohne daß er ein Gläschen Tomlinger Branntwein, einen Tropfen Bier und ein kleines Vesperbrot angenommen hatte. Allein er war doch vorsichtig gewesen, denn abgesehen vom Besuch beim Vogt war dies die einzige Fahrt, die er seit langer Zeit unternommen hatte.

Der alte Rappe lief die lange, flache Strecke in seinem gewohnten schwerfälligen, aber ausgiebigen Trab, und die Landstraße zeigte die Spuren, daß er auf allen Stollen scharf beschlagen war. Er wußte, daß der erste Anhalt zum Verschnaufen kam, wenn er die halbe Meile bis zum Fuße des steilen Absatzes der Anhöhe von Gilje zurückgelegt hatte. Vielleicht lag es daran, daß er frisch beschlagen und die Erdschollen so hoch und hart gefroren waren, daß er stolperte. Es war das erste Mal, daß er das that, und er fühlte wohl selbst das Unpassende, denn er fiel in einen schnelleren Trab ... ließ aber bald wieder nach. Die Zügel, das fühlte er, lagen ihm lose und schlaff auf dem Rücken, ihre Biegung wurde stärker und stärker, bis sie ihm tief unter den Schultern hingen. Die Peitsche hielt der Hauptmann wie vorher an die Schulter gelehnt, nur noch etwas schräger. Er hatte angefangen, kalte Schauer zu empfinden, als ob ihm der Frost in den Körper dränge ... und nun fühlte er sich so müde ... einen unwiderstehlichen Drang zu einem Schläfchen. Er sah, wie die Zügel, die Ohren und der Hals des Rappen mit der dicken Mähne vor ihm auf und nieder tanzten und wie der Erdboden unter dem Wagen nach hinten glitt. ... Dann war es, als ob eine Krähe aufflöge und das Licht vor seinen Augen verdunkelte, aber er konnte die Arme nicht bewegen, um sie zu greifen. Und dort standen die Stangen, worauf die Getreidegarben zum Trocknen aufgespießt wurden, so daß sie aussahen wie gekrümmte alte Weiber ... die wollten sich rächen ... sie kamen mit ihren Strohlocken wie die Wichtelmännchen auf ihn los ... und wollten ihn verhindern, die Arme zu erheben ... die Zügel wieder zu ergreifen und nach Gilje zurückzukehren. ... Es wimmelte förmlich von ihnen zwischen Himmel und Erde ... tanzte, drehte sich, leuchtete und verdunkelte sich ... dann war es, als ob ein Rufen ertönte ... oder ein Getöse irgendwo erschallte, und da kam Inger-Joh...

Dem Rappen hingen die Zügel jetzt ganz unten an den Vorderbeinen, und es fehlte nur noch wenig, dann trat er drauf. Aus dem ruhigen Trab, zu dem er schließlich gelangt war, fiel er in Schritt ... dann wandte er den Kopf um und blieb mitten im Wege stehen. Die Peitsche hing dem Hauptmann über die Schulter, er saß da, ohne sich zu rühren, den Kopf etwas hintenüber geneigt.

Sie befanden sich noch auf der ebenen Strecke, und der Schwarze stand geduldig da und sah nach der Giljer Anhöhe, die in geringer Entfernung vor ihm lag, wandte dann den Kopf wieder ein paarmal um und schaute nach dem Wägelchen. Nun fing er an, den gefrorenen Boden mit einem Hufe zu scharren, stärker und stärker, so daß die Schollen flogen. ... Dann wieherte er. ...

Eine Stunde später hörte man gedämpftes Sprechen draußen im Hofe und das Knarren von Wagenrädern, die sich langsam bewegten.

Stor-Ola war von dem Manne vom Söreshofe da unten ans Thor gerufen worden, der den Wagen und den Hauptmann im Wege gefunden hatte. ...

»Was ist denn vorgefallen?« rief Mas Stimme in der Dunkelheit vom Beischlag her.

Draußen vor dem Eingang zum Friedhofe standen acht Tage danach der alte und der junge Rappe vor einem leeren Schlitten.

Eine Salve vor und eine nach dem Einschaufeln der Erde verkündeten dem Bezirk, daß der Hauptmann Peter Winnecken Jäger zur ewigen Ruhe bestattet worden war.


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